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Es hätte alles so einfach sein können...

Glaube an dich selbst!
von

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Geduld

Wie gern' möchten wir

das ersehnte Glück

auf irgendeine Art und Weise erzwingen.

Aber vielleicht

brauchen wir nur noch etwas Geduld,

bis die Stunde eintritt,

in der uns die Erfüllung

unseres größten Traumes

wie von selbst

mitten in unser Herz fällt.

Das Abkommen

„Findest du es nicht auch seltsam, dass die Tudosa uns keine Hausaufgaben aufgegeben hat?“

Nicky warf lässig ihre Schultasche über den Rücken, während sie hinter mir die Schule verließ und auf den Schulhof trat, der direkt an der Straße grenzte.

Das Buch in meiner Hand nah an mein Gesicht haltend, schüttelte ich den Kopf.

„Warum nicht?“, brauste meine Freundin direkt auf.

Genervt ließ ich meine Hand sinken, schaute sie an und verdrehte die Augen.

„Mann, Nicky, sie redet jetzt schon seit ungefähr 3 Wochen davon, dass sie demnächst einen Test schreiben will, und sie uns deswegen nicht so viele Aufgaben für zuhause aufgibt… ich vermute mal, dass sie also den Test in der nächsten Stunde schreiben wird…“

Nicky schaute so geschockt drein, dass ich verstummte.

„Was?“

„Aki! Du musst mir helfen! Ich weiß noch nicht mal, was wir im Moment für Stoff durchnehmen!“

„Das wundert mich jetzt aber.“ Meine Stimme triefte vor Sarkasmus. „Das liegt wahrscheinlich daran, dass du Frau Tudosa immer so gebannt zuhörst, wenn sie uns etwas erklärt…“, murmelte ich, worauf Nicky neben mir energisch den Kopf schüttelte.

„Das liegt einzig und alleine an dieser furchtbaren Lehrerin! Sie spricht so leise, dass man noch nichts hört, wenn man in der 2. Reihe sitzt!“, stöhnte sie.

„Ja, ja, immer den anderen die Schuld in die Schuhe schieben…“

Wie immer: eine wunderschöne, aufschlussreiche Schul- Rückwegs- Konversation!

In einem eher gemächlichen Tempo gingen wir durch die belebten Straßen New Domino Citys, umgeben von Geschäften, Hochhäusern und Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Die einen hasteten mit dem Handy am Ohr über die Straßen, die anderen standen mit leuchtenden Augen vor Schaufenstern…

Nicky redete ununterbrochen und achtete kaum auf mich, doch mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt. Irgendwie war es merkwürdig, nach meiner Vergangenheit endlich wieder wie ein normales Mädchen in meinem Alter zur Schule zu gehen, Freunde zu haben und einfach so vor mich hin zu leben.

Ich hatte all das, was ich mir vor Yuseis Zeit immer gewünscht hatte: Ich war beliebt! Ich hatte eine Familie und Freunde! In der Schule lief alles wie es sollte, ich stand an der Leistungsspitze aller Schüler der Akademie.

Kurzum: Ich war glücklich.

Fast schon wunschlos glücklich.

Aber eben nur fast.

Während wir die Straße entlanggingen, beobachtete ich die Menschen um mich herum. Seltsam… warum waren eigentlich immer so viele Pärchen unterwegs, wenn wir Schulschluss hatten? Dort gingen sie Hand in Hand, auf der anderen Seite küssten sich zwei auf einer Bank…

Hastig guckte ich wieder auf mein Buch und spürte, wie ich rot anlief.

Dumm nur, dass ausgerechnet in dem Moment Nicky eine Atempause machte und mich von der Seite her musterte.

„Aki… du bist ja ganz rot… liest du etwa gerade eine peinliche Szene im Buch?“

Ich wusste GENAU was sie mit „peinlicher Szene“ meinte.

„Verdammt, Nicky, du bist so verklemmt! Eine Klappe für zwei haben, aber so was eine „peinliche Szene“ nennen! Und nein, es geht nicht um Sex.“

Ich hätte gerne noch hinzugefügt, dass es bei mir nie darum ging, aber das Funkeln in ihren Augen ließ mich verstummen.

„Dann ist es schon wieder… wegen… IHM!“ Sie brach in schallendes Gelächter aus. Die Leute, die an uns vorbeigingen, schauten sie leicht verstört an.

Mir wurde heiß und irgendwie schlecht. Nervös klappte ich das Buch zu, als wir in die kleine Seitenstraße einbogen, die unser Ziel war.

Ich sah das kleine Häuschen schon von Weitem.

Das Häuschen, das wir Signers uns zum Treffpunkt auserkoren hatten. Ich kam jeden Mittag hier vorbei, bevor ich nach Hause ging, und verbrachte ein bisschen Zeit mit Yusei, Crow, Jack, Rua und Ruka. Meistens waren noch irgendwelche anderen Leute da, die ich mal mehr, mal weniger kannte, mich aber trotzdem gut mit ihnen verstand.

Dennoch… je näher ich dem Haus kam, umso größer wurde der Kloß in meinem Hals.

Nicky legte beruhigend einen Arm um meine Schulter.

„Hey… irgendwie klappt das schon mit euch beiden.“ Tröstend rieb sie mir über den Oberarm. Sie klang nicht besonders ehrlich.

„Ich weiß nicht“, seufzte ich und blieb gute 10 Meter vor der Eingangstür stehen. „Er beachtet mich doch nie.“

„Er beachtet dich so, wie ein Junge eine gute Freundin eben beachtet. Er muss sich doch selber erstmal über seine Gefühle dir gegenüber klar werden.“

„Wenn er überhaupt welche hat“, schnaubte ich und schaute traurig, ja fast schon verzweifelt auf den Boden vor mir. „Ach, Nicky, das klappt doch nie mit uns beiden!“

„Ziehst du den Schwanz ein?“ Erst klang sie empört, doch dann begann sie, verschmitzt zu lächeln. „Wenn ja, dann hast du sicher nichts dagegen, wenn ich ihn mir angle, oder?“

Ich stieß hörbar die Luft aus. „Von mir aus, probier dein Glück. Aber er wird auf deine Spielchen nicht reinfallen.“

Doch irgendwie war ich vom Gegenteil überzeugt, weswegen in mein Zugeständnis sofort bereute.

„Das werden wir ja sehen!“ Kokett ließ meine umwerfend gutaussehende, aber vollkommen bescheuerte Freundin ihre blonden Locken wippen, die ihr eher rundliches Engelsgesicht umrahmten.

„In der scheiß Schuluniform kriegst du eh keinen Kerl um den Finger gewickelt“, rief ich ihr nach, nachdem sie sich in Bewegung Richtung Tür gesetzt hatte, und fügte noch leise hinzu: „Wenn er darauf reinfällt, ist er ein genauso großer Idiot wie die 150 anderen Typen.“

„Wart's ab!“ Doch sie blieb vor der Türe stehen und wartete auf mich.

Ich kroch hinter ihr her wie eine müde Schnecke (Lichtgeschwindigkeit war Schnee von gestern!) und meine Füße schlurften über den Boden.

Vor der Türe blieb ich stehen, seufzte tief, sah noch einmal kurz in Nickys vor Vorfreude geweitete Augen, klopfte schließlich an und öffnete sie.

Sofort schlugen uns Stimmen entgegen, die eine klang sauer, die andere amüsiert und wieder eine andere murmelte genervt vor sich hin, wie es mir schien.

Die Szenerie war altbekannt: Crow und Jack stritten sich mal wieder (wobei Crow immer derjenige mit der amüsierten Stimme war), Rua und Ruka saßen stumm hin- und herblickend auf dem provisorisch aufgestellten Sofa und Yusei werkelte wie immer an seinem D- Wheel herum, irgendetwas vor sich hin flüsternd, was stark nach „Irgendwann wirft Zora sie raus“ klang.

Jetzt jedoch sprangen die Zwillinge auf, kamen auf uns zugestürmt und Ruka warf mir die Arme um die Hüfte.

„Hallo, Aki!“, rief sie erfreut und linste aus strahlenden Kinderaugen zu mir hoch.

„Hallo, Ruka“, murmelte ich und zwang mir ein Lächeln ab. Das einfühlsame Mädchen bemerkte meine schlechte Stimmung sofort und das Glänzen in ihren Augen ließ nach. Behutsam ließ sie mich los.

Jack schaute uns noch nicht einmal an, Crow nickte mir kurz zu, bevor sein Blick an Nicky hängen blieb.

Die jedoch hatte nur Augen für den Schwarzhaarigen, der von seiner Arbeit abgelassen hatte und uns anlächelte.

„Hallo, Yusei“, trällerte sie, stürmte auf ihn zu und schlang ihm die Arme um den Hals.

Innerlich hatte ich einen furchtbar schlimmen Lachkrampf. Yusei guckte wie ein Dackelbaby, das nicht verstand, was es Tolles getan hatte, weswegen sein Herrchen so aus dem Häuschen war.

„Äh… hallo… Nicky…“, stammelte er und saß völlig reglos auf seinem Platz. Hilfesuchend sah er mich an, doch ich zuckte nur die Schultern. Wenn sich Nicky einmal was in den Kopf gesetzt hatte, konnte nichts und niemand sie davon abhalten.

Die Zwillinge hatten sich mittlerweile wieder hingesetzt und ich ließ mich erschöpft neben Ruka fallen.

Jack und Crow fuhren mit ihrem Streitgespräch fort, doch mir fiel auf, dass Crow nicht mehr so richtig bei der Sache war. Immer wieder schweifte sein Blick ab, zu Yusei und Nicky, die ihre Arme noch immer um Yusei gelegt hatte, während der ihr wohl etwas über seine derzeitige Arbeit erzählte. Ich war mir sicher, dass Nicky kein Wort verstand. Aber auf diese Weise schaffte sie es wirklich, jeden Jungen von sich zu überzeugen.

Ich verspürte einen unangenehmen Stich im Herzen. Schnell schaute ich zur Seite, doch meine Finger verrieten mich: sie gruben sich fest in meinen Rock.

Ruka neben mir legte tröstend einen Arm um mich. Ich war mir sicher, dass sie wusste, weswegen meine Laune im Keller war, obwohl ich ihr nie etwas erzählt hatte. Obwohl ich mir jetzt schon so lange darüber bewusst war, dass ich mich in Yusei verliebt hatte…

Ein schrilles, lautes Lachen Nickys ließ mich aus meinen Gedanken hochfahren. Wütend schaute ich sie an, gegen meinen Willen, der mich doch jetzt schon des Öfteren eines Besseren belehrt hatte und wieder war der Schmerz in der Brust überdeutlich, als ich sah, wie sie auf seinem Schoß saß und sich lachend an ihn schmiegte.

Plötzlich hätte ich diese falsche Schlange, die ich eben noch als Freundin bezeichnet hatte, am liebsten erwürgt.

„Crow!“ Ruas Stimme klang vorwurfsvoll, für seine Verhältnisse fast schon besorgt.

Crow hatte die Fäuste geballt, die Augen weit aufgerissen und beobachtete die beiden ebenfalls.

Irgendwie war es tröstlich zu wissen, dass ich nicht die einzige war, die in diesem Augenblick Herzschmerz hatte.

Ich schüttelte den Kopf, stand auf, ging zu Crow, klopfte ihm einmal aufmunternd auf den Rücken, lächelte ihm matt zu, schlurfte zur Türe, öffnete sie, trat hinaus und ließ sie mit einem dumpfen „Rtsch“ hinter mir zufallen.

Draußen schien die Sonne, hell, warm, tröstend und wohltuend.

Langsam ging ich die Straße hinunter, wobei ich mühsam gegen meine Tränen ankämpfte.

Was hatte ich denn erwartet? Hatte ich ihr nicht sogar den Vortritt gelassen?

Hervorragend! Jetzt würde ich bis ans Ende meines Lebens unglücklich sein. Denn ich glaubte nicht, dass Yusei die Kraft besaß, Nicky widerstehen zu können. Das konnte keiner…

„Er liebt sie nicht“, ertönte eine Stimme hinter mir.

Erschrocken drehte ich mich um.

„Crow… was… wie… warum…?“

„Wirklich! Er liebt sie nicht. Ich glaube, er mag sie noch nicht mal sonderlich. Sie geht ihm auf den Geist! Aber du kennst ihn doch… er will sie nicht verletzen…“ Ich hörte, wie der Schmerz in seiner Stimme mitschwang.

„Und was ist mit dir?“, murmelte ich, „Ist es ihm egal, dass er dich verletzt?“

Crow lächelte bitter. „Er weiß es nicht.“

„Er weiß es nicht?“ Empört lachte ich auf. „Warum nicht? Ich dachte, ihr seid beste Freunde!“

„Eben!“, brauste er auf, „Glaubst du, ich erzähle ihm, dass ich in ein Mädchen verknallt bin, das er nicht mag? Wie kommt das denn rüber?“

„Crow! Irgendwann wird er Nickys Werben nachgeben. Das tut jeder Junge!“ Ich biss mir auf die Lippen.

„Dann wird Yusei eben der Erste sein, an dem sie scheitert. Hab doch mal ein bisschen mehr Vertrauen in ihn!“

„Verdammt noch mal, ich kenne Nicky! Sie knackt jede noch so harte Nuss.“

„Wie soll sie denn mit Yusei zusammenkommen, wenn er eine andere…“ –Er unterbrach sich und blickte schnell über seine Schulter, zurück zu dem kleinen Häuschen–„… wenn er eine andere liebt?“

Ungläubig blickte ich ihn an. „Wer ist es?“

Crow lächelte verschmitzt. Seine Augen bohrten sich in meine.

Der Groschen fiel- und ich konnte es nicht fassen!

„Echt? Bist du dir sicher?“

„Ganz sicher! Er hat es mir selber gesagt.“

Mein Herz pochte heftig in meiner Brust. Es hätte mich nicht gewundert, wenn es gleich stehen geblieben wäre. Meine Atmung ging flach und mein Gehirn hatte die Arbeit eingestellt.

„Und jetzt?“, fragte ich mehr in die Leere meines Kopfes hinein, als Crow.

„Und jetzt?“, äffte er mich nach. „Ich sag dir, was jetzt ist: Du hast verdammt noch mal das Glück, dich nur noch mit ihm aussprechen zu müssen. Ich dagegen…“

„NUR NOCH AUSSPRECHEN?“, schrie ich, „Du hast gut reden! Wie soll ich das denn machen? Hallo, Yusei, ich liebe dich und Crow hat mir gesagt, dass du mich auch liebst?“

„So, oder ähnlich…“ Crow verdrehte genervt die Augen. „Aber, Aki, hör doch mal… Ich… ich glaube nicht, dass Nicky mich überhaupt schon mal registriert hat… sie ist zu toll.“ Sein Blick wurde leer.

„Mhm…“, ich nickte, „Ich glaube, sie mag dich… sie hat zumindest noch nie etwas Schlechtes über dich erzählt…“ Um ehrlich zu sein, hatte sie noch nie etwas über Crow gesagt. Aber das konnte ich ihm ja nun schlecht auch noch unter die Nase reiben.

„Wirklich?“ Er strahlte. „Pass auf, ich hab mir das so vorgestellt: Ich helfe dir mit Yusei, indem ich dir Nicky vom Hals schaffe… und du musst raus finden, was sie von mir hält… okay?“

Er streckte die Hand aus.

Ich wusste, dass ich damit eine Art bindenden Vertrag eingehen würde, doch das war Yusei mir wert. Ich hoffte nur inständig, dass die Sache nicht nach hinten losgehen würde!

Letztendlich entschlossen ergriff ich die Hand, schüttelte sie und schaute in Crows vor Freude strahlende Augen.

Ich revidierte meine Aussage.

Alleine um Crow glücklich zu machen, war es mir diese Sache eindeutig wert!

Mütter und andere furchtbare Dinge

„Aki, Crow ist da!“, rief meine Mutter.

„Ich komme!“

Langsam stand ich von meinem Schreibtischstuhl auf, betrachtete noch einmal kurz das Blatt, das bis gerade noch vor mir auf dem Tisch gelegen hatte, drehte mich schwer atmend um und verließ mein Zimmer.

Ich nahm auf unserer riesigen Treppe immer zwei Stufen auf einmal und sah ihn schon früh unten in der Eingangshalle unseres bombastischen Hauses stehen.

Crow sah sich interessiert um und schaute hoch zur aufwendig bearbeiteten Decke mit ihrem silbernen Kronleuchter. Irgendwie sah er komisch aus, mit seinem verblüfften Ausdruck auf dem Gesicht und ich blieb leicht verunsichert auf der Hälfte der Treppe stehen.

„Hey…“, sagte ich in Zimmerlautstärke, die Augenbrauen misstrauisch zusammengezogen. „Warum bist du denn hier?“

Crow lachte. „Ach, komm schon, Aki, sag bloß, du kannst dich nicht mehr an unser kleines Abkommen erinnern?! Schockierend… Alzheimer lässt grüßen!“

Ich spürte, wie ich rot anlief.

„Aber, hey…“ Crow breitete die Arme aus. „Stör ich dich etwa?“

Seufzend ließ ich mich auf eine Stufe fallen und vergrub den Kopf in den Händen.

„Nein, du störst nicht. Im Gegenteil! Du hast mich vor dem Monster namens „Hausaufgaben“ gerettet, was oben auf meinem Schreibtisch liegt und nur darauf wartet, mir den letzten Rest meines Verstandes zu rauben!“

Crow kam die Treppe zu mir herauf und ließ sich neben mir nieder. Dann legte er tröstend einen Arm um meine Schulter. „Ach, komm schon! Du packst das! Du kannst doch alles!“

Ich lachte missmutig auf.

„Na, wenn du das sagst, Crow…“

Meine Mutter kam aus dem Wohnzimmer in die Eingangshalle, blieb stehen und schaute Crow und mich mit riesigen Augen an. Dann watschelte sie weiter in die Küche, ohne auch nur einen Ton zu sagen.

„Warte mal, Crow.“, seufzte ich und stand auf. „Ich fürchte, ich muss da was klären. Geh einfach geradeaus weiter und du stehst vor meinem Zimmer. Warte da auf mich. Ich bin in einer Minute zurück.“

Damit rauschte ich die Treppe hinunter zur Küchentür, die ich ohne zu zögern aufstieß.

Meine Mutter stand an der Spüle und trocknete Gläser ab.

„Mutter“, stieß ich vorwurfsvoll aus, „Du weißt, dass du das nicht tun musst! Dafür haben wir schließlich Putzfrauen eingestellt.“

Sie antwortete nicht, drehte sich noch nicht einmal zu mir um. Plötzlich fing sie unvermittelt an zu kichern.

„Findest du nicht auch, dass er etwas zu klein für dich ist, Schatz?“

„BITTE?“

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Ich hatte mir zwar gedacht, dass sie die Szene in den falschen Hals bekommen hatte, aber dass sie das WIRKLICH glaubte, war doch irgendwie schockierend.

„Mutter, es ist nicht so, wie du denkst. Crow ist EIN Freund, nicht MEIN Freund.“ Sorgfältig betonte ich „ein“ und „mein“.

Endlich drehte sie sich zu mir um und sah mir fest in die Augen.

Typisch.

So testete sie, ob ich log. Ohne weitere Probleme hielt ich ihrem Blick stand und schon nach wenigen Sekunden schien sie doch zu dem Entschluss gekommen zu sein, dass ich die Wahrheit sagte.

„Schlimm, dass du mir nicht so glaubst“, murmelte ich und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch.

Sie tat es mir gleich und lehnte sich dabei gegen die Spüle. „Du wirst erwachsen, Aki. Dann muss man als Mutter schon mal etwas skeptischer sein.“

„Aber meinst du nicht, dass gerade wenn ich erwachsen werde, dich mein Leben eigentlich herzlich wenig angeht?“

Sieg!

Sie schaute zur Seite, verlegen, schuldbewusst… und irgendwie verletzt.

Sofort überkam mich das schlechte Gewissen.

Sie atmete schwer ein, und als sie aufblickte, meinte ich zu sehen, dass ihre Augen feucht waren. Sie antwortete mit leicht erstickter Stimme.

„Ich probiere dich nur vor dem zu schützen, wovon du noch nichts verstehst!“

Okay, das war jetzt aber doch leicht übertrieben!

Dennoch seufzte ich, ging die letzten paar Meter auf meine Mutter zu und legte ihr versöhnend einen Arm um die Schulter.

„Mama, ich weiß doch, dass du es nur gut meinst! Aber es ist mein Leben, und ich muss meine eigenen Erfahrungen machen. Und das werde ich NICHT mit Crow.“ Ich musste lachen.

Sie stimme mit ein.

„Du hast recht, Schatz, ich reagiere wirklich manchmal über! Das tut mir sehr leid. Weißt du, ich will dich einfach nicht noch einmal verlieren!“

„Das wirst du auch nicht.“

Einen Moment standen wir schweigend nebeneinander. Jedes weitere Wort wäre eh sinnlos gewesen.

„Weißt du“, meinte meine Mutter plötzlich, „Ich wusste, dass zwischen dir und Crow nichts läuft.“

„Wieso?“, fragte ich verwirrt.

„Dann hättest du dich wirklich extrem schnell umverliebt.“

Ich zog die Augenbrauen zusammen.

„Na… Yusei gibt’s doch auch noch, oder etwa nicht?“

„WUHAAAAAAAA!“ Ich machte einen Satz von ihr weg. „DU-WEIßT-ES?“

Sie kugelte sich förmlich vor lachen.

„Weißt du, jeder, der das nicht weiß, ist entweder taub, blind, dämlich oder alles zusammen.“

Wie deprimierend es doch sein kann, wenn man sich soviel Mühe gibt, Gefühle zu verbergen, und erst schrecklich viel später gesagt bekommt, dass alle Anstrengungen vergebens waren.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ ich den Raum.

Irgendwie war ich verletzt.

Als ich mein Zimmer betrat, stand Crow an meinem Fenster und schaute hinaus auf den von der Sonne beschienen Garten. Er drehte sich um, als er mich kommen hörte, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Dieses erstarb jedoch, als er mir ins Gesicht sah.

„Aki?“

Schlaff ließ ich mich auf mein Bett fallen.

„Was ist denn los?“, fragte Crow besorgt und setzte sich neben mich.

„Merkt man wirklich so sehr, dass ich in Yusei verliebt bin?“ Meine Stimme klang merkwürdig blechern.

Crow antwortete nicht, zögerte nur.

Schön! Auch ´ne Antwort!

Ich verbarg mein Gesicht in den Händen und stöhnte verzweifelt auf.

„Nein, Aki, hör doch mal zu…“ Crow nahm mir meine Hände vom Gesicht und schaute mir in die Augen. „Selbst WENN es wirklich jeder gemerkt hat… Yusei ganz sicher nicht! Yusei würde das noch nicht mal merken, wenn du mit einem Zettel vor seiner Nase herumwedeln würdest, auf dem „Ich liebe dich“ steht!“

„Na super, dass sind ja Aussichten!“

„Nein, so war das nicht gemeint!“ Er verhaspelte sich fast, so schnell sprach er. „Wir beide, wir bekommen das schon hin!“

„Und wie?“

Auf diese Frage hatte er scheinbar gewartet. Ein selbstgefälliges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Du wirst dich mit ihm treffen. Oft.“

„Oft? Wie oft genau ist „oft“?“

„Ähm… täglich?“

„Er wird mich hassen.“ Ich verdrehte die Augen.

„Wird er nicht. Versteh doch, wenn du dich häufig mit ihm triffst, lernt ich euch kennen. Du erfährst mehr über seine Gewohnheiten, über seine Sicht der Dinge und außerdem…“

„Und außerdem kannst du versuchen, dich mit Nicky zu treffen, wenn Yusei und ich ausgebucht sind.“, beendete ich den Satz für ihn. „Toller Plan, Crow. Darauf wäre ich auch selber gekommen!“

„Fällt dir was Besseres ein?“, fragte Crow, sichtlich gekränkt.

„Nein.“ Ich seufzte. „Nein, mir fällt nichts Besseres ein.“

„Super!“, rief er, klatschte in die Hände und sprang auf. „Dann lass uns den Fisch mal an Land ziehen.“

Wieder seufzte ich. Worauf hatte ich mich eigentlich eingelassen? Das hätte ich doch auch selber hingekriegt.

Oder?

Vielleicht ja doch nicht.

Schließlich war die Angst immer noch da. Die Angst, Yusei anzusprechen, ihn nach einem... DATE zu fragen…

Ob ich das wohl jemals schaffen würde?

In solchen Momenten wünschte ich mir, ich wäre ein bisschen mehr wie Nicky. Es fiel ihr scheinbar so leicht, einen Typen einfach so anzuquatschen und sich dann später mit ihm zu treffen. Aber sie hatte ja auch nichts zu verlieren. Sie kannte die Jungs ja nie wirklich.

Anders als es bei mir der Fall war.

Yusei war immerhin mein bester Freund. Ich hatte also mehr zu verlieren, als nur meinen eh schon angeknacksten Stolz.

Erst als ich mich zusammenriss und Crow anguckte, merkte ich, dass er mich beobachtete.

„Was ist?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Aki, wenn du deine Augen jetzt sehen könntest…“

„Was? Wie sehen die denn aus?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Man kann es nicht beschreiben… irgendwie… krank. Leblos. Im Grunde genommen sehen sie furchtbar aus!“

„Danke!“, warf ich ihm schnippisch an den Kopf. „Weißt du nicht, dass es ziemlich unhöflich ist, so etwas zu einem Mädchen zu sagen?“

Crow zuckte die Schultern.

„Na ja, wie auch immer. Ich werde mich mit Nicky verabreden… doch ich kann dir nicht dabei helfen, dich mit Yusei zu verabreden. Das wäre SEHR auffällig.“ Er bedachte mich mit einem ernsten, wissenden Blick. „Das heißt, im Grunde genommen liegt der schwerste Part bei dir…“

„Pah.“, maulte ich, „Wie sollte es auch anders sein?“

„Du schaffst das schon!“

Ich merkte, wie Crows Geduld zunehmend schwand. Er stand auf, klatschte erneut in die Hände (das schien irgendwie eine Marotte von ihm zu sein) und sah mich noch einmal kurz an.

„Alles klar… ich… geh dann mal… viel Glück!“

„Danke gleichfalls!“, rief ich ihm noch hinterher, doch er hatte so schnell mein Zimmer verlassen, dass ich mir nicht sicher war, ob er mich noch gehört hatte.

Ich schloss die Augen und streckte mich angespannt auf dem Bett aus.

Plötzlich war mir kalt.

Umständlich krabbelte ich unter meine Decke und zog sie hoch bis zu meinem Kinn. Die wohlige Wärme, die mich schlagartig umfing, machte mich schläfrig, und obwohl es noch nicht sonderlich spät war, merkte ich, wie die Erschöpfung langsam die Überhand gewann.

Als ich früh am nächsten Morgen aufwachte, wusste ich noch genau, wovon ich in der Nacht geträumt hatte.

Von blauen, strahlenden Augen.

Yuseis Augen.

Krankheit = schlecht?

Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen.

Dennoch gab ich mein Bestes, hievte mich aus dem Bett und schleppte mich runter in unser Wohnzimmer.

Draußen über der Wiese hinter unserem Haus stiegen Nebelschwaden auf und der Himmel war hellrosa gefärbt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass zumindest vom Wetter her heute ein schöner Tag werden würde.

Als ich mich aufs Sofa fallen ließ, wanderte mein Blick zur Uhr, die über unserem riesigen Kamin hing. In meine Gedanken versunken legte ich eine Hand auf mein Gesicht und massierte meine Stirn. Sonderlich viel helfen tat dies nicht, aber es lenkte mich ein wenig ab.

NORMALERWEISE dachte noch nicht mal mein Unterbewusstsein um 05:00 Uhr ans Aufstehen. Sicher, für andere Menschen war dies eine völlig normale Zeit, aber ich brauchte zu Fuß nur 5, allerhöchstens 10 Minuten bis zur Schule, die sowieso für mich und die anderen älteren Schüler erst um 9 Uhr startete.

Wäre dies ein ganz gewöhnlicher Morgen, unter ganz natürlichen Umständen und gewohnten Bedingungen gewesen, hätte ich bis halb 8 geschlafen, mich geduscht, angezogen, gefrühstückt und trotzdem noch massig Zeit gehabt.

Aber da das alles nicht zutraf, hatte ich ein Problem.

Was sollte ich also jetzt, mit NOCH mehr Zeit, anfangen?

Ich versuchte, mich mit Musik abzulenken, die ich aber schon nach wenigen Minuten wieder ausmachte. Erstens, weil ich meine Eltern nicht wecken wollte, zweitens, weil der gewünschte Effekt der Heilung nicht eintrat, und drittens, weil es die Schmerzen nur verschlimmerte.

Ich ließ mich zurück in die Sofakissen sinken und horchte auf Geräusche im Haus. Nichts war zu hören. Die Stille wirkte irgendwie unangenehm und drückte auf meine Ohren. Das Pochen in meinem Kopf verstärkte sich.

Bei einem war ich mir sicher: Hier hielt ich es nicht aus. Ich musste unbedingt raus an die frische Luft, um Herr (oder wohl eher Herrin) über meine wirren Gedanken zu werden, damit ich mich von diesen ablenken konnte, die mit Sicherheit die Ursache für meine Kopfschmerzen waren.

Leise ging ich rüber in die Eingangshalle, zog mir meine Schuhe an, die in der Ecke standen und öffnete die Haustür.

Sofort schlug mir kühle, aber angenehm frische Morgenluft entgegen und ich sog sie gierig ein, wobei ich mich ein wenig entspannte.

Als ich unsere völlig verlassene Straße entlang ging, die in einem eher ruhigen, familiären Wohngebiet lag, ließ ich den Blick über die gut gepflegten Vorgärten schweifen.

Ich schaute mir gerne Gärten an. Es war für mich ein Leichtes, den Charakter eines Menschen anhand seines Gartens zu bestimmen, selbst wenn ich ihn nicht kannte. Hatte jemand zum Beispiel jedes noch so kleine Buchsbäumchen in Reih und Glied zu völlig exakten, scheinbar mit dem Lineal abgemessenen Würfeln geschnitten, konnte man davon ausgehen, dass er auch ansonsten ein sehr geordneter, zielstrebiger Perfektionist war.

Doch heute merkte ich schockiert, dass es mir seltsamerweise schwer fiel, hierüber nachzudenken. Egal, wie sehr ich auch versuchte mich abzulenken, es funktionierte einfach nicht.

Musikhören half nicht!

Und jetzt half noch nicht mal Vorgarten- Gucken!

Mittlerweile war ich an meinem Lieblingsort, dem Spielplatz, angekommen und ließ mich fast verzweifelt auf eine Bank fallen. Ich kam gerne hier hin, auch tagsüber. Ich mochte es, den kleinen Kindern beim Spielen zuzusehen, zu beobachten, wie liebevoll ihre Mütter mit ihnen umgingen.

Auch meine Mutter war oft mit mir hierher gekommen als ich noch klein gewesen war, doch hatte ich daran keine allzu guten Erinnerungen. Meistens hatte ich alleine gespielt, weil ich von den anderen Kindern gemieden wurde. Schon damals war ich immer Außenseiter gewesen.

Deprimiert lächelte ich vor mich hin.

Scheinbar hatte sich von Damals bis Heute nicht sonderlich viel geändert.

Ich hatte zwar Freunde, aber richtig Teil dieser Welt war ich noch nie gewesen. Ich wusste nicht, ob das nur an mir lag, aber ich ging schwer davon aus.

Zwar halfen mir Yusei und die anderen, mit meinen Kräften zurecht zu kommen und sie zu kontrollieren, aber mit den Emotionen, mit denen ich zu kämpfen hatte, wenn diese Kräfte aus mir heraus brachen, musste ich selber zurecht kommen.

Und weil dies die schmerzhafteste Erfahrung war, die ich jemals gemacht hatte, probierte ich, Gefühle wie Wut, Trauer, Hass, Freundschaft und auch Liebe so gut wie irgend möglich zu unterdrücken. Das ging natürlich nicht immer; aber ich versuchte, sie auf ein geringes Maß zu begrenzen.

Ich fröstelte.

War das vielleicht der Grund, warum es mir so schwer fiel, Yusei meine Gefühle zu zeigen? Weil ich Angst vor genau diesen hatte, unvorstellbare Angst?

Oder war es einfach nur die Furcht vor dem Neuen, die mich lähmte und handlungsunfähig machte? Schließlich wusste niemand, was passieren würde, wenn ich jemand anderem meine Liebe zu ihm gestand- könnte ich auch in so einem Moment voller Emotionen meine Kräfte kontrollieren?

Oder traten sie nur bei negativen Gefühlen auf?

Ich hatte keine Antwort auf all diese Fragen. Noch nicht.

Die Vögel stimmten ihr Morgenlied an. Es hatte etwas einfühlsames, etwas tröstliches an sich. Vögel waren tolle Tiere! Frei von Angst und Schmerz. Sie konnten wegfliegen, wann immer sie wollten, unbeschwert und frei.

Wie gerne wäre ich auch vor meinen Ängsten davon geflogen…

Heftig schüttelte ich den Kopf und ballte die Hände zu Fäusten.

Nein! Diese Art Angst hatte ich mir selber zuzuschreiben. Was musste ich mich auch verlieben?!

Ich stand von der Bank auf und machte ich auf den Heimweg. Es war mehr Zeit vergangen, als ich erwartet hatte- ein Blick auf die Armbanduhr zeigte, dass es jetzt schon viertel vor sieben war. Höchste Zeit also, um nach Hause zu gehen.

Zwar waren meine Kopfschmerzen noch nicht wirklich besser geworden, aber diese Tatsache konnte ich jetzt auch nicht mehr ändern.

Auf dem Rückweg gab ich mir Mühe, möglichst nur an das Gezwitscher der Vögel zu denken und sog dabei soviel Sauerstoff wie möglich ein.

Etwas ausgeglichener kam ich schließlich Zuhause an.
 


 

Um viertel vor neun warf ich mir schließlich die Schultasche über den Rücken und bewegte mich völlig lustlos Richtung Schule.

Zuhause hatte niemand gefragt, wo ich gewesen war- ich war mir noch nicht mal sicher, ob sie überhaupt mitbekommen hatten, dass ich einen Morgenspaziergang unternommen hatte.

Das war eigentlich mehr als ungewöhnlich, da meine Eltern neuerdings voller Enthusiasmus versuchten, ein Teil meines Lebens zu werden. Im Endeffekt konnte das nur bedeuten, dass sie es entweder WIRKLICH nicht mitbekommen hatten (was ich irgendwie nicht glauben konnte, denn als ich die Eingangshalle betreten hatte, hatte ich meine Mutter in der Küche arbeiten gehört), oder sie hatten Streit untereinander, was nicht selten vorkam.

Aber da wir drei ja scheinbar in unserer Friede- Freude- Eierkuchen Welt lebten, verstanden wir uns in der Öffentlichkeit ja immer prächtig.

Bei dem Gedanken verzog ich das Gesicht zu einem verzerrten Lächeln.

Irgendwie begann ich daran zu zweifeln, dass sich angeblich so vieles im Vergleich zu damals verändert haben sollte.
 

Seltsamer hätte der Tag heute eigentlich nicht verlaufen können.

Frau Tudosa schrieb tatsächlich den seit langer Zeit schon angekündigten Test, den ich glorreich in den Sand setzte. Bei allen 5 Fragen war ich mit Pauken und Trompeten untergegangen, hatte kaum etwas hingeschrieben und schließlich fast schon angefangen zu weinen.

Eine 17- jährige, die beinahe wegen eines versauten Tests Tränen vergoss.

Was zum Kuckuck war nur los mit mir?

Wütend schob ich das fast leere Blatt in die obere Ecke des Tisches und legte meine Hände über die Augen. Wenn Zuhause jemand fragen sollte, warum ich den Test verhauen hatte, würde ich das einfach auf meine Kopfschmerzen verbuchen, die zwar nicht der wahre Grund, aber dennoch mit Sicherheit Teil meiner Blamage waren.

Frau Tudosa kam durch die Reihen und verlangte von jedem das Blatt. Plötzlich hasste ich sie für ihre Angewohntheit, schon beim Einsammeln des Testes ihn scheinbar mit ihrem Blick zu scannen und einem dann zu sagen, dass dieser Müll ja wohl nicht ernst gemeint sein könnte.

Als sie an mir vorbei ging und das Blatt vom Tisch fischte, blieb sie abrupt stehen und schaute mit hochgezogenen Augenbrauen erst meinen Test an, danach mir tief in die Augen.

Ohne ein Wort über meinen Test zu verlieren, nahm sie meine Schultasche vom Boden und stellte sie auf den Tisch, öffnete sie und begann, meine Hefte, gefolgt von meinem Federmäppchen zurück in meine Tasche zu stopfen.

„Was machen Sie da?“, fragte ich irritiert, unfähig, ihr beim Packen zu helfen.

„Fräulein Izayoi, ich weiß nicht, was mit Ihnen los ist, aber der Test und Ihre Augen bestätigen nur das, was ich mir ohnehin schon gedacht habe.“ Sie hob den Blick von meiner Tasche und schaute mich erneut an. „Es geht Ihnen nicht gut! Sie sollten nach Hause gehen und sich ausruhen. Sie machen auf mich jetzt schon seit einiger Zeit einen komplett überarbeiteten Eindruck. Diesen Test hätten Sie in Ihrer normalen Verfassung spielerisch bewältigt.“

Der Verschluss meiner Tasche schnappte zu und sie hielt mir die Träger hin.

„Kurieren Sie sich aus, Izayoi!“

Völlig verdattert saß ich auf meinem Platz und wusste nicht wirklich, was ich tun sollte. Frau Tudosa stand vor mir, atmete ruhig ein und aus und wartete auf meine Reaktion.

Wie in Zeitlupe stand ich auf.

„Ist jemand bei Ihnen daheim?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Besteht die Möglichkeit, dass einer Ihrer Eltern Sie hier abholen kommt und Sie nach Hause bringt?“

„Nein. Meine Eltern sind beide heute Morgen in naheliegende Städte gefahren und kommen beide erst übermorgen zurück.“

Das war das letzte, was meine Mutter mir heute gesagt hatte, bevor sie völlig überstürzt mit meinem Vater aufgebrochen war. Das war fast immer so: Ich bekam immer als Letzte mit, wenn sie weg mussten. Doch damit konnte ich leben. Schließlich gaben sich die Beiden neuerdings Mühe, so viel wie möglich bei mir zu Hause zu sein.

„Entschuldigung“, meldete sich plötzlich eine engelsgleiche Stimme im Hintergrund.

Nicky hatte sich uns zugedreht, sie fixierte mich mit ihren großen Augen.

„Ja, bitte?“, fragte Frau Tudosa schnippisch. Sie hielt dank Nickys Noten nicht allzu viel von ihr.

„Aki hat Freunde, die in einer Art WG wohnen. Zufällig weiß ich, dass einer von ihnen heute Vormittag Zuhause ist. Vielleicht kann Aki ja zu ihm gehen? Dann wäre zumindest jemand da, der mitbekommt, wenn ihr etwas passiert.“

Frau Tudosa überlegte kurz und starrte dabei an die Decke.

Ich jedoch konnte nicht anders- irgendwie war ich Nicky dankbar für ihren Einfall. Vielleicht hatte ich ja etwas überreagiert, was sie anging.

„Mhm, ja, ich denke, dass ist eine mögliche Alternative… Seit Jahren mal ein konstruktiver Beitrag zum Geschehen von Ihnen, Kusake!“, sagte Frau Tudosa zu Nicky gewandt.

„Wer ist denn von den dreien da?“, fragte ich Nicky, meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Ich wusste nicht, woran es lag, aber der Schmerz in meinem Kopf war schlimmer geworden.

„Yusei“, murmelte Nicky und lächelte mich freundlich an. „Hast du dein Handy dabei?“

Ich schüttelte den Kopf. Trotz Schmerzen konnte ich mir ein zaghaftes Lächeln nicht verkneifen.

„Weißt du was? Du guckst, dass du alle deine Sache zusammen hast und schon mal deine Jacke anziehst und ich rufe bei Yusei an, okay?“

Ich hatte wirklich zu vorschnell geurteilt! Sie war immerhin meine beste Freundin!

„Werde ich hier denn gar nicht mehr gefragt?“, rief Frau Tudosa fast schon wütend.

Wir beide guckten sie an, schuldbewusst, und beide hielten wir in unseren Tätigkeiten inne.

Frau Tudosa seufzte. „Gut, tun Sie, was Sie für richtig halten, aber Nicky“ – sie nannte sie sehr bewusst beim Vornamen, wie es mir schien –„ich erwarte Sie spätestens in 10 Minuten zurück im Unterricht!“

Nicky nickte, schnappte sich ihr Handy und verließ die Klasse.

Ich nahm meine Jacke vom Stuhl, schlüpfte in die Ärmel, nahm die Träger meiner Tasche in die Hand und warf sie mir über den Rücken- zu gerne würde ich etwas von dem Gespräch zwischen ihr und Yusei mitbekommen.

„Izayoi, Ihr Entschuldigungsbrief!“, rief Frau Tudosa mir noch hinterher, als ich gerade die Klasse verlassen wollte.

Ich drehte mich auf dem Absatz um, was ich sofort bereute- plötzlich drehte sich alles und mir war speiübel.

„Danke.“ Ich torkelte zum Lehrerpult, nahm den Zettel und wandte mich wieder der Klassenzimmertüre zu.

„Geht es, Izayoi?“, fragte Frau Tudosa besorgt und ich spürte, wie sich zwei Hände von hinten auf meine Schultern legten.

„Ja.“ Mehr brachte ich nicht zustande. Zu groß war die Angst, mich hier im Raum vor meinen ganzen Mitschülern zu übergeben.

„So geht das nicht! Hat Ihr Freund ein Auto, mit dem er Sie abholen kann?“

Langsam schüttelte ich den Kopf.

„Dann werde ich Sie fahren.“

Was danach geschah, bekam ich nicht mehr mit; das Letzte, was ich sah, war der immer näher kommende Boden und schließlich wohltuende, schmerzbetäubende Dunkelheit.

Der Schmerz der Erkenntnis

Als ich die Augen aufschlug, war das Erste, was ich spürte eine angenehme, wohlige Wärme, was mich doch sehr wunderte, hatte ich mich doch davor in einem eher kalten, ungemütlichen Klassenraum befunden.

Es war dunkel, doch nach einer gewissen Zeit hatten sich meine Augen daran gewöhnt und langsam setzte ich mich auf, um mich umzusehen.

Ich saß auf einem breiten, gemütlichen Bett, umhüllt von einer dicken, weichen Decke. Es war vollkommen still. Durch die Vorhänge am Fenster schräg gegenüber drang schwach das Tageslicht in den eher spärlich möblierten Raum, in dem ich ganz alleine war.

Die Türe, die an der Wandseite meines Bettes war, hatte jemand einen Spalt weit offen gelassen.

Völlig verdattert fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare.

Wo zum Teufel war ich?

Ich versuchte krampfhaft, mich an das zu erinnern, was vor wahrscheinlich noch nicht allzu langer Zeit passiert war.

Ich war zur Schule gegangen und hatte einen Test verhauen.

Aber das war doch noch lange keine Erklärung dafür, in einem unbekannten Raum aufzuwachen!

Plötzlich hörte ich draußen vor der Türe Geräusche. Sie klangen wie Schritte, die immer näher kamen.

Mein Herz setzte aus, als ich sah, wer da durch den Türspalt linste.

„Du bist ja wach!“, sagte Yusei überrascht, trat ins Zimmer, knipste das Licht an, ging um das Bett herum und hockte sich neben mich.

Ich nickte langsam und sah ihn mit großen Augen an.

„Alles klar bei dir?“ Seine Augenbrauen zogen sich besorgt zusammen.

Genau DAS fragte ich mich gerade auch!

„Öhm… ich glaube schon.“, murmelte ich und starrte angestrengt auf meine Hände. „Sag mal… was ist passiert? Wo bin ich?“

Er lächelte sanft. „Du bist in der Schule ohnmächtig geworden. Der Arzt meinte bei deiner Untersuchung, dass du wohl einfach nur überarbeitet wärst und ein paar Tage Ruhe nötig hättest. Und da deine Eltern nicht da sind, hat deine Lehrerin dich zu uns gefahren. Und das hier“, er machte eine Gestik, die klar machte, dass er den Raum meinte, „ist mein Zimmer!“

Ich ließ die Schilderung der Situation kurz auf mich wirken.

„Warum sagen eigentlich immer alle, ich wäre überarbeitet?“, fragte ich schließlich fast schon gekränkt und ließ mich zurück in die Kissen sinken. Jetzt war alles wieder da; die Erinnerung an die Kopfschmerzen, daran, dass Frau Tudosa mich zu Yusei geschickt, und an die Dunkelheit, die mich auf einmal umgeben hatte.

„Entschuldige, Aki, aber wenn ALLE das sagen, wird es wohl so sein.“ Ich schaute ihn an und zu meiner Verwunderung sah ich ein Grinsen auf seinem Gesicht.

„Was ist so komisch?“, stieß ich überrascht aus.

„Nichts.“

„Blöde Antwort!“

„Schon möglich…“

„Aber du sagst es mir trotzdem nicht?“

„Genau!“

Auch auf mein Gesicht legte sich ein Lächeln.

Ich begann, in der Situation das Positive zu sehen.

Ich lag in Yuseis Bett, unter Yuseis Decke, in Yuseis Zimmer und das Beste daran war- Yusei war bei mir. Und niemand sonst war in der Nähe!

Warum konnte man in den tollsten Augenblicken des Lebens eigentlich nicht vor Glück schreien?

Richtig.

Weil der, der an dem Glück maßgeblich beteiligt war, meistens in der Nähe stand und wie in meinem Fall nicht wusste, was er Großartiges bewirkte!

Ich quietschte fast, als Yusei sich den Handschuh auszog und seine Hand auf meine Stirn legte.

„Mhm… ich glaub, du hast Fieber.“, murmelte er nachdenklich. „Der Arzt hat ein Thermometer hier gelassen, damit wir zwischendurch immer mal wieder messen können. Ich hole es schnell.“ Mit diesen Worten stand er auf und rauschte aus dem Raum.

Irgendwie gefiel es mir, wie er „wir“ sagte. Ich wusste nicht wieso, aber es hörte sich so… richtig an.

Keine 10 Sekunden später kam er wieder zurück.

„Hier“, murmelte er und legte mir das Thermometer in die Hand. Ohne zu zögern nahm ich die Spitze vorsichtig in den Mund und schloss die Augen.

Geschlagene 3 Minuten verbrachten wir so in dem Raum nebeneinander. Ich wusste um die Tatsache, dass Yusei neben mir stand und ich spürte, wie er mich beobachtete, doch ich wehrte mich innerlich mit Zähnen und Fäusten dagegen, die Augen wieder zu öffnen.

Als das Thermometer piepste, nahm Yusei es mir vorsichtig aus dem Mund.

Ich konnte nicht mehr. Meine Lider schnellten nach oben und ich sah in sein Gesicht, dessen Augen besorgt die Skala des Gerätes fixierten.

„39,3°C.“ Er ließ seine Hand sinken, zog eine Augenbraue hoch und schaute mich an. „Das ist zu hoch!“

„Ich weiß.“, murmelte ich. „Trotzdem… um ehrlich zu sein, geht es mir schon wieder viel besser.“

„Nein, Aki, das meine ich nicht! Mag ja vielleicht sein, dass es dir besser geht, aber ich habe noch nie von einem Überarbeiteten gehört, dass er einzig und allein deswegen Fieber hat. Du etwa?“

Ich schüttelte den Kopf. „Aber wo liegt das Problem? Dann hab ich mir vielleicht eine Erkältung eingefangen, so dramatisch ist das auch nicht!“

Er seufzte und deutete mir an, dass ich rüberrutschen sollte. Bereitwillig gehorchte ich und machte ihm Platz. Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante.

Erwartungsvoll sah ich ihn an.

„Hast du schon mal davon gehört, dass es Dinge gibt, die das Immunsystem schwächen können?“

„Klar. Worauf willst du hinaus?“

Er atmete tief ein und aus, bevor er antwortete. „Aki, irgendwas stimmt nicht mit dir. Du bist anders als sonst, lächelst kaum noch, du bist durchgehend nervös wenn wir uns sehen… und ich habe mich gefragt, woran das liegt. Denn auch seelische Belastungen können eine Schwächung des Immunsystem hervorrufen, was dich logischerweise anfälliger für solche Sachen wie eine Erkältung macht.“

Und Crow hatte gesagt, Yusei hätte nichts gemerkt!

Mein Herz begann zu rasen und ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte. Doch irgendwas musste ich sagen, schließlich saß Yusei neben mir und wartete.

„Ähm… ja… also…“, stammelte ich.

„Ich kann mir denken, woran es liegt.“, murmelte er.

„Echt?“ Ich traute meinen Ohren nicht. Konnte es wirklich sein, dass er…

„Es liegt an deinen Eltern, stimmt´s?“ In seiner Stimme klang eine Mischung zwischen Bedauern und Traurigkeit mit.

… Japp!

So oder ähnlich hatte ich mir das in meinem tiefsten Innern vorgestellt!

Ich spürte, wie mein Gesicht zu der eisernen Maske wurde, die ich in letzter Zeit immer aufsetzte, wenn Yusei in der Nähe war.

„Aki?“, fragte Yusei plötzlich. „Lieg ich falsch?“

„Nein, du hast Recht.“ Jedes Wort tonlos, jedes Wort ohne Hoffnung.

Seine Hand schloss sich um meine, die auf der Decke lag. Ich spürte sie kaum.

In einem Moment himmelhoch jauchzend, im anderen zu Tode betrübt. Und ich hatte gedacht, die Pubertät wäre überstanden!

„Nicky hat mir erzählt, dass es bei euch Zuhause oft Streit gibt und du sehr darunter leidest.“ Seine Stimme klang sanft, doch sie erreichte mich kaum.

Aha. Nicky.

Ich war so dumm! Wie konnte ich nur immer wieder auf sie reinfallen?!

„Hat sie das.“ Es war keine Frage- mehr eine Feststellung.

„Ja. Weißt du, ich finde sie sehr nett. Sie macht sich wahnsinnig viel Sorgen um dich. Du kannst wirklich froh sein, eine Freundin wie sie zu haben.“

„Ja, kann ich.“, sagte ich mit mechanischer Stimme.

Eine Weile sagte niemand etwas.

„Aber das bist du nicht.“

Zustimmend nickte ich.

„Wieso nicht?“

Das war zuviel!

„WENN DU DAS NICHT WEIßT, DANN SAG ICH ES DIR AUCH NICHT!“, fauchte ich ihn an, zog meine Hand aus seiner und drehte mich demonstrativ zur Wand.

„Aki, was zum…“

„RAUS!“, schrie ich.

„Aki…“

„VERSCHWINDE! HAU AB!“ Ich schnappte mir ein Kissen, das auf dem Bett lag und warf es dem flüchtenden Yusei hinterher, der die Türe schnell hinter sich zuzog.

„VERDAMMT NOCH MAL!“, brüllte ich so laut ich konnte, zog mir die Decke über den Kopf, grub meine Fingernägel in meine Arme und biss die Zähne zusammen.

Allerdings zerrte ich die Decke sofort wieder weg. Etwas fand ich irritierend:

Seit wann wehte Wind in einem geschlossenen Raum?

Es krachte, rumpelte und polterte ohrenbetäubend laut, als die wenigen Gegenstände des Zimmers durch die Gegend flogen, völlig unkontrolliert prallte der Schreibtisch gegen die eine Wand, gefolgt von einer kleineren Kommode.

Die Türe wurde aufgerissen, zwei panische Gesichter sahen in den Raum, in dem ich mich befand und der Sturm immer noch toste.

„AKI!“, schrie Crow, „WAS IST LOS? WAS MACHST DU DA? HÖR AUF DAMIT!“

Was? ICH sollte das hier bewerkstelligen?

Meine Kinnlade klappte herunter. Ich wollte irgendwas sagen, wusste aber nicht mehr, wie man seine Stimmbänder richtig benutzte und stammelte stattdessen nur einige unartikulierte Worte.

„VERDAMMT!“, rief jetzt auch Yusei, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt, eine Hand schützend über das Gesicht gelegt. „AKI! TU WAS!“

„UND WAS?“ Völlig verzweifelt drehte ich meinen Kopf in alle Richtungen, sah, wie die Wände allmählich Risse bekamen.

Ich wollte das alles nicht!

Ich würde jemanden verletzen, wenn ich so weiter machte! Und wenn ich Pech hatte, sogar Yusei.

„NEIN!“

Der Wind legte sich schlagartig, keiner sagte etwas, die Stille wurde einzig und alleine durch mein Keuchen gestört.

Ich starrte auf die Bettdecke vor mir, die Hände hatte ich zu Fäusten geballt, die Augen weit aufgerissen, unregelmäßig atmete ich ein und aus.

„Aki…“, Crows besorgte Stimme ließ meinen Kopf hochfahren, die Angst stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben. „Was ist passiert?“

„Ich… ich weiß es nicht…“

Da war sie wieder, diese furchtbare Angst.

„Du weißt es nicht…?“

Wie ich sie hasste!

„Nein.“

Wie ich sie verabscheute!

„Sicher? Können wir dir irgendwie helfen?“

Das Schlimmste, was die Angst mit sich brachte?

„Nein. Lasst mich bitte alleine.“

Einsamkeit.

Ich hatte das Gefühl, dass Yusei noch etwas sagen wollte, doch Crow packte ihn am Arm, schaute mich noch einmal an und zog ihn schließlich hinter sich aus dem Zimmer, bevor er die Türe zuzog.

Mein Gehirn arbeitete überraschend schnell angesichts der Situation.

Folgende Dinge waren mir sofort klar.

Erstens: Ich hatte es mal wieder geschafft, meine Kräfte unbewusst wüten zu lassen.

Zweitens: Mit Hängen und Würgen war es mir gelungen, größeren Schaden zu vermeiden.

Und drittens (was meiner Meinung nach die schlimmste Feststellung war): Ich hatte ein Problem!

Ein Großes, um genau zu sein!

Denn der von mir so gefürchtete Ernstfall war eingetreten.

Ich hatte tatsächlich Schwierigkeiten, mich und meine Kräfte zu kontrollieren.

Meine Hände zitterten und Angstschweiß bildete sich auf meiner Stirn und in meinem Nacken.

Und das lag nur an Yusei!

Mit letzter Kraft warf ich die Beine über die Bettkante und stemmte mich hoch. Schlagartig überkam mich ein unangenehmes Hitzegefühl und mir wurde schwindelig.

Ich taumelte langsam zum Fenster und öffnete die Gardinen. Die trügerisch friedlich scheinende Sonne warf ihre letzten Strahlen in mein Zimmer.

Warum eigentlich trügerisch? Die Welt wusste nichts von dem Schmerz, den ich spürte. Sie konnte nichts dafür.

Denn die Folgen meiner brillanten Erkenntnis machten mir zu schaffen.

Wenn ich wollte, dass Yusei ein glückliches und (vor allen Dingen) UNGEFÄHRLICHES Leben führen konnte, blieb mir nur eine einzige Möglichkeit:

Ich musste meine Hoffnungen endgültig begraben und mich von ihm fernhalten.
 

Plötzlich stand Crow neben mir.

„Wie lange willst du noch aus dem Fenster gucken? Man kann doch eh Nichts mehr erkennen.“, flüsterte er.

Erst jetzt registrierte ich, dass ich so lange unverändert vor dem Fenster gestanden hatte, dass die Nacht hereingebrochen war.

Wie ein Roboter drehte ich mein Gesicht zu ihm und sah in seine Augen, die mich voller Sorge fixierten.

„Du bist krank, Aki. Leg dich ins Bett und schlaf dich aus.“

Als ich keine Reaktion zeigte, legte er einen Arm um meine Schulter und zog mich förmlich zum Bett. Dort angekommen drückte er mich mit sanfter Gewalt in die Kissen und deckte mich zu.

„Nicht mehr weinen.“, nuschelte er und wischte die von mir völlig unbemerkten Tränen von meinen Wangen.

Ich sagte immer noch kein Wort.

Crow stand seufzend auf und sah noch einmal kurz auf mich herab, bevor er den Raum verließ.

Dann ließ er mich alleine.

Als er die Türe hinter sich schloss, umgab mich diese furchtbare Dunkelheit, die alles in sich verschlang.

Und ich fiel.

Ich fiel haltlos in ein tiefes, schwarzes Loch.

Erneut zerbrach meine Welt. Und das aus einem Grund, der alle anderen Menschen dieser Welt glücklich machte, oder zumindest machen sollte.

Weshalb war mein Leben eigentlich so voller Leid, Hass und Einsamkeit?

Konnte nicht einfach mal alles so laufen, wie es sollte?

Ich schloss die Augen, die stummen Schluchzer brachen nun hemmungslos aus mir heraus.

Doch diesmal konnte mir keiner helfen.

Aber es war gut, dass zu wissen. Dann wartete man nicht.

Mir war schlagartig klar: Ich war erneut allein.

Wisch die Tränen weg, die Welt ist wundervoll!

Yuseis POV
 

Der Laptop vor mir ratterte leise vor sich hin, während ich kurz vor einer Verzweiflungstat stand, was durch verschiedenste Gründe hervorgerufen wurde.

Genervt zwickte ich mir in den Nasenrücken.

Bloß nicht drüber nachdenken!

Meine Augen wanderten erneut über den mit Zahlen übersäten Bildschirm, suchten nach dem Fehler, der sich in mindestens einen der Befehle eingeschlichen hatte.

So saß ich jetzt schon seit Stunden da: Mit krummen Rücken an dem Schreibtisch in meiner Werkstadt, den Kopf in die Hände gestützt, die Augen weit aufgerissen.

Dabei sah ich eigentlich nichts von dem, was mir gegenüber war und meine Aufmerksamkeit in jeder anderen, normalen Situation auf sich gezogen hätte.

Mir schwirrte nur ein Gesicht im Kopf herum.

Eine Woche war seit dem kleinen Zwischenfall vergangen und Aki hatte sich mehr und mehr in mein Zimmer zurückgezogen. Ihre Eltern hatten bei uns angerufen, gefragt, wie es ihr ginge und uns schließlich darum gebeten, ob es möglich wäre, dass Aki noch etwas länger bei uns bleiben könnte.

Natürlich war das für uns kein Problem, doch Aki hatte sich nur schwer überzeugen lassen. Erst nachdem Crow ihr immer wieder eingeredet hatte, dass wir es unmöglich verantworten könnten, sie in ihrem immer noch geschwächten Zustand alleine bei ihr Zuhause zu lassen, hatte sie widerstrebend eingewilligt.

Nach einem weiteren Gespräch mit ihrer Mutter hatte ich mich heute mit dieser geeinigt, Aki noch eine volle Woche bei uns zu behalten. Crow war erneut zu ihr gegangen, doch die wie befürchtet heftige Reaktion war ausgeblieben. Laut seiner Berichterstattung hatte sie nur müde genickt, sich aufs Bett geworfen und die Wand angestarrt.

Wenn ich den Erzählungen von Jack und Crow glauben schenken konnte, tat sie das meistens.

Ich selbst hatte keine Ahnung, wie sie reagierte.

Ich hatte ja striktes Zimmerverbot!

Den Grund dafür hatte ich auch nach wiederholtem Nachfragen noch immer nicht gesagt bekommen. Das Einzige, was Crow tat, war, mir jeden Tag, wenn er von der Arbeit kam, mit der gleichen Frage auf die Pelle zu rücken.

Das würde auch heute nicht anders sein.

Deshalb seufzte ich tief, als ich ihn ins Zimmer kommen hörte.

„Warst du bei ihr im Zimmer?“, fragte er gereizt, legte seinen Helm ein Stück weit entfernt von mir auf ein Regalbrett und ging direkt weiter Richtung Küche, was seinem alltäglichen Ritual voll und ganz entsprach.

„Hallo Crow, freut mich auch, dich zu sehen“, flüsterte ich sarkastisch und fügte schließlich lauter hinzu, „Nein! Warum fragst du mich das eigentlich ständig? Sie will es nicht, und basta!“

Ich hörte ihn laut auflachen: „ Du weißt doch, Alter: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“

Genervt stöhnte ich und widmete mich wieder meiner Arbeit.

Es war früher Abend, und ich knobelte jetzt schon fast den ganzen Tag an diesem Problem. Allmählich verschmolzen die Zahlen miteinander und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, müde wie ich war.

„Ich glaub, ich brauch ne’ Brille.“, nuschelte ich und gähnte herzhaft.

Crow setzte sich mit einem schnell zubereiteten Sandwich auf die kleine Couch an der einen Seite des Raumes und sah mich grinsend an. „Wie wär’s erstmal mit einer ordentlichen Portion Schlaf?“

„Ich würde ja schlafen, wenn unsere kleine Missy nicht mein Bett blockieren und mich nicht dazu zwingen würde, auf diesem unbequemen Ding da“ –ich fuchtelte angewidert mit der Hand Richtung Couch –„ schlafen zu müssen!“

Mit diesen Worten flog erneut die Türe auf und Aki (man höre und staune!) schlurfte in den Raum.

Um ehrlich zu sein: Sie sah furchtbar aus!

Sie trug eine weite Jogginghose und ein schwarzes, eng anliegendes Langarmshirt, was ihr beides sehr gut stand, auch wenn es ein sehr legerer Stile war, den noch lange nicht jeder tragen konnte. Doch wenn man ihr ins Gesicht schaute, überdachte man seine Meinung von dem „verdammt hübschen Ding“ noch einmal.

Ihr Gesicht war aschfahl, unter den kleinen Augen mit den dick geschwollenen Lidern lagen tiefe, dunkle Ringe.

Es tat mir im Herzen weh, sie so zu sehen, doch ich hielt meinen Mund.

Ihre Einstellung mir gegenüber hatte sich von Grund auf geändert: Während sie vor noch einer Woche mir unheimlich nervös und unsicher entgegengetreten war, strafte sie mich nun mit purer Abneigung. WENN ich sie dann einmal sah, bekam ich direkt mehrere bissige Bemerkungen an den Kopf geworfen. Am Anfang hatte ich es noch geschafft, diese zu überhören, doch sie ließ nicht locker und versuchte immer wieder, mich zu reizen.

Mit Erstaunen hatte ich festgestellt, dass man einen befriedigten Ausdruck in ihren Augen erkennen konnte, wenn ich selber auch lauter wurde und zurückschlug; wenn es das war, worauf sie hinaus wollte, konnte sie so viele Auseinandersetzungen haben, wie sie ertragen konnte.

Heute schaute ich noch nicht mal mehr von meinem Bildschirm auf, und auch sie würdigte mich keines Blickes.

Dennoch startete der bereits vorprogrammierte Schlagabtausch zwischen uns beiden fast augenblicklich.

„Das hab ich gehört!“, murmelte sie, als sie durch die Werkstadt in Richtung Küche stapfte. „Soso, eine „Missy“ bin ich also…“

„War auch so beabsichtigt!“, schlug ich zurück, ohne näher darauf einzugehen. Allerdings war ich nicht so richtig bei der Sache.

„Ach, so was, wenn die anderen wüssten, dass unser Gentleman so UNHÖFLICH sein kann.“ In der Küche erklang ein lautes Scheppern, gefolgt von einem noch lauteren Fluchen.

„Wenn die Menschheit wüsste, dass die neue Musterschülerin und Superduellantin fluchen kann wie ein Bierkutscher…“, rief ich mechanisch zurück.

„OHHH!“, rief sie laut, trat aus der Küche zurück zu uns in den Raum und somit in mein Blickfeld. Gespielt theatralisch klappte sie die Kinnlade herunter und legte eine Hand auf ihre Brust. „Der Herr, der noch nie eine Schule von innen gesehen hat und in seinem bisherigen Leben keinerlei Unterricht mitverfolgen konnte, bezeichnet MICH als Musterschülerin und wagt es, mir auf diese plumpe Art zu drohen…?!“

„Du hast angefangen!“ Ich stand auf und reckte mich. Dabei spürte ich ein unangenehmes Ziehen in meinem Rücken, was mich sofort die Arme zurückziehen ließ und mir ein schmerzvolles Ächzen entlockte.

„Sieh dich doch mal an.“, giftete Aki und blickte mir direkt ins Gesicht, ihre Augen besaßen plötzlich wieder eine Spur von Lebendigkeit. „Du sitzt den ganzen Tag an dieser Kiste und suchst nach einem mehr als offensichtlichen Fehler! Was ist eigentlich mit dir los? Du wirkst nur noch wie eine Maschine, die dazu gezwungen wird, zu existieren und Arbeiten zu verrichten. Für uns bist du in dieser Zeit fast unansprechbar! Dabei verlangt noch nicht einmal jemand von dir, dass du dich ausschließlich um uns bemühst. Aber wie sieht’s denn eigentlich mit deinem eigenen Leben so aus? Wann hast du zum letzten Mal etwas nur für dich alleine getan, völlig ohne Hintergedanken, wie du es gleichzeitig einem von uns Recht machen könntest?“

Verwirrt wanderte mein Blick von ihr zu Crow, und wieder zurück, bis er schließlich an meinem PC hängen blieb.

„Offensichtlicher Fehler?“, knirschte ich ausweichend und ließ mich sofort wieder auf den Stuhl vor dem Rechner sinken.

Ich hörte Aki aufstöhnen und kurz darauf ein Türknallen.

Erleichtert atmete ich aus und lehnte mich zurück, während ich mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte.

„Du weißt, dass sie Recht hat, willst es aber ihr gegenüber nicht eingestehen?“ Crows Stimme klang ungläubig, fast schon gereizt.

„Das geht sie nicht das Geringste an!“

„Und ob es sie was angeht! Ist sie nicht schließlich der Auslöser für deinen derzeitigen Zustand? Beim letzten Mal, als ich dich so gesehen habe, hattest du gerade erfahren, dass Kiryu zu den Dark Signers gehörte. Weißt du noch, wie erleichtert du dich gefühlt hast, als du dich mit ihm ausgesprochen hattest?“

„Das hier ist eine völlig andere Situation!“, presste ich zwischen den Zähnen hervor und kniff die Augen zusammen.

Ich hörte Crow aufstehen und öffnete sie sofort wieder. Er stand wenige Schritte von mir entfernt an der Türe, durch die Aki eben entschwunden war, eine Hand hatte er auf die Türklinge gelegt. Ruhig betrachtete er mich, während sich die Stille unangenehm zwischen uns ausbreitete.

„Weißt du“, sagte er schließlich, während er die Klinge langsam hinunterdrückte, „Ich habe dich eigentlich immer für wahnsinnig intelligent gehalten, Yusei. Diese Meinung hat sich auch nicht sonderlich geändert. Doch gerade in dieser „völlig anderen Situation“ hätte ich nicht gedacht, dass du die Lösung des Problems, die sich derzeit GENAU vor deiner Nase befindet, scheinbar einfach nicht akzeptieren willst. Es ist kein Rätsel mehr. Das weißt du selber am besten!“ Er lächelte. „Du weißt am besten von uns allen, was du wirklich für diese Lösung in menschlicher Gestalt empfindest. Mach was draus, oder lass es sein! Aber quäl sie nicht so. Es ist an der Zeit, dass du dir mal über einige Sachen klar wirst!“

Damit drehte er sich um und verschwand.

Völlig aus dem Konzept gebracht sah ich ihm hinterher.

Was meinte er mit „die Lösung nicht akzeptieren“?

Als ich auch nach einiger Zeit noch nicht hinter den Sinn seiner Worte gekommen war, stand ich schlecht gelaunt auf, schaltete den Laptop ab und ging zum kleinen Sofa, auf das ich mich schwungvoll fallen ließ. Mühsam wälzte ich mich herum, so dass ich auf dem Rücken lag und gedankenverloren an die weiße Decke starrte.

Das unbarmherzige Ticken der Wanduhr zog meine Aufmerksamkeit auf sich, und während ich mir weiterhin den Kopf wegen Crows Worten zermaterte nahm ich kaum wahr, dass es bereits 21:10 Uhr war.

Ich ließ meine Augen zufallen und gab mir Mühe, meinem Gehirn die Arbeit zu verbieten.

Schon bald wurde ich von der Erschöpfung übermannt und eine dumpfe Dunkelheit zog mich in ihren erbarmungslosen Bann.
 

Als ich aufwachte, war ich fast augenblicklich hellwach.

Durch die Fenster hindurch drang kein Licht- es musste wohl noch Nacht sein.

Ich setzte mich ächzend auf und überlegte angestrengt, was mich wohl um meinen wohlverdienten Schlaf gebracht haben könnte.

Es dauerte eine Zeit, bis ich verstand, dass die erstickten Schluchzer, die aus der Küche zu kommen schienen, wahrscheinlich die Ursache dafür waren.

Ich warf die Beine über die Sofakante und stemmte mich hoch. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und halfen mir nun so gut sie konnten, mir meinen Weg durch die Werkstadt Richtung Küche zu bahnen.

Als ich die angelehnte Küchentür erreichte und sie vorsichtig öffnete, weiteten sich meine Augen vor Überraschung.

„Aki!?“, flüsterte ich ungläubig.

Sie stand mit dem Rücken zu mir am Spülbecken, stützte sich mit den Armen an der Kante ab und hatte den Kopf gesenkt. Wieder und wieder zuckte ihr Körper aufgrund ihrer starken Schluchzer zusammen.

Langsam ging ich auf sie zu und blieb unschlüssig hinter ihr stehen. Sollte ich sie beruhigen? Versuchen, sie zu trösten? Sie vielleicht in den Arm nehmen? Bei diesem Gedanke vollführte mein Herz einen unangenehmen Salto.

„Was willst du?“, stotterte sie, so gut es ging. Ihre Stimme klang belegt. Sie musste wohl schon eine längere Zeit lang geweint haben.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Vorsichtig hob ich meine Hand an und strich ihr über den Rücken, wobei sie noch stärker zusammen zuckte, als sie es ohnehin schon tat.

„Alles klar bei dir?“ Augenblicklich biss ich mir auf die Unterlippe. Was für eine bescheuerte Frage, wenn sie vor mir stand und förmlich in Tränen ertrank!

Doch sie tat etwas, was nicht ganz der von mir erwarteten Reaktion entsprach. Mit einem erneuten Aufheulen drehte Aki sich um und warf sich in meine Arme.

Nachdem ich mein Erstaunen nach einiger Zeit wieder im Griff hatte, schlang ich ein wenig unbeholfen die Arme um sie und zog sie etwas näher zu mir heran.

Ihr Tränenstrom allerdings verebbte nicht. Mein T- Shirt war bald durchnässt und klebte an meiner Brust, genau da, wo ihr Gesicht auf lag.

Doch es machte mir überhaupt nichts aus. Im Gegenteil: Ich genoss es, ihre Nähe so deutlich zu spüren und sie so ohne weiteres in meinen Armen halten zu können. In gewisser Hinsicht war ich egoistisch: Ich wollte sie nicht fragen, wieso sie weinte, aus Angst, sie loslassen zu müssen. Aber auch sie machte keine Anstalten, sich wegen ihres Tränenausbruches zu rechtfertigen.

Also standen wir stumm in der dunklen Küche, in die durch die Fenster schwach das Licht der Straßenlaternen fiel.

Und während ich ihr zärtlich über den Rücken streichelte und hin und wieder leise „Shhh“ machte, beruhigte Aki sich allmählich, doch auch nachdem ihr letzter Schluchzer verklungen war und sie nur noch still zitterte, jedoch keine neuen Tränen mein T- Shirt mehr benässten, entfernte sie sich keinen Millimeter von mir.

Vorsichtig legte ich mein Kinn auf ihren Kopf. Obwohl ich noch nicht mitbekommen hatte, dass sie unsere Dusche benutzte, rochen ihre Haare angenehm süß und irgendwie fruchtig.

Während ich meinen Gedanken nachhing, hatte ich unbewusst die Augen geschlossen und wurde erst wieder durch Akis letztes Zittern, begleitet mit einem erleichterten Aufseufzen, zurück in die Realität geholt.

Die gemeiner nicht hätte sein können!

Ohne Vorwarnung wand sie sich geschickt aus meiner Umarmung, drehte mir den Rücken zu und ging zum Kühlschrank.

Unfähig ein Wort zu sagen, sah ich ihr wehmütig hinterher.

Warum? Warum? Warum?

Warum fiel es mir so schwer, mir über meine Gefühle klar zu werden, geschweige denn über sie zu sprechen?

Nachdem Aki sich aus dem Kühlschrank Mineralwasser und aus einem kleinen Schrank ein Glas genommen hatte, ging sie schweigend zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

Als ihr Blick meinen traf, setzte mein Atem kurz aus: Auch wenn der Raum nur spärlich von draußen beleuchtet wurde, konnte ich dennoch sehen, welche Lebendigkeit sie plötzlich erfüllte. Obwohl sie geweint hatte, waren ihre Augen groß und glänzend, eine Art Zufriedenheit lag in ihnen.

Ohne weiter darüber nachzudenken ließ ich mich ihr gegenüber ebenfalls auf einen Hocker nieder und sah sie entgeistert an. Ein plötzliches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie das halbvolle Glas in ihren Händen hin und her drehte.

Endlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden. „Was?“

„Wie „was“?“

„Du lächelst.“, stellte ich verwundert fest.

„Ist das so unnatürlich?“

„Bei dir schon.“ Ich zog die Augenbrauen zusammen, während ihre Mundwinkel sich noch ein Stückchen weiter nach oben hoben. Normalerweise hätte ich mich über ihre scheinbar nun doch etwas gebesserte Laune gefreut: doch der Ausdruck in ihren Augen hatte sich verändert. Plötzlich lag so etwas wie tiefes Bedauern und Zorn darin, was ihr Lächeln fast schon grausam wirken ließ.

„Tja…“, murmelte sie und starrte auf die Tischplatte.

Eine Weile saßen wir einfach nur da und schwiegen uns an.

Mein Gehirn hatte die Arbeit wieder aufgenommen und ich versuchte mit ihm zusammen wieder Herr der Lage zu werden.

Doch wir beide scheiterten kläglich!

Zwei Fragen beschäftigten mich immer mehr: Ich hatte wirklich gedacht, ich würde Aki kennen. So, wie Freunde sich nun mal kannten. Irgendwie halt ziemlich gut.

Doch ich hatte mich getäuscht.

Wer, zum Teufel, war sie eigentlich wirklich?

Nur weil ich dachte, dass sie endlich mit ihren Kräften zurechtkam, hieß das noch lange nicht, dass es auch so war!

Und nur weil ICH sie für normal hielt, bedeutete das nicht, dass sie auch NORMAL war.

Doch die wichtigere der beiden Fragen: Was empfand ich eigentlich wirklich für sie?

Freundschaft? Liebe?

Ich zitterte, obwohl es in der Küche warm war. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, wo die Grenze zwischen Freundschaft und Liebe lag. So etwas hatte man mir nie beigebracht. Wer hätte das auch tun sollen? Meine Eltern waren tot. Sicher, Martha hatte mich liebevoll aufgezogen und ich mochte sie sehr, doch konnte man das Liebe nennen?

Unsicher lugte ich zu Aki hinüber. Hübsch war sie ja, sehr hübsch sogar. Ihre roten Haare umrahmten ihr schönes Gesicht, ihre Augen waren groß und hatten die Farbe von goldbraunem, flüssigem Honig, die Nase war perfekt geformt.

Mein Blick blieb an ihren Lippen hängen, die sich erneut zu einem Lächeln verzogen, als sie bemerkte, dass ich sie musterte. Strahlend weiße Zähne kamen zum Vorschein.

Ohne es zu wollen seufzte ich laut.

Während ich mir peinlich berührt die Hand vor den Mund schlug und spürte, wie ich scharlachrot anlief, brach sie in unterdrücktes Lachen aus.

„Was ist?“, fragte ich irritiert, doch konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Wenn sie lachte, bildeten sich kleine Grübchen unterhalb ihrer Wangen. Das war mir bisher noch nie aufgefallen!

„Dein Gesicht.“, kicherte sie, „Du sahst gerade aus, als wäre dir ein Licht aufgegangen. Kennst du das? Wenn du eine Sache eine ganze Zeit lang nicht verstehst, doch irgendwann begreifst du es doch und wunderst dich über deine eigene…“, sie stockte, ich nickte.

„Über deine eigene Blödheit?“, flüsterte ich, in der Hoffnung, ihren Satz richtig beendet zu haben.

„Ja“, hauchte sie, doch ich spürte, dass sie nur noch körperlich in diesem Raum anwesend war.

Ich sah sie eine Weile stumm an, doch als sie plötzlich wie von der Tarantel gestochen aufsprang, zuckte ich heftig zusammen.

„Ich gehe jetzt ins Bett.“, verkündete sie und machte sich auf den Weg aus der Küche.

„Warte!“, rief ich ihr völlig überrumpelt hinterher. Ich bekam gerade noch ihre Hand zu fassen. Sie war warm und weich.

Aki blieb stehen, drehte sich um und sah mich halb erwartungsvoll, halb verwundert an. „Was ist? Willst du etwa in deinem Bett schlafen?“

„Ähm… nein…“, erwiderte ich verdutzt.

„Was ist denn dann?“

„Willst du mir nicht sagen, wieso du geweint hast?“, fragte ich unschuldig.

Während sie überlegte, verzog sie nachdenklich den Mund und starrte angestrengt an die Decke.

„Nein.“, sagte sie schließlich gedehnt und sah mich mit festen Blick an. „Hat sich eh erledigt!“

Und dann breitete sich ein so herzliches und aufrichtiges Lächeln auf Akis Gesicht aus, wie ich es seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Es erreichte ihre Augen und ließ sie im spärlichen Licht leuchten wie ein von allen Seiten beschienener Kristall.

Völlig überwältigt von diesem Anblick registrierte ich kaum, dass sie ihre Hand aus meiner zog, sich auf die Zehenspitzen stellte, mich kurz auf die Wange küsste und schließlich in Richtung meines Zimmers davon rauschte.

Mit offenem Mund starrte ich ihr hinterher.

Wer war sie nur?

Von Nüssen und anderen Dingen...

Das Leben besteht aus nichts anderem,

als aus einer schier endlosen Kette von Augenbicken.

Ich wünsche dir, dass du zahllose Augenblicke voller

Glück erlebst, die dir die nötige Kraft schenken, auch

die bedrückenden Zeiten zu ertragen.
 

Die ganze Nacht über hatte ich kein Auge zugetan.

Aber ehrlich, wen kümmerte das schon? Mich jedenfalls nicht!

Ich war hellwach und verspürte nicht die geringste Müdigkeit, als ich bei Tagesanbruch aus dem Bett kletterte und mich anzog.

Mein Herzschlag hatte sich noch immer nicht beruhigt. Unregelmäßig pochte es von innen gegen meine Brust, doch mir war es egal.

Dieses Lächeln, das auf meinem Gesicht lag, und jedem, der es sah, förmlich von meiner Glückseligkeit erzählte, wollte einfach nicht verschwinden.

Ich tanzte fast zum Fenster, dessen Vorhänge ich diese Nacht nicht zugezogen hatte. Der Sternenhimmel, den ich vom meinem Bett aus hatte sehen können, war einfach zu schön gewesen.

Es war, als wäre ich diese Nacht wiedergeboren worden und sah dies alles zum ersten Mal.

Als ich Yuseis Zimmer verließ und langsam in Richtung Küche ging, lauschte ich auf Geräusche im Haus. Allerdings konnte ich nichts hören, überall war es still. Jack, Crow und Yusei mussten wohl noch schlafen.

Auf Zehenspitzen bahnte ich mir einen Weg durch die Werkstatt, wobei ich mir einen Blick auf die Couch nicht verkneifen konnte.

Ich hätte nicht gedacht, dass mein Herz NOCH schneller schlagen könnte, doch ich hatte mich getäuscht. Kaum hatte ich Yusei gesichtet, beschleunigte es unbarmherzig.

Ich blieb mitten im Raum stehen und fluchte still, wobei ich mir fest auf die Unterlippe biss.

Nicht, dachte ich angestrengt und mein Herzschlag verlangsamte sich ein wenig.

Erst dann richtete ich meinen Blick wieder auf Yusei.

Er lag lang ausgestreckt auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und atmete regelmäßig vor sich hin. Ich kicherte. Scheinbar war ich also doch die einzige mit Schlafstörungen.

Ich tappte vorsichtig weiter in die Küche, zog mir meine Schuhe an, die ich in eine der Ecken gestellt hatte und warf mir meine Jacke über. Dann öffnete ich leise die Haustür und ließ sie schnell wieder ins Schloss fallen, damit die doch etwas kühlere Morgenluft Yusei nicht störte, der ohne Decke schlief.

Es war schon eine ganze Zeit her, seit ich das letzte Mal draußen an der frischen Luft gewesen war. Auch das kam mir so neu, so einzigartig vor, dass ich es kaum glauben konnte.

Wenn ich damals früh wach geworden war, hatte ich oft Spaziergänge unternommen. Doch ich hatte die Welt nicht so wunderschön in Erinnerung gehabt.

Just in dem Moment brach die noch schwache Morgensonne durch die weißen Quellwolken und schien mir freundlich ins Gesicht.

Die Umgebung, die mir so vertraut und doch so neu war, strahlte in allen Farbtönen und lud mich ein, sie auf ein Neues zu erkunden.

Ich nahm dieses Geschenk dankend an und machte mich auf den Weg, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben.
 

Ich war an einem kleinen Kiosk vorbei gekommen und hatte von dem Kleingeld, das ich in meiner Jackentasche gefunden hatte, für uns vier Brötchen geholt. Sie waren noch frisch und dufteten verführerisch durch die Papiertüte. Mein Magen rumorte unangenehm, doch ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Wie lange war es her, dass ich zum letzten Mal Appetit gehabt hatte?

Ich tänzelte durch die verlassenen Straßen der kleinen Häusersiedlung, wo die Jungs lebten, und gelangte schließlich zu einer kleinen, merkwürdig dunklen, aber mir bekannten Nebengasse. Oft schon war ich durch sie hindurch gegangen, um den Weg von meiner Schule zu Yusei und Co. abzukürzen. Die Gasse war schmal und kurz, verlief zwischen zwei alten Steinhäusern hindurch und war mehr als trist.

Ich wäre nicht stehen geblieben, hätte ich nicht ein flehentliches Winseln gehört. Meine Schritte verlangsamten sich und ich runzelte angestrengt die Stirn. In der Gasse stand an der kühlen Steinwand ein mittelgroßer Karton.

Ich traute meinen Augen und Ohren nicht. Seit wann konnten sich solche Dinge bewegen und Geräusche machen?

Bevor ich mich dem Karton langsam nährte, drehte ich meinen Kopf in alle Richtungen. Niemand war zu sehen, die ganze Umgebung erschien ausgestorben.

Ich kniete mich vorsichtig hin, legte die Brötchentüte neben mich und hob mit spitzen Fingern die zugeklappten Deckel des Kartons an.

Mir stockte der Atem, als mich aus seinem innern ein Paar riesengroßer, schwarzer Augen ansah.

Ich schnappte nach Luft.

Dort saß, auf einem dunkelroten Handtuch, das wohl notgedrungen für Wärme sorgen sollte, ein kleiner, hellbrauner Golden- Retriever Welpe, der leise vor sich hinwinselte und etwas unbeholfen versuchte, über die für ihn zu hohe Kartonwand zu gelangen.

„Na, wer bist du denn?“, fragte ich verwundert, worauf ein klägliches Quäken als Antwort kam.

Mein Herz wurde sofort von Mitgefühl ergriffen. Ohne großartig über das, was ich tat, nachzudenken, zog ich meine Jacke aus, hob den kleinen Hund heraus und wickelte ihn vorsichtig ein. Ich war so hingerissen von dem Anblick des Kleinen, dass ich selbst die morgendliche Kälte kaum noch spürte.

Mit größter Mühe fischte ich die Brötchentüte auf und beeilte mich, zurück zu Yuseis Unterkunft zu gelangen.
 

„Und was machen wir jetzt mit dem Kleinen?“

„Woher willst du wissen, dass es ein „Er“ ist?“, fragte ich leicht angesäuert.

Crow seufzte, hob den Welpen so hoch, dass er zwischen dessen Beine gucken konnte und setzte ihn mit einem erneuten Seufzer wieder ab.

„Er“, sagte er und wich meinem entrüsteten Blick genervt aus.

„Auf jeden Fall muss er was essen“, fiel Yusei plötzlich in unsere Konversation ein.

„Ja, aber was gibt man einem Welpen zu essen?“, murmelte Crow und ließ sich auf einen Stuhl fallen, während das Hündchen schnuppernd um meine Beine streifte, wobei er hin und wieder das Gleichgewicht verlor.

„Sonderlich schlecht scheint es ihm jedenfalls nicht zu gehen. Das heißt, er kann nicht die ganze Nacht dort in der Kiste gelegen haben“, stellte ich fest, beugte mich zu ihm herab und streichelte über sein weiches Babyfell.

„Trotzdem muss er zum Arzt“, antwortete Crow.

Mit einem lauten „PLONK“ fiel die offene Erdnussdose vom Tisch, die Crow mit seinen lebhaften Handbewegungen erwischt hatte.

„Shit!“, riefen wir alle drei gleichzeitig, als sich der Welpe auf die Nüsse stürzte. Er wehrte sich heftig dagegen, von uns weggezogen zu werden, doch diese nur allzu fettreiche Kost war bestimmt nicht das Richtige für einen ausgehungerten Hund.

„Kleiner Schlingel“, murmelte ich und setzte mich mit ihm im Arm auf die Couch. Yusei ließ sich neben mir nieder.

Plötzlich kam mir ein Gedanke.

„Jemand, der seinen Hund liebt, würde ihn niemals aussetzen. Das heißt, er gehört keinem mehr. Der arme Kleine ist obdach- und namenlos…“

Ich schaute mit flehentlich vorgeschobener Unterlippe Yusei an.

Bei diesem fiel der Groschen fast augenblicklich.

„Du willst ihn behalten“, stellte er tonlos fest.

Langsam nickte ich.

Er seufzte und schaute zu Crow hinüber. Dieser zuckte nur mit den Schultern und machte ein „Ist mir doch egal“- Gesicht.

Yusei stöhnte, schaute erneut mich an und machte ein leicht klägliches Gesicht.

„Wenn du so guckst ist es unmöglich, dir etwas abzuschlagen, weißt du das eigentlich?“

Ich grinste glücklich. „Jahrelange Übung!“

Das Hündchen krabbelte auf meinem Schoß rum, schnupperte wie wild an meinen Klamotten, leckte mir über die Hände und begann, mit dem Schwanz zu wedeln.

„Der ist ja putzmunter“, stellte Crow übertrieben desinteressiert fest.

„Yup“, bestätigte Yusei und kraulte ihn hinter den Ohren. Sein Blick suchte meinen. „Lass mich raten, du hast schon einen Namen…“

Ich nickte, hob den Kleinen hoch und kuschelte mich an ihn. „Peanut!“

„Du nennst ihn ERDNUSS?!“ Crow klang vollends fassungslos.

„Nicht Erdnuss, PEANUT!“, keifte ich zurück und streckte ihm die Zunge raus. Entnervt stand er auf, kam zu uns herüber und streichelte dem Hund über den Kopf.

„Armer Kleiner“, murmelte er, „Wirst nach einer Erdnuss benannt…“

„Peanut“, flüsterten Yusei und ich gleichzeitig.

„Ich mag den Namen.“ Yusei lächelte, zog Peanut auf seinen Schoß und fuhr mit den Fingern durch sein Fell.

„Schön. Dann heißt der Kleine jetzt eben Erdnuss!“

Wutschnaubend jagte ich Crow mit einem Kissen aus dem Raum.

„PEANUT, NICHT ERDNUSS!“, rief ich ihm noch hinterher, ging zurück zu Yusei und dem Kleinen und ließ mich neben den beiden nieder.

„Wo hast du ihn gefunden?“, fragte Yusei plötzlich.

„Ach… ich war spazieren… und dabei bin ich an einer kleinen Gasse vorbeigekommen. Peanut war in einem Karton, keine Ahnung, wer ihn da ausgesetzt hat. Er hat gewinselt und gezittert. Ich konnte ihn einfach nicht da lassen…“ Nachdenklich schaute ich auf den Boden vor mir.

Eine kurze Stille folgte, in der Peanut von Yuseis Schoß sprang und begann, den Raum zu erkunden. Wir beobachteten ihn eine Weile, saßen einfach nur ruhig nebeneinander.

Ein weiterer Grund, warum Yusei so einzigartig war: man konnte, ohne dass es unangenehm wurde, wunderbar zusammen mit ihm schweigen.

Ich lehnte mich entspannt zurück und betrachtete die Decke.

Es war schon merkwürdig. Noch vor einem Tag hatte ich Yusei nicht unter die Augen treten können. Ich war so wütend auf ihn gewesen, hatte ihn beinahe gehasst.

Und jetzt…

Ich genoss seine Nähe, hatte das Gefühl, endlich wieder ich selbst zu sein.

Vorsichtig linste ich zu ihm hinüber und merkte, dass auch er mich beobachtete.

„Du willst wissen, wieso ich diese Nacht geweint habe, liege ich richtig?“, seufzte ich und schloss die Augen.

„Ja“, murmelte er kleinlaut.

Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Natürlich wollte er das wissen. Doch er würde nie danach fragen. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die geduldig darauf warten konnten, bis sein Gegenüber aus dem schützenden Schneckenhaus kroch und von sich selbst aus begannen zu erzählen.

Noch während ich überlegte, wie genau ich anfangen sollte, polterte es plötzlich ohrenbetäubend laut.

Yusei sprang augenblicklich lauf und lief dem Unfallort „Küche“ entgegen. Ich natürlich hinterher.

Peanut saß unschuldig, aber mit vor Schreck geweiteten Augen ein paar Meter von einem umgekippten Holzstuhl entfernt. Als wir den Raum betraten, lief er uns entgegen und versteckte sich hinter meinen Beinen.

Vorsichtig lugte er dahinter hervor, als Yusei zu dem Stuhl ging, um ihn wieder aufzuheben.

„Na toll“, murmelte ich und beugte mich zu ihm herunter, um ihn auf den Arm zu nehmen. „Jetzt wird er sein Leben lang ein gestörtes Verhältnis zu Stühlen haben.“

Yusei lachte und ich mit. Es war ein freies, reines Lachen. Ein Lachen, wie es ewig nicht mehr aus meinem Mund gekommen war.

„Weißt du“, begann Yusei glucksend und kam auf mich zu, „Ich finde, wir sollten uns so allmählich mal auf den Weg zum Haustierbedarf machen und das ganze Zeug einkaufen, was wir für Peanut benötigen.“

„Gute Idee!“
 

Keine 5 Minuten später hatten wir Crow damit beauftragt, auf Peanut aufzupassen und uns per Bus in Richtung Haustierbedarf aufgemacht.

Ich hatte ein Notizblöckchen und einen Stift dabei und gemeinsam witzelten wir herum, was der Kleine denn unbedingt brauchte.

So viel Spaß hatte ich in meinem Leben noch nicht gehabt!

Die Mitfahrer im Bus suchten das Weite, als ich mich dazu äußerte, unbedingt ein pinkes Lederhalsband mit glitzernden Sternen für Peanut kaufen zu wollen, Yusei allerdings mit dem Argument dagegen hielt, dass ich unmöglich aus Peanut eine „Erdnüssin“ machen konnte. Die Diskussion artete etwas aus und wenig später lagen wir beide förmlich quer über den Sitzen, weil jeder an das Notizbuch kommen und seinen persönlichen Wunsch aufschreiben wollte.

Wir einigten uns nach einer Ewigkeit schließlich darauf, nach einem roten Lederhalsband Ausschau zu halten.

Vollkommen durch den Wind stiegen wir an der Zielstation aus und lachten uns über einen Punker schlapp, der ein schwarzes Nietenhalsband trug. Falls wir kein rotes Halsband finden würden, kam schwarz definitiv auch nicht in Frage!

Irgendwann legte Yusei, unterbewusst, wie es mir schien, einen Arm um meine Schulter und zog mich ein Stück an sich heran. Die Hitze stieg mir in die Wangen, doch ich achtete nicht darauf.

Erst als wir durch die langsam voller werdenden Straßen gingen, fiel mir auf, dass ich erneut keinerlei Probleme damit hatte, meine Kräfte zu beherrschen.

Ich hatte Yusei noch nie so viel reden hören. Er sprudelte förmlich über, erzählte von seinem Zusammenleben mit Jack und Crow und davon, wie anstrengend die zwei doch oftmals sein konnten.

Wie gebannt hing ich an seinen Lippen, lachte, wenn er lachte, lächelte, wenn er lächelte.

Ich war selig!

In einer Art Trance vergaß ich alles um mich herum. Ich vergaß die Menschen, die an uns vorbei gingen. Ich vergaß, dass es Leute wie Nicky gab.

Ich ließ die Welt mit ihren kleinen und großen Plagegeistern restlos hinter mir und tauchte langsam ein in einen Ort, den ich gerne „Zuhause“ nennen würde.
 

Im Haustierbedarf angekommen suchten wir uns Hilfe bei einer Verkäuferin. Als sie uns fragte, was uns denn noch fehlen würde, erzählte ihr Yusei, charmant wie eh und je, dass wir im Prinzip noch ÜBERHAUPT NICHTS für unseren Hund hätten und wohl oder übel bei Null anfangen müssten.

Nachdem wir uns darüber gestritten hatten, ob wir Peanut einen gehäkelten blauen Pullover kaufen sollten, war die Verkäuferin offensichtlich der Meinung, wir wären ein Paar, denn etwas überfordert warf sie plötzlich ein: „Der Kleine kann den Pulli ja tragen, wenn Sie mit ihm spazieren gehen und wenn ihr Freund arbeiten ist. Sie beide werden ja wohl nicht immer parallel unterwegs sein, oder?“

Völlig perplex betrachteten Yusei und ich die Frau. Nachdem wir uns erneut ausgeschüttet hatten vor Lachen, beschlossen wir stillschweigend, unsere Rollen einzunehmen.

„Also, mein Schatz, machen wir’s denn so, wie die Dame es uns vorgeschlagen hat?“, fragte Yusei und griff nach meiner Hand.

„Ich bin dafür, Hase!“, antwortete ich gedehnt, nahm einen der Pullis und warf ihn in unseren Einkaufskorb.

Die Verkäuferin (mittlerweile wahrscheinlich fest davon überzeugt, wir hätten etwas getrunken!) zeigte uns die Halsbänder und Leinen und zu unserer unwahrscheinlichen Freude gab es ein rotes Lederhalsband mit passender Leine.

„Allerdings würde ich für ihren Welpen erstmal so ein größenverstellbares Geschirr verwenden“, empfahl uns die Frau, die sich scheinbar nach einiger Zeit an uns gewöhnt hatte und nun deutlich entspannter wirkte.

„Darin sieht er bestimmt aus wie eingeschnürt“, murmelte Yusei und hielt sich das Geschirr vor die Brust.

Kichernd zog ich es aus seinen Händen. „Na, dann sieht er eben aus wie ein kleines Paket. Ist doch süß!“ Ohne über das, was ich tat, nachzudenken, stellte ich mich auf die Zehenspitzen.

„Und dir passt es sowieso nicht! Wenn du auch so was Tolles haben willst, sollten wir vielleicht den Laden wechseln“, flüsterte ich ihm ins Ohr und küsste ihn auf die Wange.

Sowohl Yusei als auch die Verkäuferin sahen mich mit leuchtenden Augen an.

„HACH!“, trällerte die etwas ältere Frau, „JUNGE LIEBE!“

Yuseis Mund stand leicht offen, so, als wollte er etwas sagen, doch ich legte ihm einen Finger auf die Lippen.

„Psssssst“, machte ich und schaute in seine blauen Augen.

Dann wandte ich mich wieder der plötzlich strahlenden Verkäuferin zu.

„Weiter geht’s!“, sagte ich munter und zog den etwas verdutzten, aber lächelnden Yusei hinter mir her.

Einer der Wege zu Klugheit heißt Ent-täuschung

Beladen mit unseren Einkäufen kamen wir schließlich wieder bei den Jungs Zuhause an. Obwohl uns beiden die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand, eröffnete der vor Wut schäumende Crow unbarmherzig das Gefecht, als er uns freundlicherweise die Tür öffnete.

„Ihr zwei solltet Einkaufen gehen, nicht mit dem ganzen Krempel eine Weltreise unternehmen!“, begrüßte er uns.

„Sorry, hat etwas länger gedauert“, entschuldigte sich Yusei und stellte ächzend das Hundekörbchen, das er vom Haustierbedarf bis hier geschleppt hatte, in eine Ecke der Werkstatt.

„Mhm, klar, jetzt tut es euch leid“, schnaubte Crow und stemmte die Hände in die Hüften. „Aber als ihr mich hier mit der Erdnuss alleine gelassen habt, DA war euch alles total egal! Warum hat mir eigentlich keiner von euch beiden gesagt, dass Nüsse eine so geregelte Verdauung haben?“

Ich prustete, stellte meine Taschen ab und setzte mich lachend auf die Couch. „T’schuldige…!“

Crow machte eine säuerliche Miene, stapfte zur Küchentür, die scheinbar von ihm verschlossen worden war, öffnete sie und trat einen Schritt zur Seite, als ein völlig hyperaktiver Peanut hinausgestürmt kam und wie wild mit dem Schwanz wedelnd auf meinen Schoß sprang.

„Na du?“, fragte ich glücklich und kraulte ihn hinter den Ohren. „Alles klar?“

„Erwartest du eine Antwort?“ Crow klang noch immer wütend. „Schau dir an, was der Kleine mit der Küche angestellt hat!“

„Selber schuld“, murmelte ich, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. „Was musst du ihn auch einsperren? Du hättest ja mit ihm rausgehen können!“

„Du hättest dies, du hättest das…“, äffte er mich nach. „Wie hätte ich das denn bewerkstelligen sollen? Ohne Leine…“

Yusei, der bis dato nach oben entschwunden war, kam jetzt die Treppe hinunter und hob beschwichtigend die Hände. „Komm mal wieder auf den Teppich, Crow. Du hast dich ganz toll um Peanut gekümmert, wir sind dir sehr dankbar – Ende der Durchsage, und hoffentlich auch der Diskussion.“

Crow schnaubte, knirschte mit den Zähnen, spurtete an Yusei vorbei zur Haustür und ließ sie übertrieben laut hinter sich ins Schloss fallen.

Beide schauten wir ihm halb belustigt, halb betroffen nach.

„Ich glaube, wir haben ihn ein wenig überfordert“, stellte Yusei fest und setzte sich neben mich.

„Ja“, bestätigte ich und schaute in Peanuts runde Knopfaugen. Der guckte schuldbewusst zurück und duckte sich, als ob er Angst vor einem bevorstehenden Wutausbruch hätte. Ich lachte und küsste ihn auf seinen weichen, fellbedeckten Kopf. „Sogar Peanut tut es leid.“

„Letztlich hat Crow ein wenig überreagiert. Was mich irgendwie wundert… Er ist nie der geduldige Typ gewesen, aber so wütend habe ich ihn wegen so einer Sache selten erlebt.“

Yusei betrachtete nachdenklich den Boden zu seinen Füßen.

„Der fängt sich schon wieder“, beruhigte ich ihn und lächelte ihm aufmunternd zu. „Du kennst ihn doch! Er muss jetzt Dampf ablassen. Wenn er zurück kommt, können wir uns noch einmal entschuldigen und mit ihm reden.“

Yusei nickte, nahm Peanut von meinem Schoss und hob ihn hoch.

Ich wusste nicht wieso, aber dieses Bild erfüllte mich mit einer Art wohltuenden, inneren Wärme. Zu sehen, wie zärtlich und lieb Yusei mit dem kleinen Welpen umging, machte mich auf eine seltsame Weise unbeschreiblich glücklich.

Ich liebte diesen Hund jetzt schon abgöttisch. Durch ihn war so etwas wie ein neues, verbindendes Band zwischen Yusei und mir entstanden, eine Gemeinsamkeit, die ein Stück unserer scheinbar unendlichen Unterschiedlichkeit in die Dunkelheit verbannte.

Die kleinen Dinge des Lebens waren eben doch einfach die Größten!
 

Zwei Stunden später stand ich am Herd und kochte uns Nudeln.

Ausnahmsweise arbeitete Yusei momentan nicht in seiner Werkstatt. Nein, er kämpfte mit Peanut, der von der Idee, ein Halsband zu tragen, nicht so angetan schien, wie wir beide es gewesen waren.

Crow war irgendwann zwischendurch zurück gekommen, wortlos nach oben gegangen und hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen.

Mich plagten mittlerweile schreckliche Gewissensbisse. Yusei hatte Recht: Crow reagierte zwar oft unnötig hitzig, aber er scheute keinerlei Auseinandersetzung. Sein Verhalten von eben erschien mir nun noch merkwürdiger, noch unbegründeter und verletzender als vorhin.

Peanut konnte unmöglich die ganze Ursache für seine schlechte Laune sein.

Doch was war es dann?

Als Yusei die Küche betrat, sah ich ihn erst gar nicht, so sehr hing ich meinen Gedanken nach.

Erst, nachdem er scheinbar mehrmals meinen Namen gesagt hatte und mich nun sanft anstupste, bemerkte ich ihn.

Ein paar unartikulierte Laute entwichen meinem Mund. Peinlich berührt presste ich meine Lippen aufeinander und stierte auf den Nudeltopf vor mir.

Er lächelte zwar, doch ich hatte die Sorge in seinen Augen deutlich sehen können.

„Hey“, murmelte er sachte, „Was ist denn los mit dir?“

Ich schüttelte nur den Kopf und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht… wegen Crow…“

Yusei lachte; er wirkte plötzlich deutlich entspannter.

„Was?“, fragte ich verständnislos. „Machst du dir keine Sorgen? Er ist einer deiner besten Freunde und…“

Vorsichtig legte er einen Finger auf meine Lippen. „Pssst… du machst dir zu viele Gedanken.“

„Du warst doch eben derjenige, der so nachdenklich deswegen war!“, zischte ich an seinem Finger vorbei und sah ihn groß an.

Er legte unbewusst, wie es mir schien, den Kopf schief und grinste. „Ja. Ja, das stimmt. Aber... “

„Was ‚aber’?“

„Na ja… ich glaube, der Gute ist eifersüchtig.“ Als wäre dies offensichtlich und würde ganz klar auf der Hand liegen, zuckte Yusei mit den Schultern und nahm seinen Finger von meinen Lippen.

„Eifersüchtig?“, fragte ich irritiert. „Worauf denn?“

„Worauf wohl? Auf uns natürlich!“

Normalerweise ließ ich mich nicht zu solchen niederen Lauten der Unverständlichkeit herab, doch meinem Mund entwich ein völlig ernst gemeintes (und meiner Meinung nach auch berechtigtes): „Hä?“

Entweder ich hatte etwas verpasst, oder Yusei lag völlig daneben.

Der hingegen grinste breit. „Obwohl er wahrscheinlich eher eifersüchtig auf mich ist.“

Und ohne die kleinste Vorwarnung geschah genau das, worauf ich so sehnsüchtig seit Wochen, nein, seit Monaten wartete!

Yusei packte mich sanft am Arm, drehte mich ein Stück zu sich herum, senkte seinen Kopf und legte seine Lippen auf meine.
 

Glückseligkeit.

Verlangen.

Euphorie.

Begeisterung.

Sinnlichkeit.

Mut.

Ausgelassenheit.

Zufriedenheit.

Und auch Angst.

All diese Gefühle, in eins zusammengefasst. War das Liebe?

Nie zuvor hatte ich es mit einer solchen Gewalt, einer solchen Macht zu tun gehabt, wie es jetzt der Fall war. Die Situation grenzte an einer so unvorstellbaren Unbeschreiblichkeit, dass sie mir selbst beinahe wieder absurd vorkam.

Obwohl wir uns nur für ein paar Sekunden küssten, hatte ich das Gefühl, eine Ewigkeit sei vergangen. Und doch wollte ich nicht, dass es endete.

Allerdings sollte mir in diesem Moment wohl das Erleben eben jener besagten Ewigkeit nicht vergönnt sein, denn just in dem Moment…

Klingelte das Telefon.

Erschreckt durch das laute, unangenehme Geräusch trennten wir uns ruckartig voneinander, hielten den Atem an und betrachteten den jeweils anderen für einen kurzen Moment aus leuchtenden Augen, jeder in seinen eigenen Gedanken gefangen, unfähig, etwas zu sagen.

Wieder klingelte es. Es klang fast schon vorwurfsvoll.

Ich schluckte. „Willst du nicht rangehen?“ Irgendwie war ich sauerstoff- unterversorgt. Hastig schnappte ich nach Luft.

Yusei tat es mir gleich, antwortete jedoch nicht. Trotzdem ließ er mich widerwillig los, ging langsam zum Telefon und hob ab.

„Hallo, hier Yusei Fudo.“ Ich stellte erschrocken fest, dass er wütend war. Sehr wütend. „Oh, hallo Nicky.“ Gleich klang er viel freundlicher. Ein Stich fuhr durch mich hindurch, traf mich in der Magengegend und verursachte enorme Magenschmerzen. „ Ja. Ja, du fehlst mir auch… Hör mal…“ – seine Stimme war zu einem Flüstern geworden – „ich rufe dich später noch mal an, okay?! Ja, ich werde es ihr gleich sagen, sie ist hier, bei mir. Es ist nur gerade schlecht, ich…“

Glücklicherweise hörte ich nicht mehr, was er sagte. Schnell war ich ins Wohnzimmer gelaufen, hatte mir Peanut und die Leine geschnappt und war nach draußen gerannt. Laut ließ ich die Türe hinter mir zuschlagen.
 

Ich klemmte mir den Kleinen unter den Arm, drehte mich nach rechts, senkte den Kopf und lief.

Ich wusste nicht wohin, ich wusste nicht, wieso. Ich lief einfach.
 

Etwas Befreiendes lag in diesem Laufen.

Obgleich ich schreckliche Seitenstiche hatte, kaum noch Luft bekam und mich in einer Umgebung wiederfand, in der ich noch nie zuvor gewesen war, hielt ich kein einziges Mal an.

Es war mir plötzlich alles zu viel geworden. Crow, Yusei, Nicky…

Als ich nach Stunden des Laufens, wie es mir schien, endlich anhielt und mich umsah, konnte ich kaum einen klaren Gedanken fassen.

Zitternd und nach Luft schnappend ließ ich mich mit Peanut, der leise vor sich hinwinselte, auf einer niedrigen Mauer nieder.

Mit ungelenken Bewegungen befestigte ich die Leine an seinem Halsband und setzte ihn auf dem Boden ab.

Völlig am Ende meiner Kräfte bedeckte ich meine Augen mit der rechten Hand, während ich mit der Linken die Leine festhielt, an der Peanut eifrig zog und zerrte und versuchte, einen verständlichen, halbwegs logischen Gedanken über das eben Geschehene zu fassen.

Yusei (und je öfter ich mir dies zurück ins Gedächtnis rief, umso absurder erschien es mir) hatte mich geküsst. Er- mich. Nicht ich- ihn.

Nicky hatte angerufen. Er hatte ihr gesagt, dass er sie vermisste. Und das er es mir gleich sagen würde...

Was wollte er mir sagen?

Dass er Nicky liebte? Dass er mit ihr zusammen war? Dass wir trotzdem auf ewig Freunde sein würden, egal, was auch passierte?

Aber wieso hatte er mich dann geküsst? Warum tat er das, wenn er doch wusste, wie leid es ihm später tun würde?

Meine Lippen kräuselten sich zu einem frustrierten Lächeln.

Weil Yusei nun mal Yusei war.

Er hatte es noch nie übers Herz gebracht, einen seiner Freunde zu enttäuschen.

Crow hatte gesagt, dass alle mitbekommen hatten, dass ich in ihn verliebt war, nur Yusei selbst nicht.

Was, wenn er es doch bemerkt hatte? Was, wenn er Nicky liebte, mir aber keinen Korb hatte geben wollen?

Ich schluckte schwer.

Ja. So musste es sein. Und der Kuss eben war eine Art Verabschiedung gewesen. Ein einziges Mal hatte er mir das geben wollen, was ich mir so sehr wünschte.

Seltsam. Trotzdem…

In mir beruhigte sich etwas. Ich wusste nicht, was es war, aber die Wut, welche kurzzeitig in mir hochgestiegen war, legte sich allmählich wieder. Es war, als würde sich eine Akzeptanz der Situation in mir ausbreiten.

Wenn es so war, wie ich es mir dachte, konnte ich nichts daran ändern. Ich wollte es auch nicht. Natürlich tat es unheimlich weh zu wissen, dass die Person, die ich mehr als jeden anderen liebte, nicht die gleichen Gefühle für mich hegte. Aber war es nicht so, dass man gerade für diesen einen Menschen von ganzem Herzen hoffte, dass er (oder sie) sein Glück fand? Auch wenn man selbst nicht unbedingt Teil dieses Glücks war?

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mich gegenüber von dem Spielplatz befand, der unweit meines Zuhauses lag.

Bevor ich weiter darüber nachgedacht hatte, war ich aufgestanden und hatte mich in Bewegung gesetzt.

An unserem Haus angekommen, fischte ich den Schlüssel aus seinem „Versteck“ unter der Fußmatte hervor, öffnete die verschlossene Tür, trat ein und ließ sie wieder ins Schloss fallen.

Peanut sah mich aus treuen Hundeaugen groß an und sprang an meinem Bein hoch.

Lächelnd zog ich mir meine Jacke aus, hing sie an die Garderobe und ließ den Hund von der Leine, bevor ich ihn hochhob und in mein Zimmer im ersten Stock trug.

Während ich mich aus meinen Klamotten schälte und mir eine schwarze Jogginghose, kombiniert mit einem rosa T- Shirt anzog, wuselte er durch den Raum, schnüffelte begeistert an meiner Bettdecke und hatte schnell einen weinroten Pantoffel von mir gefunden, auf dem er herzhaft herum biss.

Mir war es egal. Die Pantoffel hatte ich eh nie sonderlich gemocht.

Mit einem Seufzen nahm ich den Kleinen samt Schuh erneut auf den Arm, ging die Treppe hinunter, betrat das Wohnzimmer und ließ mich erschöpft auf das große Sofa fallen.

Der Hund war nicht sonderlich erfreut darüber, ständig von mir durch die Gegend getragen zu werden, wehrte sich und glitt schließlich aus meinem Griff. Auf dem Wohnzimmerboden setzte er schließlich die Schuhzerstörung ungeniert fort.

Ich beobachtete ihn lächelnd. Er war wie eine Erinnerung an eine völlig andere Zeit, wobei diese ja noch gar nicht so lange zurücklag war. Trotzdem erschien es mir so…
 

Das Telefon klingelte. Wieder und wieder.

Und wieder. Immer wieder.

Ich beantwortete die Anrufe nie. Unseren Anrufbeantworter hatte ich ausgestellt.

Schlafen. Ich will schlafen. Einfach nur schlafen. Lange. Wenn möglich, für immer...
 

Wieder klingelte es.

Lasst mich doch in Ruhe. Wenn ich akzeptieren soll, dass jede Hoffnung umsonst war, lasst mich in Frieden.
 

Der Klingelton unseres Telefons ging mir allmählich auf die Nerven. Wer hatte den bloß ausgesucht?
 

Wieder ein Schellen.

Moment… Schellen?

Dieses Mal kam es von der Haustüre.

Warum wurde man eigentlich nie in Ruhe gelassen?

Schniefend drückte ich mir zwei dicke Kissen auf je ein Ohr, kniff so fest ich konnte die unangenehm brennenden Augen zusammen und wartete darauf, dass die Person an der Türe verschwand.

Darüber schlief ich ein.
 

Ich spürte etwas Feuchtes auf meinem Gesicht.

Vorsichtig öffnete ich die Augen… und sah, wie ein kleiner, völlig aufgelöster Peanut, den ich total vergessen hatte, mir aufgeregt ein paar Mal quer übers Gesicht schleckte.

Leicht angewidert, aber mit enormen Schuldgefühlen sprang ich auf, schnappte mir den Hund, ignorierte das Chaos, das er während meines Nickerchens verursacht hatte und trug ihn nach draußen in unseren Garten, wo ich ihn frei herumlaufen ließ. Hier konnte er nicht ausbüchsen, überall standen dicht gewachsene Hecken, die ein Durchkommen unmöglich machten.

Fröstelnd setzte ich mich auf einen unserer Gartenstühle und beobachtete ihn…

… bis es erneut an der Türe schellte.

Wütend stand ich auf, fest dazu entschlossen, betreffender Person eine Standpauke über Privatsphäre zu halten, die sich gewaschen hatte.

Doch als ich die Türe aufriss, Luft in meine Lunge pumpte, von der ich plante, sie in einem lauten Schrei wieder auszustoßen und den aggressivsten Blick aufsetzte, den ich parat hatte (und der in meiner derzeitigen Verfassung sogar einen Elefanten in die Flucht geschlagen hätte), wurde mein geniales Vorhaben durch die Frau vereitelt, die auf der Schwelle stand und mich streng anguckte.

„Izayoi, entschuldigen Sie meine Direktheit, aber Sie sehen furchtbar aus!“

Meine Kinnlade klappte hinunter. Verblüfft starrte ich Frau Tudosa an, die gerade dabei war, sich an mir vorbei in unser Haus zu drücken.

„Können Sie sich eigentlich vorstellen, was für Sorgen ich mir um Sie mache? Sie, meine beste Schülerin? Sie gehen weder ans Telefon, noch machen Sie die Türe auf.“

„Wie oft haben Sie versucht, mich anzurufen?“, fragte ich blechern.

„Drei mal.“

Irgendwie war ich erleichtert. Es hatte deutlich öfter als dreimal geklingelt. Also hatten noch andere versucht, mich zu erreichen. Vielleicht… nein... der wohl eher nicht.

Augenblicklich verflog die Erleichterung wieder und Bitterkeit machte sich an ihrer statt breit.

„Weswegen wollten Sie mich denn erreichen?“, fragte ich Frau Tudosa, während ich sie ins Wohnzimmer führte und ihr deutete, sich zu setzen.

„Nun, ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen dieses Angebot wirklich machen soll. Ihre derzeitige Verfassung spricht ganz eindeutig dagegen. Aber vielleicht ist es für Sie persönlich sogar besser, wenn Sie für eine gewisse Zeit aus Ihrem Umfeld verschwinden.“

„Könnten Sie vielleicht ein wenig konkreter werden?“, bat ich sie höflich.

„Gut, Izayoi, ich mache es kurz und direkt: Ich habe die Chance erhalten, einem meiner Schüler für ein halbes Jahr einen Auslandsaufenthalt in London zu ermöglichen, mit allem, was dazu gehört. Schule, Gastfamilie und so weiter.“

Sie schwieg für einen Moment, ehe sie weitersprach.

„Izayoi. Ich möchte Sie gerne für ein halbes Jahr nach England schicken!“

Wenn alles eher bescheiden läuft...

Um mich vorzubereiten

auf die Belagerer

lernte ich

mein Herz immer kürzer zu halten
 

Das dauerte lange

Jetzt nach Jahren der Übung

versagt mein Herz

und ich sehe im Sterben das Land
 

als hätte nur ich

mich belagert

von innen

und hätte gesiegt:
 

Alles leer

Weit und breit

keine Sturmleitern

keine Feinde

- Erich Fried
 

Akis Sicht
 

„Wann willst du weg?“ Meine Eltern fixierten mich mit besorgten Blicken. Sie waren zwei Tage nach Frau Tudosas Besuch zurück nach Hause gekommen und etwas geschockt über meinen Zustand gewesen, ebenso wie über die Tatsache, dass wir plötzlich einen Hund hatten.

Und dass ich für ein halbes Jahr nach England wollte.

„In zwei Wochen.“

„Ist das nicht etwas kurzfristig?“, fragte meine Mutter bestürzt.

Ich musterte sie aus müden, ausdruckslosen Augen und schenkte ihr ein leichtes Schulterzucken. „Momentan gibt es billige Flüge.“

Sie schien nicht wirklich überzeugt. „Ich weiß nicht, Aki… du machst auf mich keinen… gesunden Eindruck.“

Aha. Warum sagte sie mir nicht direkt ins Gesicht, dass ich ein depressives Häufchen Elend war?

Doch trotz aller Bemühungen schaffte ich es nicht, in irgendeiner Form Emotionen auszudrücken. Weder bekam ich ein gezwungenes Lächeln zustande, noch war es mir möglich zu weinen.

Im Leben hatte ich mich noch nie so leer gefühlt.

„Ich glaube, ein Auslandsaufenthalt wird mir gut tun. Ein kleiner Umfeldswechsel ist bestimmt nicht das Schlechteste…“, wiederholte ich monoton Frau Tudosas Worte und schaute aus dem Fenster in einen seltsam trüben, regnerischen Spätsommertag, an dem sich selbst die Sonne wehrte, richtig aufzugehen und die Welt in ein merkwürdiges Licht zwischen Tag und Nacht tauchte.

Mein Vater, der bis dato nicht viel gesagt hatte, seufzte und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Aki. Was ist los? Möchtest du darüber reden?“

Langsam wanderte mein Blick hinauf zu seinem Gesicht. So einfühlsam hatte seine Stimme selten geklungen. Er wollte mich nicht drängen. Er hatte Mitleid mit mir.

In Gedanken erzählte ich ihm alles. Alles über Yusei, alles über Nicky, alles, was in der letzten Zeit passiert war, wie ich Peanut gefunden und wie ich mich mit Crow gestritten hatte… und wie ich mich fühlte.

So unverstanden. So allein. So müde. So trostlos. So schlapp. So ungeliebt.

Doch all das schien er nicht zu hören.

Papa, bitte sei still und höre mir einfach zu. Bitte, bitte… versuch es einfach.

Lange hielten wir Blickkontakt. Und trotzdem. Er verstand mich nicht.

Ich legte meine ganze Verzweiflung in meinen Blick.

Er runzelte nur die Stirn. Schüttelte den Kopf. Schaute betreten zur Seite. Seufzte erneut.

„So können wir sie unmöglich irgendwo hin lassen. Weder zur Schule, geschweige denn nach England.“ Meine Mutter klang fast hysterisch.

Die Hand meines Vaters, die immer noch auf meiner Schulter ruhte, wurde mir plötzlich zu schwer. Sie war eine Last.

Ich wollte keine Lasten mehr tragen müssen!

Ohne zu zögern schüttelte ich sie ab und spürte zum ersten Mal seit zwei Tagen wieder etwas wie ein Gefühl.

Mir war völlig egal, dass es Wut war, die da allmählich in mir anschwoll. Sie füllte zumindest diese unangenehme Leere zu einem gewissen Teil und ließ mich handeln. Denn mit der Wut kehrte auch meine Entschlossenheit zurück.

Eine willkommene Abwechslung!

„Ich denke“, sagte ich kalt, „dass ich mittlerweile alt genug bin, um selbst einzuschätzen, wozu ich in der Lage bin und wie ich mich fühle!“

Die Sorge in den Augen meiner Mutter trat in den Hintergrund. Stattdessen zogen sich ihre Augenbrauen zusammen, bei ihr ein klares Zeichen dafür, dass sie anderer Meinung war und noch längst nicht aufgegeben hatte.

Doch noch während wir beide uns zornig anfunkelten und sie zu einer Erwiderung ansetzte, schaltete sich mein Vater ein und sagte das vollkommen Unerwartete.

„In Ordnung.“

Meine Mutter und ich blickten ihn bestürzt an. Beide hatten wir nicht mit seiner Zustimmung zu meinem Vorhaben gerechnet. Doch wie so häufig fiel es mir auch diesmal schwer, meinen Vater richtig einzuschätzen und scheinbar hatte ich in diesem Punkt erneut versagt.

„Und was ist mit dem Hund?“ Typisch. Meine Mutter ergriff auch die letzte Rettungsleine, die sie zu fassen bekam!

Während Peanut freudig auf meinen Vater zu gerannt kam, als dieser in die Knie ging und ihn zu sich rief, machte sich in mir das Gefühl breit, dass der Hund wohl das geringste Problem in der ganzen Situation darstellte.

Mein Vater lächelte. „Nun, ich wollte schon immer einen Hund haben. Meine Eltern haben mir das nie erlaubt. Ich möchte nicht, dass Aki das ihren Kindern auch irgendwann mal sagen muss.“

Ich versuchte, den erneuten Stich in meinem Magen zu ignorieren.

Aber: hey! Mit mir ging es steil bergauf! Hatte ich doch eben noch gedacht, nie wieder IRGENDETWAS zu fühlen, belehrte mich das Leben mal wieder eines Besseren.

„Aki, verlässt du bitte den Raum?! Ich glaube, ich muss noch einmal allein mit deinem Vater reden.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen! Die Stimme meiner Mutter klang bedrohlicher, als ich sie je zuvor gehört hatte und was zweifellos bedeutete, dass der nächste handfeste Streit zwischen den beiden bevorstand.

Noch während ich die Treppe zu meinem Zimmer hochging, machte sich in mir das schlechte Gewissen bemerkbar. Doch ich überhörte die mahnende Stimme.

Und ich wusste noch bevor meine Eltern mich eine Stunde später wieder zu sich riefen, dass ich gewonnen hatte.

Ich durfte für ein halbes Jahr nach England!

Doch das erwartete Triumphgefühl blieb aus. Stattdessen kehrte ein Teil der Leere zurück, der mir wohl auch die letzten zwei Wochen vor meiner Abreise erhalten bleiben würde.
 

- 1 1/2 Wochen später -
 

In meine Gedanken versunken stand ich vor meinem Schrank. Dabei war die Wahl der Klamotten, die ich mitnehmen wollte, das geringste Problem!

Vor nicht mehr als zehn Minuten hatte Crow bei uns angerufen und sein Kommen angekündigt. Ich selbst hatte nicht mit ihm gesprochen – ich mied nun schon seit mehr als einer Woche konsequent Telefon und Tür –, aber meine Mutter war doch so nett gewesen, den Anruf zu beantworten und hatte mich widerwillig über seinen Besuch in Kenntnis gesetzt. Seit dem Streit über meinen geplanten Auslandsaufenthalt hatte sie kaum noch mit mir gesprochen, was nicht unbedingt zur Besserung meiner Laune beitrug. Ich war froh, die Gegend bald verlassen zu können.

Crow wollte um halb drei bei uns sein – mir blieb also noch eine halbe Stunde, um mich auf eine Konfrontation mit ihm vorzubereiten und mir eine angemessene Erklärung für mein Verhalten und mein Vorhaben parat zu legen.

Als ich plötzlich auf meiner Lippe etwas Warmes, Nasses spürte und der unangenehme Geschmack von Eisen sich in meinem Mund ausbreitete, bemerkte ich geschockt, dass ich so fest auf ihr herumgebissen hatte, dass meine Unterlippe aufgeplatzt war.

Hastig rannte ich ins Badezimmer, wischte das Blut mit einer handvoll Wasser fort und drückte ein Tuch zum Stoppen der Blutung auf die Lippe, während meine Gedanken sich schon wieder Crows Besuch gewidmet hatten.

Langsam erhob ich mich vom Badewannenrand, auf den ich mich gesetzt hatte, legte das Tuch beiseite und schaute in den großen Spiegel, der über unserem Becken hing.

Ich war blasser als sonst, meine Haare hingen mir leicht verfilzt in mein Gesicht. Der Blick meiner Augen war stumpf, aber nicht leblos; ich meinte, etwas von der Panik in ihnen erkennen zu können, die sich langsam, aber sicher in meinem Körper ausbreitete.

Ich schnappte mir die Bürste, die auf einem kleinen Tisch neben dem Becken lag und begann, mich vorsichtig zu kämmen.

Es ziepte teilweise unangenehm, doch ich machte weiter, bis auch der letzte Knoten verschwunden war und mein Haar zumindest etwas weicher geworden war.

Gegen die Bleiche in meinem Gesicht wollte und konnte ich nicht wirklich etwas tun; ich war kein Fan von Make Up und benutzte es so gut wie nie.

Schlürfenden Schrittes ging ich zurück in mein Zimmer und ließ mich erneut auf dem Bett nieder, während der Minutenzeiger langsam auf zwanzig nach zwei vorrückte.

Noch zehn Minuten.

Was sollte ich ihm bloß sagen?

Doch während ich dort saß und mir den Kopf über mögliche Erklärungen zermaterte, wurde mir plötzlich noch etwas ganz anderes bewusst: wenn Yusei und Nicky wirklich zusammen waren, dann war ich nicht die Einzige, die darunter litt.

Immerhin war Crow doch angeblich in Nicky verliebt.

Was war ich doch nur für eine egoistische Kuh! Statt mich um meinen Freund zu kümmern und für ihn da zu sein, sah ich nur meinen eigenen Schmerz, meine eigenen ruinierten Hoffnungen. Ich wollte gar nicht daran denken, wie oft Crow möglicherweise schon bei uns angerufen hatte oder vorbeigekommen war; wahrscheinlich war ihm schon viel eher aufgefallen, dass wir beide gerade das Gleiche durchmachten.

Doch ich hatte wieder nur mich selbst gesehen, hatte nicht bemerkt, dass es vielleicht Menschen in meinem Umfeld gab, denen es genauso erging und mit denen ich hätte reden können.

Ich sprang auf, ging geradewegs zum Kleiderschrank und nahm mir eine Jeans und ein T- Shirt heraus. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich es ihm zumindest schuldig war, nicht in Jogginghose und Schlabberpulli bekleidet vor ihm zu erscheinen.

Als ich mich kurz darauf umgezogen hatte, verließ ich den Raum, setzte das beste Lächeln auf, das ich zustande brachte und ging hinunter in die Küche, wo ich Teewasser aufsetzte.

Ich war gerade dabei, nach etwas Essbarem zu suchen, was ich Crow anbieten könnte, als ich hörte, dass unsere Haustür aufgeschlossen wurde und mehrere Personen das Haus betraten, die sich laut unterhielten.

Mit zwei von diesen Stimmen hatte ich gerechnet. Mein Vater war mit Peanut unterwegs gewesen, und Crow hatte sein Kommen immerhin angekündigt.

Doch es waren noch zwei andere Personen mit von der Partie. Zwei unüberhörbare Stimmen, deren Besitzer mich beide, ohne es vielleicht wirklich zu wollen, so fürchterlich verletzt hatten.

Ächzend stützte ich mich auf der Küchenarbeitsplatte ab und schaute mit weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster. Und tatsächlich: dort draußen stand nicht nur Crows D- Wheel. Ein Feuerrotes war unweit von dem Schwarzen abgestellt worden.

Ich hatte es unterbewusst geahnt und dennoch nicht damit gerechnet.

Ein fataler Fehler!

Was die Sache allerdings noch verkomplizierte und verschlimmerte war die Tatsache, dass Yuseis Anwesenheit allein scheinbar schon nicht Folterung genug war; nein, begleitet wurden die zwei von niemand anderem als Nicky, deren Stimme klar und deutlich selbst durch die geschlossene Küchentür drang und mein Herz augenblicklich gefrieren ließ. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hatte ich diese Stimme mit meiner besten Freundin assoziiert. Doch nun gehörte sie der Frau, der ich fälschlicher Weise immer wieder aufs Neue vertraut hatte, obwohl ich es eigentlich hätte besser wissen müssen.

Haltsuchend krallte ich mich an der Arbeitsplatte fest.

Wenn es stimmte und Crow das Gleiche durchmachte wie ich, warum ließ er es dann zu, dass Nicky und Yusei ihn begleiteten? Warum ließ er es als mein Freund zu, mich so leiden zu lassen?

Warum tat er das?

Als die Küchentüre sich öffnete, drehte ich mich nicht um.
 

Nicht nichts

ohne dich

aber nicht dasselbe
 

Nicht nichts

ohne dich

aber vielleicht weniger
 

Nicht nichts

aber weniger

und weniger
 

Vielleicht nicht nichts

ohne dich

aber nicht mehr viel

- Erich Fried
 

Yuseis Sicht
 

Sie hatte uns den Rücken zugekehrt, als wir den Raum betraten, und stützte sich auf der Arbeitsplatte ab.

Erst drehte sie sich nicht zu uns um. Ich dachte schon, sie würde weinen und wollte nicht, dass wir ihre Tränen sahen. Doch bevor einer von uns etwas sagen konnte, drückte sie sich von der Platte ab und wandte sich uns mit einem strahlenden Lächeln zu.

Doch dieses Lächeln konnte ihre Augenringe nicht unsichtbar machen, ihre Gesichtszüge nicht echter wirken lassen.

Ich wusste, dass sie Nicky und mich nicht hier haben wollte. Ich wusste, dass wir sie furchtbar verletzt hatten. Und ich wusste, dass es ganz und gar meine Schuld war.

Allerdings wusste ich auch, dass ich das Missverständnis, das es zwischen uns gegeben hatte, unbedingt aus der Welt schaffen wollte.

„Hallo“, sagte sie betont freundlich, das gekünstelte Lächeln erhielt sie gekonnt aufrecht. „Wie schön, euch noch mal zu sehen.“ Ihre Stimme versagte, ihre Mundwinkel zitterten.

Nicky trat einen Schritt vor.

„Hör auf damit, Aki“, sagte sie. „Du musst uns nichts vorspielen. Wir wissen, was du denkst und was wir dir dadurch angetan haben.“

„Ich? Vorspielen? Was soll ich euch denn vorspielen? Mir geht es gut, dann darf man doch wohl lächeln.“ Doch dieses war tatsächlich von Akis Gesicht verschwunden. An seine Stelle war ein harter, unbarmherziger Zug getreten, der schon viel mehr zu dem Rest ihres Gesichtes passte und mir einen Stich versetzte, als ich mir vorstellte, dass sie die letzten paar Tage ständig so geguckt haben musste. Und das nur wegen mir!

„Nein. Nein, dir geht es nicht gut. Und wir wissen, dass das an uns liegt.“ Nicky war ganz ruhig und ich bewunderte sie dafür. So laut und nervig sie sonst auch sein konnte: wenn es darauf ankam, brachte sie den nötigen Ernst auf, den die Situation erforderte. „Wir haben dich sehr verletzt, Aki, und ich weiß aus Erfahrung, wie du auf emotionalen Schmerz reagierst. Du schottest dich ab, ziehst zwischen dich und die Realität eine große, unüberwindbare Mauer, versteckst dich immer mehr in dir selber, meidest andere Leute, denn trotz all dieser Schutzvorkehrungen hast du dennoch das Gefühl, dass du verwundbar bist.“

Akis Augen blitzen. „Hör auf damit, Nicky!“, flüsterte sie drohend.

Diese fuhr unbeirrt fort. „Ich kann nicht sagen, dass ich deine Methode gut finde, aber es ist deine Form der Bewältigung. Ich glaube nicht, dass es in meiner Macht liegt, daran etwas zu ändern.“ Nicky atmete tief ein. „Aber, Aki: ich möchte nicht, dass du dich aufgrund eines Missverständnisses dieser Folter unterziehst!“

„Das Einzige, durch das ich gerade gefoltert werde, ist euer Besuch!“, sagte Aki giftig und schaute die Blonde herausfordernd an.

Nicky lächelte leicht. „Ja. Auch das kann ich mir vorstellen. Ich werde dich auch nicht lange belästigen. Ich wollte dir nur sagen, wie leid mir das alles tut! Ich war keine gute Freundin für dich, obwohl ich mich so sehr bemüht habe!“

„BEMÜHT?“, schrie Aki. „Bemüht? Wann hast du dich denn je BEMÜHT?! Das Wort kommt in deinem Wortschatz doch überhaupt nicht vor! Genauso wenig wie das Wort Freundschaft! Wie kannst du es überhaupt wagen, das Wort in den Mund zu nehmen, nach all dem, was du dir geleistet hast? Hast du eine Ahnung davon, kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es mir gerade geht?“

Und sowohl zu Crows, als auch zu meiner Bestürzung brach bei beiden Mädchen der Damm praktisch gleichzeitig. Beide schluchzten plötzlich auf, beiden liefen unaufhörlich Tränen über die Wangen, beide versuchten sie trotz ihrer vom Weinen erstickten Stimmen die Konversation aufrecht zu erhalten.

„Ja, ich kann mir vorstellen, wie es dir geht, Aki. Aber es ist nicht so, wie du denkst!“

„Das sagen immer alle!“ Energisch wischte Aki sich die Tränen fort, doch an ihre Stelle traten sofort neue und schließlich gab sie auf.

Auch Nicky wurde jetzt lauter, wütender. „Glaubst du eigentlich, dass Crow und du die Einzigen seid, die versuchen, sich in Liebesdingen unter die Arme zu greifen?“

„Nicky, beruhige dich“, flüsterte Crow und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die Blonde rutschte ein Stück zu ihm heran und ließ es zu, dass er einen Arm um sie legte.

Aki sog in abgehackten Stücken die Luft ein. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung.

„Ähnlich wie das Abkommen, das wir beide geschlossen haben“, begann nun Crow zu erklären, „hat Nicky mehr oder weniger ungefragt Yusei geholfen.“

„Eher komplett ungefragt!“ Die Sache wenigstens wollte ich klarstellen.

„Es ist meine Schuld, Aki“, schluchzte Nicky. „Ich wollte dir eine Freude machen und euch – schlichtweg gesagt – miteinander verkuppeln. Aber so wie es aussieht habe ich etwas übertrieben…“

Akis Augenbrauen zogen sich zusammen, ihr Mund öffnete sich leicht zu einer Erwiderung, doch Nicky ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Erst habe ich gedacht, dass du wütend werden würdest, wenn ich versuche, bei Yusei zu landen, und diese Wut eventuell deinen Ehrgeiz hervorrufen würde.“

Himmel, was für eine Ausdrucksweise!

„Es HAT mich auch wütend gemacht, Nicky!“, warf Aki ein, ihre Augen blitzten zornig.

Das Mädchen schaute betreten zu Boden. „Ich weiß. Das ist mir dann später auch aufgefallen. Nur das die gewünschte Reaktion deinerseits leider ausgeblieben ist. Und als du dann im Unterricht zusammengebrochen bist, sah ich die Chance, dich bei den Jungs unterzubringen. Aber auch das hat scheinbar nicht so gut geklappt, wie ich es mir erhofft hatte. Und dann“ – sie stampfte wütend mit dem rechten Fuß auf – „rufe ich ausgerechnet in dem Moment an, um zu erfahren, was für Fortschritte ihr macht, als ihr euch küsst! Schlechter abgepasst hätte es gar nicht sein können!“

Unbewusst nickte ich zustimmend.

„Ach ja. Du weißt schon, dass du gerade versuchst mir weis zu machen, dass du nie etwas von Yusei wolltest?!“ Aki stemmte die Hände in die Hüften. „Zufälligerweise weiß ich, dass aber genau das der Fall war!“

„Das habe ich doch nur gesagt, damit du dich etwas mehr anstrengst und dich traust, ihn anzusprechen.“ Sie deutete mit dem Finger nach draußen. „Dort gibt es tausende Mädchen, die dir dein Glück ruinieren können, nur weil sie sich dazu überwinden, auf den Jungen, der ihnen gefällt, zuzugehen. Das war alles, was ich wollte! Glaubst du wirklich, ich könnte dich so hintergehen? Ich habe gedacht, wir wären Freundinnen!“

„Das habe ich auch“, fauchte Aki, doch der Sicherheit und dem Trotz in ihrer Stimme war scheinbar ein Dämpfer versetzt worden. „Und was war mit dem Telefonat? Hast du dafür auch eine Erklärung parat?“ Ihr Kopf schnellte zu mir hinüber. „Warum hast du gesagt, dass sie dir fehlt? Und was zum Teufel wolltest du mir sagen?“

„In der Zeit, in der du nicht mit mir gesprochen hast“, begann ich in ruhigem Tonfall, „habe ich oft mit Nicky telefoniert, weil sie wissen wollte, ob sich an der Situation etwas verändert hat und wir wieder miteinander sprechen würden. Sie war diejenige, die mir immer wieder gesagt hat, dass ich nicht den Kopf hängen lassen und einfach abwarten soll. Wir sind schnell Freunde geworden, auch wenn ich etwas wütend darüber war, dass sie versucht hat, dich eifersüchtig zu machen.“ Ich warf Nicky einen kurzen Blick zu, die den Kopf geneigt hatte und betreten zu Boden schaute. „Und genau das sollte ich dir in einer günstigen Minute sagen, weil sie selbst Angst vor deiner Reaktion hatte. Sie wusste, dass du wütend auf sie warst und ihr ganzer Plan fehlgeschlagen war. Allerdings hatte sie die Hoffnung, dass du ihr verzeihen würdest, wenn ich es dir an ihrer statt beichte.“

Aki hatte die Hände sinken lassen, ihre Gesichtszüge hatten sich wieder halbwegs entspannt, doch immer noch liefen Tränen über ihre Wangen. Während sie sprach, zitterte ihre Unterlippe.

„Das… war also… alles? Das solltest du mir sagen? Nicht, dass ihr zusammen seid oder etwas Ähnliches?“

Ich schüttelte nur den Kopf und schenkte ihr ein leichtes Lächeln. „Nein, nichts dergleichen. Aki, überleg doch mal bitte: hätte ich dich geküsst, wenn ich in Wahrheit in jemand anderen verliebt wäre? Denkst du, dass ich so ein Mensch bin?“

„Und… warum fehlt sie dir?“, flüsterte Aki mit einer so leisen Stimme, dass ich mir nicht sicher war, ob sie es wirklich gefragt hatte.

Ich zuckte entschuldigend die Schultern. „Du kennst mich doch. Freunde fehlen mir immer. Du fehlst mir auch. Sehr sogar!“

Und bevor irgendwer von uns irgendetwas tun oder sagen konnte, jaulte Aki laut auf, rannte auf mich zu und warf sich in meine Arme.

Herrgott, wie gut das tat! Sie verbarg ihr Gesicht an meiner Brust, schluchzte, heulte, schniefte und krallte sich an mir fest, während ich behutsam meine Arme um sie legte und sie fest an mich zog.

Ich bekam nur halb mit, dass Crow und Nicky die Küche verließen und die Türe hinter sich zuzogen; ich war zu beschäftigt damit, Aki zu trösten, sie hin und her zu wiegen und ihr vorsichtig über den Rücken und die Arme zu streicheln, damit sie sich wieder beruhigte.

Lange Zeit standen wir so da, Arm in Arm. Und obwohl sie so traurig zu sein schien, war ich noch nie glücklicher gewesen.

Ich hatte sie dort, wo ich sie schon immer hatte haben wollen: in meinem Arm, an meiner Brust. Ich wollte sie beschützen, alles Unheil von ihr fernhalten.

Und genau dabei hatte ich so jämmerlich versagt, war sogar das Unglück selbst gewesen.

In diesem Moment nahm ich mir fest vor, dass das nicht noch einmal passieren würde!

Irgendwann hob sie schließlich ihren Kopf und schaute mich aus verquollenen roten Augen durchdringend an.

„Es tut mir leid. Es tut mir so leid, Aki. Ich…“

Sie hob eine Hand, legte einen Finger auf meine Lippen und brachte mich so zum verstummen.

„Du hast dich oft genug entschuldigt. Jetzt bin ich dran!“

„Aber…“, stieß ich an ihrem Finger vorbei hervor.

„Bitte, sei kurz still, ja?!“ Ich hob eine Augenbraue, nickte aber. Aki lächelte schwach. „Es tut mir leid, dass ich einfach weggelaufen bin. Es tut mir leid, dass ich mich nicht bei dir gemeldet habe. Es tut mir leid, dass ich euch, ohne es überhaupt richtig zu wissen, solche Vorwürfe gemacht habe. Nicht nur du hast mich verletzt, Yusei, auch ich habe dir weh getan. Das ist mir bloß nie aufgefallen, weil ich immer nur an mich selbst gedacht habe. Ich war so egoistisch, wollte mich selbst nur einfach vor Schmerzen bewahren und habe gar nicht daran gedacht, dass andere Leute sich vielleicht um mich sorgen könnten.“ Erneut traten Tränen in ihre Augen. „Es tut mir so furchtbar leid!“

Mein Herz dehnte sich plötzlich auf eine seltsame Weise aus und wurde größer; eine Mauer, die es bis dato umgeben hatte, wurde eingerissen und somit zerstört: ohne weiter darüber nachzudenken, beugte ich mich zu ihr hinunter und küsste sie.

Ich spürte ihre Tränen auf meinem Gesicht, fühlte ihre bebenden Lippen auf meinen, hörte ihre erstickten Schluchzer. Kein Telefon klingelte, niemand störte uns.

Als wir uns schließlich voneinander lösten, schnappten wir beide nach Luft und lächelten uns erst verlegen, dann absolut glücklich an.

„Ich liebe dich.“ War es Zufall, dass wir beide diese drei Worte gleichzeitig sagten, oder hatte es einen Grund? Hielt eine Liebe länger, wenn zwei Verliebte diesen Satz gleichzeitig sagten, ohne sich vorher abzusprechen?

Wer konnte das schon wissen?

Alles, was ich wusste, war, dass ich in dieser Sekunde eine solche Liebe für Aki empfand, dass es fast schon weh tat.

Ich liebe dich!

Noch nie zuvor war ich so glücklich gewesen!

... kann es eigentlich nur besser werden! [Last Chapter!]

Weit, so weit, lange schon,

Märchentraum im Dezember.

Sehnsucht ruft

mein Herz nach Haus,

über Meere und Länder!
 

Und ein Lied leise klingt:

Es war einmal im Dezember.

- Anastasia
 

Akis POV
 

Am Tag vor meiner Abreise lief es bei weitem nicht so hektisch ab, wie ich erwartet hatte. Dadurch, dass ich den größten Teil meiner Sachen ohnehin schon seit einer Woche fertig gepackt hatte, stand mir nun einiges an Zeit zur Verfügung.

Zeit, die ich zusammen mit Yusei verbrachte und in der ich versuchte, nicht an den morgigen Tag zu denken.

Tatsächlich hatte ich im Kopf schon alle Möglichkeiten durchgespielt, wie ich Frau Tudosa davon überzeugen konnte, dass ich doch keinen Umfeldswechsel brauchte, doch irgendwie hatte keine mich zufrieden stellen können.

Als ich um die Mittagszeit herum mit Yusei zusammen auf einer Picknickdecke in unserem Garten saß, erzählte ich ihm, dass ich überhaupt nicht mehr weg wollte.

Er lachte nur, zog mich an sich heran und nahm mich in den Arm. „Komm schon, Aki, das ist möglicherweise die Chance deines Lebens!“

„Du willst mich loswerden!“, sagte ich und verzog missmutig das Gesicht.

Yusei schob mich ein Stück von sich fort und hob beide Augenbrauen. „Glaubst du das allen Ernstes?“

Ich zögerte einen Moment. „Nein. Nein, das glaube ich nicht.“

Er nickte. „Wenn ich könnte, würde ich dich am liebsten überhaupt nirgendwo mehr hingehen lassen, Aki. Erst recht nicht für ein halbes Jahr ans andere Ende der Welt.“ Yuseis Blick verlor sich und er erschauerte bei der Vorstellung, dass wir uns so lange nicht sehen würden. „Aber das kann ich nicht. Außerdem habe ich das Gefühl – und ich kann dir nicht sagen, wieso – dass es dir gut tun wird, einfach Abstand zu nehmen, die Dinge noch einmal objektiv zu betrachten.“

Ich schnaubte. „Als ob ich die Dinge jemals objektiv betrachten könnte! Da kommt es auf die Entfernung, die zwischen uns liegt, überhaupt nicht an!“

Yusei grinste. „Wenn du meinst. Nun, und wenn du dann kurz vor Weihnachten zurück kommst, und mich immer noch liebst…“

Ich hievte mich zu ihm hoch und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Nenn mir einen Grund, warum dem nicht so sein sollte!“

„Was weiß ich. Vielleicht triffst du einen netten Engländer. Oder du entscheidest dich doch gegen mich, nach allem, was vorgefallen ist!“

Ich seufzte schwer. „Ich dachte, das hätten wir geklärt und uns darauf geeinigt, dass es nicht an dir gelegen hat?! Viel beunruhigender finde ich die Vorstellung, dass dir vielleicht auffallen könnte, wie egoistisch ich doch in Wirklichkeit bin und du dann nichts mehr mit mir zu tun haben willst…“

Jetzt küsste er mich und schnitt mir so das Wort ab.

„Als ob ich dich jemals nicht wollen würde.“, flüsterte er und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor unsere Lippen sich erneut berührten.

So verbrachten wir den ganzen restlichen Tag; eine seltsame Mischung aus Liebe und Furcht lag in der Luft, gepaart mit dem Unwillen zum Abschied.

Bevor Yusei spät am Abend nach Hause fuhr, umarmten und küssten wir uns etwa eine geschlagene halbe Stunde lang im Eingangsbereich, und ließen uns weder durch meine Eltern, noch durch Peanut stören, die alle drei hin und wieder die Eingangshalle passierten und uns neugierige Blicke zuwarfen (Peanut weniger, der sprang mehr auf und ab, wenn er uns sah).

„Ich bin dann morgen um neun Uhr wieder da, in Ordnung?“, flüsterte Yusei in mein Haar und streichelte mir sanft mit einer Hand über den Rücken.

Ich nickte nur widerstrebend an seiner Brust: in Wahrheit wollte ich, dass er die ganze Nacht hier blieb.

„Und ich bringe dich mit zum Flughafen.“ Er ließ mich langsam los, und noch bevor wir uns richtig getrennt hatten, fehlte er mir schon.

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“ Ich zog besorgt die Augenbrauen zusammen. „Wenn wir uns erst dort voneinander verabschieden… ich weiß ja so schon nicht, wie ich den Flug überstehen soll!“

Er streichelte mir sanft über die Wange. „Glaub mir, du wirst schon nicht den ganzen Flug über weinen müssen. Du fliegst nach England!“

Aber ohne dich, wollte ich sagen, doch irgendwie fanden die Worte ihren Weg über meine Lippen nicht. Stattdessen nickte ich nur und rang mir ein schiefes Lächeln ab.

„Glaub mir, du wirst diese Zeit genießen! Es ist doch nur für ein halbes Jahr.“

„Nur?“, stöhnte ich und vergrub den Kopf in meinen Händen. Warum musste ich eigentlich in letzter Zeit so oft weinen? Das war ja kaum auszuhalten!

Yusei trat ein Stück an mich heran und gab mir einen Kuss auf den Kopf. „Aki, wie soll ich denn nach Hause fahren, wenn ich weiß, dass ich dich hier weinend zurück lasse?“

„Dann bleib doch hier!“ Trotz den Tränen, die allmählich meine Wangen hinunterliefen, klang meine Stimme fest. „Du musst einfach nur da sein, dann bin ich schon zufrieden und fühle mich nicht so allein.“

Yusei lächelte leicht und nahm mich vorsichtig in den Arm. Ich konnte spüren, dass er nickte. „In Ordnung. Aber weißt du was? Ich könnte noch ein wenig frische Luft vertragen. Gehen wir eine Runde spazieren? Wir könnten sogar Peanut noch mitnehmen!“

Und so trat ich den letzten Spaziergang durch unsere Wohngegend für mindestens ein halbes Jahr an.

Zusammen mit Yusei – und einem völlig begeisterten Peanut, dem die Nachtluft scheinbar jede Müdigkeit schlagartig nahm.

„Owe“, stöhnte ich, als wir schon eine Weile gegangen waren und nun durch eine Art Parkanlage wanderten, während Peanut an der langen Leine lief und putzmunter über die Wiesen tobte, auf denen Hunde eigentlich verboten waren. Aber wen kümmerte das schon in dieser sternklaren, wundervollen Spätsommernacht? „Ich glaube, der wird diese Nacht nicht mehr schlafen!“

Yusei lachte leise und griff nach meiner Hand. Unsere Finger verschränkten sich ineinander und mir kam es so vor, als würde nichts und niemand sie je wieder trennen können.

„Und ob der schlafen wird. Warte nur mal ab! Die Luft wird ihn müde machen und er wird traumlos und fest schlafen.“ Er linste zu mir hinüber. „Den gleichen Effekt wird sie übrigens auch auf dich haben.“

Ich guckte lange schweigend auf den Boden vor mir, bevor ich antwortete. „Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich furchtbare Angst vor morgen. Ich weiß, dass es kein Abschied für immer ist und dass ich das Ganze eine Spur zu dramatisch sehe… aber gerade ist alles so, wie ich es mir schon immer gewünscht habe! Und ausgerechnet jetzt soll ich das Land verlassen? Das ist doch ungerecht!“

„Was soll denn großartig anders sein, wenn du wieder zurück kommst?“, fragte Yusei ruhig und starrte geradeaus in die Nacht.

„Keine Ahnung! Aber es kann sich so vieles in einem halben Jahr verändern!“

„Ich bin mir sicher, die Dinge hätten sich auch verändert, wenn wir nicht zusammen gekommen wären. Nur vielleicht auf eine andere Art und Weise.“

Diese Antwort stimmte mich nachdenklich. Natürlich hatte er Recht. Noch bevor wir schließlich zusammengekommen waren, war mir bewusst gewesen, dass nichts still stehen, die Veränderung von Dingen nicht stoppen würde, nur weil ich nicht da war. Es hatte mir nichts ausgemacht.

Ich hatte gehofft, dass die Dinge sich zum für mich Besseren wenden würden, wenn ich für eine bestimmte Zeit von der Bildfläche verschwand. Dass dies anzunehmen naiv gewesen war, wurde mir erst jetzt so richtig bewusst. Wie konnte sich etwas für mich bessern, wenn ich nicht da war, um die Weichen für meine Zukunft zu legen, eine Zukunft, von der ich von vorneherein gewusst hatte, dass ich sie mit Yusei verbringen wollte, obgleich er mich nun liebte oder nur freundschaftliche Gefühle für mich hegte?

Und irgendwie kam ich zu dem Schluss: vielmehr konnte sich nun an der neu eingetretenen Situation auch nicht ändern.

Während ich Yusei anguckte, wusste ich, dass er für mich immer etwas Besonderes sein würde. Ich wagte nicht zu denken, dass unsere Liebe ewig hielt – so viele Dinge konnten im Leben geschehen, die es nachhaltig beeinflussten und Beziehungen zu anderen Menschen veränderten.

Aber seltsamerweise war ich mir in einem Punkt vollkommen sicher: Yusei und ich würden immer Freunde bleiben.

Mein Herz klopfte plötzlich ein paar Takte schneller, meine Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. Ruckartig blieb ich stehen.

Yusei, der noch zwei Schritte weiter gelaufen war, drehte sich mit überraschter Miene um.

„Was ist?“

Ich atmete tief ein. „Du wartest auf mich, nicht wahr…“ Es war keine Frage – vielmehr eine Feststellung. „Du hast immer auf mich gewartet. Wie konnte ich jemals daran zweifeln, dass du es nicht wieder tun wirst?“

Jetzt lächelte auch Yusei. Langsam trat er zu mir heran, blieb dicht vor mir stehen und küsste mich auf die Stirn.

„Genau. Ich werde warten. Ich verspreche es dir… ich verspreche es!“
 


 


 


 


 

18. Dezember, 19:30 Uhr

Liebes Tagebuch!
 

Es ist nicht zu fassen, wie schnell die Zeit vergeht! Es ist fast, als wäre ich erst vor kurzem angekommen, als hätte ich erst gestern hier in England mein Zimmer bezogen…

Und doch ist das „halbe Jahr“ mit dem morgigen Tag vorbei und ich fliege zurück nach Hause (irgendwann ist mir aufgefallen, dass das „halbe Jahr“ gar kein halbes Jahr ist, sondern vielmehr vier Monate…).

Wenn ich sage, dass ich hier in England viel für die Schule gelernt habe, würde ich lügen, also lass’ ich's sein. Natürlich konnte ich meine Sprachkenntnisse verbessern, aber alles Weitere ist leider auf der Strecke geblieben… ich denke aber trotzdem, dass ich es schaffen werde, den verpassten Stoff nachzuholen. Irgendwie.

Eben habe ich meine E- Mails durchgesehen und ich kann sagen, dass ich froh darüber bin, mit Yusei auf diesem Wege Kontakt gehalten zu haben. Mal von der Ewigkeit abgesehen, die herkömmliche Briefe benötigen, um vom einen Ende der Welt zum anderen zu gelangen, hätte ich einen extra Koffer nur für unser Geschriebenes kaufen und transportieren müssen! Was für unwichtigen Krempel wir uns geschrieben haben… und doch hat es mir in dieser Zeit geholfen, mich nicht so einsam und verloren zu fühlen, kein Heimweh zu haben.

… Mir fällt gerade auf, dass ich weniger Kontakt zu meinen Eltern, als zu Yusei hatte! Zehn Briefe haben wir uns geschrieben (fünf sie, fünf ich), in denen ich immer wieder beteuert habe, dass es mir gut ginge und ich sie nicht zu sehr vermissen würde (was, wie mir gerade bewusst wird, nicht sonderlich aufbauend für sie gewesen sein kann – Ups!).

Natürlich habe ich auch meine Eltern vermisst! Sehr sogar. Aber da ich auch Zuhause mehr Zeit mit Yusei als mit ihnen verbringe… hat sich meine Sehnsucht nach ihnen irgendwie relativiert.

Alles ist relativ! HA! Danke, Albert! Auch wenn ich zugeben muss, dass ich das trotz wiederholtem Durchkauens im Physikunterricht noch immer nicht wirklich verstanden habe! Insbesondere, wenn man die Erklärungen auf Englisch erhält…

Wenn es für meinen Abschluss relevant ist, wird Yusei es mir noch mal erklären müssen (Memo an mich: Yusei über Einsteins Relativitätstheorie ausquetschen, bis ich’s verstanden habe! Verbleibe in der Hoffnung, dass er weiß, was der gute Albert uns da hinterlassen hat…)!

Meine Güte, wie ich mich freue, ihn morgen wieder zu sehen! Seit Tagen kann ich an nichts anderes mehr denken! Meine neu gewonnenen Freunde hier halten mich vermutlich für verrückt… ich könnte es ihnen jedenfalls nicht verübeln! Wenn ich mich nur halb so merkwürdig verhalte, wie ich mich fühle, würde ich als Außenstehender einen großen Bogen um mich machen.

Ich weiß selbst nicht, was genau mit mir los ist. Ich freue mich so sehr, endlich wieder nach Hause zu kommen, andererseits war die (wenn auch verregnete) Zeit hier durchaus lehrreich und gewinnbringend, weswegen mir der Abschied morgen nicht leicht fallen wird. Wieder lasse ich Menschen zurück, die ich über die kurze Zeit ins Herz geschlossen habe, wieder verändert sich mein Leben auf eine Weise, über die ich mir noch nicht bewusst bin.

Es fällt mir so schwer, all das in Worte zu fassen und noch schwerer, es einem anderen zu erklären, was auch der Grund dafür ist, warum ich es nur in mein Tagebuch und nicht in eine E- Mail an Yusei schreibe. Vielleicht lasse ich ihn morgen Nacht einfach diese Seiten lesen, damit ich nicht versuchen muss, diese verqueren Gedanken noch einmal in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Es bereitet mir Kopfschmerzen…

Meine Koffer sind gepackt, meine Abreise ist vorbereitet…

Jetzt muss nur noch ich mich zusammenreißen und durchhalten!

Ich schaff’ das (YEAH!). Ab Morgen sieht die Welt wieder anders aus!

Aki
 


 

Als ich aus dem Gate heraustrat, sah ich sie bereits von Weitem.

Meine Lippen verzogen sich zu dem breitesten Lächeln, das ich jemals zustande gebracht hatte. Ich beschleunigte meinen Schritt und rannte mit drei Trollis im Schlepptau auf die kleine Menschengruppe zu, die sich ihrerseits ebenfalls langsam auf mich zu bewegte. Vorneweg meine Eltern, dicht gefolgt von einem sanft lächelnden Yusei, der unnachahmlich cool die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte. Sogar Crow, Nicky und die Zwillinge waren mit von der Partie!

Ein richtiges, kleines Empfangskomitee! Mir wurde augenblicklich warm ums Herz.

„Aki!“ Meiner Mutter liefen Freudentränen über die Wangen, als sie mich fest in den Arm schloss. „Mein Engel, ich habe dich so vermisst!“

„Ich dich auch, Mama!“ Ich wusste nicht, ob es jetzt zu spät dafür war, meinen Fehler der letzten vier Monate zu revidieren, aber ich gab mir wenigstens Mühe und versuchte es. Schließlich hatte ich sie wirklich vermisst. WIE sehr wurde mir erst bewusst, als ich die Augen schloss und die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Laut schluchzend löste ich mich von ihr und fiel meinem Vater um den Hals, der erst ein wenig verdattert wirkte, bevor er leise lachend seine Arme um mich legte.

„Aki!“ Die Zwillinge zupften vorsichtig an meinem Rock und schauten zu mir herauf.

„Oh, ihr zwei!“ Seufzend beugte ich mich zu ihnen hinunter und umarmte auch sie.

Dann wandte ich mich Crow und Nicky zu, die mich lächelnd beobachteten. Nicky überwand die wenigen Schritte Entfernung zwischen uns im Nu und schlang mir die Arme um den Hals.

„Endlich bist du wieder da! Und schau dich nur an: du siehst umwerfend aus!“

Pah. Schamlose Übertreibung. Ich hatte mich keinen Deut verändert. Lächelnd versuchte ich vorsichtig, ihr das klar zu machen. Doch die Blonde schüttelte nur den Kopf. „Du siehst erwachsen und reif aus. Ganz anders. Einfach umwerfend!“ Doch noch bevor ich ihr sagen konnte, dass, wenn sie noch einmal das Wort „umwerfend“ im Bezug auf mich in den Mund nahm, ich ernstzunehmende Schritte für ihre Eliminierung einleiten würde, klopfte Crow mir auf die Schulter.

„Hey!“, sagte er breit grinsend. „ Da bist du ja schon wieder!“

„Schon?“, prustete ich, ließ Nicky los und umarmte Crow. „Vier Monate, Crow, vier Monate!“

Er lachte nur und ließ mich los.

Langsam – ganz langsam – wandte ich mich der Person zu, die ich mit Absicht erstmal außen vor gelassen hatte.

Tausend Sprüche fielen mir ein, als ich erneut anfing, vor lauter Glück zu heulen und auf Yusei zu lief (so was wie „Das Beste kommt zum Schluss“, oder „Das Beste hebt man sich bis zum Schluss auf“ – in solchen Situationen arbeitete mein Hirn irgendwie anders als das anderer Leute. Irgendwie beängstigend.), die Arme ausbreitete und von ihm ebenso liebevoll empfangen wurde.

Ich hatte aufgehört darüber nachzudenken, warum ich in seinem Beisein immer anfing zu weinen. Was blieb mir auch anderes übrig? Vielleicht würde sich das ja in Zukunft ändern, aber auch jetzt brachen wieder alle mühsam aufgebauten Dämme.

Ich heulte Rotz und Wasser.

Mitten in der Eingangshalle vom Flughafen.

Grandios, Aki! Das machst du mal wieder toll!

Ich biss mir auf die Unterlippe und riss mich mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, zusammen.

Yusei, der bisher noch keinen Ton gesagt und mich einfach sein T- Shirt auf ein Neues hatte ruinieren lassen, entfernte sich nun ein Stück von mir und schaute mir in die verquollenen Augen. Mein Anblick musste amüsant sein, denn seine Lippen umspielte ein Grinsen und das Licht tanzte förmlich in seinen blauen Augen.

„Ohhh…“, stöhnte ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

Sanft umfasste er meine Handgelenke und legte meine Arme um seinen Hals, bevor er seine um meine Taille schlang. „Ich habe dich so lange nicht gesehen, und jetzt versteckst du dich vor mir?“, flüsterte er sanft und küsste mich auf die Stirn. „Du bist wunderschön, auch wenn du geweint hast.“

Ich wurde rot. Na wunderbar! Dann war mein Gesicht zumindest wieder einheitlich gefärbt.

„Du hast mir gefehlt!“ Ich konnte nicht anders – ich musste ihn einfach anstarren. Ich vergaß völlig den Trubel, der um uns herum herrschte. Es war, als würde es in dieser Minute nur uns beide geben.

Yusei lächelte. „Und du mir. Sehr sogar.“

Dann verstummten wir. Es war kein weiteres Wort mehr nötig. Wir schauten uns eine kleine Ewigkeit unentwegt an, bevor sich unsere Lippen schließlich trafen.

Mitten in der Eingangshalle vom Flughafen. Nur, dass es mich dieses Mal nicht im Geringsten interessierte, in aller Öffentlichkeit das zu tun, was ich eben tat. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten. Das konnte mir doch egal sein.

Ich war glücklich! Restlos, wunschlos, einfach glücklich!

Das Warten hatte ein Ende. Endlich war ich da, wo ich hin wollte.

Mitten in der Eingangshalle vom Flughafen, schoss es mir durch den Kopf.

Argh! Verdammt noch mal!

Ich löste mich reichlich widerwillig von Yusei, zog eine Schnute, als er mich ansah und fragend die Augenbrauen hob, griff nach dem letzten, zurückgebliebenen Trolli (meine Eltern hatten die anderen zwei scheinbar schon mitgenommen – hoffentlich!) und verschränkte die Finger meiner linken, noch freien Hand mit Yuseis Rechter.

Dieser folgte mir bereitwillig. Ihm war scheinbar etwa zur gleichen Zeit wie mir wieder bewusst geworden, wo wir uns befanden und er war ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass dies nicht gerade ein geeigneter Ort für ein liebevolles Wiedersehen war.

Während wir nebeneinander auf der Rückbank im Wagen meiner Eltern saßen, legte ich meinen Kopf auf Yuseis Schulter und obwohl man denken sollte, dass ich im Flugzeug genug hatte schlafen können, fielen mir die Augen zu und ohne es richtig zu beabsichtigen, war ich eingenickt.
 


 

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug und waren für mich mehr Traum als Wirklichkeit. Ich verbrachte die meiste Zeit mit Yusei, der mir beim Aufholen des Stoffes half, und auch wenn ich die Relativitätstheorie trotz seiner konzentrierten und geduldigen Erklärungsversuche noch immer nicht durchblickt hatte, war ich mir irgendwann doch sicher, das meiste nachgeholt und verstanden zu haben.

Ein paar Tage nach meiner Ankunft saßen wir eines Abends jeweils im Schneidersitz dem anderen gegenüber auf meinem Bett und sahen Fotos und Aufzeichnungen durch, die ich während meiner Zeit in England gemacht hatte.

Yusei lächelte, als er ein ganz besonders furchtbares Bild von mir aus dem Stapel zog und es einer gründlichen Musterung unterzog. Verzweifelt versuchte ich, es ihm abzunehmen, endete nach einem kurzen Kampf aber leider weniger elegant und mit einem lauten „RUMPS“ neben dem Bett auf dem Boden. Fluchend richtete ich mich auf und schaute ihn wütend an.

Er senkte entschuldigend den Kopf. „Tut mir leid. Hast du dir weh getan?“ Und keine Sekunde später stand er vor mir und nahm mich fürsorglich in den Arm. Meine Wut verflog fast augenblicklich und ich kuschelte mich an seine Brust.

„Ein bisschen… ich habe mir den Kopf an der Bettkante gestoßen.“

Während er sanft über meinen Hinterkopf strich, nahm der dumpfe Schmerz langsam ab und ich lächelte zufrieden.

„Und?“, fragte Yusei in die Stille hinein. „Ist das, wovor du vor deiner Abreise so Angst hattest, eingetreten?“

Ich lachte leise. „Nein. Zumindest glaube ich das.“ Mit zusammengekniffenen Augen drückte ich mich ein Stück von Yusei weg und sah ihm prüfend ins Gesicht.

Ich konnte in seinen blauen Augen die anfängliche Verwirrung sehen, gefolgt von der Erleichterung, als er begriff, worauf ich hinaus wollte. Er lächelte glücklich.

„Ja, das kannst du auch glauben!“

„Nicht umverliebt?“

„Das Wort gibt es?“

Ich sah ihn abwartend und mit einer gewissen Strenge im Blick an. Er quittierte das mit einem Seufzen, sagte dann aber bereitwillig und ernsthaft: „Nein, Aki, ich habe mich nicht… umverliebt. Das du mir das überhaupt zutraust nach den vergangenen Tagen.“

„Es tut mir leid!“ Er hatte recht. Ich hatte schon wieder grundlos an ihm gezweifelt. An Yusei, der wohl ehrlichsten Haut auf dieser Welt seit Menschengedenken.

Als ich mich erneut in seinem Anblick verlor und es nur zu gern zuließ, dass er mich erst sanft, dann leidenschaftlicher küsste, nahm ich mir fest vor, meinen stetigen Begleiter, das Misstrauen, ein für alle mal in eine abgesperrte Ecke meines Hirnes zu verbannen. Oder nein, noch besser: es gleich ganz vor die Türe zu setzen.

Ich würde Yusei in Zukunft glauben. Ihm vertrauen. Und nicht nur ihm. Auch Nicky, Crow und meine Eltern hatten es verdient, ihnen gegenüber nicht so misstrauisch zu sein. Sie alle waren feste Bestandteile meines Lebens, Menschen, ohne die ich weder überleben wollte, noch konnte.

Wenn ich mit Yusei zusammen war, wurde auf einmal alles klarer, so als würde jemand einen Lichtschalter in einem dunklen Raum betätigen, der durch seine sonstige Dunkelheit bedrohlich und verwirrend erschien. Das Licht nahm die Angst vor dem Ungewissen, erleichterte das Handeln und machte neuen Mut.

Yusei war mein Licht, meine… Glühbirne?

Verwirrt unterbrach ich den Kuss und schaute mit zusammengezogenen Augenbrauen erst zum Lichtschalter, dann an die Decke zu meiner Lampe.

Während Yusei wahrscheinlich überlegte, ob ich nicht doch größeren Schaden bei meinem Sturz davongetragen hatte, dachte ich angestrengt nach.

Plötzlich hellte sich mein Blick auf und nun lag es an mir, zu seufzen.

„Was ist?“, fragte Yusei besorgt und strich mit seiner Nasenspitze an meiner Wange entlang.

„Ich überlege gerade, ob du der Lichtschalter oder doch eher die Glühbirne bist.“

Wäre ich ein Auto gewesen, hätte er mich seinem Blick nach zu urteilen für einen wirtschaftlichen Totalschaden erklärt.

Ich musste lachen und strich dabei mit meinen Fingerspitzen über sein Schlüsselbein. „Weißt du… ich glaube, du bist beides.“

„Aki, was meinst…“ Doch weiter kam er nicht. Meine Lippen verschlossen seinen Mund und seine anfängliche Verwirrtheit verflog fast augenblicklich.

Schön zu sehen, dass ich nicht die einzige war, die man leicht beeinflussen konnte!
 


 

Und heute, einige Wochen später…
 

Liebes Tagebuch!

Es geht mir gut. Es geht mir so unbeschreiblich gut!

Mehr gibt es gar nicht zu sagen! Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben mit meinen Weisheiten am Ende – wie schockierend! Keine Metaphern, Personifikationen oder Vergleiche… mir fällt nichts Schlaues sein!

Außer vielleicht, dass das Leben gar nichts so bescheiden ist, wie es manchmal vorgibt zu sein! Such’ dir einfach gute Freunde, fabelhafte Eltern (okay, ich gebe es gerne zu: die kann man sich nicht suchen, die muss man haben!) und (allen voran) einen Menschen, den du mehr liebst als alles andere (in meinem Falle ist dieser Mensch auch mein ganz persönliches Lichtsystem)! Im Grunde kann dir dann nichts mehr passieren… denn egal was passiert:

Irgendwer ist immer da und fängt dich auf. Du kannst nicht tiefer fallen als in die Hände deiner Liebsten.

Ist das nicht wundervoll tröstend zu wissen?
 

Bis bald,

Aki



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Kommentare zu dieser Fanfic (76)
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Von:  PrincessVinyl
2014-02-11T20:15:58+00:00 11.02.2014 21:15
Eine wirklich tolle ff. Mir gefällt dein Schreibstil echt sehr und die story ist dir auch gut geglückt.
Nur finde ich es irgendwie schade, dass man gegen Ende überhaupt nichts mehr über die Beziehung zwischen Crow und Nicky erfahren hat. Wenn die beiden zusammen gekommen wären, wäre dass wahrlich das Tüpfelchen auf dem "I" gewesen.
Trotzdem eine wirklich fesselnde Geschichte. ;)
Von:  BenWill
2012-12-31T13:10:57+00:00 31.12.2012 14:10
Zum Jahresende 2012 gibbet von mir noch nen Kommi
Also, deine Geschichte war echt genial.
an manchen Stellen musste ich mich zusammenreißen nicht in schallendes Gelächter auszubrechen, nun gut ich lebe zwar allein, aber meine Wände sind alles andere als Dick. Muss doch während der Mittagsruhe Rücksicht nehmen. Die 6 Monate in London, schienen ihr wirklich gut getan zu haben, so wie sie sich Yusei um den Hals geworffen hat. Das sieht man, wahres Liebe existiert. Vor allem fand ich toll das die beiden sich um den Hund gekümmert haben. Golden-Retriever sind Familien-Hunde, mit sehr sanften Gemüt. Und so gesehen hat unsere kleine Erdnuss, welche unsere beide Turteltauben verkuppelt hat.

Somit wünsche ich einen guten Rutsch ins neue Jahr 2013 und viel Erfolg mit den guten Vorsätzen

Shadowking
Von: abgemeldet
2012-05-01T17:49:22+00:00 01.05.2012 19:49
Die Story war der Hammer echt gut geschrieben. Bitte schreib noch mehr YuseixAki Fanfictions.:D

Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-03T07:15:41+00:00 03.01.2011 08:15
Man war das schön *.*
Das war echt ein tolles Ende für diese schöne FF^^
Wäre echt toll wenn du noch mehr solcher FF´s schreiben würdest ^.^ Oder eine Fortsetzung von der hier wäre auch toll^^
Naja jedenfalls hat mir das Kappi echt gut gefallen^^

LG Amalia
Von:  Inu-ky
2011-01-01T12:56:18+00:00 01.01.2011 13:56
ohhhhhhhh, wie schön und süß das war.
Das war echt ein Hammer Kapitel, die ganze FF war einfach nur super.
Und ich würde gerne noch weitere FF's von YuseixAki lesen, denn du schreibst richtig toll. Würde mich freuen, wenn du mir dann eine ENS schreibst, wenn du eine neue FF hast.
Bis dahin, hoffe ich du bist gut in das neue JAhr gekommen und wünsche dir ein schönes Jahr 2011.

LG Inu-ky
Von:  CreamCake
2011-01-01T00:24:00+00:00 01.01.2011 01:24
ganz zu anfang erstmal: Guten Rutsch ins Neue Jahr <3
waaaah wie süß *-*
einfach grandios x3
dieses Kapitel ist soo unbeschreiblich *-*
ich weiß gar nicht richtig was ich sagen soll >.<
bei diesem Kapitel passt einfach alles +_+
schreib bitte noch mehr YuseixAki FF's !
Von:  DarkDragon
2010-12-31T17:20:41+00:00 31.12.2010 18:20
Yusei war mein Licht, meine… Glühbirne? *Geniel* Aber auch das andere mit dem Lichtschalter und der Glühbirne war lustig.
Nun sind sie endlich zusammen, auch wenn die zwei für 4 Monate getrennt waren. Tolle FF, würde gern mehr YuseixAki FF´s von dir lesen^^.
lg und guten Rutsch ins neue Jahr wünsche ich dir.
Von:  fahnm
2010-12-31T16:57:15+00:00 31.12.2010 17:57
Klasse Kapi!^^
Von:  Raishyra
2010-12-31T16:17:53+00:00 31.12.2010 17:17
Schöner Schluss^^
Von:  HekaChebiut
2010-12-05T17:22:45+00:00 05.12.2010 18:22
oh mein gott war das schön!!!
ich bin ganz berauscht. ich will mehr!
das gesamte kapitel war einfach spitzenklasse.
ich hoffe bald mehr von dir zu lesen....

lg Heka


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