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Cursed

Ein Misery-Zwischenspiel
von

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Fahles Morgenlicht durchbrach den Nebel, der ihn umgab. So wie der Nebel langsam verschwand, kehrten die Schmerzen zurück. Er stöhnte leise. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Trotzdem zitterte er.

Nur nicht schreien.

Keinen Lärm erzeugen.

Sonst kommt sie wieder.

Verdammt, wann bekam er endlich wieder sein Novril? Er hätte seinen linken Fuß für eine dieser Pillen hergegeben. Bei diesem Gedanken lachte er bitter in sich hinein.

Und als Gratiszulage gibt es den linken Daumen oben drauf. Na, Annie, ist das kein gutes Angebot?

Er biss sich auf die Lippen, um nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen. Wenn es danach ginge, müssten eigentlich Berge von Novril auf seinem Nachttisch liegen.

Er betrachtete den Verband an seiner linken Hand, unter dem der blutige Stumpen seines Daumens wild vor sich hin pochte. Bald würde der nicht mehr vorhandene Teil seines Daumens genauso anfangen zu jucken wie sein abgetrennter, linker Fuß. Verdammte Phantomschmerzen.

Er legte seinen Arm über die Augen. Vielleicht konnte er so wieder in den Nebel eintauchen. Oder zumindest kurz vor dieser beschissenen Realität fliehen.

Aber nichts geschah. Er fühlte nur die Schmerzen, die wie eine Flutwelle über ihn kamen. Seufzend zog er den Arm zurück und blinzelte in das heller werdende Licht.

Plötzlich funkelte der Sonnenschein bläulich. Das Licht wurde immer intensiver und greller, dass es seine Augen schmerzte. Aber er konnte nicht wegschauen, nicht den Blick abwenden. Zu außergewöhnlich war der Anblick, der sich ihm bot.

Aus dem Licht trat eine wunderschöne, alterslose Frau, gekleidet in ein hellblaues Kleid, das in seiner Farbe an den Himmel eines strahlenden Sommertages erinnerte. Über ihre Schultern wallte ihr blaues Haar wie ein Wasserfall und ihre blauen Augen funkelten wie Saphire. Auf ihrem Gesicht lag ein sanftes Lächeln, so liebevoll und gütig wie ihr Wesen.

„Die blaue Fee…“

Als Kind hatte er alle möglichen Bücher geradezu verschlungen, darunter auch Pinocchio. Und die blaue Fee war einer seiner Lieblingscharaktere in dieser Geschichte. Oft hatte er sich vorgestellt, wie es wäre sie zu treffen und was er sich von ihr wünschen würde.

Ich weiß gar nicht, woher er das hat.

„Paul“, erwiderte sie Fee lächelnd. Ihre Stimme klang süß und harmonisch, als würde sie singen. Sie trat an sein Bett und legte ihre Hand auf seine verstümmelte Hand. Eine angenehme Kühle ging von ihr aus und sein Daumen pochte und puckerte weniger stark. „Du hast viel erdulden müssen, Paul. Dafür hast du jetzt einen Wunsch frei.“

Tränen glitzerten in seinen Augen. Endlich, endlich war Hilfe gekommen. Nicht die Polizei, die er schon seit Monaten herbei gesehnt hatte, sondern die blaue Fee war gekommen, um ihn zu retten.

„Dann wünsche ich mir meine Freiheit. Schick mich irgendwohin. Nach New York zurück. Nach Afrika. Egal wohin. Nur weg von hier. Ja, nach Afrika. Der Vogel will aus seinem Käfig und zurück nach Afrika“, presste er atemlos die Worte hervor. Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung.

Er schreibt immer so Geschichten auf.

Die blaue Fee seufzte traurig und schüttelte zaghaft den Kopf. „Ich weiß, dass das dein sehnlichster Wunsch ist, aber ich kann ihn dir leider nicht erfüllen. Bitte überlege dir etwas anderes, das du dir wünschst.“

Erschüttert blickte er in dieses makellose Gesicht. Die saphirblauen Augen glänzten vor Traurigkeit.

„Dann mach mich zu einem richtigen Jungen.“ Er zog die Bettdecke zur Seite und entblößte seine verkrüppelten Beine, die durch den Autounfall mehrfach gebrochen, geradezu zersplittert waren. Das linke Bein endete in einen weiß bandagierten Stumpf. „Hilf mir, dass ich wieder laufen kann. Dann könnte ich selbst von hier fortgehen. Heile meine Beine. Wenn du aus einer Marionette einen Menschen machen konntest, dann kannst du das doch.“ Sein Blick flackerte vor Verzweiflung.

Niemand aus meiner Seite der Familie hat solch eine Vorstellungskraft wie er.

„Paul…“ Die süße Stimme der blauen Fee war leise, flüsternd, fast nicht hörbar. „Das kann ich nicht. Es tut mir so leid. So eine Macht habe ich nicht.“ Zögerlich zog sie ihre Hand von seiner und strich ihm über die Wange. „Ich wünschte, ich könnte dir deinen Wunsch erfüllen.“

„Aber du bist doch eine Fee, du hast Pinocchio lebendig gemacht. Du hast also eine große Macht, warum kannst du mir dann nicht helfen?“, stieß er kratzig hervor. Tränen liefen über seine Wangen. Endlich war eine gute Fee gekommen, um ihm zu helfen, und dann konnte sie es nicht. „Das ist nicht fair… nicht fair.“

Solch eine Vorstellungskraft. So lebhaft.

„Ich kann dich nicht gehen lassen. Erst musst du den Roman zu Ende schreiben. Misery muss zurückkehren.“

Paul blinzelte. Für einen Moment schien das Haar der Fee weniger im Licht zu glimmern, ihre Augen weniger blau zu strahlen.

„Aber ich kann etwas anderes für dich tun.“ Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Fee aus. „Kennst du die Geschichte von Dornröschen?“

Er nickte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die blaue Fee sah immer weniger wie eine Fee aus.

„In dem Märchen sticht sich die Prinzessin und fällt in einen tiefen, langen Schlaf. Und alles wird wieder gut.“ Die Stimme klang nicht mehr süß und harmonisch wie zu Anfang.

„Du hast sehr hohes Fieber, Paul. Schlaf wird dir gut tun. Und wenn du wieder aufwachst, dann wirst du auch weiter schreiben können.“ Die Fee strich noch einmal liebevoll über seine Wange und zückte ihren Zauberstab.

Entsetzen erfüllte ihn. Die blaue Fee war nicht die blaue Fee. Nicht das zauberhafte Wesen aus einem Kinderbuch. Ihre Silhouette war nicht mehr grazil, sie wurde breiter. Wie eine klobige Statue aus Stein. Die Göttin. Sie war hier. Und der Zauberstab war kein Zauberstab mehr, sondern eine Spritze.

„Nein… nicht… Annie, bitte…“ Verzweifelt flehte er sie an. „Keine Spritze… bitte.“ Die letzten Male nachdem sie ihm eine Spritze gegeben hatte, hatte er jedes Mal ein Stück von sich selbst eingebüßt.

„Scht, Paul. Alles wird wieder gut. Das ist nur zu deinem Besten.“ Sie packte seinen Arm und setzte die Spritze an. „Du wirst jetzt tief und fest schlafen und dann wird es dir wieder besser gehen.“

Scheiße, es würde ihm nicht nach ein wenig Schlaf besser gehen. Verdammt, warum hatte die blaue Fee ihn so im Stich gelassen? Er hätte es wissen müssen, eine gute Fee konnte nichts gegen Annie Wilkes ausrichten. In Annies Gegenwart konnte so etwas wie Feen nicht existieren. Dort existierte nur die Göttin aus Stein.

Der Nebel um ihn wurde wieder dichter, hüllte ihn langsam ein wie eine warme Decke.

Kannst du, Paulie?

Was konnte er?

Kannst du sagen, wie die Geschichte ausgeht? Wird Mr. Gedankenlos entkommen?

Er driftete immer tiefer in den Nebel. Aber ihm war bewusst, dass es kein Entkommen gab. Das nächste Mal, wenn sich der Nebel lichtete, wäre er immer noch gefangen. Noch immer eingesperrt von einer Wahnsinnigen, die ihm weiß Gott was antun würde. Die Göttin würde ihn nie gehen lassen. Es gab kein Entkommen. Nicht einmal eine gute Fee würde ihn hier rausholen können. Der Vogel würde niemals seinen Käfig lebend verlassen können. Würde niemals mehr die Freiheit in Afrika erfahren. Es gab kein Entkommen.

Mit dieser Gewissheit schlief er ein. Schlief wie Dornröschen nach einem Stich einfach ein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2011-10-31T23:37:03+00:00 01.11.2011 00:37
Ist noch nicht lange her, da hab ich "Sie" verschlungen wie sonst kaum ein anderes Buch. Auf der Suche nach vielleicht nicht ganz sinnvollen FFs bin ich dann auf diese gestoßen: Der Klappentext passt toll, ich hab beim Überfliegen der Übersicht nur "Novril" gesehen und musste die Geschichte lesen.
Der Satz "Dann mach mich zu einem richtigen Jungen." hat mich erst einmal sprachlos gemacht. Auf seine eigene Weise sehr... brutal diese Metapher, aber mehr als passend.
Das hier hätte wirklich gut ein Ausschnitt aus dem Original-Werk sein können, der Stil ist mit den kursiven Elementen auch schön angepasst - ich bin vollends begeistert!
liebe Grüße, Anna :)


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