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Der Malar

Die Jagd nach der Kreatur der Untiefen
von

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Federn

Die Untiefen.

Tiefschwarze, samtweiche Erde unter nackten Kinderfüßen.

Horizontlose Weiten, durchzogen von dichten Nebelschleiern.

Tilya hatte keine Angst.

Die erwachsenen Alwen und Verlieken pflegten ihren kleinen Söhnen und Töchtern zu erklären, dass sich alle Kinder in jeder Nacht irgendwo an diesem ruhigen, friedlichen Ort wieder finden würden, und zwar so lange, bis sie dort schließlich ihre Begabung entdeckten.

Zwei Wesen würden Tilya bald in den Untiefen begegnen, wie ihr ihre Eltern versprochen hatten, und die neugierige kleine Alverliekin konnte es kaum erwarteten, endlich in ihren faden, ereignislosen Träumen auf sie zu stoßen.

Sie hob ihr Köpfchen und blickte in die dicken, den trüben Himmel verhängenden Schwaden, die das kalte Licht einer fremden Sonne sanft über die eintönige Umgebung streuten.

Das eine Wesen würde ihr ihre Begabung schenken, das andere Wesen würde sie aus den seichten Untiefen in fantastische, fremde Welten voller aufregender Abenteuer führen, und Tilya wusste gar nicht, auf welche Kreatur sie sich am meisten freuen sollte.

Das kleine Mädchen schloss die Augen und lauschte der Stille, die nur von dem ungeduldigen Schlagen ihres jungen Herzens durchbrochen wurde.

Inzwischen hatte Tilya es aufgegeben, ziellos in den kahlen Untiefen umher zu irren, um nach jenen beiden Wesen zu suchen.

„Wenn es soweit ist, dann findet ihr mich bestimmt ganz von alleine“ flüsterte sie in die kalte, taufeuchte Luft.
 

Plötzlich zerriss ein Rascheln dicht über Tilyas Kopf die Ruhe um sie herum, und sie glaubte kurz, das sirrende Geräusch kleiner, flatternder Flügel hören zu können.

Sie blickte erschrocken nach oben aber spürte nur noch einen schwachen Luftzug auf ihrem Gesicht und erkannte gerade noch eine sich rasch von ihr entfernende, schmale Silhouette, die ihre Spuren glitzernd durch den Dunst zog, bevor sie sich langsam in ihm verlor.

Tilyas Herzchen machte einen Satz.

Sie war nicht mehr alleine hier, und sie wusste, was das bedeuten musste.

Sollte in dieser Nacht die Zeit des Erfahrens beginnen, würde sie nun die Welt bald aus neuen Blickwinkeln sehen können?

Aufgeregt suchten ihre meeresblauen verliekischen Augen die tiefen, träge vor sich hin wabernden Dunstwolken nach den agilen Bewegungen des Wesens ab, doch nur das verebbende Kräuseln einiger ferner, hauchdünner Schwaden über ihr zeugte von der Tatsache, dass ein Lebewesen Tilyas einsamen Weg gekreuzt hatte.

Atemlos rannte sie ein paar Schritte in die Richtung, in die das Tier geflogen zu sein schien, musste sich aber bald eingestehen, wieder einmal die Orientierung in den Untiefen verloren zu haben.

Tränen der Enttäuschung verschleierten ihren klaren Blick.

Anscheinend war nicht sie das Kind, nach dem dieses Totem gesucht hatte.

Niedergeschlagen ließ Tilya ihr dunkles Lockenköpfchen hängen und begann entmutigt, ihre Wanderung durch die Untiefen blindlings fortzusetzen.

Ohne auf eine weitere Begegnung mit dem Wesen zu hoffen, schlich sie trübsinnig über die schwarze Erde, als ihre alwischen Ohren plötzlich wieder dieses merkwürdige Surren hinter ihr vernahmen.
 

Ganz behutsam wandte sich die kleine Alverliekin um und erblickte das Tier, das auf ihrer Augenhöhe in dem Nebel zu schweben schien, schwerelos in ihr dahin gleitend, so wie eine Wasserschlange im leichten Strom eines Flusses, während sie einem unvorsichtigen Frostfrosch auflauert.

Tatsächlich mutete dieses Wesen wie eine Schlange an, mit seinem langen, schlanken Körper, den silbrig schimmernde Federn bedeckten.

Zwei Paar spindeldürre schuppige Gliedmaßen mit scharfen Klauen, wie sie Greifvögeln eigen waren, spannte das Wesen dicht unter seinem Körper an.

Jetzt erst erkannte Tilya, woher jenes Geräusch kam, das sie zunächst für das ferne Schwirren eines vorbeiziehenden Vogelschwarmes gehalten hatte.

Zwei Paar fluoreszierender Flügel, so dünnhäutig, dass selbst das diffuse Licht der Untiefen sie transparent erscheinen zu lassen vermochten, schlugen mit der rasanten Geschwindigkeit von Libellenschwingen auf Hüft- und Schulterhöhe des Tieres in der kalten Luft auf und ab.

Der durchdringende Blick aus Schlangenaugen in der Farbe reinster Türkisopale traf den der kleinen Alverliekin und Tilya war es, als würde sie in die Augen ihres Spiegelbildes blicken.

Zitternd hob sie ihre rechte Hand und streckte sie ganz behutsam nach der sich elegant in den Nebelschleiern schlängelnden Kreatur aus.
 

Die feinen Härchen auf Tilyas Armen richteten sich auf und ein wohliger Schauer lief ihr den Rücken hinab als die Luft um sie herum zu knistern begann.

Ihr kam es vor, als hätte sie schon so viel länger als ihr junges, kurzes Leben lang auf diesen einen Augenblick gewartet, auf den Moment, in dem ihr Bewusstsein mit einem uralten, seit jeher für sie bestimmten Teil vereinigt werden würde, der ihrer Seele bisher gefehlt hatte, oder vielleicht auch nur tief in ihr verborgen war.

Unendlich vorsichtig berührte sie die harten, glänzenden Federschuppen der Schlange mit ihren Fingerspitzen, und eine angestaute Spannung zwischen dem Kind und der Kreatur schien sich in einem prickelnden Funkenschlag zu entladen, der den Nebel um die beiden in ein gleißendes Leuchten tauchte.

Die Helligkeit durchflutete die unendlichen, undurchdringbaren Untiefen, und machte sie zu einem anderen, zu einem vollkommenen Ort, zu einem warmen Meer des Lichtes, in dem sich Tilya unwiderruflich verschmolzen mit einem vermissten Splitter ihres Ichs wähnte.

Das Mädchen fing an frösteln, als plötzlich ein eisiger Hauch die Harmonie dieser Atmosphäre gefrieren lies.

Dann begann der Nebel, der sich mit der blendenden Helligkeit vollgesogen zu haben schien, sich in winzigen, strahlenden Schneeflocken niederzuschlagen, die sanft in Richtung des dunklen, weichen Erdreichs schwebten, welches sie letzten Endes unbarmherzig verschluckte.

Übrig von der neuen, erfüllten, erleuchteten Welt blieb nur eine leere Finsternis um sie herum, als auch die letzten glühenden Tautröpfchen knisternd auf der Erde erloschen und Tilya begriff, dass sie wohl die ganze Zeit über auf diesem öden, schaurigen Terrain umhergewandert war.

Die Erkenntnis, dass bisher allein das Licht im Dunst dafür gesorgt hatte, dass sie jede Nacht unbeschwert die Untiefen erkundet hatte, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie sich eigentlich in der schwarzen Endlosigkeit des Nichts bewegte, lähmte sie vor stummem Entsetzen.

Doch die Vogelschlange war noch bei ihr, und diese Tatsache gab Tilya trotz allem ein Gefühl der Geborgenheit an diesem verlorenen Ort, den sie nun aus einer ganz anderen Perspektive wahrnahm.

Sie beobachtete vertrauensvoll ihr Totem, das sich in schillernden Bahnen anmutig um sie kreisend durch die Dunkelheit bewegte, die bedrohliche Schwärze mit ihrem geschmeidigen, fließend durch sie hindurch gleitenden Körper teilte, ohne Tilya dabei aus den türkisen Augen zu verlieren.

Da ertönte eine flüsternde Stimme irgendwoher aus den Weiten der Lichtlosigkeit.
 

Es war mehr ein schnarrendes, tiefes Krächzen, ein Geräusch, das Tilya an die Laute eines alten, verendenden Tieres erinnerte und der kleinen Alverliekin einen kalten Schauder über den Rücken jagte.

„Endlich bist du hier. Ich habe lange nach jemandem wie dir gesucht.“

Ein rasselndes Stöhnen folgte diesen Worten, und Tilya war sich nicht sicher, ob sie dabei Abscheu, Mitleid oder nackte Panik empfinden sollte.

Auch konnte sie nicht einordnen, woher die Stimme kam, vielmehr schien die Finsternis selbst zu dem Kind zu sprechen.

Tilya meinte, Nervosität aus den peitschenden Schlägen des gefiederten Schweifes ihres Totems deuten zu können, welches immer engere Kreise um das verunsicherte Mädchen zu ziehen begann.

„Hier bin ich, Tilya, dreh dich um, Mädchen!“

Nun konnte die kleine Alverliekin den unbekannten Flüsterer eindeutig hinter sich orten.

Sie fuhr augenblicklich herum und erkannte in der unschätzbaren Ferne einen undefinierbaren Schemen, der sich viel weiter weg von ihr zu befinden schien, als die Lautstärke der Stimme hätte vermuten lassen.

„Ja, sieh mich an! Erkenne mich.“ knarzte der Schatten. „So werden wir nun aneinander gebunden. Du bist mein und ich bin dein.“

Ein Paar rot glühende Augen starrten scharfsichtig aus dem diffusen Grau, welches sich kaum vom tiefen Schwarz der Untiefen abhob und Tilya fühlte die faszinierende Präsenz des Malaren – natürlich, das musste das Wesen sein, welches diese Welt neu erschaffen konnte, der Gegenspieler ihres Totems, der zukünftige ständige Begleiter ihrer Träume…
 

Der Malar näherte sich schwerfällig dem Mädchen. Tilya konnte unscharf eine hagere, gebeugte Silhouette erkennen. Lange, drahtige Gliedmaßen pendelten schlaksig an dem ausgemergelten Körper.

„Schau du mich nur ganz genau an, mein Kind! Erfasse meine wahre Gestalt. Du wirst sie dir einprägen und sie niemals vergessen. Ganz egal, in welchen Formen ich dir auch in deinen Träumen nachstellen werde, du wirst meine Anwesenheit allgegenwärtig spüren. Ich werde wach sein, wenn du schläfst und von deinen Ängsten zehren. Du wirst mir geben, was ich brauche, Tilya. Wir gehören nun zueinander, also lass es uns endgültig besiegeln!“

Der Klang seiner Stimme veränderte sich, je näher er ihr kam, zu einem angenehm klingenden, schnurrenden Raunen.

Doch Tilya hörte dem Malar gar nicht wirklich zu.

Gebannt studierte sie seine langsamen, schleppenden Bewegungen.

„Ich komme jetzt und hole dich, Kleine! Gleich habe ich dich. Für immer.“

Voller Neugier darauf, wie der Malar wohl aus der Nähe aussehen würde, hüpfte die kleine Alverliekin aufgeregt einige Schritte auf ihn zu.

Er blieb stehen und fixierte sie mit seinen leuchtenden Raubtieraugen.

Jetzt konnte sie sogar erkennen, dass sein Körper über und über mit struppigem, grauem und dunkelrotem Fell bedeckt war.
 

Das Wesen wirkte geschwächt, kraftlos und ausgezehrt. Vielleicht war es krank, kam es Tilya in den Sinn. Interessiert begutachtete sie die großen Hände des Malars, die langen, kräftigen Finger, die dicken, klauenbewehrten Pranken, die den mageren Körper trugen.

„Jetzt kriege ich dich!“ knurrte der Malar heiser, und begann plötzlich mit einer unerwarteten Geschwindigkeit auf das Mädchen zu zu rennen.

Verblüfft registrierte Tilya, dass der Malar trotz seiner ausgemergelten Statur mit der kraftvollen, geschmeidigen Eleganz eines Wolfes über die raumlose Sphäre jagte.

Erwartungsvoll wartete sie seine Ankunft ab, und je näher er ihr kam, desto sicherer war sich Tilya, dass der Malar wohl das außergewöhnlichste und schönste Wesen sein musste, das sie jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Mit Ausnahme der Kronennebeldrachen vielleicht, aber die hatte Tilya bisher nur in Vilthons Tierbücher bestaunen dürfen.
 

Jetzt hatte der Malar das Mädchen fast erreicht, er stoppte seinen Lauf abrupt und blieb schwer keuchend direkt vor Tilya stehen, so dass nur noch eine Armlänge die beiden trennte.

Bewundernd musterte Tilya die beiden Reihen scharfer Fangzähne, die aus dem wuchtigen Kiefer des Malars ragten und fuhr mit ihrer Zunge verstohlen über ihre eigenen, noch sehr kleinen Eckzähnchen.

Die Vogelschlange hatte sich derweil unbemerkt mit eleganten Bewegungen um Tilyas Hals und Schultern gewunden und zierte das Mädchen jetzt wie ein extravagantes Schmuckstück.

„Du rennst nicht weg?“ fragte der Malar die Kleine hechelnd. „Hast du keine Angst vor mir?“

Tilya überlegte kurz. „Nein, ich glaube nicht“ antwortete sie ihm und trat, als wolle sie ihre Worte dadurch bekräftigen, noch näher an den Malaren heran, so dass sie den seltsamen Duft, der von diesem Tier ausging, wahrnehmen konnte.

Er ähnelte dem muffigen Geruch einer Riesenwollspinne an einem verregneten, warmen Frühsommertag.
 

Der Malar taxierte Tilya argwöhnisch mit seinem starren Blick.

„Das solltest du aber. So läuft das Spiel. Du hättest vor mir fliehen müssen und ich dürfte dich jagen. Und wenn ich dich zu fassen kriege, soll dich diese unsere erste Berührung vor Schreck erwachen lassen. Auf diese Weise allein sind die Bande zwischen uns zu besiegeln.“

Er sprach stockend, zögerlich, fast schon verunsichert und wirkte, als hätte Tilyas Verhalten ihn total aus dem Konzept gebracht.

Tilya streckte aus einem Impuls heraus die Hand nach dem Malar aus und berührte neugierig das harte, borstige Fell seines Armes.

Als hätte er sich an dem Mädchen verbrannt, wich der Malar erschrocken vor ihr zurück.

Die Vogelschlange ringelte sich angespannt enger um Tilyas Schultern, wobei ihre kühlen Schuppen, die sanft über Tilyas Haut streiften ein angenehmes Gefühl auf ihrem vor Aufregung glühendem Körper hinterließen.

Das Totemtier hatte seinen Blick nicht von dem Malaren abgewandt, seit es sich beschützend um Tilya gelegt hatte, und immer noch beäugte es das fremde Wesen voller argwöhnischem Misstrauen.

Der filigrane Körper des Tieres zitterte vor Erregung, und in Tilya wuchs der beunruhigende Eindruck, ihre Schlange würde auf etwas warten, auf ein ganz bestimmtes Ereignis, vielleicht auf ein Zeichen, welches es zum Anlass nehmen könnte, den Malaren anzugreifen.

Tilya jedoch schien es unverständlich, weshalb die Gegenwart des Malars eine derartige Beklommenheit bei dem Totem auslösen konnte.

Gebannt blickte sie tief in seine faszinierend scharlachroten Augen, die sie an die einer Waldohreule erinnerten.

Doch irgendetwas stimmte mit ihnen nicht.

Eine laue Unbehaglichkeit machte sich nun auch im Leib des Kindes breit.

Tilya kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und suchte in den Blicken des Malars angestrengt nach der Ursache dieses seltsamen Gefühls.

Sie glaubte, die Antwort in dem Spiegelbild zu finden, welches sich in den Augen des Tieres reflektierte.

Als hätte der Malar ihre Gedanken gelesen, senkte er sofort den Blick und das Mädchen biss sich verärgert auf die Zunge.

Der Malar wandte sich nun der Vogelschlange zu.
 

„Du hast Tilya bereits erwählt, denn sie gehört jetzt zu dir“ murmelte der Malar leise, mehr zu sich selbst als zu dem Totem.

„Vorher hätte sie kein Malar hier in den Untiefen erkennen können. Doch ich sehe sie jetzt deutlich vor mir, und ich bin auch der erste, der sie aufgespürt hat. Damit sind wir nun aneinander geschmiedet. So sollte es sein – so muss es sein, Mädchen. Du bist das richtige Kind für mich!“

Energisch stakste der Malar einen Schritt auf Tilya zu und stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie den Klang seiner letzten Worte, die er mit tiefer, rasselnder Stimme voll trotziger Entschiedenheit geradezu heraus gebellt hatte, dumpf in ihrem kleinen Körper vibrieren spürte.

Bevor sie jedoch die abermals Gelegenheit dazu bekommen konnte, hinter das Geheimnis seiner Raubvogelaugen zu kommen, schloss der Malar diese in seinem verzweifelten Versuch, die Fassung zu bewahren.

Tilya beobachtete ihn hilflos in seinem Bemühen, seine Atmung in ruhigere, gleichmäßigere Rhythmen zu lenken.

Sie hörte das Knacken der verkrampften Gelenke seiner Klauen und das schreckliche Knirschen mahlender Zähne.

Das bedrückende Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben keimte in Tilyas Gewissen auf wie eine giftige Wucherpflanze.

Auf eine seltsame Art fühlte sie sich schuldig, als sie da vor diesem fremden, großen, aus einem ihr nicht ersichtlichen Grund völlig niedergeschmetterten Wesen stand, welches offenbar gerade mit höchster Konzentration nach einer Lösung für ein Problem suchte, das Tilya womöglich zu verantworten hatte.

Und immer noch war ihr völlig schleierhaft, worum es dem Malar letztendlich ging.

Sie wollte ihm gerade mitleidig anbieten, ihr zu erklären, was sie zu tun hatte, damit es ihm besser ginge, als der Malar plötzlich seine roten Augen aufriss und sie mit einem grauenhaften Blick wahnsinniger Erkenntnis durchbohrte.

Tilya schnappte erschrocken nach Luft, als sich der Malar mit einem irren Grinsen um seine gebleckten Fänge langsam zu ihr hinunter beugte, so dass sein heißer Atem auf ihrer Stirn dampfende Glut hinterließ. „Ich kriege den Staub!“

Mit einer blitzschnellen Bewegung ergriff er mit seinen langen, knochigen Finger das perlmuttartig schimmernde Geschöpf um Tilyas Hals, und bevor das Kind begriff, was geschah, verschwand sein neuer kleiner Gefährte zwischen langen, dolchartigen Reißzähnen.

Die herrlichen Schuppen des Totems knirschten furchtbar im Rachen des Malars. Eine silberne Feder schwebte sanft zum schwarzen, bodenlosen Grund der Untiefen, die Tilyas schrillen Schrei verschluckte.
 

Es war Tilyas eigene, gellende Stimme, welche das Mädchen letztendlich aus der lähmenden Ohnmacht dieses Alptraumes in die Realität katapultierte.

Der Anblick des Malars, ihre eigene Erscheinung, das gesamte unergründliche Schwarz der entleerten Untiefen verblasste wirbelnd in dem reißenden Strudel ihrer Panik.
 

Endlose Momente lang gab es nur die gähnende Dunkelheit, das Kind und seinen Schrei des Entsetzens, bis Tilya endlich zu realisieren begann, dass sie wieder in ihrem Bettchen saß, erwacht, stocksteif und klamm von kaltem Angstschweiß.

Doch das erste, was sie überhaupt wirklich spürte, war die knisternde Spannung in ihrem kleinen Körper, eine kribbelnde Elektrizität, die auf ihrer Haut prickelte und sich in winzigen Funken auf den weichen Stoff ihrer Bettdecke entlud.

Sie nahm, immer noch hysterisch kreischend, die zu Tode erschrockenen Gesichter ihrer aus dem Schlaf gerissenen Eltern im matten grünlichen Schimmer der Glühbeeren wahr, die sonore Stimme ihres Vaters, der in seiner Hilflosigkeit versuchte, beruhigend auf sie einzureden, die warmen Hände ihrer Mutter auf ihren tränennassen, glühenden Bäckchen.

Das war alles viel zu viel für das Mädchen. Ihr Blick verlor sich im milden grünen Dämmerlicht ihres Kinderzimmers, als ihre andauernden Schreie die letzten Luftreserven ihrer kleinen Lungen forderten und ihre Stimme brach.

„Er hat die Vogelschlange gefressen! Das Monster hat meine Vogelschlange gefressen!“ stieß Tilya mit letzter Kraft hervor, bevor sie restlos erschöpft in den Armen ihrer Eltern in sich zusammensank.

Zwanzig Sommer später

Die wuchtige Porzellantasse schoss zischend an meinem linken Ohr vorbei und zerschellte melodramatisch klirrend an einer der holzvertäfelten Wände des gemütlichen Baumhauses.

„Das ist ja nicht auszuhalten! Wie oft habe ich dir jetzt erklärt, wie du den Bogen zu halten hast, Tilya?“ tönte eine ölige Stimme durch die urige Wohnküche, die mit ihrem rustikalen Charme eine behagliche Atmosphäre hätte ausstrahlen können, würde nicht ein wildes Chaos aus Instrumenten, Büchern, Papierbögen, stinkenden Farbtöpfen und Lebensmitteln die Holzdielen des Fußbodens beherrschen, zu dem sich jüngst auch noch die Scherben einer großen Teetasse gesellen durften.

Fassungslos starrte ich auf meinen Lehrmeister hinab, der eben noch mit unerschütterlicher Gleichgültigkeit dem schrillen Kreischen meines laienhaften Cellospiels gelauscht hatte, bevor er plötzlich mit der für ihn so typischen unberechenbaren Impulsivität seiner gelegentlichen Wutausbrüche das besagte Trinkgefäß nach mir geschleudert hatte.

„Bist du bescheuert, Myroon?“ fuhr ich den exzentrischen Mann an, während ich fahrig durch die Unordnung zu seinem Sessel hin stapfte, in welchem er sich bereits angriffslustig vorgelehnt hatte und mich aus seinen stechend gelben Verliekenaugen herausfordernd anfunkelte.
 

Trotzig warf ich dem vierzehn Sommer älteren Myroon sein verdammtes Streichinstrument in den Schoß.

Der Alverliek japste empört und erhob sich geschmeidig von seinem wurmstichigen Thron.

„Bescheuert bin ich keineswegs, was man von dir allerdings nicht behaupten kann, Drachenmädchen.“ säuselte er gereizt.

Bei dem Klang des verhassten Spitznamens durchzuckte es mich wie ein Blitz.

Ich biss mir auf die Zunge und ließ meine scharfen Eckzähne unter der geschürzten Oberlippe blitzen, was wie ein überlegenes, zynisches Grinsen aussehen sollte.

Innerlich aber bebte ich vor unterdrückter Wut.

„Als ich dreiundzwanzig Jahre zählte, gab es bereits kein Instrument auf der Insel, welches ich nicht beherrschen konnte!“ bemerkte Myroon schnarrend und blickte herablassend auf mich herunter.

„Du hast ja auch viel früher als ich damit angefangen, Musik zu machen!“ entgegnete ich ihm flapsig.

„Schließlich wurdest du schon mit Fünfzehn in deiner ersten Ausbildung in den schönen Künsten darin unterrichtet!“

„…und habe danach niemals aufgehört dazuzulernen, Mädchen! Diesen Ehrgeiz will ich bei dir einmal sehen! Bei den talentiertesten Künstlern dieser Insel habe ich mich fortgebildet, jeder eine Kapazität auf seinem Gebiet. Ich habe hart dafür gearbeitet, mir dieses breite Spektrum an Fähigkeiten anzueignen, und dabei in jeder Disziplin zu überzeugen. Du genießt bei mir die vielfältigste Ausbildung der schönen Künste, die du auf der ganzen Insel hättest bekommen können! Und was machst du daraus? Diesen Herbst wirst du fertig und kannst nach vier Jahren anspruchsvollstem Unterricht noch nicht einmal Cello spielen, ohne deinen Zuhörern das Trommelfell zu zerreißen? Schande bringst du über mich!“

Myroon redete sich in immer mehr Rage, wobei er mit seinen feingliedrigen Händen gefährlich nahe vor meinem Gesicht herum gestikulierte.
 

Das Cello ruhte jetzt übrigens unbeachtet in einer frischen blauen Farblache unbekannten Ursprungs. Mir wurde es langsam zu bunt. Genervt packte ich die herumfuchtelnden Hände meines Lehrmeisters und erhob meinerseits die Stimme.

„Es tut mir unendlich leid, deinen Erwartungen nicht gerecht zu werden, Myroon, aber ich wollte bei dir verdammt noch mal nur die Kunst der Malerei erlernen und sonst nichts! Schauspiel, Gesang, und auch Musik und Dichtkunst interessieren mich überhaupt nicht! Ich wollte nur so gut wie nur irgend möglich zeichnen können um das Buch über Heilpflanzen, das ich schreiben will, mit eigenen, naturgetreuen Bildern zu illustrieren!“

Myroon rollte theatralisch mit den Augen, schüttelte mit einer ungeduldigen Bewegung meine Hände ab und verzog die schmalen Lippen zu einem süffisanten Grinsen.

„Oho, die junge Frau Heilkundlerin misst den vier anderen schönen Künsten keine Bedeutung zu…fein! Kunst ist ja auch nicht eindeutig fassbar, nicht beweisbar, nicht kalkulierbar! Gut, dass dir nach vier Jahren endlich mal klar geworden ist, dass wir beide bisher nur unsere Zeit hier verschwendet haben!“

„Ich habe nie gesagt, ich wüsste die Künste nicht zu schätzen, Myroon! Ganz im Gegenteil, ich bewundere alle Leute, die mit ihren kreativen Fähigkeiten unsere Welt bereichern, aber ich habe einfach andere Pläne für meine Zukunft! Begabung kann man eben in keiner Weise erzwingen, also muss ich meine eigentlichen Stärken fördern“ lenkte ich in einem versöhnlichen Ton ein, meinen Ärger tapfer hinunterschluckend.

Myroon fühlte sich augenscheinlich hinreichend gebauchpinselt, er fuhr sich geschmeichelt mit der Hand lässig durch sein seidiges, weißblondes Haar, nicht ohne mich meiner ungewohnt diplomatischen Worte wegen noch einmal argwöhnisch zu mustern.

Dann schlug mir der lange Alverliek zum Zeichen der Vergebung zweimal grob auf den Rücken, so dass ich erschrocken nach Luft schnappend über das Cello stolperte und fast auf der blauen Farblache ausgerutscht wäre.

Fluchend, hustend und blaue Schuhabdrücke auf dem kaum als solchen zu erkennenden Fußboden hinterlassend, bahnte ich mir den Weg zur Abstellkammer, um Eimer, Lappen, Besen und Kehrblech herbeizuholen.

Lehrzeit war Knechtzeit. Besonders unter Myroon, der es in vollen Zügen auskostete, dass der Lehrling sich um den Haushalt seines Meisters zu kümmern hatte.
 


 

Die Sonne war bereits untergegangen und nur noch das schwache kaltblaue Licht des jungen Nachthimmels erhellte die Zimmer des Blockhauses, das Myroon vor einigen Jahren in der Krone eines Korallensteinbaumes am Rande des Hügeldorfes errichtet hatte.

Ich hatte bereits aufgeräumt, geputzt, gefegt, gewischt und widmete mich nun intensiver den blauen Farbflecken, die hartnäckig die Dielen zu zieren pflegten.

Meine verliekischen Augen reflektierten das spärliche Abendlicht, was mir glücklicherweise ersparte, Kerzen an der flackernden Glut, die müde im Inneren des Ofens knisterte, entzünden zu müssen.
 

Vier mal schon hatte ich an diesem Abend ächzend an dem Flaschenzug kurbeln müssen um meinen Eimer mit frischem Wasser aus dem Brunnen, den Myroon vor vier Jahren zusammen mit meinem Vater direkt unter dem Waschzimmer installiert hatte, zu füllen und in die Hütte hinauf zu ziehen.

Weniger mühsam wäre es zwar gewesen, wenn ich stattdessen die Pumpe bedient hätte, die sich ebenfalls im Waschzimmer befand, doch mir graute es vor den unheimlichen gurgelnden Geräuschen, die durch die kupfernen Rohre tönten. Besonders schaurig schien es dabei zu blubbern, wenn ich nachts alleine im Baumhaus war.

Myroon war wieder mal losgezogen, umschwärmt von einigen hübschen Alwinnen und hatte mich mit dem widerwilligen Versprechen, bei seiner Rückkehr wenigstens die trockene Wäsche mit ins Baumhaus zu nehmen, zurückgelassen.

Coatl, der armlange wilde Schnabelgecko, der sich jeden Abend von mir eine Schale Piragienkerne vor den Korallensteinbaum stellen ließ, hatte nämlich das Tau, an dem der Korbaufzug befestigt war, durch geknabbert und ich weigerte mich nun, mit dem schweren Wäschebündel beladen, einhändig die Strickleiter ins Haus hinaufzuklettern.

Ich seufzte schwer, als ich feststellen musste, dass die blauen Farbkleckse am Boden sich durch das ganze Geschrubbe nur noch vergrößerten anstatt zu gnädiger weise zu verblassen.

Missmutig schlurfte ich in die Küche, ließ das alte Spülwasser vom Nachmittag in einen rostigen Blechkanister laufen und stellte ihn zusammen mit dem Eimer erblauten Putzwassers ins Waschzimmer neben die Toilette.

Aus dem Spiegel über dem Waschbecken blickte mir mein eigenes abgekämpftes, hochrotes Gesicht entgegen und ich verfluchte Myroon, der stets alle anfallenden Hausarbeiten mir überließ, um sich währenddessen außer Haus zu amüsieren.

Dabei hätte er mir mit seinem kinetischen Talent, das er für einen Alverlieken außerordentlich gut zu kontrollieren wusste, hervorragend so manche mühselige Tätigkeit erleichtern können.

Doch Myroon interessierte sich kaum für seine seltene Begabung und zierte sich, mir oder den übrigen Bewohnern des Hügeldorfes mit seinem Talent unter die Arme zu greifen. Stattdessen zog der Alverliek es vor, seinen persönlichen Neigungen zu frönen und die Leute damit zu unterhalten.

Zum Glück würde ich nach wenigen Monden die Tortouren unter Myroons Fuchtel mehr oder weniger erfolgreich hinter mich gebracht haben und aus diesem verrückten Haus mit seinem noch verrückteren Besitzer ausziehen können.
 

Es war hier auf der Insel so üblich, dass man als Lehrling in den Haushalt seines Meisters zog, um bei ihm zu lernen, mit ihm zu arbeiten und ihm hilfreich zur Hand zu gehen.

Bei Vilthon jedoch, den ich seit ich mich zurück erinnern konnte wie einen Bruder liebte, hatte ich es wesentlich angenehmer gehabt als hier bei diesem verantwortungslosen, cholerischen und exzentrischen Alverlieken Myroon.

Und das lag nicht nur daran, dass eine tüchtige Hausfrau zu der Zeit, als ich mit fünfzehn Sommern die Lehre bei Vilthon begann, noch mit diesem anständigen Alwen verheiratet gewesen war.

Den sanftmütigen Vilthon kannte ich schon solange ich denken konnte, denn er war ein enger Freund meiner Eltern.

Er entsprang einer alwischen Familie von angesehenen Heilkundlern, welche viel Wert darauf legten, ihren Nachkommen schon sehr früh, lange vor ihrer eigentlichen Ausbildung, ihr kostbares Wissen zu vermitteln.

So zählte Vilthon erst dreizehn Sommer, als er zusammen mit seiner Mutter meinem nervösen Vater Chareleo und meiner Mutter Auriannah bei meiner Geburt beistand.

Vilthon war es, der mich als erster in seinen Armen hielt, und er war es auch, der mir meinen Namen geben durfte, welcher auf altalwisch „ferner Stern“ bedeutete.

Und er war der erste und lange Zeit der einzige, dem meine Eltern die Geschichte um mein verlorenes Totem anvertrauten.

Über sein Totem zu sprechen, geschweige denn über die Alpträume, die der malarische Einfluss verursachte, galt seit jeher als Privatangelegenheit, über die es sich herumzuplaudern nicht gehörte, und es zählte als Zeugnis größten Vertrauens, dass meine Eltern den heranwachsenden Vilthon in diese unglaubliche Begebenheit, die ihrer Tochter widerfahren war, einweihten.

Auch ihnen hatte ich aber niemals vollständig geschildert, was genau sich in jener Nacht ereignet hatte.

Ich zählte damals keine drei Sommer und meinen Eltern antwortete ich auf deren behutsam gestellte Fragen meist nur mit hartnäckigem Schweigen und so nahm man bald an, ich könne mich nicht mehr an die furchtbaren Details des grauenhaften Ereignisses erinnern. Man beschloss, nicht weiter nachzuhaken, um das traumatisierte Kind nicht noch mehr zu quälen.

Außerdem fand ohnehin niemand eine Möglichkeit, mir zu helfen, und so blieb es meinen Eltern nur, abzuwarten, wie ihre ich mit meiner außergewöhnlichen Situation fertig werden würde.
 

So wie meine Eltern wusste auch Vilthon jahrelang nur, dass mein Malar in der Nacht des Bündnisses mein Totem vernichtet hatte, bevor ich dem verständnisvollen Alwen irgendwann die Einzelheiten der Begebenheit jener Nacht schilderte.

Obwohl auch dem gebildeten Vilthon noch niemals eine derartige Geschichte zu den spitzen Ohren gekommen war und er ahnte, dass es wohl keine zweite Person geben würde, dem ein ähnliches Schicksal wie mir beschieden worden war, mit dem ich meine Erfahrungen hätte teilen und der mich mit seinem Rat hätte unterstützen können, hielt er mich dazu an, niemals meine Hoffnung und meinen Glauben an mich und an andere zu verlieren.

Eine innige, sehr tiefe Freundschaft begann sich zwischen dem sonst so reservierten jungen Alwen und dem neugierigen, aufgeweckten Kind, das ich damals war, zu entwickeln.

Vilthon konnte mich begeistern, meine Interessen fördern und mir das Selbstvertrauen geben, meiner Zukunft mit Optimismus entgegenzublicken.

Durch die Ausbildung bei ihm erkannte ich erst meine Stärken und die Möglichkeiten, die sich aus ihnen erschlossen, wenn man die Dinge aus unkonventionelleren, weniger traditionsbewussten Perspektiven betrachtete.

Es war Vilthons waghalsige Idee, sein kühnster Traum, irgendwann mit mir über das Meer zu segeln, und auf dem Kontinent, den die Menschheit bevölkerte, fremdartige Pflanzen zu erforschen und alles in einem bebilderten Buch festzuhalten.
 

Diesen übermütigen Plan trug ich dankbar in meinem Herzen und bald wurde er mir zu einem der wenigen Lichtblicke in meinem Leben, denn dieses begann sich mit der Zeit immer schwieriger für mich zu gestalten.

Besonders hart traf es mich in den Momenten, in denen mein Vater abrupt in bedrücktes Schweigen verfiel, wenn er eben noch wilden Ideen über mögliche Zukunftsaussichten seines einzigen Kindes nachgehangen hatte.

Niemals hätte mir der gutmütige Verliek seine Enttäuschung über den Verlust meiner Begabung gezeigt, aber dennoch war mir schmerzhaft bewusst, dass er schon seit meiner frühesten Kindheit unzählige abenteuerliche Pläne für mich geschmiedet hatte, je nachdem, in welche Richtung sich mein Talent entwickelt hätte, von denen sich aber kein einziger jemals erfüllen würde.

Man wusste zwar, dass die Kinder, die Alwen mit Verlieken bekamen, oft ein problematisches Verhältnis zu ihren Malaren entwickelten, was sich negativ auf ihre Begabung und manchmal auch auf ihre Persönlichkeit auswirken konnte; andererseits waren alverliekische Talente, so schwer sie auch meist zu kontrollieren waren, häufig von so außergewöhnlicher Natur, dass sie bei den Insulanern höchste Wertschätzung erfuhren.
 

So hörte man von Alverlieken, die wie Myroon Gegenstände in Bewegung versetzen konnten, ohne dass das Talent des Windes anzuwenden, massive Materialien konnten ohne das Entstehen von Hitze verformt werden, in einem Dorf am Rande des Gebirges sollte es gar einen einsiedlerisch lebenden Alverlieken geben, der mit seinen Händen die Begabung der Kälte zu beherrschen verstand.

Mein Vater hoffte insgeheim für mich, ich möge doch noch meine Begabung finden, vielleicht gar mit dem Talent gesegnet werden, mit Tieren kommunizieren zu können, damit ich irgendwann zusammen mit meinem Onkel glücklich und zufrieden in der Tierpflege tätig sein konnte.

Denn genau wie sein Riesenkäfer züchtender Bruder, liebte ich Tiere über alles, so groß, so seltsam und so furchteinflößend sie auch sein mochten, und seit jeher war ich total verrückt nach den Botenraben meines Onkels, die neben seiner Hütte in einer großen Voliere ein und aus flogen.

Mit sanfter Gewalt musste man mich oft von den Roonengräbern und Querkenkneifen wegzerren, um die sich mein Onkel zu kümmern pflegte.
 

Die Tragödie, die mir damals widerfahren war, blieb meinen Eltern ein unerklärliches, unverständliches Phänomen, dass sie kaum zu hinterfragen wagten, es kaum als überhaupt jemals geschehen anerkennen wollten.

Meiner Mutter fiel es jedoch später leichter als meinem Vater, mit meinen Problemen umzugehen.

Als die Alwin endlich akzeptieren konnte, dass mein Totem tatsächlich meinem Malar zum Opfer gefallen zu sein schien, verstand sie es als Selbstverständlichkeit, dass ich meine zukünftigen Tätigkeitsschwerpunkte in der Dorfgemeinschaft nach meinen eigenen Interessen auszusuchen hatte.

Dennoch konnte sie auch meine Frustration nachvollziehen, denn als mir als Heranwachsenden so richtig bewusst wurde, was es für mich bedeuten würde, niemals mit meiner speziellen Fähigkeit die Gemeinschaft unterstützen zu können, niemals die Freude und Leidenschaft zu erfahren, die der Einsatz seines Talentes zum Wohle des Zusammenwirkens aller Insulaner mit sich bringt, begann ich mehr und mehr an mir zu zweifeln und mich von den Dorfbewohnern abzukapseln.

Ich wusste, dass die Leute heimlich über mich tuschelten, was eigentlich vollkommen natürlich war, denn meine Andersartigkeit wurde spätestens nach meinem elften Lebensjahr für jedermann offen sichtbar, als zwischen meinem Haar, das seit der gewissen Nacht in einem blassblauen Farbton nachwuchs, schillernde Federn zu sprießen begannen.

Auch, wer bisher immer noch nicht über den kuriosen Verlust meines Totems einschließlich meines Talents Bescheid wusste, erkannte an der sporadischen echsenhautartigen Schuppenzeichnung meiner Haut an Armen und Beinen, dass mit mir irgendetwas nicht stimmen konnte.
 

Obwohl niemand aus dem Dorf; wohl niemand auf der ganzen Insel mich in irgendeiner Weise angeklagt, oder mir unangenehme Fragen gestellt hätte, nagten die eigenen Selbstzweifel, das Wissen um meine Unzulänglichkeit und die Tatsache, dass ich den an mich gestellten Erwartungen nicht gerecht werden konnte, so sehr an mir, dass ich die musternden Blicke der Dorfbewohner kaum zu ertragen vermochte.

Sogar in der schönsten Jahreszeit bevorzugte ich deshalb lange Kleidung, die die Schuppen in der hässlichen Farbe frischer Blutergüsse verdecken konnte.

Am Schlimmsten machten mir die jüngsten Dorfbewohner zu schaffen, die in kindlicher Naivität mit dem Finger auf mich zeigten, und lautstark ihre Verwunderung über mich äußerten und entweder zu lachen oder vor Schreck zu weinen anfingen.

Ich fühlte mich schuldig an meiner Misere, überflüssig in der Gemeinde und viel zu sonderbar, um Anschluss an andere Leute meines Alters knüpfen zu können.

Als sich meine Ausbildung bei Vilthon schließlich langsam dem Ende neigte, und ich zu einer jungen Frau geworden war, war aus dem lustigen Ding mit der einstigen verhältnismäßig positiven Lebenseinstellung ein sarkastisches, introvertiertes Mädchen geworden, das verbissen ihren Aufgaben in der Dorfgemeinschaft nachging, und dabei jedes Gespräch und jeden unnötigen Blickkontakt mit anderen Leuten vermied.

Niemand der Bewohner des Hügeldorfes wollte sich ausmalen, womit ich jede Nacht zu kämpfen hatte.
 

Inzwischen hatte ich mich gewaschen, meine durchgeschwitzte Kleidung gegen einen weißen, weiten Leinenschlafanzug getauscht und mich in meine Hängematte in der Ecke der Wohnküche gelegt.

Von der Decke hing in einem Netz direkt über mir eine Rebe fast vertrockneter Glühbeeren, die bereits sehr schwächlich vor sich hin leuchteten.

Der muffige Geruch, den sie inzwischen von sich gaben, war gewöhnungsbedürftig.
 

Die Lebensbedingungen in Myroons Junggesellenwohnung muteten spartanisch an.

Zu Zeiten meiner Ausbildung in Heil- und Pflanzenkunde hatte ich mein eigenes kleines Zimmer in Vilthons Haus einrichten dürfen, morgens wurde vor den Lehrstunden gemeinsam gefrühstückt, mittags bereitete seine wunderschöne alwische Frau Calissa stets eine herrliche warme Mahlzeit für alle zu, und abends, nach den Dorfarbeiten saß man noch gemütlich beisammen und unterhielt sich miteinander, wenn man einmal nicht loszog, um noch etwas zu unternehmen.

Bei Myroon sah der Alltag anders aus. Mich hatte er zu seiner persönlichen Haussklavin erklärt und kümmerte sich nicht sonderlich um meinen immer schlechter werdenden Gemütszustand.

Ich vermisste Vilthon und auch meine Eltern, die ich nur noch selten zu Gesicht bekam, seit ich die Ausbildung bei Myroon begonnen hatte und dieser meine Freizeit so radikal beschnitt.
 

Unruhig lauschte ich dem Knarren der Holzdielen und dem nerv tötenden Fauchen der paarungsbereiten Riesenwollspinnen aus dem Wald.

Auf dem Schemel neben der Hängematte stand die große Tasse selbstgemischten Beruhigungstees, die ich jeden Abend in einem Zug leerte.

Ohne dieses Gebräu war es mir mittlerweile nicht mehr möglich, einzuschlafen; zu sehr hielt mich die Furcht vor meinen Träumen wach.

Zum Glück verstand Myroon nichts von der starken Wirkung der in dem Tee enthaltenen Heilpflanzen, ansonsten hätte sogar dieser leichtfertige Lebemann sich langsam ernsthafte Sorgen um seinen Schützling machen müssen.

An manchen einsamen Abenden kam mir nämlich tatsächlich der verführerische Gedanke, diesen Tee ein letztes Mal in einer toxischen Konzentration zu genießen, um meinem inzwischen von Angst und Zweifeln beherrschten Leben ein Ende zu setzen.
 

Der Malar suchte mich jede verdammt Nacht mit grauenhaften Alpträumen heim, und inzwischen war es so weit gekommen, dass ich mich mehr vor dem Malar selbst fürchtete, als vor den scheußlichen Wesen, die er auf mich hetzte, und den grässlichen Situationen, denen er mich auslieferte.

Die permanente Angst vor der Nacht, vor den Begegnungen mit ihm in meinen Träumen, ohne die Hoffnung hegen zu können, mein Totem würde erscheinen, um ihm die Stirn zu bieten, bestimmte meine Gedanken, meine Gefühle und mein Handeln.

Es war kaum auszuhalten.
 

Mit drei großen Schlucken trank ich meinen Tee aus und kuschelte mich in die weiche Decke aus Wollspinnengarn.

Sehnsüchtig erinnerte ich mich an das letzte Treffen mit meinem besten Freund, das schon einige Tage zurücklag.

Calissa hatte ihn vor einigen Monden verlassen und wohnte jetzt angeblich mit einem Verlieken in ihrem einstigen Heimatort.

So Leid Vilthon mir auch tat, so verständlich schien mir die Entscheidung der schönen Alwin.

Ihren Mann, der seit Jahren die gemeinsame Freizeit für die Durchführung seiner Forschungen und diverser Experimente beanspruchte, bekam sie kaum noch zu Gesicht und sie erwartete mehr von einer jungen Ehe als Vilthon ihr geben konnte.

Auf eine stille Art und Weise gönnte ich ihr das Glück mit dem als sehr heißblütig und leidenschaftlich beschriebenen Verlieken. Den Gerüchten zufolge gaben die beiden ein harmonisierendes, traumhaftes Paar ab, das perfekt zueinander zu passen schien.
 

Als Vilthon mir von ihrer Trennung berichtete, gab er sich erstaunlich locker und gefasst und ich vermutete, dass er schon seit längerer Zeit damit gerechnet haben musste, dass es soweit kommen würde.

Trauerte Vilthon tatsächlich um den Verlust seiner Frau, so ließ er sich nichts anmerken und er lehnte jeden Versuch, ihm gut zuzusprechen lächelnd mit der Bemerkung ab, dass man eine Veränderung der Lebensumstände niemals bedauern sollte, wenn sie für alle Beteiligten etwas Gutes bedeutete.
 


 

Und so lenkte Vilthon auch an jenem Abend das Gespräch schnell auf ein anderes heikles Thema, bevor ich die Gelegenheit dazu bekommen konnte, mich näher nach seinem Gemütsleben zu erkundigen.
 

„Jetzt genug von meinen Problemen, Tilya. Wie geht es dir? Du siehst schlecht aus, hast du wieder zu wenig geschlafen in der letzten Zeit?“

„Sieht man mir das an?“

„Es ist schlimmer geworden, mit dem Malaren, nicht?“

„Vilthon, ich weiß wirklich nicht, wie lange ich das noch aushalte. Ich kann einfach nicht mehr. Den ganzen Tag über muss ich daran denken, dass es bald wieder soweit ist und ich schlafen muss.“

„Du weißt, dass du ihn auch mit der Angst, die du im wachen Zustand vor ihm hast, stärkst, oder Kleines?“

„Was soll ich denn machen? Ich habe ihm ja nichts zuzusetzen!“
 

Ich schloss ihre Augen, damit Vilthon nicht die Tränen sehen konnte, die verräterisch in meinen Augenwinkeln glitzerten.

„Es ist meine eigene Schuld, dass ich jetzt in dieser ausweglosen Situation bin. Warum hat mir der Malar damals mein Totem geraubt? Wie konnte unsere erste Begegnung nur so außer Kontrolle geraten? Irgendetwas habe ich falsch gemacht.“

Der Alwe seufzte und setzte sich zu mir auf den abgestorbenen bleichen Querkenstamm, der durch das Licht des fast vollen Mondes den unheimlichen Vergleich mit einem riesigen fahlen Knochen nahe brachte.

„Tilya, ich glaube nicht, dass du es allein zu verantworten hast, dass das Besiegeln eures Bündnisses dermaßen abstrus verlaufen ist. Ich vermute, dass dein Malar einfach damit überfordert war, dir den ersten entscheidenden Schrecken einzujagen, der euch beide aneinander schmieden sollte. In seiner Verzweiflung hat er sich dann an deinem Totem vergriffen.“

„Siehst du, Vilthon! Es war mein Fehler! Ich hatte damals keine Angst vor dem Malar. Eher hatte ich den Eindruck, er würde sich vor mir fürchten. Wenn jemand die Verantwortung dafür trägt, dass sich unser Verhältnis in abweichende Bahnen gelenkt hat, dann bin ich es!“

Vilthon schüttelte den Kopf. „Ich habe damals Botenraben in alle Dörfer der Insel geschickt, und allgemeine Schreiben auf den Brettern der Tafelnachrichten aushängen lassen. In den Briefen habe ich um Auskunft über ähnliche Schicksalsschläge gebeten. Doch außer diesem fadenscheinigen Märchen, was man sich im Hafendorf über die Fuchsfrau erzählt, ist kein weiterer Fall überliefert, in dem es ein Malar gewagt hat, sich an dem Totem seines Opfers zu vergehen. Sein Verbrechen ist widernatürlich, unverzeihlich und nicht zu entschuldigen.“

„Doch, Vilthon. Wenn ich ihn dazu gezwungen habe, dann schon. Es ging um seine Existenz. Und da ich dem Malar bei unserer ersten Begegnung keine Furcht, sondern Interesse, Mitleid und Sympathie entgegengebracht habe, sah er in seiner Not keinen anderen Weg, mich zu entsetzen.“
 

Der Alwe presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und atmete tief durch.

„Viele alverliekische Kinder haben unter einem unausgewogenen Verhältnis zu ihrem Malaren zu leiden, der überwiegend die Kontrolle über ihre Träume erlangt, über das Totem triumphiert und somit auch das Talent beeinträchtigt. Aber dein Malar hat es eindeutig zu weit getrieben, Tilya, und du solltest ihn nicht auch noch in Schutz nehmen.“

Ich zog die Nase kraus. „Was konnte der Malar denn dafür, dass mir meine Eltern nie die schaurigen Geschichten über das rote Monster erzählt haben? Warum sollte ich Angst vor einem Wesen entwickeln, von dem man sich erzählt, es würde deine langweiligen Träume in spannende Abenteuer verwandeln können? Ich habe mich auf die Begegnung mit dem Malar fast genau so sehr gefreut, wie auf die mit meinem Totem!“

„Ach, Tilya“! Gib jetzt bitte nicht deinen Eltern die Schuld an der Misere, sie wollten nur dein Bestes! Du bist ihr einziges Kind, sie lieben dich über alles und machen sich noch heute die schlimmsten Vorwürfe. Glaube mir, hätten sie damals geahnt, unter welchen Folgen du heute zu leiden hast, hätten sie dir soviel Angst vor dem Malaren eingejagt, dass du dich kaum getraut hättest, einzuschlafen!“

„Dieses Problem habe dafür jetzt noch zur Genüge…“

„Trotzdem kannst du nicht deine Eltern wegen dieser Sache zur Verantwortung ziehen, Liebes. Jeder weiß, dass dich seit deiner frühesten Kindheit alles Lebendige begeistert, besonders, wenn es dir unbekannt ist. Das war schon immer so. Sei es noch so hässlich, noch so ekelig und noch so monströs. Ich weiß noch genau, wie du als kleines Kind deine ersten Schritte zum Stall der Wollspinnen getapst bist und sie unbedingt streicheln wolltest.“
 

Ich musste grinsen. Vilthon hatte Recht. Ganz gleichgültig, was mir meine Eltern über den Malar erzählt hätten, ich hätte mir trotz allem gewünscht, ihm nahe zu kommen, ihn zu bestaunen und zu berühren. Selbst wenn er mir vorher offen angekündigt hätte, mich mit Haut und Haar verspeisen zu wollen.

Im Stillen entschuldigte ich mich bei meiner Mutter und meinem Vater für meine ungerechten, anklagenden Gedanken.

„In meinem alverliekischen Blut muss sich die natürliche Urangst vor dem Malar ausgemischt haben!“ ulkte ich, wurde dann aber wieder ernst.

„Vilthon, könntest du dir vorstellen, dass ich einfach nicht das richtige Kind für diesen Malar war? Dass stattdessen ein anderes Kind für ihn geeigneter gewesen wäre, und dem ihm mit meinem Malar ebenso schlecht ergangen ist, wie mir mit seinem?“

Vilthon überlegte kurz.

„Ich denke nicht, dass uns ein entsprechender Malar vorherbestimmt wird. Unserem Verständnis nach sind Malare einsame Jäger in den undurchsichtigen Schatten Untiefen, die darauf warten, dass ein Totem zu seinem Kind findet. Von diesem Moment an stellen die Malare dem Kind hinterher, und wer von ihnen als erster mit ihm in Kontakt kommt, hat das Privileg, das Bündnis mit ihm einzugehen. Von den Totemtieren aber glaubt man, dass sie von vorneherein zu einem bestimmten Kind gehören.“

„Wie sieht dein Totem aus, Vilthon?“ fragte ich schüchtern.

„Wie eine Libelle.“ antwortete mir Vilthon sofort und ich konnte an seiner Stimme erkennen, dass er lächelte, obwohl mein Blick einzig und allein der Meeresoberfläche galt, die frenetisch das Mondlicht in den fernen Wellen brach.

Vilthon konnte, wie die meisten Alwen, den Wind und die Wasserströme mit seiner Begabung beeinflussen.
 

„Stimmt es, dass ein Totem im Traum dasselbe Talent gegen den Malar einsetzt, das es seinem wachen Besitzer verleiht?“ wollte ich wissen.

„Ja, das ist richtig, Tilya. Man geht davon aus, dass das Totem die Quelle unserer Begabung ist. Von meinem Totem geht beispielsweise eine Kraft aus, die sich stets in tosenden Stürmen äußert, wenn sie sich gegen den Malar richtet. Leider ist es im Traum nicht möglich, selbst auf seine Begabung zuzugreifen, um gegen den Malaren vorzugehen. Man muss sich auf sein Totem verlassen.“

Ich zwirbelte an einer Feder, die ich mir hinter mein alwisches Spitzohr gestrichen hatte.

„Weiß man auch, warum die Malare unsere Träume immer in Alpträume verwandeln wollen, Vilthon? Was haben sie davon, uns zu erschrecken und unser Totem zu schwächen?“

„Nun ja. Man vermutet zumindest, dass sie sich in erster Linie von den Ängsten ernähren, die ihre Staubgebilde hervorrufen. Die Aufgabe des Totems ist es, den Malar in Schach zu halten, damit er nicht so mächtig wird, dass er den gesamten Traum mit seinem Staub kontrollieren kann. Also greift es ihn mit seinem Talent an, was alle Staubgebilde zerfallen lässt. Natürlich setzt sich der Malar dagegen zur Wehr, indem er das Totem seinerseits mit reinem Staub attackiert. Das Totem wird geschwächt, was sich negativ auf die Begabung seines Besitzers und auch auf dessen psychische Verfassung auswirkt. Normalerweise wechseln sich die Machtverhältnisse von Malar und Totem in einem ausgeglichenen Verhältnis ab.“

Ich hatte den Worten meines Freundes gebannt gelauscht.

„Woher weißt du das eigentlich alles, Vilthon?“ fragte ich ihn interessiert.

Vilthon schmunzelte. „Von meinem ehemaligen Mitlehrling, mit dem ich damals gemeinsam Heil-und Pflanzenkunde studiert habe. Als Jugendliche wussten wir kaum was miteinander anfangen, er war vier Jahre älter als ich und es war schon seine zweite Ausbildung, als ich mit ihm zusammen beim alten Meister Dalyazyn angefangen habe. Der muss übrigens auch schon längst das Zeitliche gesegnet haben. Greyan hat sich jedenfalls schon immer für alles interessiert was geheimnisvoll, außergewöhnlich und gefährlich war. Fast so wie du, Tilya.“

Ich grinste.

„Er kennt sich sehr gut mit Malaren aus, wie mir zu Ohren gekommen ist, und es konnten sich schon viele Leute mit schwindenden Talenten von ihm helfen lassen. Als deine Eltern mir damals von deinem Unglück erzählten, habe ich sofort an Greyan geschrieben. Er ist zwar ein etwas eigenbrötlerischer Alverliek, mit einem schroffen, wenig einfühlsamen Umgangston, aber wenn es um Malare geht, kann man sich blendend mit ihm unterhalten. Die Botenraben flogen einige Zeit geschäftig zwischen uns hin und her. Das ganze liegt jetzt zwar schon bestimmt fünfzehn Sommer zurück, aber er hat mir damals angeboten, irgendwann einmal mit dir zu ihm zu kommen. Er wohnt am anderen Ende der Insel, in der Nähe des Gebirges. Greyan hat mittlerweile so viele Erfahrungen auf seinem Gebiet gesammelt, dass er dir vielleicht auch helfen könnte, Kleines.“
 

Ich legte den Kopf schief und blinzelte meinen Freund mit meinen Verliekenaugen scharf an.

„Vilthon, weder habe ich eine Begabung noch habe ich ein Totem, wie soll mir jemand helfen, wenn es nichts mehr gibt, was man retten kann?“

„Mädchen, du tust ja grad so, als gäbe es nur das Talent, das an einer Person wertzuschätzen und zu behüten ist!“ entrüstete sich Vilthon. „Ich rede davon, dass man dich vielleicht irgendwie dabei unterstützen könnte, den Malar soweit unter Kontrolle zu bekommen, dass er nicht mehr die größte Rolle in deinem Leben spielt!“

„Na klar, Vilthon! Und das ganz ohne ein Totem! Natürlich!“

„Tilya, wie viel wissen wir wirklich über Malare und über unsere Totemtiere? Diese Themen werden weitgehend tabuisiert. Kann es nicht sein, dass es irgendwo auf der Insel irgendwem gelungen ist, mehr über sie herauszufinden, als allgemein bekannt ist? Kann es nicht sein, dass es möglich ist, die typische Beziehung zu einem Malar unter gewissen Umständen zu modifizieren? Wer sagt, dass es unmöglich ist, das gegenseitige Verhältnis zu reformieren?“

„Bestimmt.“ knurrte ich verbittert. „Meinen Malaren hat ja auch keine Tradition davon abgehalten, das Totem seines Opfers am Leben zu lassen, richtig?“

„Genau das meine ich, Tilya“ antwortete Vilthon sanft.

Ich schwieg eine Weile. Vilthon rückte etwas näher auf dem Baumstamm an mich heran und legte mir freundschaftlich seinen Arm um die Schultern.

„Im nächsten Frühling will ich Greyan mit dir besuchen, Tilya. Wir wollten doch schon immer mal gemeinsam eine große Reise machen. Was ist, bist du dabei?“

Mein Herz klopfte wild gegen meine Rippen.

„Nur wir zwei?“ flüsterte ich benommen, wobei das Rauschen des Meeres und das Rascheln der Bäume im salzigen Wind meine brüchige Stimme beinahe übertönten.

Vilthon nickte lächelnd. „Einen Versuch ist es doch wert, oder nicht?“
 


 

Dieses Gespräch hatte mir neue Hoffnung gegeben, und jetzt klammerte ich mich an den Gedanken an das gemeinsame Vorhaben, wie eine Ertrinkende an den Strohhalm.

Die sedierende Wirkung des Tees begann allmählich seine Wirkung zu entfalten.

Ich spürte, wie sich die Verkrampfungen meiner Muskulatur lösten und mein Atem ruhiger und tiefer zu werden begann.

Immer noch plagte mich das schlechte Gewissen, für einen kurzen Moment meinen Eltern die Schuld an meinem Schicksal in die Schuhe geschoben zu haben.

Ehen zwischen Alwen und Verlieken, wie meine Eltern sie führten, galten lange Zeit als unschicklich, weil befürchtet wurde, die Reinheit der typischen Begabungen beider Völker dadurch zu entmischen.

Während die meisten Alwen die Ströme von Wasser und Luft beeinflussen konnten, was ihnen als alten Nomaden der See von großem Vorteil gewesen war, wurde der Mehrheit der Verlieken die Gabe zuteil, über ihren Fingerspitzen Energien zu erzeugen, die Gegenstände erhitzen, entzünden oder schmelzen lassen konnten.

Die Alverlieken, die aus der Verbindung beider Kulturen hervorgingen, entwickelten allerdings einige ganz individuelle Fähigkeiten, was sich später für das reibungslose und bequeme Zusammenleben der Völker auf der Insel als einen nahezu unverzichtbaren Vorteil herausstellen sollten.

Die höchste Ehre fiel den Alverlieken zuteil, die das Wachstum der Pflanzen beeinflussen konnten, denn sie waren dazu in der Lage, auch in unfreundlichen Zeiten die Versorgung der gesamten Insel mit Nahrung und wichtigen Rohstoffen sicherstellen.

Leider blieb allen Alverlieken und Alverliekinnen der Wunsch nach Nachwuchs unerfüllt.
 

Ursprünglich wurde die Insel ausschließlich von Verlieken bewohnt; die Alwen lebten auf dem benachbarten Festland gegenüber, an der langen Küste des Kontinentes, den die Menschheit bevölkerte.

Die Verlieken, selbst geschickte Handwerker und Jäger, bewunderten die Alwen für ihre Häfen und Schiffe, und fanden wiederum bei den Alwen höchste Anerkennung für ihre Materialkunde und ihre einzigartige Fähigkeit, Stoffe zu verändern und miteinander reagieren zu lassen.

Als die Menschen damals in das alwische Küstengebiet einwanderten und ihre Ureinwohner zu verdrängen drohten, begannen die Alwen allmählich, auf die große verliekische Insel umzusiedeln.
 

Die Gier, der Egoismus, die Gewaltbereitschaft und die Missgunst der Menschen erschütterten die Alwen ebenso wie ihre selbsterschaffenen Systeme, denen sie so blind folgten, ihre seltsamen Gesetze und Verordnungen und der Missbrauch ihres technischen Fortschrittes. Sie fanden in den Verlieken, die sie herzlich bei sich aufnahmen, ein Volk ihres Schlages, das weit mehr mit ihnen gemeinsam hatte als nur eine ähnliche Weltanschauung und nahezu identische Wertmaßstäbe.

Gleichwohl waren sie nämlich allesamt dazu verflucht, in ihren Träumen von Malaren heimgesucht zu werden, und sie alle besaßen auch eine Gabe, die von ihrem Totem bestimmt wurde.

Dieses Schicksal, welches den Menschen fremd war, verband Alwen und Verlieken, und überrascht stellten beide Völker fest, wie ähnlich sie mit ihm umzugehen pflegten, und wie verblüffend sich ihre darauf bezogenen Riten, Sitten und Bräuche entsprachen.
 

Die Verlieken hießen die Innovationen, die die Alwen auf die Insel brachten, in ihrer neugierigen Offenheit willkommen, und bald wurden die ersten Ställe mit domestizierten Wollspinnen, Querkenkneifern und Roonengräbern errichtet. Die beiden letztgenannten Rieseninsekten wurden auch bald bei den Verlieken als große Hilfe bei der Handwerksarbeit geschätzt.

Des Weiteren brachten die Alwen ihre fortgeschrittenen Kenntnisse um die Kultivierung von Nutzpflanzen auf die Insel, nicht verwunderlich, ernährte sich dieses Volk doch fast ausschließlich vegetarisch. Der Verzehr von Fleisch, den die nachtsichtigen Verlieken nach ihren abendlichen gemeinsamen Jagden durch die anliegenden Wälder zelebrierten, war ihnen zuwider.
 


 

In diesem Sinne entwickelte sich bald eine unwillkürliche Arbeitsteilung der beiden Stämme; während die Verlieken sich um die Zucht und Pflege aller Tiere kümmerten, die kamelartig anmutenden Zaronnen schoren, die Weibchen der Betoolenspringböcke molken, nach Eiern auf den Leguanfarmen suchten und die Fäden der Wollspinnen auflasen, bestellten die Alwen meistens die Felder und übernahmen die Erntearbeiten.

Natürlich brachten nach einiger Zeit des Zusammenlebens die charakteristischen Eigenarten der beiden Völker auch einige geringfügige Unstimmigkeiten zwischen ihnen zu Tage.

Beispielsweise konnten die reservierten, kühlen Alwen schlecht auf das überschwängliche, herzliche Temperament der Verlieken eingehen, welche die Alwen daraufhin als distanziert und höchst unkommunikativ einstuften.

Auch mit dem spontanen, teils vulgären Humor der impulsiven Verlieken konnten die pingeligen Alwen wenig anfangen, was den Verlieken den berechtigten Anlass gab, ihre Nachbarn für ein übertrieben empfindliches, nachtragendes, etwas hochmütiges Volk von Spitzohren zu halten.

Trotz dieser kleinen Differenzen entwickelte sich jede Zusammenarbeit zwischen ihnen unter der genauen, pragmatischen Planung der Alwen und der Toleranz der freundlichen, tüchtigen Verlieken hervorragend.
 

Da alle lebensnotwendigen Ressourcen nicht zuletzt bedingt durch den Einsatz der von ihren Totemtieren verliehenen Begabungen im Überfluss auf der fruchtbaren Insel vorhanden waren, wurde Besitz bald zu einem relativen Begriff.

Das Fehlen einer Währung und einer starren Arbeitsteilung, die bescheidene, selbstlose Natur der Insulaner und ihr unermüdliches Bestreben, das Funktionieren der Gemeinschaft aus eigener Initiative heraus zu unterstützen, verwirklichte ein stabiles, intaktes System, ein vertrauensvolles Geben und Nehmen, das niemals in einer menschlichen Gesellschaft so problemlos funktioniert hätte.
 

In jedem der mehr oder weniger großen Dörfchen auf der Insel setzte sich die Einrichtung der Tafelnachrichten durch; an einem Holzbrett im Zentrum jeden Dorfes, meist neben dem Gemeindehaus, brachte man täglich Aushänge an, auf denen nachzulesen war, wer, wo, wann und wozu Hilfe benötigen konnte.

Entsprach die geforderte Tätigkeit den Fähigkeiten und Stärken eines Mitbewohners, der sich nicht gerade um sehr viel dringendere, schwerwiegendere Angelegenheiten kümmern musste, zeichnete er die Nachricht mit seinem Namen ab, und ging seinem Nachbarn unverzüglich zur Hand.
 

Auf diese Weise ließ sich am Aushang ablesen, ob ihrem Verfasser bereits Unterstützung widerfahren war, und in Notfällen konnte man leicht nachvollziehen, wo sich der Helfende aufhielt.

Fand man alle wichtigen Nachrichten an der Tafel als abgezeichnet vor, widmete man sich üblicherweise seiner eigentlichen Beschäftigung.
 

So arbeitete ich beispielsweise zusammen mit meiner Mutter und einigen Verliekinnen im Haus der Gesundheit, in dem man Kranke und Verletze versorgte, sich um die ältesten Mitbewohner kümmerte und dort gelegentlich auch kleine Kinder unterbringen konnte, die noch zu jung waren, um vormittags im Gemeindehaus vom Dorflehrer unterrichtet zu werden.

Mein Vater, der übrigens selbst einer Lehrerfamilie entsprang, beschäftigte sich mit der Herstellung und Reparatur von Arbeitsgeräten, wobei er meist über den Grenzen des eigenen Dorfes hinaus wirkte.

Er war ein passionierter Meister seines Faches und man sah ihn gerne in der Nähe, wenn irgendeine komplizierte Installation bevorstand.
 

Auf dieser Insel half tatsächlich jeder jedem ohne zu zögern, wann immer Not am Mann war.

Schließlich stand es auch jeder Person frei, all das zu beanspruchen, was eben benötigt wurde, seien dies nun Nahrungsmittel, Rohstoffe zur Weiterberarbeitung, Gerätschaften oder die Arbeitskräfte ihrer Mitbewohner.

Man hoffte, dass die unersättlichen, machthungrigen Menschen sich mit ihrer Herrschaft über den großen Kontinent zufrieden geben würden und nicht eines Tages auch noch in diesen letzten Zufluchtsort der Alwen und Verlieken einzuwandern und ihn zu besetzen gedachten.

Ich fragte mich, ob außerhalb der Insel noch weitere Alwen und vielleicht sogar Verlieken unter den Menschen lebten, die deren Lebensart bevorzugten oder die vielleicht einfach nicht wussten, dass es hier noch ein großes Reservoir ihrer Völker gab.

Ob diese Bedauernswerten, wenn es sie denn gab, sich auf eine ähnliche Weise unter all den Menschen einsam fühlten, wie ich es inmitten der lustigen Gesellschaft ihres Dorfes tat?

Dies war der letzte Gedanke, der in meinen Kopf herum spukte, bevor meine flackernden Lider sich schlossen und mein Bewusstsein hinab in die Untiefen driftete, wo ich bereits erwartet wurde.

Der volle Mond schien unbeteiligt auf das Holzhaus im Korallensteinbaum.

Ein letzter Traum

Die vertraute Finsternis, die Tilya in dichten, kalten, schwarzen Nebelschwaden umhüllte, lichtete sich und gab den Blick auf die Szenerie frei.

Die junge Frau fand sich in dem goldenen, rauschenden Flimmern eines weiten Xeraatfeldes wieder, wobei ein lauer Wind sanft die mannshohen schlanken Halme des Getreides bog. Einen unnatürlich wirkenden Kontrast dazu boten die dahin rasenden Wolken des tiefdunklen Himmels über ihr.
 

Behutsam bahnte sich Tilya ihren Weg durch die starken, geschmeidigen Pflanzen, fest damit rechnend, dass jeden Augenblick eine entsetzliche Gestalt aus ihrem leuchtenden Gelb hervor brechen würde, um sie zu packen und mit sich zu schleifen.

Mit fahrigen Bewegungen teilten Tilyas Arme die wogende Masse der glänzenden Stiele, die ihr hart ins Gesicht schlugen und ihr in die zarte Haut ihrer Arme schnitten, die nicht von dunkelvioletten Schuppen geschützt wurde.

Kurz hielt sie in ihrer Hast inne, als sie das verdächtige, trockene Krachen brechender Stängel hinter sich vernahm, dann setzte sie blindlings ihren planlosen Lauf quer durch das unübersichtliche Feld fort, nun mit der schrecklichen Gewissheit im Nacken, ihren Verfolger dicht auf ihren Fersen liegen zu haben.

Sie wusste nicht, wer oder was sie jagte, aber sie begann zu begreifen, dass sie sich in ihrem Traum befand, in der Welt, die sie niemals hatte beherrschen dürfen, in einer Welt, in der sie auf ewig der grausamen Willkür ihres Malaren ausgeliefert sein würde.
 

Mit einem Mal verlor sich der Widerstand der allgegenwärtigen Xeraatpflanzen im Nichts und eine große sumpfige Schlammpfütze, die sich plötzlich inmitten des Feldes vor Tilya auftat, setzte ihrer atemlosen Flucht ein jähes Ende. Das Mädchen stolperte unaufhaltsam in die trübe Brühe hinein und versank bis zu den Knien im zähen Morast.

Das Geräusch der knackenden Halme hinter ihrem Rücken verstummte.

Nach einigen unerträglich langsam verstreichenden Sekunden gelang es Tilya endlich, sich in der klebrigen Suppe, die ihre Waden hartnäckig umschloss, umzuwenden und ihrem Jäger ins Furcht erregende Antlitz zu blicken.

Das Mädchen schluckte schwer, als das augenlose, zweibeinige Monstrum mit der raubtierhaften Eleganz einer Reitechse in siegessicherer Gemächlichkeit aus den Xeraatpflanzen schritt.
 

Seine wundervolle, panzerartige Haut glänzte schwarz wie die Chitinrüstung eines Roonengräbers und ein langer, schlanker Schwanz peitschte angriffslustig über dem Meer aus Xeraatähren, wie man es von den zehn Ellen hohen Kaktuswaranen kennt, bevor sie nach einem Riesenmoskito schnappen.

Als das auf seine eigene Art und Weise schöne Tier sein riesiges Maul aufriss und Tilya brüllend zwei bedrohliche Reihen messerscharfer Zähne präsentierte, gab die erschöpfte Alverliekin auf.

„Was willst du denn noch? Mich umbringen?“ schrie sie Kreatur, die sie für den Malar hielt, mit letzter Kraft entgegen. „Mit deinen Viechern kannst du mich schon so lange nicht mehr erschrecken, lass dir endlich was Neues einfallen!“

Der verwandelte Malar oder das Wesen, das er Tilya auf den Hals gehetzt hatte, ließ seine langen, muskulösen Gliedmaßen unbeeindruckt von ihren Worten in das brackige Moor gleiten und stakste, von den glucksenden Lauten zurückweichenden Schlammes begleitet, auf sein Opfer zu.

Je mehr die Kreatur sich ihr näherte, desto deutlicher konnte Tilya tatsächlich den Malaren hinter seiner sich allmählich in rotem Rauch auflösender Fassade erkennen.
 

„Oh, du wagst dich ja heute besonders dicht an mich heran, Malar“ versuchte Tilya spöttisch zu klingen, aber die Verzweiflung über ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit schnürte ihr die Kehle zu, und ließ ihre Stimme verräterisch überschlagen.

„Warum hetzt du nicht einfach die Ausgeburten deines Staubes auf mich und lässt sie die Drecksarbeit für dich machen?“

Der Malar stand nun in seiner wahren Gestalt etwa eine Armlänge entfernt vor ihr und durchbohrte sie mit seinen gierigen, hungrigen Blicken.

So nahe war er ihr bisher nur in der Nacht ihrer ersten Begegnung gekommen.

Die furchtbaren Wesen die der Malar aus dem unscheinbaren, rötlichen Staub hervorbrachte, der mit einem unheimlichen Eigenleben dicht um seinen Körper tanzte und sein mattes Fell an einigen Stellen Scharlachfarben schimmern ließ, hielten Tilyas Nähe, ihren Blicken und ihren Berührungen stand, wenn sie ihr zusetzten.

Sobald aber der Malar, getarnt durch seinen Staub, dem Mädchen persönlich erschien, schwand mit der Entfernung zwischen den beiden auch seine jeweilige Maskerade in diesem dunkelroten Rauch. Er schien in all den Jahren stets peinlichst darauf bedacht, tieferen Blickkontakt geschweige denn Berührungen mit seinem Opfer zu vermeiden.

Nun aber vermochte Tilya den rot glühenden Augen ihres Malars, mit denen er sie jetzt so plötzlich konfrontierte, kaum standzuhalten.

„Weil deine Angst nicht mehr dem gilt, was ich aus Staub erschaffe. Sie gilt nur noch mir allein.“ antwortete er ihr gefährlich leise und rückte noch einen Schritt näher an sie heran.

Die deutlich hervortretenden Rippen seines gewaltigen Brustkorbes hoben und senkten sich in seinem ausgemergelten Körper.

„Deine Furcht vor mir nährt mich nicht, Kind. Du kämpfst nicht mehr gegen meine Staubgebilde an, du ignorierst sie oder bleibst während deiner Flucht vor ihnen einfach stehen, um dich widerstandslos meiner Macht zu beugen. Sie sind dir gleichgültig geworden. Du bist dir gleichgültig geworden. So funktioniert das nicht, Mädchen!“

„Warum denn nicht, Malar?“ hauchte Tilya kraftlos ohne ihn dabei länger in die Augen schauen zu können. „Du hast gewonnen. Das ist es doch, was du immer wolltest. Ich gebe auf. Und ich akzeptiere, dass du der Herr meiner Träume bist und immer sein wirst. Reicht dir das etwa noch nicht? Ich kann nicht mehr!“

„Ich hätte dir dein Totem nicht nehmen sollen.“ knurrte der Malar leise zwischen den angespannt aufeinander gepressten Kiefern.

„Es schien mir damals als der einzige Weg, unser Bündnis zu vollenden. Ich gierte so sehr nach dem wertvollen Staub. Der Hunger nach Angst hatte mich schon beinahe zerfressen. Und dann musste ich dir begegnen. Du warst so stark Kind, so voller Vertrauen und ich kam nicht gegen dich an. Jetzt allerdings hast du dich aufgegeben, all deine Hoffnung ist erloschen und es ist meine Schuld. Es ist meine Schuld, dass du nicht an dich glaubst, dass du dich in deiner Apathie von mir unterdrücken lässt, und es ist auch meine eigene Schuld, dass ich nicht mehr von deiner Angst zehren kann.“

„Und was hast du jetzt vor, Malar? Das was geschehen ist, kannst du nicht rückgängig machen. Du kannst aber auch länger Erquickung von einer Quelle fordern, die bereits versiegt ist. Alles geht irgendwann zu Ende.“

Tilyas Mund formte diese Worte, bevor ihr klar wurde, was sie für sie bedeuten konnten.

Sie versuchte unauffällig, aber mit rasendem Herzen einige Schritte von dem Malaren zurückzuweichen, doch der dickflüssige Schlamm sog sich fest um ihre Sohlen.
 

„Ich werde sterben, Tilya, wenn ich hier bleibe. Ja, ich bestimme diese Welt, und forme sie zu meinem Vorteil, und doch bin ich auch ihr Gefangener, genau wie du. Wir Malare sind, einmal an ein Kind gebunden, abhängig von ihm, ihm ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. Wir darben, wenn uns nicht eure Ängste und eure Zweifel nähren. Und wir laben uns an den Zeiten, in denen wir über euer Totem triumphieren können. Ich aber habe dich dem Ursprung deiner Kraft beraubt, die dich vor meiner Unersättlichkeit schützen sollte. Nun kannst du mir nichts mehr geben. Ich habe dich schon fast zerstört, mein Kind.“

Der Malar beugte seinen langen Oberkörper jetzt so tief zu Tilya hinunter, so dass seine lange, spitze Nase beinahe ihre Stirn berührte. Noch immer wagte sie es nicht, seinem Blick zu begegnen.

„Und nun willst du es zu Ende bringen, nicht wahr?“ fragte sie ihr Gegenüber matt, ohne den Sinn ihrer Worte zu begreifen. Der Malar lehnte sich behutsam noch ein Stückchen vor und Tilya fühlte das erstaunlich weiche Haar seines Halses sachte über ihre linke Wange streichen, als er ihr in ihr Ohr flüsterte.

„Ich wäre nicht der erste meiner Art, der sich befreit hätte, Mädchen. Du brauchst bald keine Angst mehr vor mir zu haben.“
 

Die hervorschnellenden, langen Arme des Malaren, die Tilya mit der atemberaubenden Kraft von Querkenkneiferzangen umklammerten und das Gefühl von großen, kräftigen Pranken, die sich hinter ihrem Rücken verschränkten und mit einer grausamen Entschlossenheit um ihre Schultern schlossen, waren das Letzte, was Tilya deutlich spürte, bevor die Welt um sie in einem Strudel aus Schmerz und Entsetzen versank.

Der Anblick der dunklen Wolken, die sich immer dichter direkt über ihnen zusammenbrauten, brannte sich in ihre weit aufgerissenen Augen, als sich die schrecklichen Fänge des Malars in das verletzliche Fleisch zwischen ihrer linken Schulter und ihrem Hals bohrten.

Das ferne Grollen eines herannahenden Gewitters übertönte nicht das widerlich feuchte Geräusch, mit denen sich die Reißzähne des Malars aus ihrer klaffenden Wunde zogen. Tilyas galoppierender Puls rauschte in ihren Ohren und ließ sie im selben Takt Schwindel erregende Mengen heißen Blutes verlieren.
 

Jegliche Spannung, jede Kraft wich aus ihrem Körper und nur der unerbittliche Griff der Kreatur, die sie hielt, bewahrte die junge Frau davor, rücklings in den ausdörrenden Tümpel zu fallen und in der matschigen Brühe zu versinken. Ein heftiger, aber warmer Windstoß erfasste das groteske Paar und brachte es leicht ins Wanken.

Das Gesicht des Malars schwebte plötzlich direkt über dem des Mädchens und versperrte ihm die Sicht auf den finsteren Himmel, sein schreckliches Maul triefte von ihrem frischen Blut.

Tilya schloss die Augen.

Sie glaubte, einen ersten warmen Regentropfen auf ihrer Wange zu spüren.

„Verschwinde!“ flüsterte sie ermattet. „ Ich träume doch nur. Ich will jetzt aufwachen!“

Das wilde Brennen ihres zerrissenen Halses machte einem schweren, kribbelnden Gefühl der Taubheit Platz.

Vorsichtig öffnete Tilya ihre Lider, in der Hoffnung, der Alptraum sei bereits vorbei, und nun trafen sich die Blicke von Malar und Mädchen.

„Ich werde jetzt sterben?“ Ihre tonlos formulierte Frage klang eher wie eine nüchterne Feststellung.

„Vielleicht.“ antwortete der Malar ungewiss. „In jedem Fall werde ich dich sehr vermissen, mein Drachenmädchen.“

Ein ohrenbetäubendes Krachen donnerte aus dem Zenit.
 

Für den Bruchteil einer Sekunde wurden der düstere Himmel, die finsteren Wolken, das leuchtend gelbe Xeraatfeld sowie die Pfütze, in der die beiden ausharrten, in ein gleißendes Licht getaucht.

Dann, kurz bevor das tödlich verletzte Mädchen erfassen konnte, worin das Mysterium der Augen des Malars lag, zerfiel das strahlende, knisternde Weiß, das Tilya und die Bestie umgab, in dunkelroten Staub, der nichts zurückließ als die erbarmungslose Schwärze einer Dunkelheit, die die beiden verschlang

Funken

Ich öffnete die Augen, und das erste, was ich im sanften Licht des Morgens sah, war das von meinem Blut tropfende, rot getränkte Tau meiner verschlissenen, wild schaukelnden Hängematte, welches ich im ersten Moment für ein widerliches Stück herausgerissener Eingeweide gehalten hatte.

Einen Würgreiz unterdrückend wandte ich meinen Kopf ein wenig nach links, was einen derart heftigen Schmerz meines dumpf pochenden Halses nach sich zog, dass ich die Augen fest zusammen kneifen musste, um die blitzenden Punkte, die vor meinen Augen zu tanzen begannen, zu vertreiben.

Mit geschlossenen Lidern war allerdings das ekelhafte Schwindelgefühl, das von der hin- und her schwingenden Hängematte penetrant verschlimmert wurde, kaum zu ertragen.
 

Ich schlug meine Augen schnell wieder auf, doch als ich erkannte, wer sich da über mir in das Flechtwerk meiner schaukelnden Schlafgelegenheit klammerte, wünschte ich mir sofort, dies lieber nicht getan zu haben.

Der Anblick des Malars, der sich hier bei mir, leibhaftig, mitten in Myroons Wohnküche befand, und unter einem krampfhaft verzerrten Grinsen seiner gebleckten Zähne auf mich hinab starrte, raubte mir den letzten Rest meiner Beherrschung.

Fast besinnungslos vor Schmerz und Grauen krallte ich kreischend meine Hände in das dichte Brustfell des Malaren, aus dem es scharlachrot stob, und wieder begannen diese knisternden, strahlenden Pünktchen in meinem Blickfeld zu flimmern.

„Du bist nicht echt! Ich bin wach! Ich bin wach!“ schrie ich panisch.

Ein Geräusch erklang, als wenn ein langes Stück Pergamentpapier durchgerissen worden wäre und eine unsichtbare Macht schien den Malar von mir wegzustoßen.

In meinen Fingerspitzen kribbelte es.
 

Der Malar befreite gerade hastig sein Bein aus dem Netz der Hängematte, in der er sich im Eifer des Gefechtes verheddert hatte, während ich fleißig mit meinem blutverschmierten Kissen auf ihn einschlug, als Myroon plötzlich fluchend in die Wohnküche gepoltert kam.

„Was zum Donnerwetter…-„

Sein Gesicht nahm eine ungewohnt bleiche Farbe an, als er das Wesen erkannte, das sich beeilte, Abstand von mir zu gewinnen und nun mit seinen stechenden Augen, die wie ein Paar heißer Kohlenstücke glühten, gehetzt das Zimmer nach einem Fluchtweg absuchte.

Ohne zu überlegen richtete Myroon seine kinetische Begabung auf den Schemel, auf dem meine leere Teetasse stand und ließ ihn mit einer hohen Geschwindigkeit in Richtung des Ungeheuers sausen.

Die Tasse zerschellte auf den Holzdielen.

Doch bevor das morsche Möbelstück den Malar erreichen konnte, verschwand dieser in einer dichten Wolke roten Nebels, die sich geschmeidig durch das kleine, leicht geöffnete Bullauge über dem Herd schlängelte, um sanft hinab zum Boden zu schweben und sich auf der Wiese unter dem Baumhaus wieder zu dem großen, drahtigen Körper des Monsters zu verfestigen.

Aus dem runden Fensterchen sah der fassungslose Myroon den stark geschwächt wirkenden Malaren gerade noch keuchend und wie unter Schmerzen gebeugt im nahen Wald verschwinden.
 

Bis ins Mark erschüttert eilte Myroon zu mir, die ich immer noch krampfhaft das Kissen umklammert hielt und aus einer großen, klaffenden Wunde am Hals blutete.

„Verdammt, Tilya, hat der Malar dich etwa gebissen?“ fragte mein Ausbilder mich mit bebender, kratziger Stimme.

Ich konnte nur stumm nicken. Das Zimmer begann sich um mich herum zu drehen, schneller, immer schneller.
 

„Hier ist alles voller Blut, was soll ich tun, Tilya?“ fragte Myroon wie aus weiter Ferne.

Ich musterte den aufgeregten Mann verständnislos. „Hä?“

„Wie kann ich dir helfen, verdammt noch mal? Was soll ich machen?“ schrie mich der verzweifelte Mann in seiner Hilflosigkeit an.

Was wusste ich denn?

Mir wurde übel.
 

„Vilthon…“ kam es noch schwach von meinen Lippen, aus denen bereits jedes Gefühl gewichen war, dann wurde mir schwarz vor Augen und ich versank dankbar in der süßen, stillen, weichen Dunkelheit, die mich einhüllte.

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Ich fand mich mit pochendem Schädel in einem fremden Zimmer wieder, welches ich erst nach einigen konfusen Sekunden als Myroons Schlafraum identifizieren konnte.

Vorsichtig wandte ich meinen Kopf zur Seite und blickte direkt in die sorgenvollen grauen Augen Vilthons.

„Hallo, Kleines.“ flüsterte er. „Myroon hat mich sofort hierher geholt, deine Wunde ist gut versorgt. Alles ist in Ordnung. Wie geht es dir?“

„Ja…es geht, mir ist nur etwas schwindelig.“ murmelte ich.
 

Ich war dankbar und erleichtert, meinen klugen Freund bei mir zu wissen. Vilthon lächelte verständnisvoll.

„Das glaube ich dir, du hast viel Blut verloren. Du solltest dich jetzt schonen. Aber ich muss dich vorher noch bitten, mir zu verraten, was dich gebissen hat, Tilya.“

Ich zuckte zusammen und ein Schauer lief mir über den Rücken, als mich die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse der letzten Stunden einholte.

„Vilthon, der Malar hat mich gebissen…es war der Malar.“ stammelte ich.

Der Alwe blinzelte, als glaubte er, sich verhört zu haben. „Der Malar?“ wiederholte er nervös.

„Ach Vilthon, Tilya ist total von der Rolle.“ war jetzt Myroons gedehnte Stimme aus dem Hintergrund zu hören.

„Es ist alles meine Schuld. Ich habe, als ich heute Nacht heimgekehrt bin, die Luke nicht richtig verschlossen. Irgendwie muss ein wildes Tier aus dem Wald in die Hütte hineingelangt sein. Ich habe Tilya immer gewarnt, keine Viecher vor dem Baumhaus zu füttern, aber der Dickschädel kann ja nicht hören.“
 

Fassungslos starrte ich zu Myroon hinüber, der meinem Blick feige auswich. Was sollte das?

„Der Abdruck der Zähne passt zu keiner mir bekannten Spezies…“ murmelte Vilthon grübelnd.

„Vilthon, es war ein Malar! Mein Malar! Er ist jetzt frei!“ redete ich eindringlich auf meinen Freund ein. „Myroon, du hast ihn doch gesehen!“

Der Alverliek schnalzte jedoch nur abwertend mit der Zunge. “Es war eindeutig kein Malar, Tilya. Mach dich doch nicht lächerlich, Mädchen! Wie hätte ein Malar dich erwischen sollen? So ein Unsinn!“

„Du hast dieses Tier also auch gesichtet, Myroon?“ horchte Vilthon auf.

„Natürlich hat er das! Er hat ihn auch sofort erkannt!“ versuchte ich den Alwen zu überzeugen.

„Ich habe gar nichts erkannt, nur ein Tier, das aussah wie eine seltsame Mischung aus Wolf und Wollspinne.“ tönte mein starrsinniger Lehrmeister.

„Myroon!“ schrie ich aufgebracht und wollte aus dem Bett springen, um ihm an die Gurgel zu gehen.

Vilthon hielt mich entschieden zurück und drückte mich mit sanfter Gewalt zurück in die Laken. „Jetzt beruhigt euch beide erst einmal! So geht das nicht. Tilya darf sich nicht anstrengen. Kleines, kann es vielleicht sein, dass du dir eingebildet hast, den Malar in diesem fremden Tier zu sehen, weil du ihm kurz zuvor noch in deinem Traum begegnet bist?“
 

Ich blieb stumm und sah hasserfüllt zu Myroon hinüber, der meinen durchdringenden Blick jetzt mit starrer, unergründlicher Miene erwiderte.

Vilthon räusperte sich unbehaglich. „Was auch immer dich angegriffen hat, Tilya, es war glücklicherweise nicht giftig. Aber wegen des hohen Blutverlustes solltest du heute noch diese Phiole Cobalaextrakt zu dir nehmen. Und bitte, versuche, dich zu entspannen. Soll ich deine Eltern von dem Unfall in Kenntnis setzen?“

„Nein!“ schrie ich aufgeregt. „Bloß nicht!“

Vilthon hob abwehrend die Hände. „Schon gut, schon gut! Aber du wirst verstehen, dass ich mich nun dazu gezwungen sehe, die Dorfbewohner zu verständigen. Besser noch, ich gebe gleich ein allgemeines Schreiben an die ganze Insel auf. Offenbar kann dieses Tier zu einer ernsthaften Gefahr für uns werden, und über dieses Risiko müssen wir alle informieren. Möglicherweise gibt es noch weitere Exemplare seiner Art. Vielleicht sollten die Dörfer der Insel miteinander beratschlagen, welche Schutzmaßnahmen zu treffen sinnvoll wären. Du liebe Zeit, die letzte Bedrohung, die von einheimischen Tierarten ausging, liegt an die zwanzig Sommer zurück, als die Kronennebeldrachen hier gebrütet haben, erinnerst du dich, Myroon?“

„Wie könnte ich das jemals vergessen…Äh, Vilthon, bitte erzähle den Leuten, dass das Tier mich erwischt hätte, ja?“ bat Myroon den gleichaltrigen Alwen unvermittelt.
 

Dieser nickte verständig.

„Gute Idee, Myroon. Weiteren Aufruhr kann unsere Kleine jetzt wirklich nicht gebrauchen. Ich versuche jetzt, alle Dorfbewohner im Gemeindehaus zu versammeln, und werde gleichzeitig die Raben in die übrigen Dörfer schicken. Soll ich den anderen erzählen, Tilya würde sich um dich kümmern, Myroon?“

Der Alverliek grinste zynisch. „Na klar. Sag, ich würde mich erholen und keinen Besuch empfangen.“

„Und bloß kein Wort zu meinen Eltern, Vilthon, versprich mir das!“ erinnerte ich ihn eindringlich. Ich fürchtete, die ganze Situation würde bald vollkommen außer Kontrolle geraten. Das alles überforderte mich augenblicklich.
 

Vilthon seufzte tief. „Es fällt mir zwar sehr schwer, Tilya, aber du kannst dich auf meine Verschwiegenheit verlassen. Ich denke, dir wird es morgen schon sehr viel besser gehen, wenn du dich jetzt zurücklehnst, den Cobalaextrakt nicht vergisst und dir heute den Kopf nicht mehr über diese Angelegenheit zerbrichst. Myroon, bitte setz ihr doch zwischendurch einen ordentlichen Valdrobulartee auf, damit sie sich etwas entspannt. Ich komme heute Abend noch einmal vorbei, um den Verband zu wechseln und nach der Wunde zu sehen. Achte gut auf sie und gib mir sofort Bescheid, wenn sich etwas an ihrem Zustand ändert. Ich warne jetzt die anderen.“

Vilthon gab mir einen flüchtigen Kuss auf meine kalte Stirn, drückte Myroon ein Päckchen mit Valdrobularrindentee in die Hand, schulterte seinen abgewetzten Rucksack, öffnete die Luke und kletterte vorsichtig die Strickleiter hinunter.
 

Einige unangenehme Momente lang ließ eisiges Schweigen die Stimmung zwischen Myroon und mir gefrieren, dann entbrannte eine hitzige Diskussion zwischen uns.

Ich machte, meine augenblickliche Angriffslust ausnutzend, den Anfang. „Schluss mit dem Theater. Ich weiß, was ich gesehen habe, Myroon. Du kannst mir nicht einreden, dass mich irgendein Tier gebissen hat. Tiere lösen sich nicht in rotem Qualm auf. Gib es doch endlich zu! Du weißt ebenso gut wie ich, dass es sich bei dieser Kreatur um einen Malar gehandelt hat!“

„Ausgeschlossen, Tilya, hör endlich auf, dir solche irrsinnigen Dinge einzubilden. Im Dämmerlicht scheint so vieles ganz anders als bei helllichtem Tag.“ gab Myroon unbeeindruckt zurück.

„Wir beide sind halbe Verlieken, Myroon. Vielleicht hast du ja in der letzten Nacht zu viel gesoffen, aber ich habe den Malar ganz deutlich erkannt.“ fauchte ich gereizt.

„Jetzt werde bloß nicht frech zu deinem Lehrer!“ zischte der Alverliek ärgerlich. Ich ignorierte den drohenden Unterton in seiner Stimme.

„Du hast ihn doch sogar bei seinem Namen genannt, Myroon! Du hast mich wortwörtlich gefragt, ob der Malar mich gebissen hat! Warum streitest du die Tatsachen ab? Willst du sie etwa nicht wahrhaben?“
 

Myroon dachte gar nicht daran, auf meine provozierenden Fragen einzugehen. „Hat Vilthon nicht eben gesagt, du sollst dich nicht aufregen?“

Doch ich schlug schon die Hände vor mein Gesicht. Das alles begann mir über den Kopf zu wachsen. Und ich konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen! Mein ganzer Körper bebte unter meinem verzweifelten Schluchzen, als eine Träne ihren Weg durch die Zwischenräume meiner Finger fand und in einer grazilen Kurve meinen zitternden Arm hinunter rann.

Schweigend beobachtete Myroon, wie sie langsam in einer kleinen Stelle Echsenhaut um meinen Ellenbogen versiegte. Er räusperte sich verlegen.

„War das tatsächlich dein eigener Malar, der dich angefallen hat, Kleine?“

Überrascht sah ich ihn aus meinen brennenden, verweinten Augen an.

„Ja.“ antwortete ich ihm erleichtert. „Warum hast du ihn vor Vilthon verleugnet?“ fragte ich dann meinen Lehrmeister vorwurfsvoll.

Myroon starrte aber nur einige Sekunden gedankenverloren aus dem Fenster und blieb mir die Antwort schuldig. Dann setzte er sich zu mir auf den Rand seines Bettes und spießte mich förmlich mit seinem ernsten, stechenden Blick auf.

„Verrate mir mal bitte, wie du das alles wieder angestellt hast, Mädchen!“
 

Ich reagierte auf diese Forderung mit hysterischem Gelächter

„Was? Wie ich das angestellt habe?!“ wiederholte ich die Worte meines Lehrmeisters mit unbeherrschter Stimme. Was war den das nur für eine hirnrissige Frage?

„Stell dir vor Myroon, der Malar und ich hatten wieder einmal Langeweile, und da habe ich ihm angeboten, mich doch bitte ein wenig zu zerfetzen, damit er unsere öde, spießige Welt ein wenig aufmischen kann!“

„Ich habe dich nicht für sein Erscheinen verantwortlich gemacht, Tilya!“ brüllte Myroon in derselben Lautstärke zurück.

„Ach nein? Das hat sich aber eben verdammt danach angehört! Und weißt du was, Myroon? Du hast Recht! Ich habe mein ganzes, verfluchtes Leben lang in jeder Hinsicht nur versagt, nichts habe ich wirklich auf die Reihe bekommen! Und ich habe es tatsächlich mir selbst zuzuschreiben, dass mein Malar so stark geworden ist. Und auch, dass er sich letztendlich aus meinen Träumen befreit hat.“

„Nun halt aber mal die Luft an Tilya! Das stimmt doch alles gar nicht. Jetzt mach dich selbst mal nicht so runter, dafür bin ich zuständig!“

Mit diesen Worten konnte er mir zwar ein winziges Lächeln entlocken, doch der Ernst der Situation holte mich sofort wieder ein.
 

„Myroon, wenn der Malar irgendjemandem etwas antut, dann ist das allein meine Schuld. Die Leute müssen wissen, dass er hier ist!“

„Warum denn das?“ lenkte Myroon ein. „Das würde die ganze Situation nur verschlimmern, Kleine“

„Wieso?“ wollte ich wissen

„Na, erstens - was bringt es, wenn die Leute erfahren, dass es sich bei dem fremden Tier um einen Malar handelt? Dadurch ist doch niemandem geholfen, ganz im Gegenteil, damit schüren wir nur noch mehr Ängste, von denen sich Malare bekannter weise ernähren können. Oder weißt du etwa schon, wie man sich so ein Monster im Ernstfall vom Halse hält? Wahrscheinlich nicht, oder?“

„Nein.“ gab ich zu „Aber vielleicht kann man ihn mit seinem Talent vertreiben!“ fiel es mir plötzlich ein.
 

Myroon verdrehte genervt die Augen.

„Glaubst du ernsthaft, auf diese Idee würde niemand sonst außer dir kommen? Und zweitens, Tilya - man erzählt sich im Dorf schon genügend seltsame Dinge über dich. Wenn die Leute erfahren, dass du es warst, die den Malar hierher geholt hat, was denkst du, was dann geschieht? Willst du dir das wirklich antun? Dir und deinen Eltern?“
 

Ich schwieg zerknirscht.

„Mach es dir nicht Schwerer als es ohnehin schon ist, Tilya. Und wer weiß, vielleicht erledigt sich das Problem ja ganz von selbst.“

„Wie meinst du das?“ Ich begriff nicht, worauf Myroon hinauswollte.

„Nun ja, lass doch erst mal einige Zeit vergehen. Kann jemand voraussagen, ob der Malar überhaupt imstande ist, in dieser Welt zu überleben? Vielleicht verhungert er irgendwann, irgendwo in den Wäldern und niemand wird je erfahren, dass er das fremde Tier war, das dich – ähm - mich angefallen hat.“

Ich schnaubte verächtlich.

„Du meinst also, ich sollte erst mal abwarten wie sich die Lage entwickelt? Ich sollte es deiner Meinung nach einfach darauf ankommen lassen, ob jemand durch den Malar zu Schaden kommt oder nicht?! Hast du denn keinen Funken Verantwortungsgefühl im Leib, Myroon? Es ist meine Schuld, dass der Malar hier herumstreunt, also muss ich auch etwas tun!“

„Jetzt bleib verdammt noch mal liegen, du Frostfrosch!“

Grob riss mich Myroon, als ich gerade im Begriff war, mich aus den weichen Laken zu rappeln, an den Schultern zurück ins Bett, was ich mit einem schrillen Aufschrei quittierte.

„Lass mich los! Du reißt mir den Verband ab, du brutaler Idiot!“

„Du bleibst gefälligst im Bett, verrücktes Huhn! Vilthon dreht mir den Hals um, wenn er nachher wiederkommt und es dir nicht besser geht! Jetzt sei endlich vernünftig! In diesem Zustand kannst du sowieso nichts ausrichten. Wobei ich mich jetzt ernsthaft frage, was du überhaupt vorgehabt hättest, gegen den Malar zu unternehmen. Erklär mir das doch bitte mal!“

„Weiß ich nicht. Aber ich kann ihn doch nicht einfach da draußen rumlaufen lassen!“ jammerte ich verzweifelt. Konnte er mich denn nicht verstehen?

„Bevor du nicht endlich deinen Cobalaextrakt getrunken und dich ausgeschlafen hast, lass ich dich nicht aus dem Haus, darauf kannst du Gift nehmen.“ erklärte Myroon sehr bestimmt. „Lass Vilthon erst mal den Verband wechseln und die Wunde begutachten, dann sehen wir weiter. Ich werde es nicht zulassen, dass du ohne Sinn und Verstand in der Gegend herumrennst und nach diesem gemeingefährlichen Vieh Ausschau hältst. Du kurierst dich jetzt gefälligst aus.“
 

Mit diesen Worten drückte er mir die Phiole mit dem tiefroten Extrakt in die Hand.

„Austrinken!“ befahl er mir in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Ich fügte mich resigniert. Es hatte ja doch keinen Sinn.

Myroon verschwand in der Küche um den Tee aus Valdrobularrinde zu holen, der die ganze Zeit über in der Küche gezogen hatte und reichte mir die warme Tasse.

„Und runter damit“ befahl er streng.

Ich erkannte den Inhalt gleich an seinem ätherischen, intensiven Duft.

„Na dann gute Nacht…“ seufzte ich, hielt mir mit einer Hand die Nase zu und schluckte das viel zu starke Gebräu tapfer hinunter. Es schmeckte irgendwie seltsam… Ich schüttelte mich angewidert.

„Na also, du kannst ja auch mal auf mich hören…“

Ich schmunzelte noch über Myroons erleichterten Gesichtsausdruck, bevor der Aufguss, dem man eine entspannende, beruhigende und stimmungsaufhellende Wirkung zuschrieb, mir einen tiefen, traumlosen Schlaf bescherte.

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Ich erwachte von einem lästigen, kitzelnden Gefühl an meinem Mundwinkel.

Als ich die Augen öffnete, erkannte ich, dass der späte Abend bereits den Himmel verdunkelt hatte.

In Myroons Schlafraum duftete es berauschend nach Valdrobularrinde.
 

Ich wollte mir mit der Hand meines unverletzten Armes über den Mund fahren, um mir die vermeintliche Feder aus dem Gesicht zu streichen, konnte ihn jedoch nicht unter der seltsamen, warmen Last hervorziehen, die ihn beschwerte.

Erschrocken zappelte ich mich frei, richtete mich auf und erkannte mit großem Entsetzen Myroon, der sich unverschämter Weise neben mir breit gemacht hatte.

Empört fingerte ich angeekelt einige seiner langen, hellen Haare von meiner Zunge
 

„Bist du schon wach?“ schnurrte Myroon gedehnt, sich dabei genüsslich räkelnd.

„Was machst du hier?“ fuhr ich ihn harsch an.

Myroon blinzelte verschmitzt zu mir hinüber und grinste bezaubernd. „Ich wohne hier, Schätzchen. Ich liege in meinem Schlafraum, in meinem Bett, neben meiner Schülerin.“

„Spinnendreck!“ hauchte ich beklommen, als ich, obschon ich saß, das Gleichgewicht zu verlieren begann.

Das Zimmer rotierte plötzlich vor meinen Augen, ich sank elendig mit meinen verkaterten Gliedern zurück in die Kissen und zog mir die Decke über den Kopf.

Das schadenfrohe Gelächter meines Lehrmeisters drang durch die dicken Spinnenwolllagen an meine Ohren, dann wurde mir die Decke fort gerissen.

„Hör doch auf mit dem Müll!“ flehte ich ihn an. Konnte mir denn niemand diesen durchgeknallten Alverlieken vom Leib schaffen?

„War Vilthon denn schon hier, Myroon?“

„Natürlich, er hat die Kompresse gewechselt und behauptet, du wärst morgen wieder fit wie ein Schnabelgecko.“

„Großartig, Myroon, ich pack dann jetzt mal meine Sachen und übernachte heute bei Vilthon, in Ordnung? Wir haben viel zu besprechen. Und meine Hängematte wurde ja ohnehin von meinem kleinen, netten Kuscheltierchen zerfetzt…“

„Du schläfst bei mir, Kleine. Als ob ich dich unter diesen Umständen zu dieser Zeit aus noch den Augen lassen würde. Oder hattest du vielleicht sogar vor, mitten in der Nacht heimlich auf Monsterjagd zu gehen?“ raunte mir Myroon scherzhaft ins Ohr und ich konnte deutlich den herrlichen Duft der Valdrobularrinde wahrnehmen.

Und den penetranten Geruch von Alkohol.
 

„Myroon, sag nicht, du hast den Tee mit deinem verdammten Xeraatrum versetzt!“

Mein volltrunkener Lehrmeister grinste mich nur verklärt an.

„Bist du denn wahnsinnig?! Alkohol und Valdrobularrinde verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung!“

Meine eigene Stimme dröhnte mir in den Ohren und ich stöhnte gequält auf.

„Stell dich doch nicht so an, Kleine, wir haben es doch überlebt…“ meinte Myroon mit schleppender Zunge und lehnte sich unbeholfen über mich.
 

„Was du nicht sagst. Ich hasse dich, Myroon.“ flüsterte ich schläfrig, aber über alle Maßen zornig.

„Tust du gar nicht, Drachenmädchen.“ entgegnete mir Myroon lächelnd.

„Und ob!“ begehrte ich auf. „Du bist total verrückt! Und egozentrisch. Selbstverliebt!“

„…und chaotisch. Und genusssüchtig.“ setzte Myroon fort. Ich grinste versöhnlich. Ich hatte jetzt eigentlich keine Lust, mich mit ihm zu streiten.

„Ja, allerdings, das bist du sowieso. Und leichtfertig. Und oberflächlich. Und…-“

„- und unglaublich leidenschaftlich!“ unterbrach mich Myroon und plötzlich spürte ich seine warmen Lippen auf meinem Mund. Verwirrt registrierte ich seine großen, sanften Hände, die plötzlich überall zu sein schienen, nur nicht da, wo sie hingehörten.
 

Bevor alles, was irgendeine Bedeutung hatte, in einer gewaltigen Flutwelle der Sinnlosigkeit versank, fragte ich mich noch, ob der kleine blaue Schnabelgecko es mir übel nehmen würde, wenn er diesen Abend keine Piragienkerne unter dem Baumhaus finden könnte.

Abschied

Das heisere Heulen der Kaktuswarane, die das Ende der kühlen Nacht begrüßten, weckte mich sanft aus meinem tiefen Schlaf.

Ausgiebig streckte ich meine klammen Glieder, die ich an diesem Morgen als sehr schwer und steif empfand.

Kaum dass ich die Augen geöffnet hatte, registrierte ich sofort eine mir nicht vertraute Maserung des Holzes in der Deckenvertäfelung.

Mit klopfendem Herzen drehte ich mich in dem fremden Bett auf die Seite und starrte in das Angesicht meines wahrhaftigen Alptraumes.

„Oh nein, verdammter, stinkender Spinnendreck!“ entfuhr es mir unwillkürlich.
 

Für einen Moment wünschte ich mir ernsthaft, der braungebrannte Körper meines Gegenübers würde sich in rotem Qualm auflösen und die Gestalt meines Malaren offenbaren, der mir dieses Mal einen besonders geschmacklosen Traum beschert hatte.

Leider handelte es sich aber um die bittere Wahrheit, dass es sich bei dem kaum bekleideten Mann, der da mit einem schiefen Grinsen selig in den zerwühlten Laken neben mir schlummerte, um meinen Lehrmeister handelte, mit dem ich die letzte Nacht verbracht hatte.

Und wie wir diese Nacht gemeinsam verbracht hatten!

Ich schluckte die aufkommende Übelkeit tapfer herunter, wälzte mich vorsichtig von der mitgenommenen, ächzenden Matratze und stakste splitterfasernackt, die knarrenden Dielen verfluchend, aus dem Schlafraum.
 

Nein, nein, nein, das durfte doch einfach alles nicht wahr sein!

Behutsam schloss ich die quietschende Tür und sog tief die vergleichsweise frische Luft des Flures ein, die nicht den Geruch von vergangener körperlicher Vereinigung in sich trug.

Dieser leichtsinnige Trunkenbold, diese vermaledeite Valdrobularrinde!

Wie hatte das nur passieren können? Hatte ich denn komplett das letzte bisschen Verstand verloren?

Wahrscheinlich hat der versetzte Tee mich so gleichgültig und träge gemacht, dass ich mich aus purer Bequemlichkeit nicht gegen Myroons Annäherungen zu Wehr gesetzt hatte.

Und Myroon muss dieses heimtückische Gebräu in einen äußerst anspruchslosen Lüstling verwandelt haben, denn ich wusste, dass ich in keiner Weise dem Beuteschema meines Ausbilders entsprach, was die Wahl seiner stets bezaubernden Liebhaberinnen betraf.
 

Ich griff in mein zerzaustes Haar und eine heraus geraufte Feder segelte lautlos zu Boden.

Nun hatte ich sie also auch endlich hinter mir die berühmte, heiß ersehnte erste Nacht mit einem Mann, und ich konnte mich kaum noch an etwas erinnern.

Und das war mir eigentlich ganz recht, schließlich handelte es sich bei dem besagten Mann um Myroon, den arroganten, abgehobenen Weiberheld, der bis weit über die Dorfgrenzen hinaus für seine Zügellosigkeit und Nachlässigkeit berüchtigt war.

Wie peinlich!

Ich knirschte angespannt mit den Zähnen.
 

Wenn das jemandem zu Ohren käme… meinen Eltern…Vilthon.

Meine Ohren begannen zu glühen, bei dem Gedanken, wie schnell solche Neuigkeiten im Dorf die Runde machen konnten, vor allem, wenn ein so großspuriges Klatschmaul wie Myroon sie verbreitete.

Mit höchster Wahrscheinlichkeit würde er diesen unsagbaren Vorfall als amüsante Anekdote zum Besten geben, wenn er am nächsten Abend vor seinen Freunden bei einem gemütlichen Becher Honigfruchtwein im Gemeindehaus mit seinen Liebesabenteuern prahlte.

Bei der Vorstellung eines angetrunkenen Myroons, der erfreut quer über den Gemeindeplatz grölte, sogar das spröde Drachenmädchen flachgelegt zu haben, überwältigte mich der Brechreiz und ich schaffte es gerade noch in den Waschraum um mich elendig über der Toilettenschüssel zu übergeben.
 

Einige Augenblicke verharrte ich auf den kühlen Fliesen, dann begann ich, Eimer für Eimer eiskalten Brunnenwassers in den Waschraum hinaufzuziehen und den Boiler der Duschvorrichtung damit zu befüllen.

Ich verzichtete darauf, das Schälchen mit Schlegelsand unter dem Wasserbehälter anzuzünden, um das Wasser auf Körpertemperatur zu erhitzen, sondern drehte gleich den Hahn auf, um sofort in einem eisigen Regen des kühlen Nasses den Schmutz und den Schweiß der letzten Nacht von meinem Leib abzuwaschen.

Die Kompresse an meinem Hals löste sich sanft von meiner hellen Haut.

Das an die schreckliche Wunde, die der Malar geschlagen hatte, nur noch einige hässliche Narben an den Stellen erinnerten, in die er seine fürchterlichen Fänge in mein Fleisch gebohrt hatte, registrierte ich mit Desinteresse.

Viel zu sehr war ich damit beschäftigt, penibel jeden Quadratzentimeter meines Körpers gründlich mit einem mit Saponsiskrautsaft getränktem Schwamm abzuschrubben.
 

Als diese Prozedur endlich beendet war, glühte meine wundgescheuerte Haut stellenweise in einem fleckigen, rosafarbenen Ton.

Mein Spiegelbild bot daraufhin den denkbar erbärmlichsten, ungesündesten Anblick, den man sich vorstellen konnte, und ich beeilte mich damit, meine Zähne zu putzen, um den seltsamen, schalen Geschmack in meinem Mund loszuwerden.
 

Da Myroon die Wäsche immer noch nicht abgenommen hatte, stand mir kein frisches, trockenes Handtuch zur Verfügung, also schlich ich mich am ganzen Leib zitternd in die Wohnküche, um meinem Schrank saubere Kleidung zu entnehmen.

Auf meinem Weg dorthin fiel mein Blick unwillkürlich auf die zerfetzte Hängematte, in der ich sonst immer geschlafen hatte, und auf die riesig erscheinende dunkle Lache meines getrockneten Blutes, die sich Myroon offensichtlich noch nicht zu entfernen bequemt hatte.

Abermals drohte sich mein Magen umzudrehen.
 

Hier konnte ich nicht eine Sekunde länger bleiben, jeder Platz, jeder Gegenstand in diesem Haus rief plötzlich diverse unangenehme Erinnerungen hervor, denen ich mich zu stellen noch nicht gewachsen fühlte.

Kurz entschlossen zog ich mich an und packte wahllos einige Kleidungsstücke und meine wenigen persönlichen Habseligkeiten in meinen Rucksack und verließ leise das Baumhaus.
 

Als ich die Strickleiter hinabkletterte, war die Sonne noch nicht aufgegangen, doch die herrliche junge Morgenröte, die ihr vorauseilte, flutete die Hälfte des klaren, dunkelblauen Himmels bereits in leuchtenden, satten Farben.

Unten angekommen kitzelte taufeuchtes Gras meine Fußknöchel.

Als ich mich hinab beugte, um den Saum meiner weiten Hose tiefer zu ziehen, schreckte mich ein lautes Knacken und Rascheln aus dem angrenzenden Wald auf.

Mit gehetztem Blick suchte ich die Bäume nach einer Bewegung ab, nach einer Gestalt, die das verräterische Geräusch brechender Äste verursacht haben könnte, fest damit rechnend, den Malaren in einem der Wipfel oder hinter einem der Stämme zu entdecken.

Doch es war nur der kleine blaue Schnabelgecko, der mit hohen Sprüngen aus dem Dickicht hervorschnellte.

„Coatl!“ rief ich erleichtert und ließ das flinke Reptil an mir hochklettern.

Schnatternd bettelte der Gecko um die begehrten Piragienkernen, doch ich musste ihn auch heute enttäuschen.
 

„Tut mir leid, Kleiner, aber ich glaube diese Zeiten sind vorbei. Ich kann hier nicht mehr länger wohnen, denke ich, und auf Myroons Gnade solltest du dich nicht verlassen. Ich habe dich ohnehin zu lange mit diesem öligen Zeug verwöhnt. Schau mal, die vielen Kerne haben schon Spuren an deiner schlanken Linie hinterlassen.“

Neckisch strich ich dem Tier über sein wahrhaftig leicht gewölbtes Bäuchlein.

Coatl keckerte verärgert, denn er ließ sich nicht gerne anfassen.

Ich grinste schelmisch.

„Na, Süßer, willst du dich denn wenigstens noch ein bisschen an mir aufwärmen? Jetzt geht es zu Onkel Vilthon, vielleicht hat der ja noch was Leckeres für dich übrig. Du kannst gerne so auf meiner Schulter sitzen bleiben, dann sieht wenigstens niemand die Abdrücke der Malarenzähne. Aber ich denke, um diese Zeit wird sowieso kaum jemand unterwegs sein. Na, dann halt dich jetzt mal fest, Kleiner!“

Ich rannte über die Wiese, die frische Morgenluft, die meine Lungen auf belebende Weise füllte, genießend.

Dann folgte ich dem Weg in Richtung Dorfmitte.
 

Ich kam an den großen Scheunen vorbei, in denen die Ernte der umliegenden Felder nicht nur gelagert, sondern auch sortiert, getrocknet, gepresst, oder anderweitig aufbereitet wurde, bevor man die jeweiligen Erzeugnisse herausgab, damit man sie zu Körben, Tauen, Stoffen und dergleichen weiter verarbeiten konnte.

Aus diesen stets sorgsam gefüllten Lagern konnte man Leinenfasern beziehen, und die nahrhaften Xeraatkolben, aus denen der Müller wertvolles Mehl gewinnen konnte. Auch die geschmeidigen Salizenweidenruten, aus denen sich gute Körbe flechten ließen, Baumwolle aus den Knospen des Stachelknochenstrauches, sowie auch die unverwüstlichen Rohre der Didigipflanzen konnte jeder Dorfbewohner hier in Empfang nehmen.

Das gute Holz von Roonen, Querken und Betoolen bewahrte man ebenfalls in diesen Scheunen auf, wo man es trocknete und dem späteren Verwendungszweck entsprechend behandelte.
 

Mein Weg führte mich nun an der Zwirnstube vorbei, einem Häuschen, in dem Pflanzenfasern, Wollspinnenfäden und Zaronnenwolle weiterverarbeitet wurden und in dem sich die die Weber, Spinner und Näher trafen.

Laphanie, eine sehr attraktive, langbeinige Alwin, die ebenfalls dort beschäftigt war, kam mir entgegen.

Sie lächelte mir schon von weitem freundlich zu, und ihre schönen, ebenmäßigen Zähne strahlten.

Ich grinste gequält zurück, indem ich meine großen Kauwerkzeuge freudlos entblößte.

Laphanie gehörte zu den jungen Frauen, die Myroon bevorzugte, und ich hatte die beiden so manches Mal gemeinsam im Wald verschwinden sehen, wenn ich wieder einmal allein das Unkraut im Garten jäten musste, damit uns die sorgsam gehüteten roten Piragien, süßsauer schmeckende, fleischige, saftige Gemüsefrüchte, nicht elendig zugrunde gingen.
 

„Grüß dich, Tilya!“ zwitscherte Laphanie gut gelaunt und warf einen amüsierten Blick auf den Schnabelgecko, der seinen langen, blauen Körper um meinen Hals und meine Schultern gewunden hatte. „So früh schon unterwegs?“

„Guten Morgen!“ erwiderte ich, gezwungenen lächelnd und senkte den Blick zu Boden. Der Gedanke an Myroon hatte meine Speiseröhre schon wieder mit unangenehmen Krämpfen gesegnet. Coatl krächzte ungeduldig, als sein mobiler Untersatz stehen blieb.

„Wie geht´s Myroon?“ fragte Laphanie mich arglos. „Herr Vilthon hat ja gestern erzählt, er sei von einem fremdartigen Tier gebissen worden, das von den Menschen gekommen ist. Hoffentlich fängt man es bald ein und bringt es dorthin zurück, wo es hergekommen ist. Hast du dich gut um Myroon gekümmert, kommt er heute wieder ins Dorf?“

„Äh, ja, Myroon geht es blendend, aber er schläft noch.“ stammelte ich. „Er muss sich noch etwas schonen, glaube ich. Wenn ihr euch heute noch seht, kannst du ihm bitte sagen, ich wäre bei Vilthon?“

„Warum bist du bei Vilthon? Ist deine Ausbildung etwa schon beendet? Hast du deshalb deine Sachen gepackt?“ fragte die Alwin mich verwundert.

„Ach, Vilthon braucht dringend meine Hilfe…irgendwelche Experimente…du weißt ja…seine Forschungen…“ druckste ich herum und fuchtelte dabei wild mit meinen Händen in der Luft herum. Ich war mir bisher selbst nicht darüber im Klaren, wie es nun mit mir weitergehen sollte. Und den Malaren durfte ich dabei natürlich auch nicht vergessen.

Mir wurde es ganz flau im Magen.
 

Coatl knurrte missbilligend, als Laphanie sich besorgt ein Stück zu mir hinunter lehnte, um mein bleiches, müdes Gesicht in Augenschein zu nehmen. „Ist alles in Ordnung, mit dir, Kleine? Du siehst sehr schlecht aus.“

„Ja, danke…äh, Laphanie. Ich muss jetzt aber los, Vilthon wartet schon auf mich.“ murmelte ich, ihren Blicken hartnäckig ausweichend. Ich verabschiedete mich flüchtig und rannte den Weg hinauf ins Dorf, wobei mein Rucksack wild auf und ab hüpfte und seine Riemen unangenehm an der frisch verheilten Bisswunde des Malars scheuerten.

Der Schnabelgecko krallte sich ängstlich an meiner Schulter fest.
 

Schon ließ sich der strenge, beißende Geruch der Gerberhütte vernehmen, in der sich zu dieser frühen Stunde schon die Lederer, Schuster und Färber emsig tummelten.

Der Weg führte mich über die Brücke über den Fluss, vorbei an der Wassermühle des Müllers, von dessen anliegender Backstube aus sich bereits der herrliche Duft frischgebackenen Xeraatbrotes in den lauen Morgenwind mischte.

Ich verlangsamte meinen Lauf, als ich das große Glühbeerenbeet erreichte, welches rund um das Zentrum des verhältnismäßig großen Hügeldorfes angelegt worden war und den großen Tauschplatz, den Dorfbrunnen, das Gemeindehaus, die Bücherei, das Gästehaus und die Rabenvoliere meines Onkels umschloss.

Einen großen Bogen machte ich um den Gemeindeplatz, durch den die gepflasterte Hauptstraße führte und nahm einen weiteren Umweg zwischen einigen Wohnhäusern in Kauf, um nicht am Haus der Gesundheit vorbeikommen zu müssen, in dessen Nähe außerdem auch meine Eltern wohnten.

Ich folgte den Quellwasserleitungen am Dorfrand, die sich in die angrenzenden Felder, Plantagen und Terrassen abzweigten.

Dann kam ich am Salnachkohlfeld vorbei. Der Salnach, dessen schlanke, mannshohe Kohlsprossen geerntet werden konnten, sobald sie begannen, sich zu öffnen, konnte nur gegart verzehrt werden und ließ sich geschmacklich in etwa mit den von den Menschen bevorzugten Kohlsorten wie Spinat, Wirsing und Mangold vergleichen.

Auf dem abgeschnittenen Strunk wuchs eine neue Sprosse heran, jedoch stets um einiges schmaler und zarter als ihr Vorgänger, so dass der Salnach nach vier Ernten neu gesät werden musste, wenn man auf einen Fruchtwechsel des Ackers verzichtete.

Auch das große Patuttfeld ließ ich hinter mir zurück, nicht ohne schüchtern die vorsichtig zwischen den Pflanzen herum staksende Xyllienne zu grüßen, eine schlaksige, freundliche junge Alverliekin mit dem Talent, das Pflanzenwachstum zu beeinflussen, um welches ich sie glühend beneidete.
 

Bei der Patutt handelte es sich um ein unauffälliges Nachtschattengewächs, deren runde, orangefarbene, sehr stärkehaltigen Wurzelballen die die Größe eines Kopfes erreichen konnten, und neben der Xeraat die mild schmeckende Nahrungsgrundlage der Insel darstellte.

Als ich das Feld mit den Heerscharen kleiner, süßscharfer Sonnenbulbenzwiebeln erreichte, deren golden und violett gescheckten Blütenblatter sich munter in der milden Brise wiegten, und ein ekstatisch flimmerndes Farbenspiel zur Schau stellten, schlug ich den Weg zwischen den Häusern der verliekischen Töpfer, Ziegelbrenner und Glaser ein.

Ich passierte die Hütte der Schmiede und gelangte nun wieder auf die Hauptstraße, die mich vorbei an den Werkstätten der Handwerker führte.

Hier hielt sich oft mein Vater auf, um mit anderen materialkundigen Verlieken, die sich hier trafen um gemeinsam alle anfallenden Reparaturarbeiten zu bewältigen, über effektive Imprägnierungstechniken zu fachsimpeln.

Ich schlich mich vorsorglich möglichst nahe an der Wand der Werkstatt vorbei, um ja nicht entdeckt zu werden.

Fast wäre ich dabei über das Reitgeschirr eines Roonengräbers gestolpert, das jemand achtlos neben einem leeren Torfkarren liegen gelassen hatte.

Die Arbeit bei den Handwerkern war beliebt, weil sie sich so vielseitig gestaltete. Man hielt sich häufig kaum in der eigentlichen Werkstatt auf, in der vor allem geschreinert, getischlert und geschnitzt wurde, denn meist befand man sich an der frischen Luft um beispielsweise mit den Querkenkneifern Holz zu fällen und zu verarbeiten oder um Gebäude, Anlagen und Gerätschaften zu renovieren oder zu installieren.

Man arbeitete stets Hand in Hand mit anderen Dorfbewohnern, zum Beispiel mit den Schmieden, den Glasern, den Torfstechern und Ziegelbrennern.

Mein geselliger Vater war hier ganz in seinem Element und suchte man nach ihm, brauchte man nur dem Lärm zu folgen, den in den meisten Fällen die eifrigen Handwerker zu verantworten hatten.
 

Das röhrende Brüllen der Reitechsen kündigte lautstark den Aufgang der Sonne an.

Bald würde reges Treiben die leeren Straßen füllen.

Ich beeilte mich, zu Vilthons Haus zu gelangen, das man hinter den Tierställen, zwischen der Leguanfarm und dem Wollspinnengehege fand.

Die beiden Querkenkneiferweibchen des Dorfes dösten ruhig in ihren riesigen Käfigen vor sich hin.

Querkenkneifer waren gewaltige, massige krabbenartige Wesen, doppelt so hoch wie eine ausgewachsene Zaronne und ebenso breit.

Die wuchtigen Körper wurden von einem grünen, chlorophyllhaltigen, lederartigen Panzer geschützt, den drei Paar kräftige Beine trugen und ein paar kräftige Scherenzangen verteidigen konnten.

Querkenkneifer lebten in den tieferen Wäldern der Insel und die Alwen lehrten den Verlieken, ihre weiblichen Larven aus den Nestern zu holen, um sie bei sich aufzuziehen und mit den ausgewachsenen Tieren zu arbeiten.

Die Weibchen der Querkenkneifer waren um ein Vielfaches größer als die schnabelgeckogroßen Männchen, die bei jeder Brut gute neunzig Prozent der Nachkommenschaft ausmachten und sich im Gegensatz zu den Weibchen von Aas, Kleintieren und Waldpilzen ernährten statt von Blüten und Beeren.

Wegen ihrer vergleichsweise geringen Größe fielen jedoch viele Männchen ihren zahlreichen Fressfeinden, den Kronennebeldrachen, Kaktuswaranen oder Wollspinnen zum Opfer.

Ihren Namen verdankten die Querkenkneifer den gleichnamigen Bäumen, den Querken, die die Weibchen mit ihren großen, scharfen Mundwerkzeugen bevorzugt für den Bau ihrer riesigen Bruthöhlen fällten.

Neben der Querkenkneiferhütte befanden sich die Käfige für die fünf Roonengräber.

Diese einzelgängerischen, mannsgroßen, asselartigen Insekten mit ihrem glänzend schwarzen Gliederpanzer wurden nach den hohen, schlanken Nadelbäumen benannt, deren Zapfen und Wurzeln sie verspeisten.

Mit Hilfe ihrer kräftigen Grabschaufeln verbuddelten sich diese genügsamen Tiere während den kühleren Jahreszeiten in der Erde, um in eine Kältestarre zu verfallen.

Die vielen faustgroßen Eier, die ein trächtiges Weibchen legte, wurden größtenteils von Vögeln, Wölfen, Füchsen und Nagern gefressen, doch hin und wieder hatte man das Glück, ein Ei zu finden und einen kleinen Roonengräber im Dorf schlüpfen zu lassen, den man später beim Ackerbau und beim Torfstechen gut gebrauchen konnte.
 

Der intensive Geruch des Wollspinnengeheges drang mir jetzt in die Nase.

Es handelte sich hierbei um einen offenen Verschlag, den die Spinnen, die ihre Netze sonst weit verstreut zwischen den Bäumen des dichten Waldes spannten, frei betreten und verlassen konnten.

Hier wurden ihnen jeden Morgen die Überreste der verliekischen Nachtjagden angeboten, und während sich die mehr und minder großen Tiere genüsslich an den stark riechenden, eiweißhaltigen Abfällen gütlich taten, konnten ihre Spinndrüsen am Hinterleib durch vorsichtiges Klopfen gemolken werden.

Einen weiteren Dienst leisteten die Spinnen den Dorfbewohnern, indem sie den Riesenmoskitos nachstellten, die nach der Dämmerung von den großen Seen im Landesinneren ausschwärmten um sich unter anderem am Blut der Leute zu laben.

Nicht nur kleinen Kindern konnten diese Blutsauger zu einer ernsten Gefahr werden, doch zusammen mit den Kaktuswaranen konnten die Wollspinnen die Bedrohung durch die fliegenden Plagegeister eindämmen.
 

Ich hielt mir die Nase zu und betrat das Gehege, in welchem einige Zwergwollspinnen und eine Riesenwollspinne bereits auf ihre Mahlzeit warteten.

Coatl versteckte sich feige hinter meinem Rücken und fauchte erschrocken, als ich mich dem riesigen, prächtigen Tier näherte und sein borstiges Fell um seine acht glänzenden Knopfaugen kraulte.

„Na, Dicke?“ grinste ich die achtbeinige Schönheit schuldbewusst an. „Wenn ihr Pech habt, gibt es hier heute nicht besonders viel zu Futtern. Bestimmt haben die Verlieken die nächtliche Jagd abgesagt. Tut mir leid, das habt ihr nämlich mir und meinem wahnsinnigen Malaren zu verdanken.“

Ich klopfte der Spinne entschuldigend auf eines ihrer langen, haarigen Vorderbeine und schritt gedankenverloren über die mit Löwenzahn und Gänseblümchen überwucherte Wiese zu Vilthons hübschen, kleinen Fachwerkhaus.
 

Gerade hob ich die Hand, um an der dicken Holztür anzuklopfen, als diese ruckartig aufgerissen wurde und Vilthon mich, seinen unverhofften Besuch, beinahe umrannte. Entsetzt sprang ich zur Seite und sah an meinem besten Freund hoch.

„Vilthon!“ keuchte ich verunsichert. „Wie siehst du denn aus?“

Der adrette Alwe legte für gewöhnlich Wert auf ein gepflegtes Äußeres, doch heute hatte er seine schulterlangen, rostbraunen Haare recht leger nach hinten gebunden, und trug mehrere Lagen alter, völlig verschlissener Kleidung an seinem Körper.

Ich hätte ihn fast nicht erkannt, denn einige ungebändigte Strähnen fielen Vilthon ins Gesicht und verdeckten beinahe seine klaren, grauen Augen.
 

„Tilya!“ rief der Alwe überrascht. „Wie geht es dir? Schön, dass du schon auf den Beinen bist! Die Wunde sah gestern Abend auch schon ziemlich gut aus. Im Gegensatz zu dir, du bist sehr blass, Kind. Du hast den Cobalaextrakt nicht getrunken, habe ich Recht?“

„Doch! Und mir geht es gut.“ antwortete ich empört. Was dachte Vilthon denn von mir? Ich war doch kein kleines, ungehorsames Kind mehr!

„Du gefällst mir trotzdem nicht, Kleines.“ nörgelte Vilthon weiter und begutachtete mein äußeres Erscheinungsbild kritisch. „ An Myroons Stelle hätte ich dich noch nicht arbeiten geschickt, du siehst ziemlich erledigt aus.“

„Myroon schläft noch…“ warf ich tonlos dazwischen.

Der Alwe sog zischend die Luft ein und ich musste bei dem vertrauten Anblick seiner hochgezogenen Braue grinsen.

„Wo willst du in diesem Aufzug eigentlich hin, Vilthon?“

„Schlegelsand holen!“

Ich verzog angewidert das Gesicht.
 

Schlegel waren mannsdicke, fleischige, farblose Würmer, die eigentlich ihr einsiedlerisches Leben unter der Erde, meist in der Nähe von Mooren und Tümpeln führten.

Die lichtempfindlichen Allesfresser wurden von den Verlieken bei Nacht in den Dörfern aus hygienischen Gründen in den unterirdischen Abwasserkanälen angesiedelt.

Begehrt waren die feinen, weißen Kristalle, die die Tiere ausschieden, denn sie gaben einen mehr als ergiebigen Brennstoff ab.

„Aber das kann warten.“ verkündete Vilthon nun strahlend. „Hast du schon gefrühstückt?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich hatte keinen Hunger…“

„Den bekommst du schon gleich beim Essen, Mädchen. Hereinspaziert in die gute Stube!“

Ergeben folgte ich der gut gemeinten Einladung.
 

In Windeseile zauberte mein bester Freund eine Kanne Betoolenspringbockmilch auf den Tisch, einige Scheiben würzigen Zaronnenkäse, Xeraatbrötchen und schnitt sogar noch schnell einen Piragienkürbis für mich.

Als Krönung servierte er mir noch ein gekochtes Leguanei.

Ich schluckte. „Du bist ja schlimmer, als meine Mutter, Vilthon. Wer soll das denn alles essen?!“

Coatl, der neben mir auf dem massiven Holztisch in der gemütlichen Küche Platz genommen hatte, verputzte mittlerweile laut schmatzend eine überreife Honigfrucht.

„Keine Widerrede! mit etwas Anständigem im Magen wirst du hoffentlich gleich etwas gesünder ausschauen, meine Liebe.“

Der Höflichkeit halber fing ich an, eines der Brötchen aufzuschneiden und mit Käse zu belegen.
 

„Sag mal, hat dein Besuch bei mir eigentlich einen besonderen Grund?“ fragte Vilthon beiläufig, als er zufrieden lächelnd beobachtete, wie ich begann, ohne Appetit auf meinem Frühstück herumzukauen.

Er lenkte seinen Blick bedeutungsvoll auf den schweren Rucksack, den er mir abgenommen und unter dem Tisch verstaut hatte.

Der Bissen blieb mir im Halse stecken und ich spülte mit einer Tasse Milch nach.

„Äh, Vilthon, sag mal, könnte ich vielleicht für einige Tage bei dir wohnen?“ krächzte ich dann mit rauer Stimme.

Der Alwe legte seine Hand auf meine. „Nichts lieber als das! Du weißt, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als dich um mich zu haben, Kind. Aber ich frage mich nun natürlich, was dich dazu bewegt, Myroons Haus zu verlassen. Er weiß mit Sicherheit noch nichts von deinen Plänen, sonst wäre er hier schon längst aufgetaucht. Oder habt ihr euch gestern noch darüber gestritten, aus welchem Grund er die Flucht deines Malars in meiner Gegenwart verleugnet hat?“
 

Unbehaglich rutschte ich mit gesenktem Blick auf meinem Stuhl herum.

„Nein, direkt gestritten haben wir uns nicht, aber…“

Da begriff ich plötzlich den Sinn seiner Worte und starrte Vilthon aus großen Augen an.

„Du glaubst mir also doch?“

„Nun ja…“ Vilthon seufzte. „Ich habe insgeheim schon lange befürchtet, dass es irgendwann, in irgendeiner Weise einmal so weit kommen würde. Greyan konnte mir damals noch einige Einzelheiten über den Fall der Fuchsfrau aus dem Hafendorf berichten, deren Malar angeblich ebenfalls ihr Totem vernichtet haben sollte, bevor er sich aus ihren Träumen befreite. Die junge Verliekin enthüllte ihr unglaubliches Geheimnis aber erst bei der Geburt ihres Kindes, die sie leider nicht überlebte.“

Ich war etwas verwirrt.

„Mein Malar war also möglicherweise tatsächlich nicht der erste seiner Art, der fliehen konnte. Warum hast du mir dieses Detail verschwiegen, Vilthon?“ wollte ich von meinem Freund wissen, der gerade das Leguanei pellte, nur um seine unruhigen Hände zu beschäftigen.

„Ich wollte dich nicht noch mehr verunsichern, Kleines. Schließlich wurde diese Geschichte immer für einen Mythos gehalten. Jenes zweifelhafte Ereignis liegt jetzt seit guten drei Jahrzehnten zurück, und man hat nie etwas von dem Malar gehört, geschweige denn gesehen. Selbst Greyan stand der ganzen Geschichte seit je her kritisch gegenüber. Aber nach dem, was du Myroon und mir in der vorletzten Nacht erzählt hast, kann ich nicht mehr länger mit Gewissheit ausschließen, dass es sich dabei wirklich nur um ein fantastisches Märchen gehandelt haben sollte. Und ich bin fest davon überzeugt, dass du niemals irgendein dubioses Tier mit einem Malaren verwechselt würdest.“

„Es tut irrsinnig gut, das jetzt von dir zu hören, Vilthon. Aber warum hast du Myroon nicht gleich deine Meinung gesagt? Ich bin halb wahnsinnig geworden, als mir niemand Glauben schenken wollte. Erst nachdem du gegangen bist, hat Myroon zugegeben, dass er dir und nicht zuletzt auch sich selbst was vorgemacht hatte, als er die Existenz meines Malars verleugnete.“ bohrte ich nach.

Coatl nutzte die Unaufmerksamkeit der Zweibeiner, um sich unauffällig über das Leguanei herzumachen.
 

„Du warst völlig aufgelöst, Tilya. Ich wollte einfach verhindern, dass du dich immer weiter in diese Sache hineinsteigerst, und habe deshalb versucht, dir alles auszureden. Leider muss ich jetzt erkennen, dass ich damit genau das Gegenteil erreicht habe. Aber du hast unbedingt etwas Ruhe gebraucht, doch ich fürchte, die hättest du dir selbst dann nicht gegönnt, wenn Myroon sie dir gelassen hätte, nicht wahr?“
 

„Ich muss was unternehmen, Vilthon.“ wechselte ich schnell das Thema.

„Die Ausbildung bei Myroon breche ich ab. Er hat mir all das beigebracht, was ich von ihm lernen wollte. Und leider auch noch viel mehr. Nach allem, was jetzt passiert ist, kann ich einfach nicht mehr länger in diesem Haus bleiben, wie du sicher gut nachvollziehen kannst.“

Mein Freund nickte verständnisvoll. Ich räusperte mich verlegen.

Dann blickte ich dem Alwen fest in die Augen.

„Ich hoffe, dass du mir nun einen deiner berühmten guten Ratschläge geben kannst, Vilthon. Mein Malar schleicht jetzt nämlich irgendwo da draußen umher, und ich will mir gar nicht ausmalen, was er alles anrichten könnte. Was soll ich machen?“

Vilthon rückte mit seinem Stuhl näher an den gedeckten Tisch heran.

„Denkst du, du könntest mir genau beschreiben, was sich in dieser Nacht zugetragen hat, Kleines?“ fragte er mich vorsichtig

Ich nickte und berichtete ihm stockend von jener grauenhaften Begebenheit, das spätere Malheur mit dem Valdrobulartee geflissentlich auslassend.

Vilthon hörte konzentriert zu, und unterbrach mich nur, um hin und wieder einige Details zu erfragen.

Als ich wütend meine Erzählung mit Myroons Behauptung, eine überstürzte Suche nach dem Malaren sei ebenso sinnlos wie gefährlich, beendete, nickte Vilthon zustimmend.
 

„Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, Tilya, hat Myroon im Grunde Recht mit dem, was er sagt. Natürlich empfinde ich es als verantwortungslos, dir zu empfehlen, darauf zu hoffen, das sich das Problem von alleine löst. Wenn wir Pech haben, können wir sehr lange auf diesen Moment warten, vielleicht so lange, bis es zu spät ist, und eine entsetzliche Tragödie bereits ihren Lauf genommen hat. Aber andererseits kopflos durch die Weltgeschichte zu rennen, ohne einen Plan, ohne überhaupt eine triftige Spur zu verfolgen, ist nicht nur verdammt riskant, sondern zehrt auch unnötig an deinen Kräften.“

„Ich begreife das jetzt auch.“ gab ich zu. „Deshalb möchte ich ja nun mit dir gemeinsam überlegen, was ich tun kann. Ob mir womöglich dieser Studienkollege von dir weiterhelfen könnte, was denkst du?“

„Vor allem, mein liebes Kind, solltest du als Erstes deine Eltern einweihen, bevor du dich zu irgendeiner Handlung entschließt.“

Ich knirschte mit den Zähnen.

Dies würde sich wahrscheinlich als noch problematischer erweisen, als den Malar zu finden…

„Sie werden sicherlich versuchen, mich von jeglichen Vorhaben abzubringen, Vilthon. Es sei denn, sie nehmen mir die ganze Geschichte überhaupt ab.“

„Du bist ihre Tochter, Tilya. Es ist das gute Recht deiner Eltern, dich vor jedem potenziellen Unglück bewahren zu wollen. Aber wenn du es wünschst, werde ich dir gerne unterstützend zur Seite stehen, wenn du mit ihnen über diese Angelegenheit sprichst.“

Ich bedachte den Alwen mit einem Blick voller Dankbarkeit. „Gleich heute Nachmittag werde ich nach der Arbeit bei meinen Eltern vorbeischauen. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du auch kommen würdest.“
 

Vilthon lächelte stolz und wuschelte mir freundschaftlich durch das gefiederte Haar.

„Das kriegen wir schon hin, Kurze!“ versprach er mir aufmunternd. „Aber jetzt muss ich los, der Schlegel wartet auf mich. Pass gut auf dich auf und mach keinen Unsinn, verstanden? Grüß deine Mutter auf der Arbeit lieb von mir!“

„Warte Vilthon!“ schrie ich dem Alwen noch hinterher, der gerade die Haustür hinter sich schließen wollte. Mir war noch etwas Wichtiges eingefallen.

„Bitte halte doch die Augen und Ohren nach allem Ungewöhnlichen offen, ja? Falls irgendwo irgendetwas Seltsames vorgefallen ist, was man vielleicht mit dem Malar in Verbindung bringen könnte, sagst du mir dann Bescheid?“

Vilthon zwinkerte beruhigend in meine Richtung und nickte, hielt dann plötzlich inne und schien einen Moment lang zu überlegen.

„Ioxannah hat in dieser Nacht einen seltsamen Anfall erlitten. Der Dorfarzt musste mich wecken, um für sie Valdrobularrinde bei mir zu borgen. Bei euch im Haus der Gesundheit scheint seit gestern die Nachfrage nach Beruhigungstee enorm angestiegen zu sein, der Arzt fand alle Vorratsdosen leer vor. Wahrscheinlich hat meine Nachricht über das geheimnisvolle Untier die Dorfbewohner zu arg verschreckt.“

„Was war denn nun los mit Ioxannah?“ drängte ich ungeduldig.

„Kein Grund zur Aufregung, Tilya, ein Fehlalarm. Anscheinend hatte sie nur einen besonders heftigen Alptraum und ihr Freund hat etwas überreagiert, als er voreilig den Arzt verständigt hat. Nun ja. Von der plötzlichen Beunruhigung, die unsere erfundene Kreatur bei den Leuten hervorruft, profitieren natürlich auch indirekt ihre Malare, die nun ein leichteres Spiel in ihren Träumen haben.“

„Spinnendreck, auch das noch!“ fluchte ich verdrossen.

„Kleine, wenn wir die Leute warnen und zur Achtsamkeit aufrufen wollen, ist es eben unvermeidlich, das damit auch eine gewisse Besorgnis erregt wird. Das geht bald vorüber. Es hätte schlimmer kommen können.“ versuchte Vilthon mich zu besänftigen. „Wir sehen uns heute Nachmittag, dann reden wir weiter. Und erinnere deine Mutter daran, die Vorratsdosen aufzufüllen, ja?“

„Na gut. Bis später. Danke für das leckere Frühstück!“ rief ich dem Alwen noch nach, bevor dieser endgültig aus meinem Blickfeld verschwand.
 

Es würde jetzt wohl noch so einiges auf uns zukommen. Damit war zumindest zu rechnen.

Ich wartete noch geduldig, bis Coatl sich an dem Leguanei gesättigt hatte, dann räumte ich den Tisch ab und packte den fauchenden Gecko am Genick, um ihn aus Vilthons Wohnung zu tragen.

Behutsam setzte ich das zappelnde Tier auf der Löwenzahnwiese vor dem Haus ab, von wo aus es mit federnden Sprüngen zum Waldrand hüpfte.

Noch einmal kehrte ich zurück in Vilthons Küche, um aus meinem Rucksack einen Spinnwollschal herauszuholen, den ich mir um Hals und Schultern wickelte, sorgsam darauf bedacht, meine frischen Narben vollständig mit ihm abzudecken.

Dann machte ich mich tapfer auf den Weg zum Haus der Gesundheit, wo meine Mutter mich bereits erwartete.
 

„Hallo, Mama, ich bin wieder da!“ rief ich betont fröhlich in die Stube.

Doch das Ausbleiben einer Antwort verriet mir, dass meine Mutter sich im Moment nicht in der Nähe aufhalten konnte. Deren alwischen Ohren vernahmen nämlich ansonsten jedes noch so leise Geräusch, besonders, wenn es ihre ungeschickte Tochter verursachte.

Also nutze ich die Gunst der Stunde, um in aller Ruhe einen Blick auf die angeblich vollständig geplünderten Lagervorräte des Beruhigungstees zu werfen.
 

Nur einen Tag lang hatte ich im Haus der Gesundheit gefehlt, und in dieser Zeit hatten es die aufgebrachten Dorfbewohner doch tatsächlich geschafft, den gesamten Vorrat an Valdrobularrinde zu leeren, genau wie Vilthon es mir erzählt hatte.

Ungläubig den Kopf schüttelnd begutachtete ich die leeren Teedosen im Lagerraum, als die fröhlich klingende Stimme meiner Mutter die Stille durchbrach.

„Schätzchen! Da bist du ja wieder!“

Vor Überraschung glitt mir eine leere Teedose aus den Händen und zerschepperte auf dem Steinboden in tausend Scherben. Spinnendreck!

Meine Mutter, selbst schwer beladen mit einem großen Korb frischer Valdrobularrinde, verdrehte theatralisch die Augen. „Typisch, Tochter, Tilya Tollpatsch!“

Die schlanke, blonde Alwin, die ebenso klein und zierlich war wie ich, strahlte mich verschwörerisch aus ihren hellblauen Augen an und als sie ihre schmalen Lippen zu diesem frechen, unverwechselbar charmanten Grinsen verzog, bemerkte ich, wie verblüffend ähnlich wir uns manchmal sehen konnten.
 

Sie stellte den Korb mit der duftenden Baumrinde ab und musterte mich von oben bis unten.

„Ach, Tilya, bist du denn närrisch? Bei diesem herrlichen Wetter einen Schal zu tragen? Was soll denn das nun schon wieder? Hast du jetzt auch am Hals Echsenhaut? Lass mal sehen!“

„Nein!“

„Oder sind das etwa Knutschflecken, die du da vor mir verstecken willst?“

„Mama!“ rief ich, ehrlich entsetzt. Woran sie nur wieder dachte!

„Ach, Kindchen, du brauchst dich doch nicht zu genieren. Wer ist denn der Glückliche? Lass mich raten! Myroon!“

„Mama!!“ schrie ich abermals, diesmal deutlich schriller und mindestens eine Oktave höher. Auriannah lachte vergnügt, während sie mir half, die Scherben der Teedose zusammen zu fegen und sie auf das Kehrblech zu befördern.

„Wusste ich es doch! Schatz, das muss dir doch nicht peinlich sein, immerhin bist du alt genug, und wenn man dann noch bei einem der begehrtesten Junggesellen des Dorfes lebt, dann…“

„Mama, hör auf, ich muss gleich kotzen!“ brüllte ich ungehalten.

„Na gut, na gut, es geht mich nichts an, ich weiß!“ beschwichtigte Auriannah mich. „Wie geht es Myroon denn heute? Vilthon meinte, er hätte Glück gehabt, dass das Tier ihn nicht allzu schlimm erwischt hat. Schätzchen, dein Vater und ich haben uns sehr erschrocken, als wir von diesem Vorfall erfahren haben. Eigentlich wollten wir sofort zu euch, um nach dem Rechten zu sehen, aber Vilthon meinte, dein Lehrer bräuchte dringend Ruhe, und du würdest dich lobenswert um ihn kümmern. Hast du dieses seltsame Tier denn auch gesehen? Vilthon meinte, es hätte sich wahrscheinlich vom Kontinent auf die Insel verirrt.“

„Mama, ich kann auch nur das wiedergeben, was Vilthon gesagt hat.“ erklärte ich ausweichend.
 

Auriannah musterte mit ihrem klaren Blick kritisch mein bleiches Gesicht, als könne sie in ihm lesen, wie in einem Buch. „Du siehst krank aus, Kind. Sicher warst du die ganze Nacht wach und hast dich um Myroon gekümmert, richtig?“

„…Richtig!“ würgte ich hervor. Und wie ich mich um ihn gekümmert hatte…

„Ihr habt den gestrigen Gemeinderat versäumt.“ fuhr Auriannah fort. „Es wurde empfohlen, dass in nächster Zeit niemand alleine das Dorf verlassen sollte. Besondere Vorsicht ist an den Waldrändern geboten, wie sich von selbst versteht, und alle Arbeiten, denen außerhalb der Dorfgrenzen nachgegangen werden muss, sollten bevorzugt in kleinen Gruppen erledigt werden. Auch auf die nächtlichen Jagden der Verlieken wird fürs Erste verzichtet. Du kannst dir vorstellen, wie enttäuschend dieser Beschluss für deinen Vater war…“

Wir beiden alwischstämmigen Frauen verkniffen uns nun das gehässige Schmunzeln nicht.

„Schatz, du hast sicher schon bemerkt, dass die Leute jetzt ganz wild nach dem Beruhigungstee geworden sind. Kein Wunder, bei solchen Neuigkeiten. Also gibt es für uns heute einiges zu tun.“

Ich nickte. „Ach, Mama, darf ich mich für heute Nachmittag bei euch zum Essen einladen?“ fragte ich dann.

„Aber sicher! Wunderbar! Wir machen leckere Piragienomelettes für unser Töchterchen!“ freute sich die kleine Alwin.

„Darf ich Vilthon mitbringen?“ wollte ich wissen.

„Was für eine Frage! Gerne doch! Schöne Idee, Tilya, Vilthon kann etwas Gesellschaft gut gebrauchen. Seit ihm Calissa weggelaufen ist, sieht man ihn ja abends kaum noch auf dem Gemeindeplatz. Ständig verkriecht er sich hinter seinen seltsamen Experimenten. Aber wer kümmert sich jetzt eigentlich um Myroon? Oder braucht er keine Fürsorge mehr?“

Auriannah grinste breit, und durchbohrte mich forschend mit ihren Blicken.

„Dem geht es blendend. Er kommt sehr gut ohne meinen Beistand zurecht, Mama.“ gab ich steif zurück. Offensichtlich hatte meine Mutter irgendetwas vollkommen falsch verstanden.

„Na gut, mein Kind, wenn du irgendwann einmal mit mir ein Gespräch unter Frauen führen möchtest, dann sag einfach Bescheid, wenn du soweit bist; ich will dich jetzt weiter drängen…“

Entgeistert folgten meine Augen meiner Mutter, die unbeeindruckt von dem fassungslosen, wütenden Schnaufen ihrer Tochter, milde lächelnd begann, die frischen Rinden zu reinigen und zu schneiden.
 

Ich verzichtete darauf, Auriannah über meine verkrampfte, mittlerweile etwas entgleiste Beziehung zu Myroon, die immer noch keineswegs romantischer Natur war, aufzuklären.

Stattdessen setzte ich aus einem Teil der gereinigten Rindenstücke einige Perkolate an, um aus den gewonnenen Extrakten ergiebige Tinkturen herzustellen.

Bald verströmte der intensive Duft der Rinde jenes vertraute Aroma, das mich auf eine unangenehme Weise an Myroons körperliche Nähe erinnerte; und bald wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eine weitere eiskalte, lange Dusche und eine möglichst große Phiole konzentrierten Saponsiskrautsaftes.

Ich begrüßte die gelegentlichen scharfen Kommentare meiner Mutter, die mich stets penibel beim Arbeiten zu kontrollieren pflegte, und die jeden noch so kleinen Fehler mit einem warnenden Zischen quittierte.
 

Früher hatte meine Mutter mich mit ihrer pingeligen, übertrieben genauen Art oft zur Weißglut gebracht, aber inzwischen genoss ich die humorvolle Art, mit der Auriannah mich auf meine Fehler aufmerksam machte und gerade heute kam mir jede Ablenkung gelegen.

Plötzlich wurde die Tür zum Haus der Gesundheit aufgerissen und ein junger Mann kam zu uns herein getaumelt.

Jede Farbe wich aus Auriannahs Gesicht.

Sie konnte kein Blut sehen, und die linke Hand des zu ihr hin wankenden Alwen, triefte fürchterlich aus einer tiefen, hässlichen Wunde, die sich längs über den Daumenballen zog.
 

Geistesgegenwärtig stürmte ich dem Verletzen entgegen und hob seinen blutenden Arm in die Höhe.

„Wie ist das passiert, Xeroon?“ fragte ich den jungen Alwen entsetzt. Grauen erregende Gedanken an meinen Malaren, der sich blutrünstig auf die Dorfbewohner stürzte, schossen mir durch den Kopf.

„Welches Tier hat diese Wunde geschlagen?“

„So ein verdammtes Querkenkneifermännchen hat sich an unser Weibchen rangemacht…“ keuchte Xeroon mit schmerzverzerrtem Gesicht.

„Ich wollte den kleinen Racker wegscheuchen, und schwupp, - hatte ich seine Zangen in der Hand stecken. Verdammter Betoolenkleister!“

Erleichtert atmete ich auf.

Ich wies Xeroon an, sich auf einen Hocker zu setzen und verband die klaffende Wunde an seiner Hand notdürftig mit sauberen Leinentüchern, die wir für gewöhnlich zum Abseihen von diversen Lösungen verwendeten.

Dann bat ich meine erblasste Mutter, der immer noch leicht blümerant zu Mute zu sein schien, Gwenya herbei zu holen, die sich nebenan um drei wunderliche Senioren und ein aufgedrehtes vierjähriges Zwillingspaar kümmerte, während deren Familien mit ihren Arbeiten beschäftigt waren.

„Xeroon, unsere Gwenya bringt dich jetzt zum Dorfarzt, diese Wunde muss unbedingt genäht werden. Hier, nimm das Fläschchen mit dem Antiseptikum mit.“

„Danke, Drachenmädchen.“ hauchte der Alwe matt. „Gwenya begleitet mich also, aha. Dann hat mir der olle Querkenkneifer ja doch einen Gefallen getan, mit seinem schmerzhaften Biss. Wisst ihr, ich glaube, es geht mir jetzt schon viel besser!“

Grinsend legte der lange Xeroon seinen unversehrten Arm um die Schultern der kleinen, bildhübschen dunkelhäutigen Verliekin, die Auriannah eben aus dem Aufenthaltsraum ins Labor gerufen hatte.
 

Auriannah und ich sahen mit offenen Mündern dem ungleichen Paar nach, das leicht wankend das Haus der Gesundheit verließ.

Ich schielte zu meiner Mutter hinüber und wusste sehr genau, welcher Gedanke jetzt in ihrem Kopf herum spukte.

Und tatsächlich, schon seufzte Auriannah wehmütig und flüsterte: „Ach Schätzchen, wann werde ich endlich dich einmal Arm in Arm mit einem netten Jungen sehen?“

„In nächster Zeit wohl nicht…“ knurrte ich frostig, den Blick wieder starr zur Tür gerichtet, durch die Gwenya gerade noch mit Xeroon verschwunden war, als durch ihre milchigen Glasscheiben auch schon wieder die Umrisse zweier sich auf uns zu bewegender Gestalten zu erkennen waren.
 

Im ersten Augenblick vermutete ich, meine Kollegin und der bedauernswerte Patient seien zurückgekehrt, weil sie noch etwas im Labor vergessen hatten.

Als sich die Tür jedoch öffnete, erkannte ich Ioxannah, eine kleine, blasse Verliekin mit rotblondem Haar und lustigen Sommersprossen, die von ihrem langjährigen Freund Jarom, einem alwischen Fischer, in das Haus der Gesundheit geführt wurde.

Die junge Frau machte einen verwirrten, recht beunruhigten Eindruck, ihre Blicke irrten unsicher im Raum umher, während Jarom ernst und sehr müde hereinschaute.

„Guten Morgen, ihr beiden. Was können wir für euch tun, ist alles in Ordnung?“ erkundigte sich meine Mutter fürsorglich.

„Guten Morgen, Auriannah,…Tilya…äh, ich fürchte, ich benötige noch einmal eine ordentliche Portion von dem Beruhigungstee, den mir der Arzt gestern gegeben hat…Valdor…Bulbar…irgend so eine Rinde war das…“ stammelte Ioxannah nervös.

„Valdrobularrindentee.“ stellte ich fest.

„Ja, genau den meine ich.“ lächelte Ioxannah dankbar und strich sich fahrig ihre widerspenstigen Locken aus der Stirn. „Den brauche ich ganz dringend, sonst weiß ich nicht, wie ich den Tag überstehen soll.“

„Darf ich fragen, ob es einen Grund gibt, der dich glauben lässt, du würdest es ohne den Tee nicht aushalten?“ fragte ich betont nebensächlich, während ich gemächlich den frischen Tee in einen Papierbeutel abwog.

Ich erinnerte mich daran, was Vilthon mir über Ioxannahs vermeintlichen Anfall berichtet hatte und überwand tapfer meine Scheu vor längeren Unterhaltungen.

Ein seltsames Gefühl trieb mich dazu an, mehr über diese mysteriöse Angelegenheit in Erfahrung zu bringen.
 

Jarom antwortete für seine Freundin. „Sie hatte einen fürchterlichen Alptraum, der sie immer noch belastet. Wahrscheinlich hat sie einfach zu vielen Gerüchten über dieses seltsame fremde Tier Gehör geschenkt.“

„Jarom, bitte, mir ist das peinlich…“ jammerte Ioxannah, die sich sichtlich unwohl fühlte.

„Iox, das braucht es nicht. Nur sprechenden Leuten kann geholfen werden. Alte Menschenweisheit.“ versuchte ich die Verliekin aufzumuntern und nickte Jarom auffordernd zu.

„Ich bin von ihrem Schrei aufgewacht.“ sprach der Alwe plötzlich leise, mehr zu sich selbst. „Und da lag meine Iox neben mir im Bett, stocksteif, mit geballten Fäusten. Ihre Augen zwinkerten unentwegt. So als wären winzige Fremdkörper in sie eingedrungen, die Iox wieder heraus blinzeln wollte. Hinter ihren Pupillen schien es rötlich zu flackern. Vielleicht habe ich mir dies aber auch nur eingebildet, schließlich reflektieren die verliekischen Irisringe das Mondlicht oft in einer verwirrenden Art und Weise. Ich habe Iox gepackt und sie an den Schultern gerüttelt, aber sie hat nicht reagiert. Ich glaube, sie war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht richtig wach.“

Ich drückte Jarom die inzwischen abgefasste Teemischung in die Hand, wandte mich der Verliekin zu, ergriff sanft ihre Hände und sah ihr tief in die Augen.

„Ich weiß, es ist viel verlangt, und vielleicht kommt dir diese Frage sehr unverschämt vor, Ioxannah. Aber meinst du, du könntest mir verraten, wovon du geträumt hast?“ bat ich sie eindringlich.

„Was tut das schon zur Sache?“ verlangte Jarom zu wissen. „Darüber zu sprechen würde Iox doch nur noch mehr aufwühlen. Sie muss sich erholen. Ihr Talent ist in letzter Zeit ohnehin etwas angeschlagen.“

Ioxannah atmete tief durch.

„Ist schon in Ordnung, Liebling. Wir sind hier schließlich im Haus der Gesundheit. Wenn ich mich nicht einmal vor einer Person wie Tilya über meine Alpträume zu reden getraue, vor wem dann? Es würde mich vielleicht sogar erleichtern, wenn ich diese furchtbare Erfahrung mit jemandem teilen könnte.“

Vertrauensvoll wandte sich Ioxannah mir wieder zu.
 

„Es begann also damit, dass ich im Traum von einem Schwarm Riesenmoskitos verfolgt wurde. Ich hatte Angst und lief so schnell mich meine Füße trugen über die Felder. Mit einem Mal wurde es stockfinster und die Welt um mich verzerrte sich. Es war so seltsam…Plötzlich war mir, als läge ich in unserem Schlafraum und wäre gerade im Begriff, aufzuwachen. Kennst du dieses komische Gefühl?“

Ich nickte verständig.

Natürlich kannte ich dieses Gefühl.

Nur spielte mir meistens mein Malar einen bösen Streich damit, indem er mich in der Annahme ließ, mich wieder in der sicheren Realität zu wiegen, nur, um dann ein weiteres Mal unerwartet über mich her fallen zu können.

Ioxannah befeuchtete nervös ihre Lippen mit der Zunge, bevor sie weiter sprach.

„Und dann schob sich blitzschnell eine schreckliche Fratze vor mein Blickfeld.“

Die junge Verliekin verstummte und schloss kurz ihre hellgrünen Augen.

„Bitte, haltet mich nicht für verrückt, aber ich war mir in diesem Moment sicher, einen fremden Malar neben unserem Bett stehen zu sehen. Seine abscheulichen Augen starrten mich an, und da war etwas in seinem Blick, was mir eine unglaubliche Angst eingejagt hat. Ich habe geschrien.“

Ich schlug unwillkürlich die Hände vor den Mund.
 

Was hatte das nur zu bedeuten? „Und was geschah dann?“

Ioxannah zupfte gedankenverloren an ihren rotgoldenen Locken.

„Dann wurde es wieder stockfinster um mich herum und ich fand mich einige Augenblicke später in meinem Traum auf den Feldern wieder. Der Moskitoschwarm löste sich gerade in einer scharlachroten Rauchwolke auf. Als sich die Luft klärte, erkannte ich meinen Malaren, der zusammen mit meinem Totem auf einem hohen Hügel stand. Doch sie kämpften nicht miteinander, nein, sie schauten nur wie gebannt zum Himmel empor. Als ich ihren Blicken folgte, sah auch ich diese fremdartige dunkelrote Wolke, die mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit auf die beiden zugewälzt kam. Als sie den Hügel erreichte, schien ein Wirbelwind ihre Rauchpartikel auf die Erde zu ziehen, und aus dem Sog trat ein fremder Malar, und zwar derselbe, den ich kurz zuvor über unserem Bett gesehen hatte.“

„Wie bitte?!“ rief ich ungehalten.

Konnte es denn möglich sein?

Jarom trat hinter seine Freundin und bedachte mich mit einem entrüsteten Blick. Verschämt suchte Ioxannah Halt an seinem starken Arm.

„Nein, nein!“ beeilte ich mich zu erklären, die ich mir jetzt vorstellen konnte, welchen falschen Eindruck meine heftige Reaktion auf Ioxannahs Bericht hinterlassen haben musste. „Ich wollte damit keine Geringschätzung ausdrücken, Iox! Das stünde doch gerade mir am allerwenigsten zu, oder?“

Skeptisch betrachtete Ioxannah mich von oben bis unten und fragte sich wohl gerade, ob sie meinen Worten Glauben schenken sollte oder ob sie in ihrer naiven Offenheit mir gegenüber nicht doch zu viel von sich preisgegeben hatte.

„Mich hat nur die gespenstische Eigenartigkeit deines Traumes schockiert.“ fügte ich ernst hinzu.

Das vergrämte Gesicht der Verliekin entspannte sich.

„Schon gut, Tilya. Aber wenn du mich jetzt tatsächlich noch nicht für übergeschnappt hältst, wirst du es gleich tun, wenn du hörst, wie der Traum endete.“

Ich schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht!“

„Das brauchst du ihr doch nicht zu erzählen, Liebling.“ raunte Jarom seiner Freundin zu, aber mein ehrlicher, aufrichtig interessierter Blick überzeugte Ioxannah anscheinend und leise vertraute sie mir und Auriannah den Rest der Geschichte an.
 

„Der fremde Malar sprach zuerst ganz gesittet mit meinem Malaren, dann aber sprang er ganz plötzlich auf das Totem zu, welches die ganze Zeit über friedfertig neben den beiden Ungeheuern ausgeharrt hatte. Doch mein Malar riss den Fremden von ihm zurück, ungestüm brüllten sie einander an. Dann rief mein Malar dem Totem etwas zu, in einer fremd klingenden Sprache, worauf es den Eindringling endlich mit seinem Talent attackierte. Während die beiden miteinander kämpften, rannte mein Malar den Hügel hinab, durch die Felder, auf mich zu. Ich hatte keine Angst. Er kam immer näher, wurde aber dabei immer langsamer und schwerfälliger. Bei seinen letzten Schritten zu mir hin zitterten seine Beine wie die einer neugeborenen Zaronne und er keuchte ganz schrecklich, als quälten ihn heftige Schmerzen. Ich hatte Mitleid mit ihm. Als er mir gegenüber stand, sah ich hinter seinen Schultern, wie der fremde Malar auf dem Hügel sich unter den Angriffen meines Totems in rotem Rauch auflöste. Mein Malar versicherte mir, ich bräuchte mir keine Sorgen machen, denn er würde sich schon darum kümmern, dass mir und meinem Totem niemals etwas zustieße. Er fasste mich bei den Schultern, sah mir in die Augen und meinte, ich sollte jetzt besser aufwachen, bevor doch noch ein Unglück geschähe. Ich sah noch eine rote Wolke auf uns zurasen, dann wachte ich tatsächlich auf.“

Ich hatte mit angehaltenem Atem zugehört.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Mein Malar konnte also offensichtlich in fremde Träume einbrechen.

Was hatte er nur für Pläne?

Ich schüttelte mich, schluckte schwer und fragte Ioxannah dann mit belegter Stimme, ob sie irgendetwas von dem Gespräch der beiden Malare verstanden hatte.

Ioxannah verneinte zunächst. „Die zwei standen ziemlich weit entfernt von mir. Erst als die beiden sich lautstark zu streiten anfingen, konnte ich einige Worte aufschnappen. Mein Malar hat den Fremden als entartet und vollkommen wahnsinnig bezeichnet. Er würde gar nicht daran denken, es ihm nachzutun und mein Totem auszulöschen, brüllte er. Kein Malar würde leichtfertig seine Jagdgründe verlassen oder gar sein Revier mit einem Rivalen teilen.“

Ioxannah lächelte mich unsicher an. „Und? Du bist die Expertin für schlimme Träume, heißt es doch. Sind dir schon jemals gleich zwei leibhaftige Malare auf einmal begegnet, Tilya?“

Ich schüttelte grinsend den Kopf. „Das vielleicht nicht, Iox. Aber meine Träume sind dennoch kaum an Obskurität zu überbieten, so dass ich häufig an meinem Verstand zweifeln musste. Ich bin mir sicher, Ioxannah, dass in der letzten Nacht der Kreislauf der Macht wieder geschlossen wurde, und dein Totem schon bald wieder seine volle Kraft ausüben kann. Glaub mir, deine schwache Phase geht jetzt ganz schnell wieder vorüber, wenn du nur optimistisch und beherzt bleibst. “

„Meinst du?“ fragte Ioxannah mich hoffnungsvoll.

„Ja.“ antwortete ich aufrichtig überzeugt.

Zwar hatte mich die Geschichte, die sie uns gerade erzählt hatte, nur noch mehr verwirrt, aber zumindest in dieser Hinsicht war ich mir sicher.

Ich verschwieg Ioxannah aber meine dunkle Ahnung, dass der übliche zyklische Wechsel der Machtverhältnisse zwischen dem Malar und dem Totem dieses Mal nicht natürlichen Ursprungs war, sondern deshalb hervorgerufen wurde, weil Ioxannahs Malar gegen die größenwahnsinnigen Revolutionspläne eines unverhofften Kontrahenten verhindern musste.

Wobei es sich um niemand geringeren als meinen gestörten, gemeingefährlichen Malaren handelte.
 

Bei Ioxannah war er gestern also gescheitert.

Aber würde er es erneut bei ihr versuchen?

Oder hatte er nun vor, in den Träumen anderer Alwen, Alverlieken und Verlieken einzubrechen, bis er irgendwann auf einen Malar der gleichen abnormen Gesinnung stoßen würde?
 

Ich wagte nicht, mir auszumalen, was geschähe, wenn weitere Malare auf freien Fuß kämen, die gemeinsam ein Totem nach dem anderen mordeten, bis jede alwische und verliekische Begabung irgendwann zu einer verstaubten Erinnerung verblassen würden.

Oder schmiedete mein Malar bereits ganz andere Pläne?

Ioxannah umarmte mich herzlich.

„Danke für das Zuhören und den Zuspruch, Tilya.“ flüsterte sie. „Es hat mir gut getan, mir dieses erschreckende Erlebnis von der Seele zu reden. Beinahe hätte ich geglaubt, du würdest mich auslachen.“

„Würde ich niemals tun, Iox.“ erwiderte ich etwas abwesend, mit den Gedanken immer noch bei meinem Malar.

„So, wir machen uns jetzt auf den Weg zur Arbeit.“ verkündete Jarom. „Wir danken euch für den Tee und für die Zeit, die ihr euch für uns genommen habt.“

„Natürlich, Jarom.“ antwortete meine Mutter unsicher. „Aber sollte sich Ioxannah nicht lieber noch etwas schonen?“

„Nicht doch, etwas Ablenkung ist jetzt genau das Richtige für mich.“ antwortete die Alverliekin lächelnd für ihren Freund.

Die beiden verabschiedeten sich freundlich, bevor sie sichtlich erleichtert das Haus der Gesundheit verließen.
 

Als sich die Tür hinter dem jungen Paar schloss, strahlte Auriannah mich voller Stolz an.

„Das hast du schön hingekriegt, Tilya. Du hast anscheinend genau die richtigen Worte gefunden, um die beiden zu beruhigen. Ich weiß wirklich nicht, ob mir das so ohne weiteres gelungen wäre.“

„Meinst du, Mama?“ fragte ich sie zweifelnd.

„Aber sicher, Schätzchen. Abgesehen davon, dass du dir merken solltest, dass der Ton die Musik macht, warst du sehr einfühlsam und hast Ioxannah ganz wunderbar Mut zugesprochen und ihr die Furcht genommen. Genau das ist es, was sie jetzt gebraucht hat. Aber wie geht es dir eigentlich, Tilya? Bereitet dein eigener Malar dir im Moment auch größeren Kummer als sonst?“

Mein Magen krampfte sich unangenehm zusammen.

„Mama, lass uns doch heute Mittag darüber reden.“ bat ich meine Mutter.

„Aber Vilthon kommt doch auch zum Essen, oder nicht?“ fragte Auriannah erstaunt.

„Na und? Ich habe doch keine Geheimnisse vor ihm.“ entgegnete ich grinsend.

Tilyas Mutter stutzte. „Du vertraust Vilthon völlig, habe ich Recht?“

Ich nickte stumm. Ich war so froh, dass ich ihn hatte. Ohne ihn hätte ich schon so manches Mal nicht mehr weiter gewusst.

„Ihr steht euch also sehr nahe. Weiß er besser über deine Sorgen und Ängste Bescheid als wir?“ fragte Auriannah mit einem gekränkten Unterton in ihrer Stimme.

„Mama, die Bande unter Familienmitgliedern sind eben etwas anders gestrickt als liebevolle Beziehungen zwischen Personen, die nicht dasselbe Blut verbindet.“ versuchte ich meiner Mutter zu erklären. „Vilthon kann ich alles erzählen, ohne Angst haben zu müssen, seinen Erwartungen nicht gerecht zu werden oder ihn zu enttäuschen. Und er setzt ganz andere Prioritäten als ihr, wenn er mir Ratschläge gibt. Verstehst du, was ich meine?“
 

Auriannah seufzte. „Ja, Liebes, ungefähr. Damals ging es mir ja ähnlich mit meinen Eltern und deinem Vater. Beide Seiten wollten immer nur das Beste für mich, und doch waren ihre Meinungen, was dies betraf, vollkommen unterschiedlich. Meine Eltern rieten mir anfänglich davon ab, einen Verlieken zu heiraten, weil sie wussten, dass unsere Kinder viele Probleme mit in die Wiege gelegt bekommen würden, und vor allem niemals selbst das Glück erfahren dürften, eigene Kinder zu bekommen.“

Ich lächelte bitter.

Mit diesem Schicksal mussten sich alle Alverlieken wohl oder übel abfinden.

„Aber dein Vater, Liebes, kämpfte um mich und gegen die Bedenken meiner Eltern. Er wollte unbedingt mit mir zusammen sein und eine Familie mit mir gründen, obwohl er wusste, welche Schwierigkeiten alverliekische Paare oft mit ihren Kindern durchzustehen hatten. Außerdem entwickeln sich häufig Spannungen in gemischten Ehen, jeder kennt schließlich die vielen feinen Eigenarten der beiden Völker, die unser Zusammenleben so abwechslungsreich gestalten. Chareleo aber war fest davon überzeugt, dass wir gemeinsam alles schaffen könnten. Und nun kann jeder das Ergebnis unserer Liebe und unseren Mutes bestaunen, denn wir haben zusammen ein wunderbares, außergewöhnliches Kind großgezogen, auf das wir sehr stolz sein können.“

„Warum solltet ihr denn stolz auf mich sein?“ fragte ich, ernsthaft an einer Antwort interessiert.

„Schatz, ich weiß, dein Vater macht oft ungeschickte, taktlose Bemerkungen über deine fehlende Begabung. Aber du ahnst nicht, wie oft er mir gesagt hat, wie sehr ihn deine Zielstrebigkeit beeindruckt, mit der du deinen Zukunftsplänen nachgehst, und wie sehr er deinen Fleiß bewundert, den du damals bei der Lehre unter Vilthon unter Beweis gestellt hast.“

„Stimmt das wirklich, Mama?“ fragte ich ungläubig.

„Glaube mir, Tilya. Nicht nur deine Familie, auch die Dorfgemeinschaft schätzt dich für deine Hilfsbereitschaft und deine Hartnäckigkeit, verlorenes Talent hin oder her. Dein Wesen ist es doch, was letzten Endes wirklich zählt, und ich finde, dass deine Eltern mit deiner Erziehung doch ganze Arbeit geleistet haben.“
 

Mir traten Tränen der Rührung in die Augen, und ich nahm meine Mutter in den Arm und drückte sie fest.

„Tut gut, zu wissen, dass ihr beide hinter mir steht.“ flüsterte ich meiner Mutter ins spitze Alwenohr.
 


 

Es duftete nach deftigen Piragienomelettes, als Chareleo gut gelaunt nach Hause kam und erst von seiner Frau und dann von seiner Tochter begrüßt wurde.

Ich fiel meinem Vater überschwänglich um den Hals, und die herzliche Umarmung tat uns beiden wohl.

„Hallo, mein Schätzchen! Schön, dass du mal wieder hier bei uns bist, wir hatten Sehnsucht nach dir. Wie geht es dir, was macht die Ausbildung?“

Bevor ich mich um eine Antwort drücken konnte, fiel meinem Vater der dicke Schal auf, den ich trug, und gab ihm Gelegenheit, sich wieder einmal über meinen unangemessenen Kleidungsstil auszulassen.

Ich grinste innerlich, während ich die Vorhaltungen meines Vaters über mich ergehen lies.

Auriannah rügte ihren Mann. „Schatz, jetzt ist unsere Tochter endlich mal wieder hier, und du hast nichts Besseres zu tun, als über ihre Kleidung zu schimpfen?“

„Aber das sieht doch entsetzlich aus, das Kind zieht sich ja an wie deine Mutter!“ brüskierte sich mein Vater.

„Chareleo!“ rief Auriannah empört, und der Verliek blinzelte mich amüsiert aus den Augenwinkeln an.
 

„Ich habe Myroon in der Zwirnstube gesehen, Tilya.“ lenkte er geschickt das Thema in eine andere Richtung.

„Er macht ja schon wieder einen kerngesunden Eindruck, so wie er da mit den Mädchen herum gescherzt hat. So schlimm scheint es ihn also nicht getroffen zu haben. Glück hat er gehabt, nicht wahr? Aber ich würde zu gerne Jagd auf dieses seltsame Tier machen, von dem er gebissen wurde. Schließlich könnte es kleinen Kindern irgendwann gefährlich werden. Man munkelt, die Menschen hätten dieses Vieh heimlich auf die Insel gebracht.“

Ich verschluckte mich an meinem Honigfruchtnektar und hustete furchtbar.

Gab es an diesem Tag für die Leute denn keine anderen Gesprächsthemen als Myroon und dieses Tier, welches eigentlich mein Malar war?

Mein Vater klopfte mir besorgt auf den Rücken. „Alles in Ordnung, Töchterchen? Mir fällt gerade auf, wie blass du heute wieder bist.“

„Ja, Papa, das wurde mir jetzt schon öfter gesagt!“ krächzte ich röchelnd.

„Du solltest wirklich noch einmal versuchen, gelegentlich etwas Fleisch zu verzehren, Kind.“ schlug Chareleo vor.

„Vertrage ich nicht, und damit basta!“ motzte ich genervt.

Der Verzehr von Fleisch empfahl sich bei den meisten Alverlieken nicht besonders, genauso wie bei ihrem jeweiligen alwischen Elternteil.

„Wo bleibt Vilthon eigentlich?“ ärgerte sich Auriannah. „Die Omeletten sind schon fertig.“
 

Ich nahm mir dies zum Anlass, mich vom gedeckten Tisch zu erheben und aus dem Fenster zu spähen.

Und tatsächlich, da kam er endlich zügigen Schrittes über die Hauptstraße geschlendert.

Erleichtert eilte ich zur Haustür, um meinem Freund zu öffnen.

„Na, Kleines, schon da?“ begrüßte Vilthon mich fröhlich und tippte mir auf die Nasenspitze.

„Schon da ist gut, wir warten nur auf dich! Mama schwingt schon den Kochlöffel, denn die Omelette werden kalt.“

Grinsend schob sich Vilthon an mir vorbei durch den Flur, um erst Auriannah, dann Chareleo herzlich zu begrüßen.

Dann ließen wir vier uns die leckeren Piragieneierkuchen schmecken und plauderten zunächst über belanglose Dinge, bis Vilthon mich ernst über den Tisch hinweg anblickte und mich fragte, ob ich meinen Eltern nicht endlich den wahren Grund unseres Besuches mitteilen wollte.
 

Ich spürte die überraschten Blicke meiner Eltern auf mir.

„Ihr wollt doch nicht etwa heiraten?“ brummte mein Vater unwirsch in die Stille.

Ich sank in mir zusammen und vergrub mein Gesicht in den Armen. „Wie, zum Donnerwetter kommt ihr denn wieder auf so einen…“ begann ich zu fluchen, gab es dann aber auf, meinem Unmut Luft machen zu wollen.

Ich rieb mir die Augen, biss die Zähne zusammen, und versuchte Vilthons hochroten Kopf zu ignorieren, als ich um meine Fassung rang.

„Nein, es handelt sich um etwas weitaus unangenehmeres als um eine Hochzeit. Es geht um meinen Malar.“

Ich sah zu Vilthon hinüber, der mir aufmunternd, aber immer noch in einer ungesunden Farbe glühend, zulächelte.

„Ich will es kurz machen. Mein Malar hat sich aus meinen Träumen befreit. Er existiert jetzt körperlich in dieser Welt. Und bei dem berüchtigten fremden Tier, das vorletzte Nacht in Myroons Baumhaus gewütet hat, handelt es sich wahrhaftig um niemand geringeren als um ihn. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er auch Ioxannah begegnet, insofern er denn nun tatsächlich in fremde Träume einbrechen kann. Nun ist er mit Sicherheit auf der Suche nach neuen Opfern.“
 

Ein unangenehmes Schweigen drückte die Stimmung um den Tisch.

„Das ist jetzt doch ein schlechter Witz.“ versuchte Chareleo die Stille zu unterbrechen. „Nun sagt schon endlich, wann geheiratet werden soll.“

„Gar nicht, mein Freund.“ antwortete ihm Vilthon matt. „Eure Tochter scherzt nicht. Ich habe die Geschichte über das fremde Tier in Umlauf gebracht, um die Bevölkerung vor eventuellen Risiken zu warnen, ohne dabei Tilya den Vorwürfen und dem Misstrauen der Leute auszusetzen. Außerdem fördert die Panik, die die Verbreitung der Wahrheit auslösen würde, die Situation gewiss nicht. Ganz im Gegenteil. Der einzige, der außer uns die wahren Umstände kennt, ist Myroon. Er hat den Malaren gesehen, als er Tilya gebissen hat, ich habe eben noch mit ihm unter vier Augen über die ganze Angelegenheit gesprochen.“ wandte sich der Alwe in seinen letzten Worten mir zu.

Ich benetzte nervös meine Zähne mit der Zunge.

Hoffentlich hatten die beiden Männer keine private Information zu viel ausgetauscht.

Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her.

Mein Vater blickte starr vor sich auf den Tisch.

„Wie? Du wurdest auch gebissen, Tilya?“ rief meine Mutter erschrocken. „Wo? Wie schlimm ist es? Warum hast du uns das nicht sofort erzählt?“

Ich schwieg.

Dann zog ich wortlos meinen Schal beiseite.

Meine Eltern keuchten entsetzt, als sie die tiefen Narben sahen, die der gewaltige Kiefer auf meiner Haut hinterlassen hatte.

„Das darf nicht wahr sein.“ entfuhr es dem bestürzten Chareleo.

Nur Vilthon gab sich hoch erfreut, als er feststellen konnte, wie fantastisch die Wunde doch verheilt war, bevor meine Eltern ihn mit ihren fassungslosen Blicken aufspießten.

Dann musste der Alwe meinen Eltern schonend beibringen, dass Myroon niemals den Fängen des Malars zum Opfer gefallen war, und aus welchen Gründen ihnen zunächst die wahren Begebenheiten jener Nacht vorenthalten worden waren.
 

„Aber wie konnte das alles nur passieren?“ flüsterte Auriannah bestürzt.

Chareleo vergrub seine Stirn in seinen Händen.

Was sollte ich ihr jetzt antworten?

Ich wusste es doch selbst nicht! Bevor ich meiner Mutter antworten musste, forderte Vilthon mich auf, ihm rasch noch zu erzählen, was es mit Ioxannahs Geschichte auf sich hätte.
 

Ich berichtete dem Alwen ausführlich von dem Traum der Verliekin, in den mein Malar offensichtlich eingedrungen war und erläuterte anschließend meinen Verdacht, dass er versucht haben musste, Ioxannahs Totem in gemeinsamer Arbeit mit ihrem eigenen Malaren zu überwältigen.

„Glücklicherweise scheinen nicht alle Malare so gemeingefährlich zu sein wie meiner, sonst hätte Iox gestern dasselbe durchmachen müssen, wie ich vor zwanzig Jahren.“
 

Auriannah musterte mich, während ich erzählte, mit wachsender Beunruhigung.

Als ich mit meiner Erzählung endete, lehnte sich Vilthon kopfschüttelnd in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände auf der Tischkante.

„Nicht zu fassen. Der Arzt, dem ich die Valdrobularrinde für Ioxannah mitgegeben habe, berichtete mir später, weder irgendwelche Verletzungen noch Symptome einer Krankheit bei dem Mädchen festgestellt zu haben. Wir beide waren überzeugt davon, dass sie einfach von einem besonders bösen Alptraum gepeinigt worden war. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich mir noch gar nichts dabei, niemals hätte ich es in Betracht gezogen, dass dein Malar irgendetwas damit zu tun haben könnte, Tilya.“

„Das wächst mir langsam alles über den Kopf.“ stöhnte Chareleo überfordert. „Unglaublich. Unfassbar. Ein Alptraum. Wäre es doch nur einer. Warum habt ihr euch nicht dazu entschlossen, uns zusammen mit all den anderen Insulanern einfach in dem Glauben zu lassen, ein fremdartiges Tier hätte die Insel heimgesucht?“ fragte er mit rauer Stimme.

„Weil ich denke, dass eure Tochter ihren Eltern die Wahrheit erzählen sollte, warum sie nun das Dorf für einige Zeit mit mir verlassen wird.“ antwortete Vilthon sanft und erntete meinen überraschten, aber dankbaren Blick, als ich begriff, was mein bester Freund mit mir vorhatte.
 

„Du willst weg? Wohin denn? Und warum?“ fragte mich Auriannah aufgeregt.

„Wir werden einen Spezialisten aufsuchen, der sich sehr gut mit Malaren auskennen soll und mich beraten könnte. Er ist ein alter Mitlehrling von Vilthon und wohnt im Gebirge am großen Nadelwald. Ihr versteht doch sicher, dass ich nicht einfach untätig hier herum hocken kann, um abzuwarten, was der Malar wohl als Nächstes anrichtet. Ich muss herausfinden, welche Möglichkeiten ich habe, um die Leute vor ihm zu schützen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, es ist meine Pflicht den Insulanern gegenüber. Ich darf den ihn nicht aus den Augen verlieren, und muss versuchen, seine Spuren zu verfolgen und ihm irgendwie auf den Fersen zu bleiben. Deshalb bitte ich euch, mich zu unterstützen und mir während meiner Abwesenheit alle relevanten Informationen über außergewöhnliche Vorkommnisse über die Briefraben zukommen lasst. Tut ihr das für mich?“

Chareleo schüttelte unwillig den Kopf. „Kind, was verlangst du von uns? Unseren Zuspruch und unsere Befürwortung für dieses halsbrecherische Unterfangen? Wir werden dich zwar nicht hier anketten können, aber erwartest du allen Ernstes von uns, dass wir es gutheißen, wenn unser einziges Kind sich ohne Sinn und Verstand einem solchen Risiko aussetzt? Malare stecken voller dunkler Geheimnisse, und wer kann dir mit Sicherheit sagen, was in einer Situation wie dieser zu tun ist? Niemand kann wissen, was dieses Ungeheuer vorhat, was es will, wozu es imstande ist. Und du willst dich einfach planlos über die ganze Insel schlagen, ohne zu wissen, wie du dich gegen dieses Monster verteidigen könntest, wenn es dich erneut angreift? Vilthon, hast du ihr etwa diese Flausen in den Kopf gesetzt?“

„Hat er nicht, Papa.“ verteidigte ich trotzig meinen alwischen Freund. „Ich habe außerdem überhaupt nicht vor, kopflos nach dem Malar zu suchen und mit ihm zu kämpfen, so wie du es gerade darstellst. Zunächst wollen wir einfach nur Greyans Rat einholen. Dieser Mann ist momentan meine einzige Chance, alles über Malare zu erfahren, was es bisher zu wissen gibt. Vielleicht willigt er sogar ein, uns später auf unserer Suche zu begleiten. Außerdem, Papa, glaube ich gar nicht, dass der Malar mir noch weiter schaden will. Er hat mich verlassen, weil ich ihm nicht mehr geben konnte, was er braucht. Ja, dabei hat er mich sehr heftig verletzt, aber hätte er mich wirklich töten wollen, hätte er vorletzte Nacht die Gelegenheit dazu gehabt. Und nicht zuletzt ist zu erwähnen, dass sich Malare von der Angst ernähren, und nicht von Fleisch.“
 

Meine Eltern sahen einander zweifelnd an.

„Vilthon.“ wandte sich Chareleo nun mit gequältem Blick an seinen Freund. „Du hast keine Kinder. Du kannst nicht verstehen, was es für uns bedeutet, unser eigen Fleisch und Blut gehen zu lassen, und nicht zu wissen, ob wir sie wieder sehen werden.“

„Nein, Chareleo, ich kann die wahren Ausmaße der Schwermut, die Tilya mit ihrem Aufbruch bei euch hinterlassen wird, tatsächlich nur erahnen. Aber ich liebe eure Tochter, als wäre sie Teil meiner eigenen Familie, und ich würde sie ebenfalls mit allen Mitteln dazu bewegen wollen, im Hügeldorf zu bleiben, wenn ich nicht genau wüsste, mit welchen Konsequenzen Tilya fertig werden müsste. Ihr kennt eure Tochter. Die Gedanken an den Malaren würden sie niemals loslassen. Jeder Genuss, jede Freude, jeder Spaß, den sie haben könnte, würde ihr von ihrem schlechten Gewissen verdorben werden. Ständig würden sie die grausamen Fragen quälen, wem ihr Malar wohl bisher geschadet hat, und was für Untaten er bloß als nächstes begehen wird. Ich kann eure Besorgnis sehr gut nachvollziehen, meine Freunde. Aber ich bitte euch, entlastet Tilya, wenn sie sich mit mir aufmacht, zumindest von eurem Groll und gebt ihr ein gutes Gefühl mit auf ihre Reise.“
 

Mein Vater schloss die Augen und um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch. „Soll ich jetzt bedauern, eine so mutige Tochter zu haben, deren Verantwortungsgefühl größer ist, als ihre Furcht?“ fragte er laut in die Stille hinein und versuchte, tapfer zu lächeln.

Ich sprang vom Stuhl auf und nahm meinen Papa in den Arm.

„Wir können stolz auf dich sein, Kleines.“ flüsterte Chareleo mir zu.

Meine Mama lächelte mit Tränen in den Augen und erhob sich ebenfalls, um uns innig an ihr Herz zu drücken.

„Es wird uns zwar sehr schwer fallen, mein Schatz, aber wir werden dich nicht aufhalten. Wir wollen nicht, dass du irgendwann einmal an deinen Schuldgefühlen zerbrichst. Ich muss gestehen, es ist nicht leicht, zu akzeptieren, dass die einzige Tochter nun ihre eigenen Wege geht. Vor allem, wenn diese Wege unvorhersehbare Gefahren bergen. Denn obwohl du jetzt eine junge Frau bist, die selbstständig ihre Entscheidungen treffen kann, wirst du für immer unser kleines Mädchen bleiben. Wir wollen nur, dass du glücklich wirst, Tilya“

„Mir wäre es wahrscheinlich trotzdem lieber gewesen, wenn ihr uns erklärt hättet, dass ihr heiraten wollt.“ versuchte Chareleo diesen ergreifenden Moment mit seinem verliekischen Humor zu entschärfen, wobei er Vilthon mit einem neckischen Blick bedachte. „Ich bin froh, dass du sie begleitest, alter Freund. Wir wünschen euch viel Glück auf eurer Reise. Pass gut auf unsere Tochter auf.“ Vilthon versprach es fest.
 

Ich löste mich aus den Armen meiner Eltern. Mir war ein Stein vom Herzen gefallen.

„Macht euch keine Sorgen. Es ist ja nicht so, als wollte ich einem Kronennebeldrachen seine Brut stehlen. Ich wollte schon immer mal mit Vilthon über die Insel wandern. Und mit euch bleiben wir im engen Briefkontakt, das verspreche ich. Informiert uns bitte über alle Auffälligkeiten, die euch zu Augen oder zu Ohren kommen. Jeder Tipp kann uns später weiterhelfen. Es wäre mir lieb, wenn ihr solange Myroon im Auge behalten könntet. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass er im Suff über meinen Malaren plaudern würde, aber bei ihm kann man kann sich ja nie wirklich sicher sein. Wann brechen wir auf, Vilthon?“

Mich packte das Reisefieber.

In meinen Gliedern begann es zu kribbeln.

Am liebsten wäre ich sofort los gezogen.

Übermütig nestelte ich an Vilthons Kleidung herum.

„Am besten gleich morgen früh, Mädchen. Je eher wir bei Greyan sind, desto früher können wir uns auf die eigentliche Suche nach dem Malaren machen. Wenn wir Glück haben, stoßen wir auf dem Weg zu ihm auf weitere Spuren oder Hinweise, die uns nützen.“

„Gib gut auf unser Schätzchen Acht, Vilthon!“ bat Auriannah ihn noch, bevor Vilthon und ich uns mit einer letzten, innigen Umarmung, vielen Küsschen und lieben Worten von meinen Eltern verabschiedeten.

Auf dem Weg zu Vilthons Heim ließ ich vorerst ein letztes Mal den Anblick der Wege und der Felder, der Häuser und der vertrauten Gesichter des Hügeldorfes auf mich wirken.

Trotz meines Fernwehs verspürte ich nun jetzt schon ein gewisses Heimweh. Und die furchtbare Ungewissheit machte mir zu schaffen. Was würde nun werden?

Vilthon, der ahnte, was in mir vorging, legte fest seinen Arm um meine Schultern.

„Wir schaffen das, Liebes!“ versprach er mir. „Wir lassen nichts unversucht, egal, wie aussichtslos es scheint. Einverstanden?“

„Einverstanden.“ bestätigte ich dankbar, und schätzte mich sehr glücklich, mit diesem wunderbaren Mann befreundet sein zu dürfen.

Die Reise beginnt - Tag 1

Ich erwachte aus meinem Schlaf und konnte mich zunächst kaum orientieren, bis ich mein altes Gästezimmer um mich herum erkannte, das Vilthon mir gestern Nacht genauso gemütlich hergerichtet hatte wie er es noch vor einigen Jahren gemeinsam mit seiner Frau für mich getan hatte.

Es war noch sehr dunkel an diesem frühen Morgen, doch ein sachtes, aber ungeduldiges Trommeln an der Zimmertür verriet mir, dass Vilthon bereits im Flur stand und mich anscheinend schon seit einiger Zeit diskret zu wecken versuchte.

„Ich mach mich fertig, Vilthon!“ rief ich, und wurde mit einem Schlag putzmunter.

„In Ordnung, lass dir nur Zeit, es ist noch sehr früh!“ kam es dumpf hinter der schweren Holztür hervor.

Ich zog mir blitzschnell einen weiten Kittel über und rannte hinauf in Vilthons Badezimmer, um mich ausgiebig zu duschen.

Dann kämmte ich mir die Federn und putzte mir die Zähne.

Für ein Mädchen hatte ich auffallend große verliekische Eckzähne, wofür ich mich etwas genierte.

Dieser Umstand war jedoch nicht der eigentliche Grund dafür, warum man mich so selten lächeln sah.

Nun aber hatte sich einiges in meinem Leben geändert.

Ich hatte zwar etwas Angst vor dem, was kommen würde, aber ich hatte auch neuen Mut gefasst und war fest entschlossen, alle Hindernisse, die sich mir bieten würden, zu überwinden.
 

Als ich mit frischer Kleidung in die Küche kam, hatte Vilthon schon im warmen Schein einiger Kerzen ein leckeres Frühstück auf den Tisch gezaubert und begrüßte mich mit funkelnden Augen.

„Guten Morgen, Liebes! Weißt du, dass du mit den nassen Federn genauso aussiehst wie früher, als du gerade bei mir zu lernen angefangen hast?“

Ich grinste verschmitzt. „Das fasse ich als Kompliment auf, klar? Vilthon, kann es sein, dass es hier himmlisch nach Salbeitee duftet?“

Der Alwe nickte und drückte mir lächelnd eine warme Tasse mit dem wohlriechenden Gebräu in die Hand.
 

Sein entspanntes, strahlendes Gesicht im flackernden Kerzenschein, der betörende Geruch des Kräutertees und das intensive dunkelblaue Leuchten des neu geborenen Tages, das durch die Fensterscheiben schimmerte, versetzte mich in eine feierliche Stimmung und ich genoss einen kleinen Schluck des dampfenden Aufgusses mit seinem milden, leicht seifigen Geschmack, der meinen trockenen Hals angenehm befeuchtete und meinen Körper mit Wärme erfüllte.
 

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Nach dem Frühstück, das wir in festlicher Stille verzehrt hatten, begannen wir, unser Gepäck in den Rucksäcken zu verstauen.

Vilthon packte in meine Tasche etwas Kleidung für uns beide ein, zwei Handtücher, zwei Xeraatmatten und zwei große, leichte Decken. Dann befestigte er die dünne, Wasser abweisende Zeltplane an dem Rucksack.

Erstaunt stellte ich fest, dass er trotz seines sperrigen Umfangs überraschend leicht zu tragen war.

In Vilthons Rucksack verschwanden zunächst ein kleiner Kessel, sechs ineinander stapelbare Becher mit dazugehörigen Schraubverschlüssen, zwei Feldflaschen, ein dicker Stapel weicher Papiertücher und einige Lappen und Schwämme.

Dazu gesellten sich unsere Zahnbürsten und Kämme, ein paar Funkensteine, Wäscheklammern, Angelhaken, Zange, Schere und Rasierzeug.

Dann stopfte er noch neben einer Dose Schlegelsand und einer Flasche Saponsiskonzentrat das Nähzeug, einige Messer und ein langes Seil hinein.

Den restlichen Platz in seinem Rucksack belegten einige Beutel Nolmengrieß.

Diese getrockneten Schotenfrüchte quollen in heißem Wasser bis zur fünffachen Größe auf, und gaben eine sättigende, nahrhafte, aber leider sehr fade Mahlzeit ab.

Interessiert sah ich an meinem Freund hoch, als auch er guter Dinge seine vollgepackte Tasche schulterte.

„Tragbar.“ stellte er knapp fest und grinste mich verschmitzt an, bevor er mir einen verrosteten Kompass in die Hand drückte.

„Bitte sehr! Ich nehme die Karte. Und jetzt lass uns Schwarzfuß oder Kwantsch aus der Voliere holen, damit die Raben schon mal mitkriegen, in welche Richtung sie uns zukünftig zu folgen haben.“

„Und die wäre?“ fragte ich.

Eine gute Orientierung gehörte nicht zu meinen Stärken.
 

Vilthon klappte die vergilbte Karte vor mir auseinander, und fuhr mit dem Finger die Strecke nach, die wir zurücklegen mussten, um zu Greyan zu gelangen.

„Immer der Küste entlang, siehst du? Dabei können wir fast den ganzen Weg über auf den Hauptstraßen zwischen den Dörfern bleiben und müssen kaum unübersichtliches oder gefährliches Gelände durchqueren, für das wir länger als einige Stunden bräuchten, um es hinter uns zu bringen. Nur vor dem Gebiet, das dem Kontinent unmittelbar gegenüberliegt, gibt es keine Wege zu den nächsten Dörfern und wir müssen einen längeren Abschnitt durch die dichten, kühlen Nadelwälder durchwandern. Wenn wir das Gebirge erreicht haben, ist es nicht mehr weit bis zu dem Dorf, in dessen Nähe Greyan wohnt.“

„Hört sich gut an. Tja, dann lass uns mal aufbrechen, oder?“ schlug ich vor, wobei ich mich bemühte, meine Stimme nicht aufgeregt klingen zu lassen.

Die Tatsache, dass uns unsere Route häufig ans Meer bringen würde, versetzte mich in eine Hochstimmung.

„Na fein, los geht es!“ verkündete Vilthon darauf heiter, und wir beiden verließen frohen Mutes das kleine Fachwerkhäuschen.
 

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Die Morgendämmerung ließ noch auf sich warten, dennoch war es schon hell genug, dass auch der alwische Vilthon genug von seiner Umgebung erkennen konnte, um schnell den Weg zur Voliere der Raben zu finden.

Die Tiere dösten friedlich vor sich hin, als ich den alten Schwarzfuß, der sich durch sein helles Gefieder deutlich von den anderen Vögeln hervorhob, vorsichtig an seiner grauen Brust stupste.

Schlaftrunken öffnete der Rabe erst das eine, dann das andere Auge, schüttelte sich, und hüpfte dann schwerfällig auf meine Hand, die ich zur Faust geballt hatte.

Die scharfen Krallen des Vogels kratzen etwas unangenehm auf meinen Fingerknöcheln, und ich trat schnell aus der Voliere, um Schwarzfuß in die Lüfte zu entlassen, worauf der alte Rabe große, kreisende Bahnen um uns zwei herum zu ziehen begann, während wir nun begannen, die Hauptstraße in Richtung der nördlichen Dorfgrenze entlang zu wandern.

Bald führte der Weg uns zwischen den bunten Feldern der Sonnenbulbenzwiebeln hindurch, die in voller Blüte standen und trotz des spärlichen Dämmerlichtes mit ihren kräftigen Farben bezauberten.

Mir wurde es schwer um mein Herz, als wir die Felder hinter uns ließen und die Honigfruchtterassen erreichten.
 

Vilthon pflückte behutsam zwei reife Exemplare dieses süß schmeckenden Steinobstes, dessen knackiges, orangefarbenes Fruchtfleisch von einer harten, stacheligen Schale geschützt wurde.

Schweigend machten wir uns über die saftige Zwischenmahlzeit her und warfen die großen Kerne einfach wieder auf die Anbaufläche zurück.

Der honigartige Geschmack auf der Zunge wirkte auf mich wie ein süßer Trost.

„Wie viele Tage werden wir wohl unterwegs sein, bis wir bei Greyan ankommen?“ fragte ich Vilthon nach einiger Zeit, als die Sonne schon längst ihre Bahn ein gutes Stück über den wolkenlosen, strahlendblauen Himmel gezogen hatte.

Ich war gespannt auf diesen Mann.

„Nun, ich habe vierzehn Tage eingeplant, wenn wir zügig vorankommen und nicht aufgehalten werden.“ gab mir der Alwe zur Antwort.

Ich nickte zufrieden.

Ich hatte mit Schlimmerem gerechnet.
 

„Weiß dieser Greyan eigentlich Bescheid über die Flucht meines Malars?“

Vilthon schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe ihm gestern nur geschrieben, dass ich ihn zunächst endlich mit dir zu besuchen gedenke. Ich hielt es für zu riskant, ihm eine Schilderung der Tatsachen mit dem Botenraben zu schicken. Gerade jetzt, wo sich die Dörfer gegenseitig mit mehr oder weniger sinnvollen Informationen über unser berühmtes Tier überschütten werden, ist die Gefahr zu groß, dass ein solcher Brief, wenn er in die falschen Hände gerät, eine regelrechte Panikwelle auf der Insel auslöst. Und so etwas würde uns nicht weiterbringen, ganz im Gegenteil. Sobald die Gerüchteküche einmal brodelt, führt das nur noch zu weiteren Missverständnissen und allgemeiner Verwirrung.“

Vilthon war so weitsichtig und vorausschauend! Ich bewunderte ihn dafür.

Doch in einer Sache war ich mir noch nicht schlüssig.

„Und was erzählen wir den Leuten, wenn sie uns fragen, was es mit dem ominösen Tier auf sich hat?“

Darauf wusste Vilthon nicht sofort eine Antwort.

Er überlegte eine Weile.

„Gute Frage. Offiziell wissen wir nur das, was ich in den allgemeinen Schreiben dargestellt habe. Aber ich denke, wir können ruhigen Gewissens vorgeben, den Spuren dieses sagenhaften Tieres zu folgen, um es zu stellen, einzufangen und zum Kontinent zurückzubringen. In diesem Fall können wir uns auch ganz nebenbei nach merkwürdigen Vorfällen erkundigen, ohne zu befürchten, bei den Leuten auf Unverständnis und Misstrauen zu stoßen.“

„In Ordnung. Damit kann ich leben, denke ich.“
 

Mittlerweile hatten wir einen freundlichen, lichten Roonenwald durchkreuzt und gelangten nun zu den ersten Feldern des Nachbardorfes, auf denen schon fleißig gearbeitet wurde.

Vilthon und ich grüßten die jungen Alwen, die emsig den Salnachkohl schnitten und die frischen Strünke pflegten.

Ein von Roonengräbern gezogener Holzkarren holperte unter der Last unzähliger gebündelter Flachsfasern auf uns zu.

„Seid gegrüßt, Nachbarn!“ rief der Fahrer, ein greiser Verliek aus ihrem Heimatdorf, uns schon von Weitem entgegen.

Es war der alte Padhusch, der den lieben langen Tag diverse Tauschmaterialien zwischen den nahen Dorfgemeinschaften der Zaronnenauen hin und her kutschierte.

Er brachte mit einem Schnalzen seiner Zunge die Zugtiere zum Halten, als der Karren sich etwa auf unserer Höhe befand und grinste schelmisch zu mir hinunter.

„Na, Drachenmädchen, dich erkennt man ja schon aus der Ferne an deinem bunten Federschopf! Herr Vilthon, sagen Sie, was treibt euch zwei Hübschen denn weg vom schönen Hügeldorf?“ fragte der alte Verliek, während er neugierig unsere vollgestopften Rucksäcke musterte.

„Wir suchen die Kreatur vom Kontinent und bringen sie zurück zu den Menschen, Herr Padhusch. Aber wir wollen Sie nicht mit Einzelheiten aufhalten, sicher erwartet man Sie schon sehnlichst in unserer Gemeinde.“ antwortete Vilthon ihm freundlich lächelnd, aber in einem unmissverständlichen Tonfall, der keine weiteren Fragen des geschwätzigen Alten zuließ.

Jetzt verkörperte er den Urtyp eines hochmütigen Alwen.

Ich musste mich beherrschen, um nicht laut loszulachen.

Padhusch sperrte den Mund weit auf, als wolle er noch etwas dazu sagen, doch als Vilthon fröhlich winkend zurücktrat, um den Karren vorbei fahren zu lassen, brach der Verliek plötzlich in schallendes Gelächter aus, wünschte uns beiden eiligen Jägern noch viel Glück bei unserem Vorhaben und trieb die Roonengräber zum Weiterkrabbeln an.
 

Grinsend sah ich dem Wagen hinterher, der mit quietschenden Rädern seinem Weg über die unebene Hauptstraße folgte.

Zwar missbilligte ich die Kühnheit des Greises, die Empfehlung der Gemeinden zu ignorieren, und trotzdem ohne Begleitung in der Gegend umher zu ziehen, andererseits durfte ich ein weiteres Mal erfreut feststellen, dass das angebliche Auftauchen eines fremden Tieres bei den Insulanern vielleicht eine gewisse Vorsicht, nicht jedoch die lähmende Furcht auszulösen schien, mit der ich gerechnet hatte.
 

Besonders überrascht aber war ich von dem sonst so zugeknöpften Vilthon, dem ich niemals zugetraut hätte, so unbekümmert den Redefluss eines für seine Schwatzhaftigkeit berüchtigten Senioren unterbrechen zu können, um ihn darauf mit einer derart höflichen Entschiedenheit abzufertigen.

Anerkennend klopfte ich meinem Freund auf die Schulter, als wir wieder nebeneinander die staubige Straße entlang marschierten.
 

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Pünktlich zur Mittagszeit erreichten wir das grüne Dorf, welches seinen Namen den angrenzenden, weiten fruchtbaren Hügellandschaften verdankte, auf denen unzählige wilde Zaronnen grasten.

Auch die dorfeigene Herde zahmer Betoolenspringböcke durfte hier tagsüber weiden, bevor man die Tiere am Abend wieder in die Ställe trieb.

Auf dem Weg durch das grüne Dorf fiel mir auf, wie häufig efeubewachsene Korallensteinbäume an diesem Ort die Behausungen der Bewohner trugen.

Es duftete anheimelnd nach frisch geschnittenen Gräsern und Kamille.

„He, Kleine, bist du nicht Tilya, das Drachenmädchen?“ hörte ich plötzlich eine liebenswerte weibliche Stimme hinter mir herrufen, als wir just die Dorfmitte passieren wollten.

Sie gehörte zu einer kurzhaarigen, mütterlich lächelnden Alwin, die sich aus dem Fenster einer großen Holzhütte lehnte, das offensichtlich das Gästehaus des grünen Dorfes war.

„Äh, ja, die bin ich!“ rief ich perplex zurück. Kannte ich diese Frau? Ich konnte mich nicht entsinnen.

„Und sie müssen Vilthon sein.“ stellte die Alwin erfreut mit einem Blick auf den verdutzten Alwen fest, bevor sie uns beide freundlich in das Gästehaus einlud.

Vilthon und ich betraten etwas verunsichert die Holzhütte, in der es herrlich nach Patuttauflauf duftete, und ließen uns herzlich von Cindya, als welche sich die alwische Dame vorstellte, willkommen heißen.

„Setzt euch doch!“ forderte sie uns auf, und wies uns an, an dem wuchtigen Holztisch des Speisezimmers Platz zu nehmen. Wir kamen dem Angebot dankend nach und entledigten uns ächzend unserer Rucksäcke.

„Ich bin hier unter anderem für die Briefzustellung und die Tafelnachrichten verantwortlich.“ erklärte Cindya fröhlich. „Und deswegen habe ich wohl gerade als Erste von einem allgemeinen Schreiben an sämtliche Gemeinden erfahren dürfen, kleine Tilya, dass du und dein Freund hinter diesem seltsamen Tier her seid, das vor einigen Tagen erstmals in eurem Hügeldorf gesichtet wurde. Deine Eltern haben euch in dem Brief hinreichend gut beschrieben, deshalb habe ich euch gleich erkannt, als ihr hier bei uns eingetroffen seid.“

„Ach so! Meine Eltern stecken also dahinter. Wie interessant.“ Peinlich berührt kratzte ich mich hinter meinem Spitzohr und blickte finster zu Vilthon hinüber, der aber nur gelassen mit den Achseln zuckte.

Cindya grinste verschmitzt. „Natürlich freut man sich zu hören, dass sich jemand um diese unangenehme Angelegenheit kümmern will. Also dachte ich mir, ich revanchiere mich im Namen unseres Dorfes für eure Mühen, indem ich auf eure Ankunft warte, und euch in unserem Gästehaus auf eine warme Mahlzeit einlade! Ein frisch zubereiteter Patuttauflauf erscheint euch doch sicher verlockender als die üblichen kalten Speisen, die immer obligatorisch in die Gästehäuser gestellt werden, oder?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob sich Cindya von ihrem Stuhl, um geschwind aus einem Nebenraum eine große Porzellanschüssel mit dem besagten Gericht herbeizuholen, dessen pikanter Duft uns das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ.

„Das wäre doch nicht nötig gewesen.“ stammelte Vilthon verlegen, doch Cindya ließ keine Widerrede gelten und häufte zwei ordentliche Portionen auf die Teller ihrer beiden Gäste.
 

Mir war ganz unwohl zumute.

Ich hatte das Entkommen eines Ungeheuers zu verantworten, und nun kam es mir vor, als würde ich auch noch indirekt für diese Untat belohnt.

Aufgebracht fragte ich mich, was meine überbesorgten Eltern wohl dazu geritten haben mochte, das Nachbardorf über unsere scheinbaren Absichten zu informieren. Misstrauten sie dem Versprechen ihrer Tochter, sich regelmäßig bei ihnen zu melden und wollten durch diese Aktion ein Stück Kontrolle über den Verbleib ihres Kindes gewinnen?

Was auch immer, sie hätten sich auf jeden Fall mit mir und Vilthon absprechen müssen, bevor einfach irgendwelche Auskünfte in Umlauf gebracht wurden.

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.

Das versprach ja noch heiter zu werden.

„Schmeckt es nicht?“ fragte Cindya enttäuscht, als sie mich lustlos in dem Auflauf herumstochern sah.

„Doch, es ist köstlich!“ rief ich schnell und stopfte mir demonstrativ einen großen Happen des heißen Auflaufs in den Mund, verbrannte mir daran die Zunge, wagte es jedoch nicht, den Bissen unter Cindyas erwartungsvollen Augen wieder zurück auf den Teller zu spucken.

Mit einer sich pelzig anfühlenden Zunge schubste ich den sengenden Brocken in meiner Mundhöhle herum.

Die Alwin nahm besorgt meinen hochroten Kopf zur Kenntnis. „Habe ich doch zu viel Pfeffer in die Sauce gestreut!“ schimpfte sie sich, und verabschiedete sich rasch in die Küche, um für mich armes Mädchen eine Kanne Beerensaft abzuzapfen.

Natürlich ahnte Vilthon bereits, was mir tatsächlich die Petersilie verhagelt hatte.

„Mach dir keinen Kopf um dieses allgemeine Schreiben, Liebes. Und wenn es deine Eltern nun tatsächlich in jede einzelne Gemeinde geschickt haben sollten, können wir das ganze doch auch einmal von der praktischen Seite aus betrachten. Uns werden Erklärungsnöte erspart, was gleichbedeutend ist mit Zeit. Auf diese Idee hätten wir doch eigentlich selber kommen können.“ raunte der Alwe mir leise zu.

Von diesen forschen Worten ziemlich verblüfft bedachte ich meinen Freund mit einem verwirrten Blick von der Seite.

Er mauserte sich wohl noch zum Verlieken!

So unmoralisch kannte ich meinen Vilthon ja gar nicht.

Dieser grinste amüsiert, als er die Überraschung in meinem Gesicht sah und blinzelte mir verschwörerisch über den Tisch hinweg zu.
 

Da kam Cindya schon mit einer überschwappenden Kanne Beerensaft herbeigeeilt.

Vilthons bezauberndes Lächeln gefror langsam, als er mit ansehen musste, wie seine Gefährtin bei dem ungeschickten Versuch, sich möglichst rasch ein Glas des weinroten Trankes einzuschenken, ihr hellblaues Hemd besudelte.

„Und du hast wirklich vier Jahre lang in meinem Labor gelernt?“ knurrte der Alwe mich aufrichtig erschüttert an.

Ich schämte mich in Grund und Boden.

Was für eine Heldin war ich doch…

Als wir endlich zu Ende gespeist hatten, bedankten wir uns noch sehr herzlich für Cindyas aufopferungsvolle Gastfreundschaft, und machten uns dann auf, um unseren Weg fortzusetzen.

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Kaum hatten wir das grüne Dorf verlassen, als schon der freche Kwantsch, ein besonders lebhafter junger Briefrabe aus der Voliere meines Onkels im Sturzflug auf Vilthon zusteuerte, knapp über seinem Kopf nach oben zog und unter lautem Krächzen ein zerknülltes Stück Papier aus seinen Krallen fallen ließ.

Der zutiefst empörte Vilthon verkniff sich einen deftigen Fluch und ich pflückte den verknitterten Zettel von der Erde, während Kwantsch schadenfroh keckernd in Richtung Heimat abdrehte.
 

Ich entfaltete den Brief, der in der Handschrift meiner Mutter verfasst war, und überflog schnell den Text.

„Lieber Vilthon, liebe Tochter…“ las ich dann mit säuerlichem Unterton laut für Vilthon vor.

„Ihr wundert euch sicher, warum wir euch jetzt schon schreiben, kaum dass ihr aufgebrochen seid, aber wir wollen euch hiermit mitteilen, dass wir gerade dabei sind alle Gemeinden der Insel in einem allgemeinen Schreiben auf euer Erscheinen vorzubereiten. Wir informieren sie darüber, dass ihr euch auf die Jagd nach dem Tier gemacht habt, um es in Gewahrsam zu nehmen und zum Kontinent zurück zu treiben. Sicherlich stimmt diese Botschaft die Insulaner ruhiger, und ihr dürftet dadurch in allen Gemeinden mit Freundlichkeit empfangen werden. Wir wünschen euch eine gute Reise, und dass ihr euch ja nicht zu lange aufhalten lasst! Wir vermissen euch nämlich jetzt schon. Passt gut auf euch auf, und macht keinen Unsinn! Chareleo und Auriannah.“

Ich verdrehte die Augen. „Dazu fällt mir jetzt nichts mehr ein.“

„Bestimmt hat Kwantsch getrödelt. Sicher hätte der Brief uns noch vor unserer Ankunft im grünen Dorf erreichen sollen. Dieser nichtsnutzige Rabe! Am Besten, du schreibst direkt einen kurzen Brief zurück an sie und schickst Schwarzfuß damit ins Hügeldorf, sonst musst du ernsthaft damit rechnen, dass deine Eltern uns hinterher reisen.“ bemerkte Vilthon zynisch.

„Zu dumm, dass wir nichts zum Schreiben mitgenommen haben!“ schimpfte ich, die Worte des Alwen für bare Münze nehmend, und kramte aus seiner Tasche flugs das Nähzeug heraus.

Ich pflückte eine überreife Piragie auf dem Gemüsefeld, neben dem wir gerade her schritten, tauchte die stumpfe Seite der Nadel in das rote Fruchtfleisch und kritzelte damit ein „Ja, danke!“ auf die Rückseite des mitgenommenen Stück Papiers, das Kwantsch uns eben gnädiger weise überlassen hatte.

Dann rief ich gebieterisch nach Schwarzfuß, der etwas eingeschüchtert herbei flatterte.

Ich schnappte sich den großen Vogel und drückte ihm den Zettel einfach in die Kralle, die sich sofort reflexartig um ihn schloss.

„Hügeldorf!“ herrschte ich den Raben an, und dieser erhob sich, lautstark protestierend in die Lüfte.
 

Finster blickte ich zu Vilthon hinüber, der nur mit äußerster Mühe ein herzhaftes Gelächter unterdrücken konnte, während sein Blick immer wieder an dem eingetrockneten roten Saftfleck auf meinem Hemd hängen blieb.

Seine Mundwinkel zuckten verräterisch und seine Wangen röteten sich.

„Was ist mit dir los, Vilthon? Was ist denn so witzig? Oder war der Beerensaft vielleicht vergoren?“ pflaumte ich ihn mürrisch an.

„Sachte, Kleine!“ versuchte der prustende Alwe mich zu besänftigen.

„Aber abgesehen davon, dass ich deinen spontanen Einfallsreichtum bewundere, kam mir eben die berechtigte Frage in den Sinn, ob deine Eltern es wohl fertig bringen werden, deine selbst gemachte Piragientinte für Blut zu halten, mit dem du noch schnell deine letzten Dankesworte an sie gerichtet hast, im Eifer irgendeines verhängnisvollen Gefechtes.“

Mein Unterkiefer klappte hinunter.

„Traust du ihnen wirklich eine solch grausame Fantasie zu, Vilthon?“ fragte ich meinen Freund entsetzt.

Der Alwe antwortete nicht, sondern ging schnellen Schrittes und mit einem merkwürdig schiefen Grinsen auf den Lippen weiter.

Ich schüttelte verständnislos den Kopf.

Was war nur mit diesem Mann geschehen?

Er war mit einem Male so verändert, so humorvoll und unbeschwert, so befreit und so locker.

Ob das an der frisch entfachten Abenteuerlust lag, die den sonst so reservierten Alwen gepackt hatte?
 

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Unser Weg führte uns am späten Nachmittag durch einen kleinen Querkenwald.

Dort begegneten wir einigen verliekischen Holzfällern, die sich eben mit ihrem schwer beladenen, von kräftigen Querkenkneifern gezogenen Wagen auf den Heimweg machen wollten.

„Springt auf, wenn ihr ins Glühbeerdorf wollt!“ boten die Verlieken uns wohlwollend an.

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen, denn unsere von dem ungewohnt langen Marsch ziemlich beanspruchten Füße machten sich bereits recht schmerzhaft bemerkbar.

Nach diesem sonnenverwöhnten Tag freuten wir uns beide auf das Badezimmer des Gästehauses, das wir bei unserer Ankunft im nächsten Dorf auf schnellstem Wege aufzusuchen gedachten.

Die Burschen lachten, als ich frei heraus verkündete, wie sehr ich mich nach einer anständigen Toilette sehnte.

„Ihr Jungs könnt das natürlich nicht verstehen, was?“ maulte ich eingeschnappt. Männer hatten ja ohnehin leicht reden!

Die Querkenkneifer kamen unter der gewichtigen Last der gefällten Baumstämme nicht viel schneller voran, als Vilthon und ich es zu Fuß geschafft hätten, aber wir empfanden es als Wohltat, unsere verkrampften Waden nun etwas entspannen zu können.

Es dämmerte bereits, als man das zauberhafte Glühbeerdorf sichten konnte.

Nicht umsonst trug es diesen Namen, denn die vielen glimmenden Früchte der Glühbeersträucher, die an nahezu jeder freien Stelle des Dorfes gepflanzt wurden, tauchten die gesamte Gemeinde in ein überirdisches, mattgrünes Leuchten.

„Meine Güte, ist das herrlich.“ hauchte ich überwältigt und legte meine Arme um Vilthon, der vor mir im schaukelnden Holzkarren saß. „So wundervoll habe ich mir unsere Reise damals immer erträumt!“

Einer der jungen Verlieken pfiff durch die Zähne.

„Wusste ich es doch, dass ihr nicht von hier seid. Hätte man sich ja denken können, bei dem vielen Zeug, was ihr da mit euch herumschleppt. Wollt ihr nun in unser Dorf ziehen, reist vielleicht gar ein frisch getrautes Paar mit uns?“ fragte der Heranwachsende neugierig.

Wir schüttelten grinsend die Köpfe.

„Nein, wir sind nur zwei sehr gute Freunde auf der Durchreise.“ klärte Vilthon die Situation auf.

„Ihr seid doch nicht etwa die beiden Leute, die das Tier vom Kontinent jagen?“ rief der Junge aufgeregt.

„Genau die!“ bestätigte mein sehr guter Freund milde lächelnd.

Der Verliek grinste. „Euch habe ich mir ganz anders vorgestellt!“ platze es aus ihm heraus.

„Wie denn?“ blaffte ich ihn herausfordernd an und erntete dafür einen Stoß von Vilthons Ellenbogen in meine Rippen.

„Äh, na ja…“ druckste der Junge. „Ich nahm an, das Mädchen würde einen relativ imposanten Eindruck erwecken, wenn man es schon Drachenmädchen nennt, aber du wirkst auf mich eher wie ein niedliches buntes Vögelchen.“

„Wie bitte?“ stieß ich empört hervor und handelte mir einen weiteren Stoß in die Rippen ein.

„Und den Alwen hat man uns als einen würdevollen und gesetzten älteren Herren beschrieben.“

Jetzt war es Vilthon, dem die Worte fehlten, denn er konnte sich nicht entscheiden, ob er frustrierter darüber sein sollte, dass meine Eltern ihn als älteren Herren betitelt hatten, als den er sich mit seinen sechsunddreißig Lenzen wahrhaftig noch nicht bezeichnen lassen wollte, oder ob ihn die Tatsache, dass dieser respektlose junge Verliek es gewagt hatte, ihn nicht als würdevoll anzuerkennen, ärger verstimmte.
 

Der Wagen rollte geräuschvoll über eine Holzbrücke, die uns über den Fluss führte, und ich erkannte in der rauschenden Strömung eine große Wasserschlange, die mit grazilen, kraftvollen Bewegungen einem flüchtenden Frostfrosch hinterherjagte.

Wehmütig versank ich in sehnsuchtsvolle Gedanken an mein verlorenes Totem, bis Vilthon mir plötzlich sanft an die Schulter tippte.

Die Burschen hatten den Holzkarren angehalten, damit wir direkt vor dem Gästehaus des Glühbeerdorfes am Gemeindeplatz absteigen konnten, wo man uns als erwartete Gäste herzlich willkommen hieß und uns bereits ein kleines Abendessen, warmes Wasser für ein Bad und frisch bezogene Betten bereitgestellt hatte.

Der Weg zur Küste - Tag 2

Ein grässlicher Muskelkater machte sich unangenehm in meinen Beinen bemerkbar, als ich mich am nächsten Morgen aus einem der Betten des Gästehauses im Glühbeerdorf quälte.

Auch mein Rücken rächte sich schmerzhaft für die ihm aufgebürdeten Strapazen des gestrigen Tages.
 

Wie auf Stelzen stakste ich zu dem gegenüberliegenden Schlafraum, in dem Vilthon übernachtet hatte und klopfte zaghaft an die Tür.

„Vilthon, bist du wach?“ wisperte ich leise in die morgendliche Stille.

Ein bestätigendes Brummen verriet mir, dass dem so war.

„Kann ich zuerst in den Waschraum?“ fragte ich daraufhin vorsichtig nach.

Ein weiteres, recht grantiges Brummen gab mir dazu die Befugnis, und einige Minuten später vollzog ich mein geliebtes, eisiges, exzessives Waschritual.

Als ich endlich damit fertig war und mir saubere Kleidung übergestreift hatte, überließ ich das Bad gnädig meinem alwischen Freund und begab mich hinunter ins Erdgeschoss des Gästehauses, wo anscheinend gestern Nacht noch dafür gesorgt worden war, dass wir beiden Reisenden an diesem Morgen ein opulentes Frühstück im Speisesaal vorfinden konnten.

Ein großes Stück Pökelfleisch neben dem Laib Xeraatbrot ließ erkennen, dass verliekische Hände dieses Mahl zusammengestellt haben mussten.

Ich grinste, ließ mich auf einen wackeligen Holzstuhl fallen und begann schon einmal, das Brot zu schneiden und etwas Obst zu schälen.

Einige Minuten später betrat Vilthon frisch gewaschen und bestens gelaunt den Raum, und wir ließen uns unser Frühstück mit großem Appetit schmecken.
 

Als wir gerade im Begriff waren, das Glühbeerdorf auf leisen Sohlen zu verlassen, schoss Kwantsch plötzlich aus dem dichten Geäst einer Betoole hervor, segelte mit atemberaubender Geschwindigkeit über ein Leinenfeld auf uns zu und wünschte uns auf seine eigene ohrenbetäubende Weise einen guten Morgen.

„Hältst du wohl den Schnabel, du rücksichtsloser Vogel! Die Leute hier schlafen noch!“ zeterte ich lauthals.

„Spätestens jetzt nicht mehr, meine Liebe.“ stellte Vilthon nüchtern fest.

Ich fletschte die Zähne und beschleunigte meine Schritte. „In welchem Dorf halten wir eigentlich als Nächster Einzug?“
 

Vilthons Brauen zogen sich zusammen und eine steile Sorgenfalte grub sich in seine Stirn und seine Kieferknochen mahlten aufeinander.

„Im Dorf am Nebelfluss.“ gab er kurz angebunden zur Antwort.

Ich schluckte.

Mir wurde schlagartig bewusst, womit sich mein Freund nun bald konfrontiert sehen würde.

Das Dorf am Nebelfluss war das ursprüngliche Heimatdorf seiner Frau Calissa, die nach der Trennung von Vilthon zusammen mit ihrem neuen verliekischen Freund dorthin zurückgekehrt war.

Auch wenn der Alwe sich seit jener Zeit tapfer darum bemühte, seine steinerne, pragmatische Fassade aufrecht zu erhalten, ahnten zumindest seine engsten Freunde, wie tief ihn Calissas Verlust tatsächlich getroffen hatte.
 

Bald hatten wir die weiten Felder des Glühbeerdorfes hinter uns gelassen und durchquerten nun ein größeres Waldstück, in welchem eine bunte Vielfalt verschiedenster wilder Kräuter und Heilpflanzen gedieh.

Wir sogen tief die klare Luft, die den herben, frischen Geruch des fruchtbaren Bodens und den würzigen, aromatischen Duft der wuchernden Gewächse in sich trug, in unsere Lungen.

Vilthon und ich machten uns schon bald einen Spaß daraus, die Pflanzen, die wir entdeckten, bei ihrem Namen zu nennen, und uns gegenseitig deren Wirkungen und Zubereitungsarten abzufragen.

Ich war froh, meinen besten Freund damit etwas von seinen selbstquälerischen Grübeleien ablenken zu können.

Doch Vilthons Miene verfinsterte sich zusehends, als die dichten Dunstschwaden, die uns am Ende des Waldes empfingen, unsere baldige Ankunft im Dorf am Nebelfluss ankündigten.

Schweigend schlurften wir über die taufeuchten Wiesen der Betoolenspringbockweiden und passierten ein weites, golden schimmerndes Xeraatfeld.

Vilthon starrte die ganze Zeit über stumm auf die staubige Straße zu seinen Füßen und würdigte die freundlich winkenden Erntearbeiter und Tierhüter, an denen wir auf unserem Weg vorbeikamen, kaum eines Blickes.

Ich hingegen grüßte alle Leute, die ich durch die dicken Nebelschleier erkennen konnte, mit einem gezwungenen Lächeln zurück.

Einer von uns beiden musste ja den kommunikativen, weltoffenen Part repräsentieren.
 

„Tilya, wäre es ein Problem für dich, wenn wir dieses Dorf auf direktem Wege hinter uns lassen würden, ohne eine Rast einzulegen?“ fragte Vilthon mich mit zittriger Stimme, als wir mit großen Schritten an den ersten Wohnhäusern vorbeihasteten.

Ich unterdrückte ein enttäuschtes Seufzen.

Meine verkrampften Waden fühlten sich hart an wie Betoolenholz, und auch mein Magen knurrte schon wieder verdächtig laut, aber ich wollte meinem Freund gerne einen längeren Aufenthalt an der Wohnstätte seiner ehemaligen Liebsten ersparen.

„Nein, ist gar kein Thema, Vilthon.“ erwiderte ich also verständnisvoll. „Wenn du möchtest, kannst du schon mal weiterlaufen und an der Dorfgrenze auf mich warten, ich besorge noch eben rasch etwas Papier und Tinte. Und wenn du eine Schreibfeder brauchst, dann wüsste ich auch schon, woran du dich in Zukunft bedienen könntest.“ schlug ich vor und deutete grinsend auf meinen zerzausten, gefiederten Schopf.

Vilthon konnte jedoch nur schwach über die humorvolle Anspielung schmunzeln, denn momentan war ihm wohl nicht wirklich zum Spaßen zumute.

„Ich danke dir, Kleines.“ murmelte er noch abwesend, bevor er sich abwandte und davon rauschte, während ich schon durch die Dorfstraßen hetzte, um bei den Einwohnern das benötigte Schreibzeug zu schnorren und noch eine kleine Wegzehrung aufzutreiben.
 

Als ich ein Tintenfässchen, Briefpapier und einige belegte Brote aus dem Gästehaus in meinen Rucksack gestopft hatte, beeilte ich mich, Vilthon einzuholen, der inzwischen mit gesenktem Kopf über die Hauptstraße zwischen den Stachelknochenstrauchplantagen schlich.

Kaum hatte ich meinen trübseligen Freund erreicht, begann es plötzlich, passend zur gedrückten Stimmung, aus den grauen, tief über uns hinweg ziehenden Wolken auf uns hinab zu nieseln.

Na toll!

Bald verwandelte sich das feine Fisseln in einen ausgewachsenen Platzregen, der energisch auf uns hinunter prasselte.

Vilthon wickelte wortlos die wasserdichte Zeltplane von meiner Tasche und drapierte sie über unsere Häupter und die Rucksäcke.

Auf diese notdürftige Weise vor dem unbarmherzigen Schauer abgeschirmt, liefen wir im Gleichschritt dicht nebeneinander her, während die Regentropfen geräuschvoll und monoton auf den glatten, imprägnierten Stoff trommelten.
 

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Das Gewitter verzog sich erst am späten Nachmittag, als die holprige, steinige Hauptstraße in einen ebenen, gepflasterten Weg überging, der uns immer näher an die Küste leitete.

Eine frische, salzige Brise ließ unsere vom Regen durchnässten Hosen klamm an unseren Beinen kleben.

Vilthon befreite uns von der Plane, die unsere Köpfe und Rucksäcke vor dem feuchtkalten Niederschlag geschützt hatte, und erst jetzt fiel uns das unterschwellige, sanfte Rauschen der fernen Wellen auf, das uns schon eine geraume Weile unbemerkt begleitet haben musste.

Fröstelnd stapften wir die den Weg entlang, der uns nun zwischen einigen karg bewachsenen Hügeln eine beachtliche Steigung hinauf führte, und endlich tat sich vor uns das endlos weite Meer auf, das von der untergehenden Sonne in ein glitzerndes, rot glühendes Leuchten getaucht wurde.

Endlich!
 

Ich quietschte vor Entzückung und rannte mit hüpfendem Rucksack auf den Schultern jubelnd die Böschung hinunter, bis die kleinen Steinchen des Kiesstrandes unter meinem feuchten Schuhwerk knirschten.

„Sieh dir das an, Vilthon! Ist das nicht wundervoll?“ brüllte ich meinem Gefährten begeistert zu, doch der Küstenwind übertönte meine sich vor lauter Aufregung überschlagende Stimme.

Fasziniert beobachtete ich eine Weile die sich am Ufer brechenden Wellen, die ekstatisch in der Abendsonne funkelten, bis Vilthon, der mir zögerlich gefolgt war, mich ungeduldig zum Weiterziehen anhielt.

Unfähig, meinen Blick von den wogenden Wassermassen abwenden zu können, stolperte ich gehorsam hinter Vilthon zur Hauptstraße zurück.

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Gegen Abend erreichten wir endlich, begleitet von einigen hoffnungsvollen Pelikanen, die fette Beute bei uns schwer bepackten Gefährten erwarteten, das Möwendorf.

Vilthon und ich wurden sehr herzlich von den Einheimischen empfangen, und wir begrüßten es sehr, uns in den gemütlichen Gästezimmern unserer durchfeuchteten Kleidung entledigen zu können und nach einem warmen Bad endlich in trockene Wäsche zu schlüpfen.

Nachdem wir unsere gewaschenen Sachen zum Trocknen auf die Leine gehängt hatten, begaben wir uns zum Gemeindeplatz des Dorfes, wo man uns zum traditionellen gemeinsamen Abendmahl eingeladen hatte.

Die Möwendorfbewohner begrüßten ihre Gäste erfreut, deftige Fischgerichte wurden aufgetischt, es wurde viel erzählt, viel gelacht und einiges an Honigfruchtwein getrunken.

Vilthon und ich beobachteten verschüchtert das bunte Treiben um uns herum, hielten uns bei dem Gedanken an die anstehende Weiterreise vornehm bei den weingeistigen Getränken zurück, und verließen, als der Himmel sich nachtschwarz verfinsterte, mit einer entsprechenden Entschuldigung vorzeitig den Gemeindeplatz.
 

Erschöpft, aber zufrieden und gesättigt von den vielen neuen Eindrücken sank ich in dieser Nacht in die weichen Kissen meines Gästebettes und fiel, den Klängen der Brandung lauschend, in einen sehr erholsamen Schlaf.

Moskitos - Tag 3

Gepeinigt von elenden Rückenschmerzen wälzte ich mich aus dem kuscheligen Gästebett, nachdem das laute Kreischen irgendeines Küstenvogels mich unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte.

Ausgiebig streckte ich meine verkaterten Glieder und riskierte dabei einen Blick durch die runde Fensterluke neben dem Nachttisch.

Die überwältigende Aussicht, die sich mir nun bot, entschädigte mich für alle vorangegangenen Strapazen.

„Hier würde ich auch gerne wohnen.“ flüsterte ich bei mir, als ich die Schönheit des friedlichen, tiefblauen Meeres bewunderte, welches seine sanften Wellen mit einer unerschütterlichen Gleichgültigkeit an das kieselbedeckte Ufer schlug.
 

„Du siehst gut aus, richtig entspannt und glücklich!“ bemerkte Vilthon später, als wir gemeinsam draußen vor dem Gemeindehaus zu Tisch saßen und uns mit Honigfruchtnektar gesüßten Nolmengrieß schmecken ließen.

Ich lächelte. „Ich hätte nie gedacht, irgendwann einmal in fremde Dörfer zu kommen, und so offen und herzlich empfangen zu werden, so ganz unbeachtet meines merkwürdigen Äußeren. Das ist jetzt nämlich unerheblich für die Leute, denn für sie zählt im Augenblick nur unsere vermeintliche Absicht. Leider kann ich diesen Umstand nicht guten Gewissens genießen, denn unsere wohlwollenden Gastgeber kennen ja nicht die vollständige Wahrheit, wie beispielsweise den Ursprung des ganzen Übels. Gut, dass meine Eltern mit ihrer Aktion eine Vorarbeit geleistet haben, die es uns erspart, an jedem Ort unsere suspekte Geschichte durch die Blume zu erzählen.“

Vilthon schüttelte leicht entnervt den Kopf und sah mich streng unter zusammengezogenen Brauen an.

„Über diese relativ bedeutungslose Problematik solltest du dir nun langsam wirklich nicht mehr so viele Gedanken machen, Kleine. Wie oft muss ich dir das eigentlich noch sagen? Konzentriere dich lieber mal auf die Dinge, die jetzt wichtig sind!“

„Und die wären?“ fragte ich neckisch.

„Nicht so viel zu plappern, sondern schneller zu kauen, damit wir noch vor Sonnenaufgang aufbrechen können!“ gab Vilthon gespielt gereizt zurück und blinzelte mir schalkhaft über seine Teetasse hinweg zu.

Ich fletschte die Zähne und streckte dem Alwen die Zunge heraus.
 

Kurze Zeit später sahen die ersten Fischer des Dorfes uns fröhlich zum Abschied winkend die Hauptstraße entlang marschieren.

„Wird dir eigentlich nicht unheimlich warm in diesen Klamotten?“ fragte Vilthon mich mit einem skeptischen Blick auf die lange Hose und das langärmelige Hemd, die im lauen Wind um meinen Körper flatterten.

„Es geht, ist ja alles aus luftigem Leinenstoff. Außerdem kriege ich schnell einen Sonnenbrand.“ versuchte ich zu argumentieren, aber Vilthon konnte sich schon denken, dass ich mich vor Allem wegen meiner Echsenhautflecken genierte und sie deshalb mit möglichst viel Stoff zu verhüllen suchte.
 

Wir kamen an einer Nolmenterrasse vorbei und erreichten gerade eine kleine Didigiplantage, als Vilthon beobachtete, wie ich mir fortwährend durch die Haare strich und zwischendurch mit launischer Miene die eine oder andere Feder auszupfte, die dann von der warmen Brise in Richtung der kultivierten Sumpfrohrpflanzen davon getragen wurde.

„Tilya, was macht du denn da schon wieder? Manche Frauen flechten sich absichtlich bunte Federn von schönen Vögeln ins Haar und tragen sie als Schmuckstücke.“

„Du hast leicht reden.“ giftete ich ihn missmutig an. „Dich beglotzen die Leute ja auch nicht so dämlich.“

Erschrocken musterte der Alwe mich von der Seite.

„Was ist denn auf einmal los mit dir? Hast du dich nicht eben noch darüber gefreut, dass dich bisher alle Leute so bedingungslos akzeptiert haben? Es hat bisher doch noch niemand eine dumme Bemerkung gemacht, von diesem jungen Verlieken mit den Querkenkneifern einmal abgesehen, oder?“ fragte er vollkommen verständnislos.

„Keine Ahnung.“ knurrte ich unwillig. „Ich bin einfach nur genervt. Frauenprobleme. Verstehst du nicht. Im nächsten Dorf muss ich mal in ein Haus der Gesundheit, Spinnenwollband holen. Klar?“

Eingeschüchtert betrachtete Vilthon mich vorsichtig aus den Augenwinkeln.

„Klar.“ bestätigte er schnell, ohne sich zu hundert Prozent sicher zu sein, was meine plötzliche Stimmungsschwankung nun tatsächlich veranlasst hatte.

Mich plagten währenddessen unangenehme Unterleibsschmerzen.

Ich zog meine Schuhe aus und ging nun ein kleines Stück abseits der Hauptstraße, die parallel zur Küste verlief, neben Vilthon her, so dass die sanften Wellen des rauschenden Meeres meine nackten Füße von Zeit zu Zeit umspülten und mir mein hitziges Gemüt kühlten.
 

Ich versuchte mich von meinen weiblichen Unpässlichkeiten abzulenken, indem ich das Treiben der Fischerleute auf ihren kleinen Booten beobachtete, welche mit ihren Netzen, Angeln und Reusen Jagd auf diverse Meeresbewohner machten.

„Sieh mal, Vilthon!“ schrie ich gegen den Wind an, der inzwischen ziemlich heftig um meine Alwenohren brauste, und deutete auf den großen Schwarm langhalsiger, abgerichteter Seevögel, die mit den Fischern gemeinsame Arbeit zu machen schienen.

Vilthon schmunzelte und winkte mich zu sich heran, damit ich mich wieder neben ihm auf die befestigte Straße gesellte.

Ich schritt schlurfend über das trockene, spröde Gras, das zwischen dem Kieselstrand und dem gepflasterten Pfad wuchs und schlüpfte dann mit halbwegs trockenen Füßen wieder in mein Schuhwerk hinein.

Sichtlich erleichtert durfte Vilthon nun feststellen, dass sich meine Laune offenbar etwas aufgeheitert hatte und gemeinsam beobachteten wir nun fasziniert die bunten Libellen, die wie schillernde schwebende Edelsteine zwischen den Rohren der Didigi umherschwirrten und dort nach kleineren Insekten suchten.

„Was wird denn hier wohl angebaut?“ fragte ich Vilthon und wies auf ein von engmaschigen Netzen und hauchdünnen Planen abgegrenztes Gebiet, das sich über einen kleinen Teil der Küste erstreckte und sich noch einige Mannslängen in die See hinein zog.

Dunkelgrüne, glitschige Pflanzen, die wie eine Kreuzung aus Schachtelhalmalgen und gewöhnlichem Waldfarn anmuteten, wiegten sich im Rhythmus von Wind und Wellen auf und ab und verströmten den herrlich intensiven, salzigen Geruch von Tang und Seegras.

„Sieht aus, wie das Zeug, das gestern Abend in diesem salzigen Joghurtsalat war.“ überlegte ich laut.

Vilthon zuckte mit den Schultern. „Wenn du es genau wissen willst, dann frag doch einfach mal die Leute auf dem Floß dort drüben, die scheinen dieses Gewächs gerade zu ernten.“ schlug er vor.

Doch ich bekam nur einen hochroten Kopf und winkte plötzliches Desinteresse vortäuschend ab, als ich die braungebrannten, sehnigen jungen Männer auf den Holzplanken erblickte, die geschäftig die triefenden Pflanzen aus dem Wasser zogen, vorsichtig auswrangen und in einen schwimmenden Behälter legten.

Vilthon grinste belustigt.
 

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Als die Sonne ihre Mittagshöhe am Zenit erreicht hatte, gelangten wir endlich zum Brückendorf, welches man zunächst auf einer Landzunge gelegen vermuten konnte, denn seine Bewohner hatten einen großen Teil der Gebäude auf entsprechend erhöhten Fundamenten errichtet, deren Basen auf dem seichten Meeresgrund ruhten.

Zahlreiche Brücken und Plattformen verbanden die einzelnen Bauten, oberhalb des Meeresspiegels miteinander.

Spielende Kinder tobten, mit den Möwen um die Wette kreischend, umher und es duftete köstlich nach gebratenem Fisch.

Plötzlich sichtete Vilthon Schwarzfuß, dessen heiseres Krächzen beinahe im allgemeinen Lärm unterging.

Der Rabe glitt, in einem eleganten, kreisenden Gleitflug langsam an Höhe verlierend, hinab und landete gekonnt auf meinem weich gefiedertem Kopf um sich friedlich von Vilthon gleich zwei Briefe von der Kralle binden zu lassen.

Der Alwe las stumm erst den Brief, der Auriannahs Handschrift trug, überflog dann den anderen Zettel, und legte dann die Stirn in Falten.

„Was ist?“ fragte ich mit Besorgnis in der Stimme.

„Anscheinend nicht Schlimmes, ruhig Blut!“ sprach Vilthon besänftigend.

„Deine Eltern haben heute Morgen zufälligerweise diesen Brief hier von einem entfernten Verwandten aus dem Pfahldorf erhalten, welches wir übrigens noch heute Abend erreichen werden. Der Verfasser dieses Schreibens berichtet von einem seltsamen Vorfall, der sich kürzlich in seinem engsten Bekanntenkreis ereignet hat. Angeblich wurde dabei ein älterer Alwe von einem ähnlichen Traum heimgesucht, wie er auch vor einigen Tagen unserer Ioxannah widerfahren ist. Auch dieses Mal soll ein fremder Malar mit dem eigenen gerungen haben, bis er letztendlich vom Totem vertrieben werden konnte. Dem Großvater geht es wieder gut, aber seine Familie hat sich schreckliche Sorgen um sein altes Herz gemacht.“

Das Blut wich spürbar aus meinem Gesicht. „Spinnendreck. Das hätte schief gehen können.“ flüsterte ich betroffen.

„Ist es aber nicht.“ tröstete mich mein Freund. „Schreib deinen Eltern doch gleich ein paar nette Worte zurück. Ihrem Brief nach zu urteilen machen sie sich schon wieder Sorgen um uns.“

Ich nickte stumm und betrat mit dem Alwen auf wackeligen Knien das Brückendorf.
 

Wir wurden gleich von den Dorfbewohnern erkannt und ich, die ich mich sofort nach der Lage des hiesigen Hauses der Gesundheit erkundigte, wurde unverzüglich von einem kleinen Alwenmädchen bei der Hand genommen und unter schwachem Protest über einige Brücken hinweg in ein orange geziegeltes Haus gezogen.
 

Einige Zeit später kam ich mit einigen Rollen Spinnwollband, einem glühend roten Gesicht und dem kleinen, grinsenden Kind im Schlepptau wieder heraus und wurde von ihm zur nächstgelegenen Anlegestelle einer kleinen Gondel geführt.

Der wurmstichige Kahn schaukelte sanft auf dem Wasser, als wir zwei zierlichen Personen einstiegen.

Gekonnt löste die kleine Alwin die Taue und steuerte das schwimmende Gefährt allein durch die Kraft ihres Talentes geschickt durch die schmalen Wasserstraßen zwischen den grauen, steinernen Gebäuden entlang.

„Ist das Tier, das ihr jagt, böse?“ fragte mich das naseweiße Mädchen plötzlich unvermittelt.

Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ist es nicht. Es hat sich nur verirrt und hat Hunger. Wahrscheinlich hat es mehr Angst vor unserer Welt, als wir vor ihm.“

Im Schatten der Brücken, unter denen die Gondel hindurch glitt, tummelten sich Schwärme glitzernder, rubinroter Fischchen.

Ich erwiderte linkisch den Gruß einiger alwischen Damen, die uns in einem anderen Boot entgegenkamen, bevor das kleine Mädchen endlich den Kahn zu einem Holzsteg lenkte um ihn dort fest zu leinen.

Erleichtert sprang ich aus der schwankenden Gondel und reichte der Kleinen die Hand, um auch ihr den Ausstieg zu erleichtern.

Das Kind ergriff sie, wobei es mit einem breiten Lächeln eine große Lücke zwischen seinen Milchzähnen präsentierte. „Danke, Drachenmädchen!“ krähte es laut und deutete auf die Treppen, die links neben dem Steg hinauf in ein grün verklinkertes Gebäude führten. „Hier musst du hin, das ist unser Gästehaus! Dein Mann wartet dort schon! Gute Besserung!“

Ich schnappte empört nach Luft, verkniff es mir aber rechtzeitig, der Göre eine ordentliche Standpauke über gutes Benehmen zu halten und zog es vor, mich möglichst schnell von ihr zu verabschieden, bevor es noch richtig peinlich für mich wurde.
 

Im geräumigen Gästehaus angekommen, wurde ich sogleich von einer rundlichen, knopfäugigen Verliekin begrüßt, die mich mit stolz geschwellter Brust an einen gedeckten Tisch im Speisesaal geleitete.

Vilthon hatte schon auf einer langen Bank an der Tafel Platz genommen und schien ziemlich verloren zwischen all den kleinen Holzbrettchen, die beladen waren mit kleinen, teilweise undefinierbaren Delikatessen aus dem Ozean, die wahrscheinlich nur die wenigsten Hügeldorfbewohner jemals zuvor gesehen, geschweige denn gegessen hatten.

Ich setzte mich Vilthon gegenüber und tauschte mit ihm über den Tisch hinweg verunsicherte Blicke, während sich die gute Dame neben uns auf einem Schemel nieder ließ, und ihre beiden Gäste erwartungsvoll beobachtete.

Ich schluckte schwer, dann spießte ich mit einem Holzstäbchen zögerlich ein orangerotes Häppchen auf, welches mit einem hauchdünnen, dunkelgrün glänzenden Blatt umwickelt war. Dem intensiven Geruch nach zu urteilen, vermutete ich, dass es sich bei diesem Gemüse um die unbekannte Seepflanze handeln musste, die vor dem Dorf gezüchtet wurde.

Fast hätte ich die Verliekin gefragt, was genau ich da nun eigentlich verspeisen sollte, doch die Höflichkeit verbot es mir.

So hoffte ich einfach, dass dieser Bissen als Ganzes genießbar war, und das Grünzeug nicht nur dekorativen Zwecken dienen sollte, und stopfte mir mutig das Röllchen in den Mund.

Vilthon hielt den Atem an, während er meine Reaktion abwartete.

Der exotische, leicht fischige Geschmack, der sich jedoch nun auf meiner Zunge entfaltete, ließ mich mit vor Verzückung geschlossenen Augen in meinem Stuhl zusammensinken.

„Wahnsinn, ist das lecker!“ seufzte ich genüsslich. „Ich beneide Ihre Nachbarn, Ihre Freunde und Ihre Familie, gute Frau!“ lobte ich die stämmige Verliekin ehrlich begeistert.

Der erleichterte Vilthon ließ zischend die Luft zwischen seinen Zähnen entweichen und probierte jetzt seinerseits zaghaft einige von den appetitlichen kleinen Happen, wobei er aber mich stets als Vorkosterin fungieren ließ, bevor er sich selbst an eine der unbekannten Speisen heranwagte.
 

Während wir uns an der fremdartigen Hausmannskost des Brückendorfes gütlich taten, ließ es sich die hoch zufriedene Verliekin nicht nehmen, mich in die Geheimnisse ihrer Kochkünste einzuweihen, wobei ich auch nun endlich erfuhr, dass es sich bei den seltsamen, aromatischen Pflanzen um Strandfarn handelte, der als sehr nahrhaft und gesund galt und hier in fast jeder Mahlzeit Verwendung fand.

Als Vilthon und ich uns an den exquisiten Spezialitäten der Brückendorfküche satt gegessen hatten, wurde der Verliekin noch einmal überschwänglich für diesen außergewöhnlichen Gaumenschmaus gedankt, bevor die nette Dame sich mit den besten Wünschen für die Weiterreise von uns verabschieden musste.

Ich schrieb noch schnell einige belanglose Zeilen an meine Eltern, dann verschwand ich schnurstracks für einige Zeit im Bad, aus dem ich dann mit griesgrämigem Gesicht wieder herauskam.

„Alles in Ordnung mit dir? Hast du das Essen doch nicht vertragen?“ fragte Vilthon mich fürsorglich, als er bemerkte, dass ich mir unwohlig mit der Hand über den Bauch fuhr.

Dafür erntete er einen scharfen Blick aus meinen funkelnden Augen. „Du kapierst auch gar nichts, was? Ist auch besser so“ zischte ich verärgert, und stapfte dem ahnungslosen Alwen unwirsch voraus.

Als wir aus dem Gästehaus kamen, rief ich mit barscher Stimme nach Kwantsch, warf ihm einen Brocken von dem Essen zu, das ich vorsorglich für ihn hatte mitgehen lassen, und beobachtete, wie er ihn gierig in der Luft verschlang.

Dann wartete ich ab, bis sich der bestechliche Vogel auf dem Brückengeländer neben mir niederzulassen bequemt hatte, und band ihm schnell die Nachricht für meine Eltern an die Klaue, während Kwantsch auch noch den Rest seiner Mahlzeit in seinem großen Schnabel verschwinden ließ um darauf unverzüglich zurück ins Hügeldorf zu flattern.

Vilthon und ich sahen dem schwarz gefiederten Briefboten noch eine Weile hinterher, dann machten auch wir uns auf, um gefolgt vom treuen Schwarzfuß unseren Weg fortzusetzen.
 

„Wir sollten heute Abend vielleicht mit dem altem Alwen sprechen, der im Brief deiner Eltern erwähnt wurde.“ empfahl Vilthon nach einiger Zeit behutsam, als er glaubte, dass ich mich wieder etwas gefangen hätte.

Ich nickte verlegen.

Mittlerweile tat es mir schon wieder leid, meinen besten Freund vorhin in so einem ruppigen Tonfall angefahren zu haben.

Aber wenn er von Frauen tatsächlich so wenig verstand, wie er es heute erfolgreich unter Beweis gestellt hatte, wunderte es mich leider wirklich nicht mehr länger, warum ihn seine Frau verlassen hatte.

Natürlich konnte ich ihm diese traurige Erkenntnis nicht so ohne weiteres an den Kopf werfen, denn ich ahnte, dass der Alwe noch lange nicht über Calissas Verlust hinweg war und sich allein die Schuld an ihrer Trennung gab.

Freundschaftlich klopfte ich Vilthon auf die Schulter, worauf mein Freund mich mit argwöhnischer Skepsis musterte.

Gerührt schlang ich meine Arme um seinen Hals und drückte ihm aus einem Impuls heraus einen dicken Kuss auf die Wange.

Er war doch neben meinen Eltern das Liebste, was ich auf dieser Welt hatte!

Vilthon zog nur die Mundwinkel kraus und schwieg vorsichtshalber.

Heute wurde er wohl einfach nicht schlau aus mir.
 

Wir kamen an einer kleinen Fischfarm vorbei und Vilthon zeigte sich tief beeindruckt von der enormen Größe der flachmäuligen Perlenwelse, die sich in dem relativ flachen, warmen Wasser tummelten.

Ich musste meinen Freund förmlich von dem langen, dürren Alverlieken wegreißen, der Vilthon in ein längeres Gespräch über Fischzucht zu verwickeln drohte.
 

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Am frühen Abend endlich gelangten wir in eine deutlich belaubtere Gegend, deren fruchtbarer Boden von zahlreichen schmalen, von schlanken Schilfpflanzen gesäumten Bächen durchzogen wurde, an welchen wir unsere Feldflaschen auffüllen konnten.

Die Hauptstraße, die nun immer häufiger über kleine Brücken führte, lenkte ihren einst parallelen Verlauf zur Küste zusehends in Richtung des Landesinneren hin ab und lotste uns mitten durch ein dicht verzweigtes, von vielen Wasserschildkröten bewohntes Flusssystem.

Bald wucherten die Sumpf- und Wasserpflanzen in einem solchen Umfang, dass sie den Blick auf das Meer vollkommen versperrten, was ich mit einem Seufzer der Enttäuschung zur Kenntnis nahm.

„Wir müssten bald da sein.“ bemühte sich Vilthon, der meine Lautäußerung falsch deutete, mich zu trösten.

Am blassblauen Abendhimmel über uns begann Schwarzfuß mit einem Mal laut zu zetern, stieß in einem halsbrecherischen Sturzflug, der Kwantsch alle Ehre gemacht hätte, dicht bei uns hinab und fing an, ungewohnt wilde Flugmanöver hinter unseren Rücken zu vollführen.

Vilthon stutzte, wandte sich ruckartig um und starrte konzentriert in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

Da war doch was faul!

Schwarzfuß verstummte plötzlich und flüchtete schnurstracks in die dichte Krone eines Querkenbaumes.

Irgendetwas stimmte nicht.

Ganz und gar nicht.
 

Das nackte Entsetzen ließ mich erstarren, als ich in die Geräuschkulisse der idyllischen Umgebung hinein horchte und nun auch das bedrohliche, immer lauter werdende Brummen gewaltiger, durch die Luft schwirrender Insektenflügel in ihr vernahm.

„Riesenmoskitos!“ flüsterte Vilthon.

„Auch das noch!“ hauchte ich.

„Weg hier!“

So schnell uns unsere Beine trugen rannten wir die unebene Hauptstraße hinunter, wobei der Inhalt von Vilthons Rucksack, der bei jedem hastigen Schritt auf seinem Rücken auf und ab hüpfte, unsere panische Flucht mit einem monotonen Scheppern untermalte.

Mir kam der unpassende Gedanke, dass wir augenblicklich wohl einen äußerst amüsanten Anblick für einen unbeteiligten Betrachter abgegeben hätten, doch diese heikle Situation erlaubte es momentan wahrhaft nicht, darüber zu scherzen.

Der Stich der Riesenmoskitos, die gewöhnlich von dem Blut der größeren Lebewesen auf dieser Insel lebten, konnte für Alwen und Verlieken zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit werden.

Der flexible, scharf endende Saugrüssel dieses Insektes war dazu in der Lage, äußerst schmerzhafte und tiefe Wunden bei den bedauernswerten Opfern zu verursachen, die im schlimmsten Fall heftige entzündliche Reaktionen nach sich zogen oder gar zu unstillbaren Blutungen mit Todesfolge führen konnten.
 

Vilthon und ich hetzten im Sprint auf das Pfahldorf zu; die spitzen Giebel der ersten kegelförmigen Hausdächer waren bereits über dem Meer der hochwüchsigen Pflanzen zu erkennen.

Vilthon wagte einen Blick über die Schulter und keuchte erschrocken auf. Mindestens sieben Riesenmoskitos rasten im Tiefflug hinter uns her und holten erschreckend schnell auf.

„Spinnendreck!“ brüllte ich.

„Spar dir den Atem!“ brüllte Vilthon zurück.

„Schaffen wir es bis zum Dorf?“

„Nein!“ lautete die ernüchternde Antwort des Alwen.

Aus schreckgeweiteten Augen warf ich ihm einen schockierten Blick zu. „Was!?“

„Lauf weiter, Tilya! Ich habe eine Idee!“ rief Vilthon.

„Was für eine Idee denn? Ich lasse dich doch nicht allein mit diesen Viechern!“ schrie ich entrüstet zurück.

„Sollst du ja auch gar nicht! Lauf einfach den Weg entlang, über die nächste Brücke hinüber, immer weiter geradeaus, Richtung Dorf, und sieh dich ja nicht um!“

„Was hast du denn vor, Vilthon?“ Mein Herz klopfte wie wild vor Angst.

„Wirst du merken, Kleine! Jetzt lauf, so schnell du kannst und kümmere dich nicht um das, was hinter dir geschieht!“ befahl der Alwe unnachgiebig.

„Vilthon…“ wollte ich beginnen, um meinen besten Freund von seinem indifferenten Vorhaben abzubringen, doch dieser bedachte mich darauf hin mit einem derart strengen Blick aus seinen grauen Augen, dass ich nur noch folgsam nicken konnte.
 

Wir näherten uns mit jagenden Herzen der Brücke, doch als wir sie endlich erreicht hatten, hörte ich daraufhin nur noch das dumpfe Geräusch meiner eigenen Schuhe über die morschen Holzbretter poltern.

Tränen der Verzweiflung rannen mir über die Wangen, als ich plötzlich das rauschende Tosen aufpeitschender Wassermassen hinter mir vernahm.

Während ich noch rannte, bemerkte ich, dass das Surren der Moskitos beinahe unmerklich von einem unheimlichen, hohlen, raschelnden Säuseln übertönt wurde.

Trotz Vilthons eindringlicher Warnung blickte ich zurück und sah meinen Freund mit gebieterisch erhobenen Armen neben der Brücke am Fluss stehen. Direkt vor ihm schoss das Wasser in einer Fontäne in die Höhe und wurde wie von Zauberhand in hohem Bogen auf die Blutsauger gelenkt.

Die pergamentartigen Flügel der Tiere sogen sich mit dem Flusswasser voll, und sie purzelten, sich kreuz und quer überschlagend, auf die steinige, von der Mittagssonne noch aufgewärmte Straße.

Ich jauchzte auf und vollführte einen übermütigen Luftsprung.

Schwarzfuß verließ sein Versteck und flog unter Triumphgeschrei über mich hinweg. Ich wartete, bis Vilthon mich eingeholt hatte, dann spurteten wir gemeinsam hinter dem Raben her, auf direktem Wege zum Pfahldorf.
 

„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich nicht umsehen, sondern weiter rennen?“ keuchte Vilthon vorwurfsvoll.

„Du kennst mich doch!“ erwiderte ich lachend, und wischte mir flugs die letzten Spuren meiner Tränen aus den Augen.

„Ja, allerdings…“ knurrte Vilthon. „Und jetzt guck nach vorne und lauf weiter; wir sollten nämlich besser im Dorf ankommen, bevor die Flügel dieser kleinen Monster getrocknet sind.“

„Zu Befehl, der Herr!“ ulkte ich schelmisch und verfiel in einen albernen Hopserlauf, bis ich dem Alwen damit doch noch ein kleines Schmunzeln entlocken konnte.
 

Endlich erreichten wir das umzäunte Pfahldorf, in welchem die Überzahl der Wohnhäuser in Form von schmucken Holzlauben auf schlanken Pfosten thronten, welche aus dem von vielen kleinen Bächen und Rinnsalen durchfeuchteten Sumpfgebiet ragten.

Als wir die Treppe hinter den hölzernen Tor hinaufstiegen, fiel uns beiden ein Stein vom Herzen.

Über eine breite, stabile Hängebrücke gelangten wir auf die untere Ebene des zweistöckig strukturierten Wohn- und Arbeitsbereiches der Gemeinschaft.

Unter uns wälzte sich ein fettes Kaktuswaranmännchen genüsslich grunzend im Sumpf.

Hier waren wir in Sicherheit.

„Ich wusste gar nicht, dass du dein Talent so effektiv nutzen kannst, Vilthon.“ bemerkte ich nachhaltig überrascht, als ich im Geiste das jüngst überstandene Abenteuer für mich reflektierte.

„Du hast doch immer behauptet, du könntest nur schwache Wind- und Wasserströme umlenken, aber was ich eben mit ansehen durfte, glich eher einem handfesten Wirbelsturm als einer sanften Brise! Das war einfach fantastisch!“

Vilthon lächelte verlegen.

„Ich wundere mich selbst, Kleines. Angeblich verleiht einem das Totem in Gefahrensituationen besonders wirkungsvolle Fähigkeiten. Bisher durfte ich das oft beschriebene Phänomen noch nie am eigenen Leib erfahren. Doch wie wir gesehen haben, ist an dieser Theorie tatsächlich etwas Wahres dran. Glück, für uns beide.“

Mein begeistertes Grinsen gefror. „Glück? Wie? Du bist dir also gar nicht sicher gewesen, ob deine spontane Aktion überhaupt funktionieren würde? Und mich hast du trotzdem dazu gezwungen, einfach weiter zu rennen? Du hättest dabei drauf gehen können!“

Vilthon zog die Nase kraus. „Du hältst jetzt wohl lieber mal deinen Schnabel, junge Dame. Ich habe dich schließlich ausdrücklich darum gebeten, dich nicht nach mir umzusehen und strikt weiter bis zum Dorf zu laufen. Und was musste ich sehen? Dass das Fräulein stehen geblieben ist! Was wäre, wenn ich vorhin versagt hätte? Was wäre, wenn dich dann die Moskitos nur deswegen erwischt hätten, weil du nicht auf mich hören wolltest? Du solltest mir einfach blind vertrauen und dich vollkommen auf mich verlassen, Tilya, so wie ich mich auch auf dich verlassen können will. Ich habe deinen Eltern versprochen, auf dich aufzupassen, und ich werde sie nicht enttäuschen.“

„Das ist doch kein Grund, dich Hals über Kopf in den Tod zu stürzen, Vilthon! Du hättest mich doch wenigstens wissen lassen können, was du vorhast!“ murrte ich.

„Dramatisiere die Sache jetzt bitte nicht, Liebes!“

„Na, das sagt der Richtige!“ giftete ich ihn an. Ich war vollkommen aufgewühlt. „Versetze dich doch mal in meine Lage! Hättest du mich denn einfach den Moskitos überlassen? Wir sind Freunde, Vilthon. Wenn dir nun was passiert wäre!“

Der Alwe wandte sich mitten auf der schaukelnden Hängebrücke, die wir gerade überquerten, zu mir um und zog mich in seine Arme. „Es ist mir aber nichts passiert, Kleine. Nun hör doch endlich auf, mich auszuschimpfen. Was sollen denn die Leute von uns denken?“

Versöhnlich drückte er mir einen kleinen Kuss auf die Stirn.
 

Obwohl ich widerwillig knurrte, konnte Vilthon mir bestimmt an der Nasenspitze ansehen, dass ich ihm nicht mehr wirklich grollen konnte.

Er kannte mich schließlich schon mein ganzes Leben lang und wusste, dass ich jetzt vielmehr die eben ausgestandene Sorge um das Leben meines besten Freundes hinter meiner mürrischen, abweisenden Fassade zu verbergen suchte.

Kurze Zeit später trafen wir auf dem überfüllten Gemeindeplatz ein, wo sich die ganze fröhlich lärmende Dorfgemeinschaft zum Abendmahl versammelt hatte.

Wir wurden sogleich zu Tisch gewunken, doch bevor wir beiden hungrigen Reisenden uns den köstlichen gedämpften Süßwasserfischen, Flusskrebsfilets und Muscheleintöpfen zuwandten, suchten wir in der unübersichtlichen Schar speisender Einwohner nach dem alten Alwen, von dem in der letzten Nachricht aus dem Hügeldorf die Rede gewesen war.

Dies erwies sich in Anbetracht der wilden Geräuschkulisse als äußerst langwieriges Unterfangen, doch endlich wurden Vilthon und ich zu einem kleinen, weißbärtigen alwischen Greis geführt, der seinen letzten Alptraum allem Anschein nach recht gut verwunden hatte und einen recht unbefangenen, entspannten Eindruck auf uns machte .
 

Leider bekamen wir von dem senilen Alten kaum etwas zu hören, was wir nicht schon längst aus dem Brief erfahren hatten, und so nahmen wir beide zu Seiten des schrulligen Großvaters Platz und ließen uns von ihm einige Kellen Muschelsuppe in die leeren Teller gießen.

Ungezwungen unterhielt ich mich mit dem greisen Alwen und erkannte erfreut, dass der Besuch meines Malars keinen gewichtigen Eindruck bei dem gesprächigen, munteren Alten hinterlassen zu haben schien.
 

Später, im Schlafraum des Gästehauses, und nach einer ausgiebigen kalten Dusche gelang es mir allerdings erst, die Aufregung, die dieser Tag mit sich gebracht hatte, hinter mir zu lassen.

Ich kuschelte mich in die weichen Spinnenwolldecken und freute mich auf eine ordentliche Portion Schlaf, welcher seit dem Ausbruch meines Malars frei von jeglichem Inhalt war.

Ich pochte noch zweimal mit den Fingerknöcheln an die dünne Holzwand, neben der mein Bett aus Didigirohr aufgestellt war, und empfing einige Augenblicke später zufrieden lächelnd die zurückgrüßenden Klopfgeräusche meines besten Freundes, den ich heute glücklicherweise nicht an die blutrünstigen Riesenmoskitos verloren hatte.

Mirlien - Tag 4

Am nächsten Morgen lenkte der Verlauf der Hauptstraße unseren Weg aus dem sumpfigen Gelände heraus und führte uns durch ein weites, flachhügeliges Heideland.

Es ging vorbei an wilden, duftenden Wiesen, in denen fleißige Bienen und emsige Hummeln umher summten, bis uns am frühen Nachmittag der Anblick eines kleinen, am Straßenrand angrenzenden Caybawäldchens, verriet, dass es nicht mehr weit bis zur nächsten Siedlung sein konnte.

Cayba waren filigrane Bäumchen, aus denen man ein dunkles Harz gewann, welches sich in unbehandeltem Zustand als hervorragender Klebstoff verwenden ließ, oder sich mit Sand vermengt und im Ofen gebrannt zu einer Masse von gummiartiger Konsistenz verdicken konnte.

Die getrockneten Schoten konnte man mahlen, mit heißem Wasser aufgießen, und das belebende, bittersüße Getränk wie einen guten Tee genießen, während sich aus den gar gekochten faustgroßen Blütenköpfen ein deftiges Gemüsegericht zaubern ließ.
 

Wir mussten noch an einem weiten Kürbisfeld vorbei, bis wir in dem Gästehaus des Heidedörfchens eine Pause einlegen konnten.

Dann ging es weiter, quer durch ein kühles Salizenwäldchen hindurch, und ich erfreute mich an dem Anblick der bunten Schnabelgeckos, die in den sanft pendelnden Weidenruten herumturnten.

Einige Zwergwollspinnen verfolgten uns neugierig, bis der Salizenwald sich allmählich lichtete und nahtlos in eine wild wuchernde, von einigen Baumgruppen durchzogene Wiesenlandschaft überging.

„Ganz schön einsam hier, nicht wahr?“ wandte sich Vilthon an mich, als das ferne Rauschen eines Flusses ihn an die vergangenen Abende am Meer bei den geselligen Küstenbewohnern erinnerte.

Ich nickte zufrieden.

Mir war das natürlich ganz recht, und abgesehen von meinen unvermeidbaren monatlichen Unterleibsschmerzen fühlte ich mich prächtig, und genoss es, mit meinem engsten Vertrauten schweigend durch die unberührte Natur zu ziehen und ihren Klängen zu lauschen
 

Eine kleine Herde wilder Zaronnen hüpfte, angeführt von der schneeweißen Leitkuh, über die Wiese, dicht an und vorbei und setzte mit hohen Sprüngen auf den Fluss zu.

„Sollen wir den Tieren jetzt lieber flussabwärts folgen um heute Nacht im Blumendorf zu rasten?“ fragte ich Vilthon mit einem kritischen Blick zum Himmel, der bereits in den warmen Farben der nahenden Dämmerung zu leuchten begann.

„Oder meinst du, wir schaffen es noch eine Station weiter bis zum Korkdorf, bevor es dunkel wird?“

Der Alwe zog die Brauen kraus. „Das sollten wir besser nicht riskieren, Tilya. Der warme Wind des Karglandes treibt zu dieser Tageszeit die Riesenmoskitos aus ihren Territorien direkt zur Küste hin. Klüger wäre es, sich jetzt langsam einen sicheren Unterschlupf zu suchen.“

Dieses Argument konnte mich durchaus überzeugen und so folgten wir strammen Schrittes der sanften Strömung des breiten Baches, der einige Kilometer weiter in das Meer mündete, wo auch das idyllische Blumendorf zu finden war.
 

Das Farbschauspiel, welches sich uns bot, als wir uns der Küste näherten, war an Vielfalt, Wärme und Romantik nun wahrhaft nicht mehr zu überbieten.

Über den dunklen Silhouetten einiger hoher Roonen erschloss sich uns jetzt der Anblick des weiten Meeres, welches sich, nur unterbrochen von dem sanften Umriss einer großen Insel in unmittelbarer Küstennähe, bis zum Horizont erstreckte und in denselben kräftigen, orangeroten Tönen glitzerte, wie der Himmel über ihm, der wie heißes, flüssiges Metall leuchtete.

Dicht am Meeresufer lag das bezaubernde Dörfchen, das fast hinter den abertausenden, tanzenden Blütenköpfen einer endlosen Blumenwiese verschwand. Einige kegelförmige Bienenkörbe ragten starr und bewegungslos aus dem wogenden, bunten Flimmern heraus.

Je näher wir der Küste kamen, desto mehr wurde das leise Plätschern des Baches vom imposanten Rauschen der Wellen überdeckt, und der süße Duft der farbenfrohen Wiesenpflanzen schmeichelte unseren Nasen.

„Wollen wir noch ein wenig am Strand entlang spazieren, bevor wir im Dorf einkehren?“ fragte ich meinen Freund.

Der Alwe nickte.

Seine Augen glänzten, so überwältigt war auch er von der Schönheit dieses Ortes.
 


 


 

Wir verließen den Hauptweg, als dieser nicht mehr länger neben dem Flussbett verlief, sondern schnurstracks in die Gefilde des Blumendorfes abzweigte und folgten stattdessen dem Lauf des immer schmaler werdenden Baches, der bald sein Ende in den unergründlichen Weiten des Meeres finden würde.
 

Zwischen den hohen Gräsern erkannte ich erfreut einen weichen, ebenen Sandstrand, der von der Gischt umspült wurde und sich gleich angenehm samtig um meine geschundenen Füße schmiegen würde.

Plötzlich spürte ich Vilthons Hand auf meiner Schulter, die mich mit unerwarteter Beharrlichkeit zurück hielt.

„Was ist los?“ flüsterte ich verstört und schaute zu meinem Freund hoch, der bebend vor Anspannung einen bestimmten Flecken der Küste anvisierte, der aus meinem tiefer gelegenen Blickwinkel heraus nicht einzusehen war.

Vilthon antwortete mir nicht, ließ überraschend seinen Rucksack fallen und rannte wie vom Querkenkneifer gebissen zum Strand hinunter.

Ich hörte das platschende Geräusch, dass seine Schuhe verursachten, als er quer über den seichten Bach hastete, anscheinend ohne einen Gedanken an nasse Füße und durchweichte Stiefel zu verschwenden.

Seinen Namen rufend eilte ich meinem Freund durch das dichte Gestrüpp hinterher.

Die hoch gewachsenen Pflanzen behinderten meine Sicht und ich stürzte zweimal schmerzhaft auf die Knie, bevor es auch mir in den Sinn kam, mich endlich meiner sperrigen Tasche zu entledigen.

Ohne den lästigen Ballast auf den Schultern gelang es mir um einiges leichter, mich durch das Dickicht zu schlagen und mich bis zum weißen, feinkörnigen Sandstrand hinunter zu kämpfen, wo ich Vilthon in der unmittelbaren Nähe der Brandung erblickte, als er sich gerade, am flachen Ufer der Flussmündung kniend, über den regungslosen Körper eines schlanken Mannes beugte.
 

Mit klopfendem Herzen und weichen Knien stolperte ich an die Seite meines Gefährten und half ihm dabei, die offensichtlich bewusstlose Person aus dem seichten Gewässer zu befördern.

Sein Körper war leicht, beinahe zerbrechlich.

Die einfache, farblose Kleidung hatte sich mit dem kalten Flusswasser vollgesogen und schmiegte sich triefend um seine sehnigen Gliedmaßen.

„Ich habe ihn gerade erst auf den Rücken gedreht, er lag anscheinend die ganze Zeit auf der Seite, Tilya!“ informierte mich der nervöse Alwe, während wir den Ohnmächtigen gemeinsam ans trockene Ufer zogen. „Hoffentlich hat er nicht zu viel Wasser in seine Lungen bekommen!“

Vilthon legte den Kopf auf die Brust des Mannes, der etwa in seinem Alter sein musste, während er die eine Hand um sein schlaffes, schmales Handgelenk, die andere an die Stelle legte, an der er seine Halsschlagader vermutete. Einige bange Sekunden verstrichen.

„Kein Puls, kein Herzschlag, keine Atmung.“ stellte der Alwe tonlos fest und begann sofort, die lebenserhaltenden Maßnahmen einzuleiten und den Fremden zu beatmen.

Ich strich, während Vilthon energisch die Herzmassage durchführte, aus einem Impuls heraus das mattblonde Haar aus der leichenblassen, hohen Stirn des Mannes, den ich wegen der Form seiner Ohren für einen Verlieken hielt.

Ich zuckte unweigerlich zurück, als ich die unnatürliche, klamme Kälte seiner Haut spürte.

Es schien kaum noch Leben in ihm zu stecken.

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, bis Vilthon seine Wiederbelebungsversuche aufgab und verzweifelt die zitternden Hände vors Gesicht schlug.

Ich starrte meinen Freund schockiert an. „Er schafft es doch, oder?“ fragte ich ihn atemlos.

Vilthon wich meinem Blick aus und schüttelte verzagt den Kopf. „Wir haben ihn zu spät gefunden, Tilya. Ich kann nichts mehr für ihn tun.“

„Nein! Das kann nicht sein! Das glaub ich einfach nicht!“ rief ich und zerrte hilflos an dem durchnässten Hemd des leblosen Mannes.

Vilthon erhob sich langsam. „Lass uns gehen und den Einwohnern Bescheid geben, Liebes. Sicherlich vermisst man ihn bereits. Mir ist es ein Rätsel, wie so etwas passieren konnte. In einem flachen Gewässer ertrinkt man nicht so ohne weiteres. Eine andere Ursache muss ihn das Leben gekostet haben. Dieser Mann sieht so aus, als hätte er keinen einzigen Tropfen Blut mehr in seinen Adern. Der Dorfarzt wird sicher die eigentliche Todesursache feststellen können.“
 

Vilthons Stimme hallte mir in den Ohren.

Seine Worte schienen mir so sinnlos.

Hinter meinen Augen tobte ein wilder Sturm.

Ich blickte den Alwen fest an. „Er ist nicht tot, Vilthon.“ flüsterte ich und begann plötzlich, wie fremd bestimmt, mit meinen Fäusten auf den Brustkorb des Fremden einzutrommeln.

Entsetzliche Gedanken schossen mir durch den Kopf, fantastische Vorstellungen von einem leibhaftigen Malar, der die Leute zu Tode erschreckte.

„Mach die Augen auf!“ schrie ich den vermeintlichen Verlieken an. „Wach doch endlich auf, Mann!“

„Tilya, lass es gut sein, wir können ihm nicht mehr helfen…“ begann Vilthon und wollte sich gerade zu mir hinunter beugen, wahrscheinlich um mich tröstend in die Arme zu nehmen, als auch er die kleinen, gleißenden Funken bemerkte, die mit einem Male aus meinen vor Verzweiflung geballten Händen stoben.

„Tilya, was tust du da?“ keuchte der Alwe fassungslos.

Doch in diesem Augenblick konnte ich nicht auf die Frage meines Freundes reagieren, denn ich begann, als würde mich ein anderer Geist lenken, mit den flachen Händen mechanisch auf die Brust des mutmaßlichen Verlieken zu klopfen.

Ich wusste nicht einmal, was genau ich eigentlich tat, als ein merkwürdiger, tiefer, vibrierender Klang ertönte, dann knisterte die Luft um uns herum, die plötzlich mit einer subtilen, aber exorbitanten Spannung geladen zu sein schien.

Vilthon hob, wohl in der Erwartung eines herannahenden Gewitters, ergriffen den Blick zum Himmel.

Doch die seltsame Kraft, die die Atmosphäre erfüllte und sich nun in winzigen, gleißenden Lichtpünktchen über uns niederschlug, ging zweifelsfrei von irgendetwas aus, das sich zwischen dem Fremden und mir entwickelte, während ich immer noch über seinem starren Körper kniete und nun beide Hände um sein aschfahles Gesicht legte.
 

Ich beugte mich tief über den leblosen Verlieken und musterte die markanten Züge seines asketischen Gesichts, das mir so unergründlich vertraut schien und blieb mit liebevollem Blick an seinen schweren, entspannt geschlossenen Lidern hängen.

Es kam der mir vor, als schliefe der Mann unter mir friedlich und ruhig.

Und dann geschah es.

Um die schmalen Lippen des hageren Totgeglaubten zuckte es fast unmerklich, dann schlug er unvermittelt seine großen Augen auf.

Ich versank tief in seinem sanften, eindringlichen Blick.

Dann fiel ich dem Fremden in stummer Glückseligkeit um den Hals.

Eiskalte, fragile Hände tasteten vorsichtig über meinen zuckenden Rücken.

Vilthon kniete sich stumm neben uns.

Er wartete, bis mein lautloses Schluchzen verebbte und ich wieder ruhig und gleichmäßig atmete, dann zog er mich sachte an der Schulter zurück, und ich beeilte mich, etwas peinlich berührt, von dem Fremden hinunterzusteigen.

Vilthon reichte dem Mann seine Hand, und half ihm, sich aufzurichten.
 

Staunend stellte ich fest, dass ich mit meiner Einschätzung falsch gelegen hatte.

Dieser Mann war eindeutig nicht alwisch, aber ein Verliek war er ganz sicher auch nicht.

Sein sanftes Lächeln entblößte nicht die typischen verliekischen Reißzähne, und auch mit seinen strahlenden, graugrünen Augen hatte es eine eigenartige Bewandtnis.

Beide Irisringe umschlossen jeweils ein Paar starrer Pupillen, so dass es den Anschein machte, als hätte man die Linsen in ihrer Mitte gespalten.

Und nun ging mir dieser fremdartige, im wahrsten Sinne des Wortes doppeldeutige Blick, der kaum präzise zu erwidern war, durch Mark und Bein.

Das Adrenalin kribbelte wie eine Armee aufgeregter Ameisen in meinen Venen. Ich empfand keine Furcht, kaum Scheu, vielmehr fühlte ich mich überrollt von einer gigantischen, wilden Welle überschäumender Freude.

Er lebte.

„Wie geht es Ihnen?“ fragte Vilthon den Fremden endlich zittrig.

„Danke, ausgezeichnet.“ antwortete der Mann mit tiefer, rauer Stimme höflich lächelnd.

Vilthon und ich tauschten vielsagende Blicke aus.

„Wir haben Sie gerade hier am Ufer gefunden.“ fuhr Vilthon irritiert fort. „Sie gaben kein Lebenszeichen von sich. Wir dachten, Sie wären ertrunken.“ Er lachte hilflos. „Nun ja, offensichtlich haben wir uns geirrt. Zum Glück.“

Der Fremde nickte freundlich.

Seine aufmerksamen Blicke schweiften über die Landschaft, die Pflanzen, den Himmel, das Meer.

Dann musterte er uns aus seinen sternenklaren Augen mit unverhohlener Neugier. Diese Neuigkeit schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken.

Er nahm sie mit einer Gelassenheit hin, die mich zutiefst befremdete.

Wer war er?

Und vor allem was war er?
 

„Äh, anscheinend sind Sie nicht von hier.“ druckste ich verlegen herum, dann platzte ich endlich mit meiner Vermutung heraus. „Sind Sie vielleicht über das Meer hierher gekommen? Sind Sie… ein Mensch?“

Der Fremde legte fragend den Kopf schief, wie es Coatl, der Schnabelgecko tat, wenn er was ausgefressen hatte und von mir geschimpft wurde.

Es war ein rührender, unschuldiger Anblick.

„Tilya, bitte!“ Vilthon rammte mir mahnend den spitzen Ellenbogen in die Seite und ich schreckte hoch.

„Ich bin Vilthon aus dem Hügeldorf.“ stellte sich der Alwe schnell vor, um mir keine Gelegenheit zu geben, noch mehr sinnloses Zeug zu faseln. „Und dies hier ist meine gute Freundin Tilya.“

Die gute Freundin Tilya ächzte zustimmend.

„Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.“ erwiderte der Fremde, vielleicht nicht besonders gesprächig, aber voll aufrichtiger Liebenswürdigkeit.

Vilthon stutzte.

Die nüchterne, gefasste Haltung dieses Mannes verwirrte anscheinend nicht nur ihn angesichts der Tatsache, dass dieser Mann eben erst zurück in die Welt der Lebenden gekehrt war. „Sind Sie eigentlich alleine hier?“ fragte Vilthon schließlich.

Der Fremde sah sich etwas verunsichert in der Gegend um. „Ich weiß es nicht.“ murmelte er leise.
 

„Darf ich nach Ihrem Namen fragen?“ bohrte Vilthon weiter.

Doch der Mann zuckte bloß hilflos mit den Schultern.

Vilthon schluckte.

Er ahnte Schlimmes.

„Erinnern Sie sich denn überhaupt an irgendetwas, wie beispielsweise an die Namen Ihrer Freunde, an Ihre Familie, an Ihre Heimat?“

Der Unbekannte bestätigte den unangenehmen Verdacht des Alwen, indem er ihn nur mit seinen großen, hellen Augen ansah und nachdenklich den Kopf schüttelte, anstatt ihm die Fragen zu beantworten.

„Du liebe Zeit, er hat doch nicht etwa sein Gedächtnis verloren?“ Auch ich hatte inzwischen den Ernst der Lage begriffen und blickte entsetzt zu Vilthon auf, der mir beruhigend zunickte und sich dann wieder dem Fremden zuwandte.
 

Hilfsbereit legte der Alwe seinen Arm um die knochigen Schultern des Mannes.

„Hören Sie, mein Freund. Wir befinden uns auf der alverliekischen Insel, westliche Küste. Meine Freundin und ich sind auf der Durchreise zu den östlichen Gebirgen. Wir haben vor, diese Nacht im Gästehaus des Blumendorfes zu verbringen, wo man auch Sie freundlich empfangen wird. Vielleicht braucht Ihr Gedächtnis nur einige Zeit, um sich zu regenerieren und wenn Sie am nächsten Morgen aufwachen, fällt Ihnen alles wieder ein.“

Der fremde Mann sah Vilthon mit der herzerweichenden Arglosigkeit eines Kindes an, und man spürte die Schutzbedürftigkeit, die von dieser faszinierenden Person ausging.

„Ansonsten können wir Ihnen gerne anbieten, uns auf unserer Reise quer über die Insel zu begleiten. Wir werden auf unserem Weg noch in einigen Dörfern Halt machen, vielleicht haben Sie Glück, und einer der Orte kommt Ihnen bekannt vor, oder man kann sich umgekehrt irgendwo an Sie erinnern.“ lenkte Vilthon ein.

Ich konnte spüren, dass er sich auf eine unerklärliche Art verantwortlich für den unbekannten Neuling fühlte, und ihn auf keinen Fall einfach seinem Schicksal überlassen wollte.

Der Mann schenkte uns ein strahlendes Lächeln. „Ich schulde Ihnen beiden verbindlichsten Dank für Ihr Vertrauen. Natürlich nehme ich Ihr Angebot gerne an.“

Ich schmolz nur so dahin.

Doch ich wollte mir nur ungern anmerken lassen, wie sehr mich das aparte Wesen des Fremden bezauberte. „Dann kommen Sie mal schnell mit uns mit, Sie sind ja völlig durchnässt.“ rief ich und hakte mich schwungvoll bei dem Mann unter. „Im Dorf werden wir Ihnen gleich trockene Kleidung besorgen und Sie können derweil ein warmes Bad nehmen. Morgen früh geht es nämlich für uns schon wieder weiter, und wenn Sie uns begleiten wollen, dürfen Sie uns bloß nicht krank werden. Aber sagen Sie, wie dürfen wir Sie denn jetzt eigentlich nennen, solange wir Ihren wirklichen Namen noch nicht kennen?“

„Mirlien.“ antwortete Vilthon spontan für ihren neuen Gefährten.

Ich grinste.

Mein alwischer Freund schien dazu berufen, vortrefflich passende Namen für die Leute zu finden.

Mirlien bedeute in der alten verliekischen Sprache nämlich soviel wie „der Neue, Fremde, Ankömmling“.

Mirlien lächelte glücklich. „Einverstanden.“
 

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Die Sonne ging gerade unter, als wir drei im Blumendorf eintrafen.

Ich hatte die beiden achtlos zurückgelassenen Rucksäcke im tiefen Gebüsch wieder gefunden und sofort die weichen Decken aus meiner Tasche geklaubt, um sie Mirlien um den tropfnassen Körper zu wickeln.

Während ich nun in den Lagerhäusern des Blumendorfes nach trockener Wäsche für Mirlien suchte, führte Vilthon ihn auf den Gemeindeplatz, um allen Leuten, die ihnen dort über den Weg liefen, Fragen über die Identität des neuen Freundes zu stellen.

Leider schien der schüchterne Mann, der weder Alwe noch Verliek war, keinem der Einwohner bekannt zu sein, auch wenn sie sich sehr angetan von dem charismatischen Fremden zeigten.

Da auch die Tafelnachrichten am Gemeindehaus keine Informationen enthielten, die irgendwelche Rückschlüsse auf Mirlien zuließen, kehrten die beiden Männer kurze Zeit später unverrichteter Dinge im Gästehaus ein.
 

Vilthon zeigte Mirlien, wo die Schlafräume der Herren zu finden waren und erklärte ihm gerade, wie man die Wassertemperatur in der Dusche regulieren konnte, als ich auch schon die Treppe hinauf polterte. Zusätzlich zu meinem eigenen sperrigen Rucksack, den ich immer noch auf meinen Schultern trug, hielt ich eine zweite, neue Tasche in meinen Armen umklammert.

„Hier, alles für dich!“ keuchte ich und ließ die Fracht vor Mirliens Füße fallen.

In die Reisetasche hatte ich vorausschauend eine Xeraatmatte, eine Decke, eine Feldflasche, zwei Handtücher und einem Stapel neuer Wäsche gepackt.

Auch an eine Zahnbürste, einen Schwamm und einen Kamm für den neuen Gefährten hatte ich umsichtig gedacht.

Vilthon staunte nicht schlecht.

Anerkennend pfiff er durch die Zähne. „Alle Achtung! Kannst du mir mal bitte verraten, wie du das alles so schnell auftreiben konntest?“

„Tja, mein Lieber, dafür gibt es eine simple Erklärung. Wenn man sich auf seinem Weg nicht an jeder Ecke eine Piragie ans Ohr quasseln lässt, kann man auch in kurzer Zeit so einiges erreichen.“ frotzelte ich keck.

Ächzend befreite ich mich von meiner eigenen Tasche, die mit ihren harten Riemen brennende rote Striemen in meine schweißnassen Schultern gescheuert hatte und verstaute das verhasste Gepäckstück mit einem kleinen Tritt unter das Bett eines Gästezimmers, dass ich somit für mich beanspruchte.

Als ich mich umwandte, stand Mirlien direkt vor mir im Türrahmen. Schüchtern bedankte er sich bei mir für meine Mühen und bat um Verzeihung für die Umstände, die er Vilthon und mir zu machen schien.

Errötend winkte ich ab. „Keine Ursache, Mirlien. Das ist doch selbstverständlich.“

Mit glühenden Wangen sah ich dem unscheinbaren, aber nichtsdestotrotz außergewöhnlichen Mann nach, als er mit samt seinem Rucksack im Bad verschwand.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, rannte ich grinsend zu Vilthon und hopste mit einem schwungvollen Satz neben ihn auf das quietschende Bett seines Schlafraumes.

„Und, was hältst du von unserem neuen Mitreisenden?“ fragte der Alwe mich leise.

Ich sah ihn aus leuchtenden Augen an. „Ich weiß nicht, wer er ist, und was für ein Geheimnis ihn umgibt, aber ich vertraue ihm völlig. Findest du das töricht?“

Vilthon verneinte lächelnd. „Ich muss gestehen, dass ich etwas Angst davor hatte, dass du meinen spontanen Beschluss, Mirlien mit auf unsere Reise zu nehmen, ablehnst. Aber der Gedanke, ihn einfach hier im Blumendorf abzuliefern und ihn allein mit seiner Ungewissheit zu lassen, kam mir so verkehrt vor. Ich fühle mich für ihn verantwortlich.“

„Ich verstehe, was du meinst, Vilthon.“ flüsterte ich andächtig. „Außerdem ist Mirlien wirklich etwas ganz Besonderes. Hast du gesehen, wie rücksichtsvoll er sich bewegt? Wie vorsichtig er sich seinen Weg durch die Blumenwiesen zum Dorf gebahnt hat, so bedacht darauf, kein einziges Hälmchen umzuknicken? Eine so feinsinnige Person hat es mehr als nur verdient, dass man sich um sie kümmert.“

Vilthon nickte. „Es freut mich sehr, zu hören, dass du Mirlien mit den gleichen Augen zu sehen scheinst, wie ich. Du hast Recht, er ist anders. Er ist wundervoll. Unbeschreiblich. Ich habe das Gefühl, als würde ich ihn schon eine Ewigkeit kennen. Es kommt mir so vor, als könne er mit seinen sonderbaren Augen bis auf den Grund meiner Seele blicken. Seine Anwesenheit tut gut, findest du nicht?“

Auf meinen Lippen breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus. „Ich empfinde ähnlich, Vilthon. Nur hätte ich es wohl niemals so präzise formulieren können, wie du.“

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Eine viertel Stunde später öffnete sich die Tür des Waschraumes und Mirlien tapste, nur mit einem Handtuch bekleidet, das er sich lose um die Hüften geschlungen hatte, verschmitzt winkend an der offenen Tür des Schlafraumes vorbei, in welchem Vilthon und ich nebeneinander auf dem Gästebett saßen.

In diesem kurzen Moment fielen uns die vielen großen, seltsam geformten weißen Narben auf, die den drahtigen, hellhäutigen Körper des sanftmütigen Mannes entstellten.

Mit Bestürzung registrierte ich eine besonders schlimme Narbe, die sich quer über die Stelle an Mirliens Bauch zog, wo sich normalerweise der Nabel befinden sollte.
 

Meine Kehle schnürte sich zusammen und als ich die Tür zu Mirliens Schlafraum ins Schloss fallen hörte, wandte ich mich erschüttert an meinen alwischen Freund. „Hast du das gesehen? Was kann ihn nur derartig verletzt haben, Vilthon? Ob es einen Zusammenhang zwischen diesen Narben und der Tatsache gibt, dass wir ihn heute bewusstlos am Ufer gefunden haben? Ob vielleicht sogar der Malar…“

„Tilya!“ unterbrach Vilthon meinen Redefluss schroff. „Wovon auch immer Mirlien diese Male davon getragen hat; dieses Ereignis muss schon lange zurück liegen. Das müsstest du eigentlich selber an der Beschaffenheit des Narbengewebes erkannt haben, meine Liebe. Deshalb kannst du dir deine fixe Idee, dass dein Malar seine Finger bei dieser Angelegenheit im Spiel gehabt haben könnte, auch schleunigst aus dem Kopf schlagen. Erkläre mir doch lieber, wie du es geschafft hast, Mirlien aus seinem todesähnlichen Schlaf erwachen zu lassen. Ein elektrisches Feld hat euch beide umgeben, Tilya. Als du Mirlien einfach nicht aufgeben wolltest, konnte ich deutlich eine unterschwellige Spannung spüren, die sich in der Umgebung entladen hat. Es schien so, als ob du diese Kraft kontrollieren würdest, Kleines, es schien, als würdest du von einem seltenen Talent Gebrauch machen.“ Ich schnaubte.

„Von einem Talent? Ich? Mein Totem existiert nicht, Vilthon! Diese rätselhafte Energie muss von Mirlien ausgegangen sein!“ widerlegte ich etwas bissig.
 

Unangenehmes Schweigen machte sich einige Augenblicke lang zwischen meinem besten Freund und mir breit.

Ich knibbelte bedrückt an meinen Fingernägeln herum. „Mirlien ist kein Verliek. Aber ein Alwe ist er auch nicht. Meinst du, Mirlien ist ein Mensch?“ fragte ich den Alwen dann in einem sanfteren Ton.

Vilthon zog die Augenbraue in die Höhe und legte seine Stirn in Denkerfalten.

„Wenn er einer ist, dann müssten wir unsere Vorstellungen von Menschen komplett überdenken, Kleines. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass ein Mann mit so außergewöhnlichen Augen und einem derart einnehmenden Wesen menschlichen Ursprungs sein könnte, auch wenn ich mir, wie die meisten aller Inselbewohner, das Wissen über die typischen Merkmale dieses Volkes nur aus Büchern angeeignet habe.“ antwortete er.

Ich nickte zustimmend.

Das, was hierzulande über die Natur der Menschheit bekannt war, widersprach mit Gewissheit allem, was Mirlien verkörperte.

Unser neuer Freund wirkte erhaben über alle menschlichen Schwächen, und dennoch schien er so unbedarft, so verletzlich, so verloren.

„Es wird spät, Liebes. Willst du heute Nacht bei mir im Bett schlafen, so wie damals, als du noch ganz klein warst und Angst vor bösen Träumen hattest?“ scherzte Vilthon, und wir beide brachen in schallendes Gelächter aus, bis uns die Tränen in die Augen stiegen. Eigentlich war diese Frage gar nicht wirklich komisch oder witzig aufzufassen, doch das gemeinsame Lachen wirkte sicherlich nicht nur auf mich wie eine Befreiung von dem Stress, der uns an diesem Tag besonders schwer zu schaffen gemacht hatte.
 

Dann sprang ich plötzlich wie vom Querkenkneifer gebissen auf, klaubte mir in meinem Zimmer hastig Handtuch und Nachthemd aus dem Rucksack und flitzte damit schnell ins Badezimmer, bevor Vilthon mir zuvorkommen konnte.

„Erster! Aber keine Angst, ich beeile mich!“ brüllte ich durch die Waschzimmertür, was von Vilthons ergebenen und relativ hoffnungslosen „Ja, ja. Natürlich…“ quittiert wurde.

Anscheinend teilte Mirlien meine Leidenschaft für kaltes Duschen, denn ich fand den sauber verlassenen Waschraum wider Erwarten nicht erfüllt mit dem schwülem Dunst erhitzen Wassers vor, sondern angenehm kühl temperiert.
 

Ich hielt brav mein Versprechen ein, und machte nach zwanzig Minuten das Bad für Vilthon frei, dem ich zur Entschädigung einen dicken Gutenachtkuss auf die Wange drückte.

Dem Alwen schoss das Blut in den Kopf und er grummelte noch ein wenig vor sich hin, bevor auch er endlich den Waschraum aufsuchen durfte um dort zu seiner wohlverdienten, heiß ersehnten Dusche zu kommen.

Erschöpft öffnete ich die Tür zu meinem Schlafraum, hielt aber mitten auf der Schwelle inne.

Auf leisen Füßen schlich ich zur Tür, die zu Mirliens Schlafraum führte und lauschte einige Augenblicke lang an ihrem spröden Holz.

Dann drückte ich behutsam die Klinke herunter und betrat lautlos das Zimmer.

Vilthon hätte mich jetzt dafür gewiss meiner Unverfrorenheit gescholten.

„Tilya.“ hörte ich Mirliens dunkle Stimme fragend durch das Zwielicht raunen.

Stumm schritt ich zu seinem Bett, in welchem er aufrecht lehnte, so als hätte er meinen Besuch bereits erwartet.

Zaghaft beugte ich mich zu ihm hinunter und gab dem fremden Mann einen ebenso warmen Kuss auf die raue Wange, wie ihn eben noch mein bester Freund von mir erhalten hatte.

Es war unglaublich.
 

„Bis Morgen, Mirlien.“ flüsterte ich in die Schatten der Dunkelheit. „Ich wecke dich in der Frühe.“

„Schlaf gut, Tilya.“ verabschiedete sich der Mann von mir, als ich den Raum ebenso leise, wie ich ihn betreten hatte, auch wieder verließ.

Wiedersehen - Tag 5

Vilthon rutschte unglücklich mit der Rasierklinge ab, als ich ohne vorher anzuklopfen in den Waschraum stolperte und lauthals verkündete, dass Mirlien und ich schon unten beim Frühstück auf ihn warten würde.

Er bedachte sich für diese Information bei mir mit einem für ihn so typischen vernichtenden Blick unter der hochgezogenen Augenbraue und wischte verärgert das Blut von seinem Kinn. „Ich bin gleich fertig, Kind, immer mit der Ruhe! Du bist heute ziemlich früh aufgewacht, nicht wahr? Man konnte dich nämlich die Treppen rauf und runter trampeln hören, noch bevor die ersten Vögel zu zwitschern begonnen haben. Ist Mirlien auch schon so lange auf wie du?“

„Ja, ich glaube, ich habe ihn geweckt, als mir im Waschraum der Kamm auf den Boden gefallen ist.“ gab ich zu.

„Was du nicht sagst…“ raunzte der Alwe sarkastisch.

Ich grinste frech und rannte hinunter in den Speiseraum, um mich Mirlien gegenüber an den vom goldenen Kerzenschein beleuchteten Esstisch zu setzen.
 

Ein großes Glas, gefüllt mit bernsteinfarbenem Honig stand zwischen etlichen filigranen Blumenvasen, welche bestückt waren mit den schönsten und wohlriechendsten Blüten, die auf den Wiesen des Blumendorfes gediehen.

Oh, wie begann dieser Tag doch gut!

Als endlich auch Vilthon die Treppen herabstieg, seinen gepackten Rucksack zu unseren beiden anderen ausgebeulten Taschen gesellte und sich nun ebenfalls an der liebevoll gedeckten Tafel nieder ließ, fiel ich wie ein ausgehungerter Wolf gierig über die heiß ersehnten Honigbrötchen her.

Das Blumendorf gehörte zu den wenigen Honig herstellenden Gemeinschaften, und der süße Nektar war ein seltenes und allseits hoch geschätztes Gut auf der Insel.

Vilthon verdrehte die Augen, als ich mir auf Biegen und Brechen noch ein drittes Brötchen zwischen die Zähne stopfte, während die beiden Männer schon ihre Taschen geschultert hatten und sich bereit zum Gehen machten.

Schließlich kam ich aber dennoch seiner energischen Aufforderung, ihnen zu folgen, nach, und hüpfte, immer noch kauend, meinen beiden Gefährten hinterher.
 

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Über einem Xeraatfeld sichteten wir einen wohlbekannten grauen Raben, der gemächlich seine Kreise am kaltblauen Himmel zog.

„Darf ich dir Schwarzfuß vorstellen, Mirlien? Mit diesem Raben halten wir den Briefkontakt zwischen uns und unserem Heimatdorf aufrecht. Kwantsch ist der andere unserer beiden geflügelten Boten, aber den wirst du noch früh genug kennen lernen.“ klärte Vilthon Mirlien auf, der den eleganten Flug des Vogels mit Faszination verfolgte.

„Was für ein schönes Tier. Wie majestätisch er durch die Lüfte gleitet.“ flüsterte er andächtig.

Ich griente und fragte mich, was Mirlien wohl erst zu den akrobatischen Flugkünsten des frechen Kwantsch sagen würde.
 

Während wir unseren Weg entlang zahlreicher Feldern beschritten, konnten Vilthon und ich staunend beobachten, mit welcher Ehrfurcht der neue Gefährte die langsam erwachende Welt um sich herum erfasste, mit welcher Bewunderung ihn der Anblick scheinbar selbstverständlicher Dinge wie Bäume und Blumen erfüllte.

Beinahe zärtlich kniete er sich plötzlich auf die morgenfeuchte Erde und las vorsichtig eine kleine Schnecke vom Straßenrand auf, bevor sie von dem entgegenkommenden Salzkarren überrollt werden konnte.

Strahlend vor Begeisterung wandte er sich Vilthon zu und hielt ihm unvermittelt das glitschige Weichtier unter die Nase. „Sieh dir nur diese perfekte Struktur der Schale dieser kleinen Schönheit hier an! Hoffentlich verlernt man niemals die vielen unfassbaren Wunder zu schätzen, die die Natur hervorgebracht hat.“

Das Schneckchen zog verstört die kleinen Fühler ein, als hätte die pikierte Miene des Alwen es zutiefst gekränkt.

Ich fand dies äußerst amüsant.

Mit unendlicher Behutsamkeit setzte Mirlien das Tierchen auf eine Kohlsprosse im Salnachfeld.

Vilthon wechselte einen amüsierten Blick mit mir, dann klopfte er Mirlien freundschaftlich auf die Schulter und wir drei setzten unseren Weg fort.
 

Ich versuchte mein Glück, und stellte Mirlien eine Frage nach der anderen, in der Hoffnung, dass sich dadurch in der verdunkelten Erinnerung des neuen Freundes ein kleiner Funke schlagen ließ, der etwas Licht in seine Vergangenheit bringen konnte, aber es war vergebens.

Weder wusste er zu sagen, ob er eine Familie, Frau oder Kinder hatte, noch konnte er mit Sicherheit klären, ob er tatsächlich vom Kontinent der Menschen stammte oder aber gebürtiger Insulaner war.

Die Vermutung lag allerdings nahe, dass keiner der beiden letztgenannten Optionen zutraf.

Auch waren Mirlien Alwen und Verlieken zwar als Begriffe geläufig, doch mit den Eigenarten beider Völker schien er ebenso wenig vertraut, wie mit der besonderen Bewandtnis, die es mit ihren Totemtieren, ihren Talenten und den Malaren auf sich hatte.

Zu diesen Themen warfen sich Mirlien etliche tiefgründige Fragen auf, als wir ihn ausführlich in die Geheimnisse der Insel und ihrer Bewohner einweihten. Peinlicherweise waren Vilthon und ich nicht dazu in der Lage, sie ihm auch alle zu beantworten.

Die heimische Tier- und Pflanzenwelt schien Mirlien ebenfalls nur teilweise bekannt zu sein, und so lauschte er Vilthons langatmigen, weit ausholenden Schilderungen mit unstillbarer Wissbegier.
 

Plötzlich, als wir gerade an einem farbenprächtiges Sonnenbulbenzwiebelfeld vorbeikamen, über dem einige wilde Raben krächzend nach unvorsichtigen Nagetieren spähten, kam Vilthon der späte Gedanke, die geflügelten Briefboten in alle Dörfer zu schicken, um dadurch vielleicht doch noch Mirliens Herkunft auf die Spur zu kommen.

„Ja! Prima Idee!“ rief ich begeistert. „Wenn Mirlien tatsächlich schon vorher auf der Insel gelebt hat, dann kriegen wir das auf diesem Wege sicher schnell raus! Ich werde gleich Schwarzfuß mit der Information zum Hügeldorf senden, damit meine Eltern die anderen Raben so schnell wie möglich mit entsprechenden Briefen in alle Gemeinden schicken können.“

„Und was genau willst du schreiben?“ fragte mich Vilthon skeptisch, während ich bereits voller Eifer in seinem Rucksack nach dem Schreibzeug kramte.

„Na ja, ich dachte mir, ich schreib einfach die Wahrheit. Kurz und schmerzlos. Fremder Mann, nicht alwisch, nicht verliekisch, eventuell menschlich, mit außergewöhnlichen Augen, am… Vilthon, welchen Tag haben wir heute?“

„Fünfter Zypressentag…“ antwortete Vilthon, als er mir argwöhnisch über die Schulter spickte, während ich eifrig das Papier bekritzelte.

„…am vierten Zypressentag in Ufernähe beim Blumendorf gefunden. Groß, sehr schlank, meliertes blondes Haar, geschätzte vierzig Sommer. Von partieller Amnesie betroffen, deshalb sendet uns bitte alle brauchbaren Hinweise ins Hügeldorf an Chareleo und Auriannah zwecks Weiterleitung an die Wanderer, die das Tier vom Kontinent jagen. So. Und dazu schreib ich noch ein paar aufklärende Zeilen an meine Eltern. Wie findest du es, Vilthon?“
 

Der Alwe zog die Brauen zusammen. „Klingt seltsam, als wolltest du allerorts nach einer heiratswilligen Dame für ihn suchen.“

„Ach, Quatsch!“ ärgerte ich mich. „Kann ich das jetzt so lassen oder nicht?“

„Im Grunde ja, aber streich besser den Part, in dem du ihn als möglichen Menschen beschreibst, das sorgt nur für Beunruhigung. Denk an den schlechten Ruf, den die Menschen bei uns haben, ob berechtigt oder nicht, das wage ich ja gar nicht zu beurteilen. Mirlien sollte aber nicht mit dem Bild, was wir von ihnen haben, in Verbindung gebracht werden, denn das wird ihm nicht gerecht und würde nur dafür sorgen, dass man ihm mit Vorurteilen und Misstrauen begegnet.“

„Stimmt, daran habe ich nicht gedacht!“ rief ich bestürzt und strich schnell gewissenhaft die gewisse Stelle mit der dunklen Tinte durch.

Dann schrieb ich noch einige beschönigende Phrasen an meine Eltern und winkte nach Schwarzfuß, der sich überraschenderweise auf Mirliens Schulter niederließ. Der intelligente Vogel streckte geduldig seine rechte Kralle nach hinten, bereit sich von mir den Brief umbinden zu lassen.
 

Während ich der stummen Aufforderung des Tieres nachkam, beobachtete ich aus den Augenwinkeln, wie Mirlien und Schwarzfuß sich gegenseitig mit einer Mischung aus Respekt und unterschwelliger Sympathie musterten.

Dann flatterte unser gefiederter Freund mit der Botschaft in Richtung Heimat.

„Ich denke, in spätestens zwei, drei Tagen ist die Nachricht einmal als allgemeines Schreiben um die Insel gegangen.“ schätzte Vilthon, während er dem schwarzen Vogel noch einige Momente hinterher blickte.

„Habe ich das vorhin richtig verstanden, ihr jagt ein Tier?“ fragte Mirlien nachhaltig erschüttert, als wir unseren Weg fortsetzten.

Mit einem Seitenblick auf Vilthon verneinte ich.

Jetzt wurde es unangenehm.

Ich wusste nicht, ob ich imstande dazu war, jemanden wie Mirlien zu belügen. „Wir jagen es nicht, weil wir es etwa töten wollen, wir sind vordergründig erst einmal einfach nur auf der Suche nach ihm. Es ist fremd hier, und wir wissen nicht, ob es den Leuten hier großen Schaden zufügen wird, denn dazu wäre es durchaus in der Lage. Wir wollen das Tier finden, stellen, und herausfinden, ob es möglich ist, Seite an Seite mit ihm zu leben, oder ob wir etwas tun müssen, um die Insulaner vor ihm zu schützen.“

Mirliens besorgter Gesichtsausdruck hellte sich zusehends auf. „Es ist also fremd hier, so wie ich es bin. Es ist demnach wahrscheinlich, dass dieses Tier aus seiner Verwirrtheit heraus überstürzt handelt, wenn es sich in die Ecke gedrängt fühlt. Verurteilt es bitte nicht deswegen übereilt, vielleicht braucht es sogar unsere Hilfe, um hier zu überleben. Um was für eine Art von Lebewesen handelt es sich, so dass befürchtet werden muss, es könne Personen gefährden?“

Ich fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen und schielte zu Vilthon herüber.

Der Alwe musste denselben Gedanken gehabt haben, wie ich, denn er erwiderte fest meinen Blick und nickte in stillem Einverständnis.

Es war schon ein Vorteil, eine Person so lange und so gut zu kennen, dass man manchmal auf alle Worte verzichten konnte.

Ich überließ meinem Freund das Wort.

„Mirlien, was wir dir nun anvertrauen, sollte unbedingt unter uns bleiben, denn wir wollen verhindern, dass sich Angst und Gerüchte auf der Insel breitmachen. Du wirst gleich verstehen, warum. Das Tier, nach dem wir suchen, ist ein Malar. Um genauer zu sein, Tilyas Malar, der sich irgendwie aus ihren Träumen befreien konnte.“

Mirlien stand die Überraschung in sein Gesicht geschrieben. „Ich habe nun angenommen, ein Malar sei nicht wirklich körperhaft, sondern ein uraltes spirituelles Wesen, das das Erbe eurer Abstammung mit sich bringt. Ähnlich den Totemtieren, von denen ihr eure jeweiligen Begabungen empfangt, die mir zugegeben immer noch wundersam und rätselhaft erscheinen. Aber offensichtlich ist ein Malar unabhängiger von euch als wahrscheinlich vermutet, wenn er sogar die Dimension, die ihn bannt, verlassen kann. Wie aber kam es überhaupt zu dieser unüblichen Begebenheit?“

Ich nahm all meinen Mut zusammen und erzählte Mirlien stockend von meiner ersten Begegnung mit dem Malar, vom Verlust meines Totems, von den schrecklichen Alpträumen und von der Nacht, in der mein Malar mich verließ. Es fiel mir leichter, als ich angenommen hatte.
 

Mirlien hörte mir aufmerksam zu, bis ich mit der Schilderung der neuesten Ereignisse schloss.

„Nun habt ihr mir also alles erzählt, was ihr wisst, und dennoch ist mir immer noch Einiges schleierhaft.“ gab er schüchtern zu, als wir uns gerade durch einen kleinen, aber dichten Betoolenwald schlugen.

„Nicht nur dir, Mirlien.“ tröstete Vilthon ihn. „Jetzt erfährst du auch den wahren Grund, weshalb wir überhaupt ins Gebirge wandern wollen. Dort wohnt ein alter Bekannter von mir, der, sagen wir, Experte auf dem Gebiet der Malare und der schlechten Träume ist. Wir hoffen, dass er uns beratend zur Seite stehen kann und uns vorschlagen wird, was nun zu tun ist, denn momentan tappen wir im Dunkeln. Außerdem schwelgten wir in dem Erwarten, auf unserem Weg auf Spuren des Malars zu stoßen, oder neue Erkenntnisse über ihn zu erlangen, doch bisher haben wir nichts gefunden, was uns in irgendeiner Form weiter gebracht hätte.“

„Doch!“ widersprach ich dem Alwen keck. „Wir haben Mirlien gefunden!“
 

„Das ist wahr.“ grinste Vilthon. „Mirlien, ich denke ich spreche auch für Tilya, wenn ich dir hiermit erkläre, dass wir dir bedingungslos vertrauen. Und da du nun für eine unbestimmt lange Zeit mit uns reisen wirst, hielt ich es für unverantwortbar, dir die Wahrheit vorzuenthalten. Bisher sind nur ihre Eltern und ihr ehemaliger Lehrmeister Myroon mit den Tatsachen konfrontiert worden, doch ich glaube, dieses Geheimnis, das den Insulanern vor allem zu ihrem eigenen Schutz verschwiegen wird, ist bei dir in den denkbar sichersten Händen. “

Ich nickte bestätigend mit meinem Wuschelkopf und Mirlien dankte uns für unsere Offenbarung mit einem warmen Lächeln. „Dieses Vertrauen ehrt mich sehr. Und ich begreife allmählich die komplizierte Situation, in der ihr euch befindet, auch wenn mein Verstand noch nicht die Hintergründe sämtlicher Zusammenhänge erfassen kann, die den Segen und den Fluch eurer Völker für die Bewohner dieser Insel bedeuten. Es ist richtig, dass herausgefunden werden muss, ob dieser freie Malar ein Risiko für sie darstellen könnte, und ich hoffe, dass ein Kompromiss gefunden wird, aus dem beide Seiten ohne Verluste herausgehen können. Ich weiß zwar nicht, ob ich euch beiden bei eurem Vorhaben in irgendeiner Weise behilflich sein kann, aber ihr könnt euch darauf verlassen, dass ich euch in jeder Hinsicht unterstützen werde, soweit ich es denn vermag.“ versprach er uns fest.

Ich ergriff seine Hand und drückte sie dankbar. „Und wir hoffen, dass sich die Lücken in deiner Erinnerung bald wieder füllen, auch wenn ich zugeben muss, schon jetzt gar nicht mehr auf dich verzichten zu wollen, Mirlien.“

Sichtlich erfreut blickte Mirlien Vilthon und mich aus seinen strahlenden Augen an.

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Wir drei hatten uns so sehr in unser Gespräch vertieft, dass wir viel zu spät bemerkten, dass wir bereits das Korkdorf hinter uns gelassen hatten, was schade war, denn es hätte mit seinen vielen Baumhäusern und den schaukelnden Hängebrücken, die ähnlich der Struktur eines Spinnennetzes zwischen ihnen aufgespannt waren, bestimmt einen sehr interessanten Anblick geboten.

Doch nun führte uns unser Weg bereits über endlose Weiden, auf denen Betoolenspringbockherden friedlich grasten.

Ich schmunzelte.

Gestern Abend erst hatten wir Mirlien kennengelernt, und nun kam es mir so vor, als wären wir schon seit Ewigkeiten befreundet.

Dieser Mann strahlte eine geradezu rührende Naivität aus.

Er war so geduldig, so bescheiden und zurückhaltend in seinem ganzen Wesen, dass man einfach gar nicht anders konnte, als ihn gern zu haben und ihn vor allem Übel beschützen zu wollen.

Ich schaute an dem von weitem so unscheinbar wirkenden Mann hinauf und empfand eine wilde, unerklärliche Zuneigung für ihn, die mich selbst beinahe erschreckte, wenn ich bedachte, wie schwer ich sonst zu den Leuten Vertrauen fassen konnte.

Vilthon aber schien ähnlich zu fühlen, und ich spürte, dass es ein gnädiger Wink des Schicksals sein musste, dass ausgerechnet wir beide auf diese von Grund auf gütige Person treffen durften.
 

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Der Splitter des fahlen Mondes erhellte mit seinem kalten Licht die dunkle, schwül warme Nacht, als wir endlich durch die zarten Zweige eines lichten Nussbaumwäldchens die Glühbeersträucher des nächsten Dorfes schimmern sehen konnten.

„Du liebe, Güte, das wird aber auch Zeit!“ stöhnte ich erleichtert. „Hunger! Waschraum!“ japste ich erschöpft und schlurfte demütig hinter meinen beiden Freunden her.

Ein kleiner Fuchs kreuzte geschwind unseren den Weg und verschwand geräuschlos im Unterholz des nahen Eichenwaldes.

Ein Käuzchen schrie.

Rothörnchen raschelten über unseren Köpfen im Laub der Bäume.

Im Stillen bedankte ich mich für die verliekische Nachtsichtigkeit, die ich von meinem Vater geerbt hatte, welche es mir ermöglichte, auch zu später Stunde das Treiben der seltenen Waldbewohner zu beobachten.

Ich nahm mir fest vor, nach dem Abendessen und einem erfrischenden Bad noch etwas am Fenster meines Gästezimmers zu verweilen.

Füchse und Rothörnchen kannte ich bisher nur als Abbildungen in den Tierbüchern und wollte unbedingt noch einige weitere Blicke auf die seltenen, kupferpelzigen Tiere erhaschen.
 

Das Eichendorf, welches wir nun erreichten, bestand wie das Korkdorf hauptsächlich aus Baumhäusern, die durch Brücken miteinander vernetzt waren.

Es sah bei Nacht etwas unheimlich aus, aber dennoch märchenhaft.

Nach dem obligatorischen Befragen der Einwohner auf dem Gemeindeplatz beeilten wir uns endlich das Gästehaus aufzusuchen.

Ich nahm es mit einer egoistischen Dankbarkeit hin, dass niemand der Dorfbewohner Mirlien zu kennen schien, und dass außerdem niemand etwas Ungewöhnliches über ein fremdes Tier oder einen plötzlich erkrankten oder geschwächten Mitbewohner zu erzählen wusste, was mich länger von dem ersehnten Besuch des Bades abhalten konnte.

Jammernd quälte ich mich kurze Zeit später hinter Vilthon die Holzstufen in die geräumige Laube in der Krone einer alten Eiche hinauf, und lehnte beschämt Mirliens Angebot, mich hoch zutragen ab.

Nach dem üblichen Kampf mit Vilthon um die Vorherrschaft des Waschraumes und einem sehr gemütlichem Abendmahl in der rustikalen Speisestube wünschte man sich eine Gute Nacht um seinen jeweiligen Schlafraum aufzusuchen.

Wie ich es mir vorgenommen hatte, öffnete ich noch einmal das große Fenster, bevor ich mich zum Schlafen niederlegte und ließ meine Blicke, verträumt am Sims lehnend, über die herrlich romantische, mondbeschienene Landschaft mit ihren urigen Wäldchen schweifen.

Plötzlich setzte mein Herz für einen Moment lang aus.
 

In meinen Ohren begann es zu rauschen, mir schwindelte und ich fürchtete einige bange Sekunden lang, das Gleichgewicht zu verlieren, und aus dem Fenster hinaus, direkt in die Arme des Malars zu stürzen, der direkt unter mir stand, auf den ausladenden Wurzeln des Baumes, der das Gästehaus trug.

„Nein…“ hauchte ich.

Eiskalte Schauer jagten mir über den ganzen Körper, meine plötzlich taub gewordenen Hände fingen zu kribbeln an, meine Zähne begannen laut aufeinanderzuschlagen und mir wurde schlecht.

Ich schloss für einige Sekunden meine Augen, und öffnete sie dann wieder, in der verzweifelten Hoffnung, ich hätte mir nur eingebildet, meinen vertrauten Feind hier unten zu erblicken.

Doch ich wurde enttäuscht.

Nach wie vor stand er vor dem Gästehaus, direkt unter meinem Fenster und blickte mich aus glühenden, gierigen Augen an.

„Suchst du mich, mein Drachenmädchen? Komm doch hinab, zu mir!“ knurrte der Malar und bleckte herausfordernd sein gewaltiges, mörderisches Gebiss.

Ein selbstzerstörerischer Impuls, eine spontane Sehnsucht hätte mich beinahe dazu bewegt, der Aufforderung des Monsters kopflos Folge zu leisten, doch ich besann mich im letzten Augenblick, motivierte meine ganze Willenskraft, tief Luft zu holen, und panisch nach meinen beiden Freunden zu rufen.
 

Als mein gellender Schrei durch die Landschaft schallte, lösten sich die Konturen des Malars in dunklem Rauch auf, und nur noch sein tiefes, bellendes Lachen zeugte von seiner Gegenwart, als Vilthon und Mirlien in ihren weiten, weißen Schlafanzügen in meinen Schlafraum stürzten.

Thyllos - Tag 6

Vilthons heftiges Husten und Niesen weckte mich unsanft aus meinem Schlaf und als ich meine schweren Lider hob, sah ich direkt in Mirliens wundersame Augen, die mich besorgt musterten.
 

Meine beiden Freunde hatten, als sie mich gestern so aufgelöst, verstört und zitternd in meinem Zimmer vorgefunden hatten, zwei Betten aus den Gästezimmern nebeneinander geschoben und mich in ihre Mitte genommen.

Nachdem ich mich endlich nach viel gutem Zureden soweit beruhigt hatte, dass ich wieder in ganzen Sätzen sprechen konnte, erfuhren Vilthon und Mirlien, wer, oder besser gesagt was mir einen so großen Schrecken eingejagt hatte.

Vilthon wollte mich diese Nacht nur ungern aus den Augen lassen und auch Mirlien konnte sich nicht dazu durchringen, mich allein mit meinen Ängsten und Sorgen der Stille der Nacht überlassen.

So rauften wir drei uns auf unserem behelfsmäßigen Lager zusammen, und ich schlief überraschend schnell neben meinem besten Freund und dem Fremden, dem wir beide so sehr vertrauten, ein.
 


 

An diesem Morgen wälzte ich mich, die ich auf den harten Bettkanten geschlafen hatte, ein weiteres Mal mit steifen Gliedern und schmerzenden Gelenken aus den Betten.

Vilthon, der eine meiner Federn verschluckt zu haben schien, röchelte hoheitsvoll vor sich hin.

Mirlien klopfte dem Alwen schnell auf den Rücken, bis tatsächlich eine winzige, verknautschte Feder den Mundraum des Alwen widerwillig verließ.

„Das machen wir nie wieder!“ keuchte Vilthon, nach Luft ringend.

Ich kicherte, und flitzte, die unverhoffte Ablenkung ausnutzend, schnell an meinen Freunden vorbei ins Bad.

„Schön, dass es dir offensichtlich schon wieder besser geht!“ hörte ich Vilthon mir etwas näselnd hinterher rufen.
 

Tatsächlich hatte ich die grausige Begegnung der letzten Nacht überraschend gut verkraftet, wie ich mir selbst zugestehen konnte.

Im Grunde hatte ich mich ja schon seit Anbeginn der Reise innerlich auf ein unerwartetes Wiedersehen mit dem Malar eingestellt.

Trotzdem hatte mich sein plötzliches Erscheinen schockiert und seine Worte hatten mich bis ins Mark erschüttert, auch, wenn ich nicht genau erklären konnte, warum.

Es tat allerdings gut, zu wissen, dass ich das Geheimnis um den Malar nicht alleine hüten musste, sondern zwei Freunde an meiner Seite wissen durfte, die mir beistanden und mich auf meinem Weg begleiten würden.

Vilthon und Mirlien gaben mir Kraft, Halt und Mut, und ich hoffte, dass die beiden wussten, wie viel sie mir bedeuteten.

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„Schon fertig!“ rief ich vergnügt, als ich endlich mein übliches Waschritual beendet hatte und mir die frischen Sachen angezogen und die Haare mitsamt Federn zu einem lockeren Zopf zusammengebunden hatte.

Ich suchte mir seit jeher weite, immer etwas zu große Kleidung aus den Zwirnstuben des Hügeldorfes aus, und meistens fiel meine Wahl auf leinene Herrenkittel in blassen Farben, die ich als schlichtes Kleid umfunktionierte, oder ich nahm mir dunkle Jungenbekleidung mit, die ebenfalls die echsenhäutigen Stellen meiner Arme und Beine verdecken konnten.

Vilthon war mein fürchterlicher Geschmack ein Graus, und er ließ es sich nicht nehmen, mich auch gelegentlich darauf hinzuweisen.

Ich erwartete, als ich die Tür des Waschraums öffnete, Vilthon schon ungeduldig mit den Füßen scharrend vor dem Bad lauernd zu finden, doch er hatte Mirlien den Vortritt gelassen, da er gerade einen Brief an meine Eltern im Hügeldorf schrieb.
 

Ich schob mich lächelnd an Mirlien vorbei in den Flur, wobei mir auffiel, wie gut er roch.

Kein herber, männlicher Duft ging von ihm aus, wie ich es von Vilthon kannte; stattdessen duftete er ähnlich wie frisch geschlüpfte Schnabelgeckos, kleine Kinder und junge Vögel.

Ich hätte es nicht genau definieren können, aber dieser Mann verströmte einen Eindruck des Neuen, der Unschuld und einer gewissen Art von Unberührtheit, die ich nun gar zu erschnuppern glaubte.

Als Mirlien, mir etwas verlegen zunickend, die Badezimmertür hinter sich schloss, kam mir der Gedanke, welch glücklicher Zufall es doch gewesen war, dieser Person, begegnet zu sein, und ich hatte das Gefühl, dass ich schon mein ganzes Leben lang auf ihn gewartet haben musste.
 

Ich seufzte schwer und lächelte unwillkürlich vor mich hin.

Durch Mirliens Augen konnte man die Welt neu entdecken, seine Worte bereicherten die Seele.

Er wirkte wie eine Medizin auf den Geist.
 

Mit tänzelnden Schritten hüpfte ich hinunter ins Esszimmer, wo Vilthon im Kerzenschein, tief über den Tisch gebeugt, zwischen Xeraatbrötchen und Marmeladentöpfchen seinen Brief schrieb.

„Kleiner Zwischenbericht.“ murmelte er, als ich ihn nach dem Inhalt fragte. „Vielleicht beruhigt es deine Eltern noch mehr, wenn auch ich gelegentlich mal eine Nachricht an sie schreibe.“

„Aha, meine Berichte hält der Herr also nicht für ausreichend vertrauenswürdig?“ moserte ich etwas beleidigt.

„In der Tat, meine Liebe.“ spottete Vilthon grinsend. „Natürlich habe ich ihnen nichts von gestern Nacht geschrieben, das war mir zu unsicher.“

„Ist ja klar, was würden meine Eltern wohl davon halten, wenn sie wüssten, dass ich Arm in Arm mit dir und einem fremden Kerl eingeschlafen bin?“ fragte ich meinen besten Freund amüsiert.

Der verdrehte die Augen.

Seine spitzen Ohren begannen zu glühen.

„Nein, Tilya, ich meinte damit, dass ich es für riskant hielt, deinen Eltern per Postraben über die Sichtung des Malaren zu informieren. Wenn so ein Brief mal verloren geht, und den ein ahnungsloser Dorfbewohner findet, dann kommt die Lawine ins Rollen…“ versuchte er nachdrücklich zu erklären.

„Weiß ich! War doch nur ein Witz!“ unterbrach ich ihn feixend.

Es belustigte mich über alle Maßen, dass man Vilthon so leicht in Verlegenheit bringen konnte, wenn man nur wusste, wie.

„Nächsten Abend müssen wir Wäsche waschen!“ lenkte Vilthon schnell das Thema in eine andere Richtung.

„Das übernehme ich schon!“ bot ich großzügig an.

Vilthon nickte bestätigend, während er den fertigen Brief zusammenfaltete.

Im Obergeschoß hörte man die Badezimmertür ins Schloss fallen, und Vilthon atmete erlöst auf. „Ich verschwinde jetzt erst mal im Waschraum.“ kündigte er an. „Pack du doch solange schon mal deine Sachen zusammen, dann treffen wir uns nachher wieder hier zum Frühstück und machen, dass wir weiterkommen.“

Ich verbeugte mich übertrieben untertänig und flitzte geräuschvoll die Treppen hinauf.
 

Im Flur fiel mein Blick durch die geöffnete Tür in Mirliens Gästezimmer.

Er streifte sich gerade ein hellbraunes Leinenhemd über und ich musste unwillkürlich auf die seltsamen, weißen Narben schauen, die sich in skurrilen, eckigen Formen von seinem dürren, aber sehnigen Körper abhoben.

Ich klopfte verschüchtert an den Türrahmen, bevor ich in das Zimmer trat.

Mirlien begrüßte mich wie erwartet, mit seinem sanften, kaum merklichen Lächeln, das Furcht und Zweifel vergessen lassen konnte.

Im Flur hinter meinem Rücken rauschte Vilthon in diesem Augenblick fast lautlos ins Bad.

Ich wartete, bis ich das Plätschern des Duschwassers hören konnte, dann trat ich ganz nahe zu Mirlien heran und hob scheu den Zipfel seines Hemdes in die Höhe, bis die bleichen, flachen Erhebungen des Narbengewebes sichtbar wurden.

Mirlien beobachtete mich, beinahe mit einer belustigten Neugier.

Ich schluckte schwer.

„Woher du die nur hast?“ fragte ich leise, doch der Mann schüttelte nur den Kopf.

Ich hob die Hand und fuhr vorsichtig mit dem Zeigefinger über die schmalen, geraden Linien des narbigen Musters, das sich ähnlich der Fraßspur einer Silberseidenspinnerlarve über seinen Bauch zog.

Mirliens Haut war dünn, beinahe pergamentartig fluoreszierend und vor allem sehr kalt, und ich musste meine ganze Willenskraft aufbringen, um dem Drang zu widerstehen, ihn zu umarmen und zu wärmen.

„Frierst du, Mirlien?“ fragte ich ihn schnell, wobei die Worte aus meinem trockenen Mund sehr rau klangen und ich räusperte mich verschämt.

Der Mann verneinte höflich.

Wir waren längst zum vertrauten „Du“ übergegangen, ganz unwillkürlich, gleich nachdem Vilthon Mirlien seinen Namen gegeben hatte.

Ich gab mir einen Ruck.

„Reich mir mal deine Hände!“ forderte ich streng.

Mirlien gehorchte folgsam, und ich griff nach seinen bleichen, kühlen Fingern, die sehr lang und schmal waren, ihre Nägel farblos.

Ich massierte seine Handballen ein wenig zwischen den meinen.

„Schlechte Durchblutung!“ stellte ich betont nüchtern fest, als meine Fingerspitzen tiefer zu seinen Handgelenken wanderten und ich Mirliens Puls nicht zu ertasten vermochte.

Dabei fiel mein Blick auf seine Fingerkuppen.

War das denn möglich?

Ungläubig sah ich ein zweites Mal hin.

Doch tatsächlich!

Es war kaum ein Profil auf ihnen zu erkennen, so glatt wie die Haut von Frostfröschen waren sie.

Ich pfiff fassungslos durch die Zähne. „Wie viele Rätsel gibst du uns wohl noch auf, mein Guter?“ flüsterte ich, mehr zu mir selbst.
 

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Einige Minuten später fanden wir drei uns zum Frühstück im Esszimmer zusammen.

Ich überlegte laut, ob wir noch etwas im Dorf verweilen sollten, um mögliche Meldungen über den nächtlichen Besuch des Malars zu Ohren zu bekommen, doch Vilthon winkte ab.

Wenn der Malar in dieser Nacht irgendeinem Dorfbewohner tatsächlich körperhaft erschienen wäre, hätten wir wohl davon unverzüglich erfahren, war er sich sicher. Und falls er einem der Dorfbewohner, so wie damals Ioxannah oder dem schrägen Großvater aus dem Pfahldorf, im Traum begegnet war, konnten wir doch kaum auf die Wiederholung des glücklichen Zufalls hoffen, dass sich uns die entsprechende Person anvertrauen würde.

„Ich möchte lieber nicht erfahren, wie viele Leute bereits von unserem Malar geträumt haben, es aber stillschweigend für sich behalten haben. Du musst wissen, alles was sich um Träume, Totemtiere und Malare dreht, gilt bei uns als sensibles Thema, welches nicht in der Öffentlichkeit besprochen werden sollte.“ wandte sich Vilthon in seinen letzten Worten Mirlien zu. „Also sollten wir nun besser aufbrechen, anstatt dem Malar einen unnötigen Vorsprung zu gewähren. Ich weiß nicht, ob er es vielleicht gar ganz bewusst beabsichtigt, aber er scheint eine ähnliche Strecke zurückzulegen, wie wir es bisher getan haben. Ob er uns folgt? Oder ob er uns einfach immer nur den entscheidenden Schritt voraus ist? Lasst es uns herauszufinden!“
 

Von den Worten des klugen Alwen motiviert, verließ ich mit meinen beiden Freunden das schöne Eichendorf guten Gewissens.

Kwantsch, der inzwischen zur Ablösung des ausgeflogenen Schwarzfußes eingetroffen war, wurde gerufen, bekam von Vilthon ein eigens für ihn zurückbehaltenes Stück Zaronnenkäse zugeworfen, und ließ sich erst dann ohne großes Geplänkel den Brief umbinden.

Dieser Rabe tat aber auch selten seinen Dienst, ohne dafür eine persönliche Belohnung zu erwarten!

Dies war auch der Grund, weshalb Vilthon vorsorglich drei gekochte Leguaneier in seinen Rucksack steckte, denn er hasste es, den eigenwilligen Vogel erst lange zu bitten, wenn er ihm eine Botschaft in die Klaue drücken wollte.
 

Entlang eines Beerenfeldes vernahm ich von Vilthon, der grübelnd die Karte studiert hatte, die frohe Nachricht, dass unser Weg nun einen breiten, tiefen Fluss entlangführen sollte, und uns wieder näher an die Küste bringen würde.
 

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Schon wenig später erreichten wir den Strom, und begannen, seinem Lauf zu folgen.

Wir wanderten noch nicht allzu lange, als Vilthon sich umwandte und in die Ferne lauschte.

Auch ich horchte auf. Einige Augenblicke später konnte auch ich zwischen dem Rauschen des Flusses einige Lautenklänge vernehmen.

„Alte alwische Seefahrerlieder!“ murmelte Vilthon nachdenklich.

Dann erblickten wir auch schon das große Fischerboot, das nun mit gesenkten Segeln die sanfte Biegung des Flusses entlang steuerte.

„Bestimmt kommen diese Leute von einem der kleinen Dörfchen aus dem Kargland.“ vermutete Vilthon. „Wenn sie zum Meer wollen, dann sollten wir sie vielleicht fragen, ob sie uns nicht mitnehmen können.“

Ich strahlte.

Voller Vorfreude rannte ich flussaufwärts, dem Schiffchen entgegen.

Das Lautenspiel erklang immer deutlicher in meinen spitzen Ohren, und schon konnte ich eine sanfte Männerstimme die altalwischen Strophen singen hören.
 

„Hallo! Hier!“ rief ich, als die Fischer nicht mehr weit von mir entfernt waren.

Der schwarzhäutige Alwe unterbrach sein Spiel und winkte mir amüsiert mit beiden Händen zu.

„Dürfen meine beiden Freunde da hinten und ich bis zum Meer mitfahren?“ schrie ich gegen den Strom an.

Ein anderer weißhaariger junger Dunkelalwe auf dem Fischerboot legte die Hände an den Mund. „Kein Problem, Kind! Aber hier können wir nicht so ohne weiteres anlegen. Wir warten an der nächsten Brücke auf euch, klar?“

„Danke, wir beeilen uns!“ versprach ich, wobei ich alle Mühe hatte, mit dem Boot Schritt zu halten, das mit recht flottem Tempo die Strömung hinunter trieb.

Ich vernahm das belustigte Lachen der Männer, aber das war mir eigentlich einerlei. Die freudige Erwartung, das Meer wiederzusehen, überwog!

Außer Atem holte ich meine Freunde wieder ein, und teilte ihnen mit, wo die Fischer, die just an uns dreien vorbei fuhren, für uns halten würden.
 

Kurze Zeit später betraten wir dankbar das kleine Schiffchen an der Brücke.

Die Alwen begrüßten uns freundlich, erkannten in mir sofort das Drachenmädchen, von dem im Brief meiner Eltern die Rede gewesen war, und schienen, so wie jedermann, besonders angetan von Mirlien, der sehr interessiert und aufmerksam den Liedern des Lautenspielers lauschte, und die Bedeutung der alten Texte erfragte.

„Unseren Mirlien umgibt etwas Magisches, nicht?“ flüsterte ich Vilthon zu, und der Alwe nickte, warm lächelnd.

Plötzlich hörte man ein Grölen vom Ufer der gegenüberliegenden Seite, einer der Alwen sprang auf, winkte dem unbekannten Rufenden wild und brüllte etwas zurück.

„Noch jemand, der zur Küste will!“ wandte er sich uns grinsend zu. „Wir werden bei der nächsten Brücke auch für ihn halten, wenn es genehm ist.“

Wir beobachteten, wie die vier alwischen Fischer emsig mit schweren Tauen und großen Haken hantierten, und wenige Minuten später hielt das Schiffchen abermals hinter einer weiteren hohen, steinernen Brücke.

Die Planke wurde auch für den neuen Mitfahrer herunter gelassen, und nach wenigen Minuten hörte man ihn schon über die Bretter poltern.

Ich sperrte die Ohren auf und vernahm die scherzhafte Begrüßung der Seefahrer, die der neue Mitreisende mit seiner kratzigen, aber melodischen Stimme den freudig überraschten Dunkelalwen entgegen säuselte.

Ich grinste, denn den Ausruf „Traute Sterne!“ auf den man schlicht mit „…in den Augen der schönen Fremden!“ antwortete, war mir von meinem Vater bekannt, der als ganz junger Bursche mit seinem Bruder und einigen Freunden um die Südküste gesegelt war.

Das Lächeln gefror jedoch auf meinem Gesicht, als der Mann über das Deck zur Steuerbordseite schritt, wo wir drei Gefährten in der Nähe des Buges auf einigen Holzkisten hockten.
 

Ich war mir absolut sicher, diesem Verlieken, der mich jetzt so provozierend angrinste, noch niemals zuvor begegnet zu sein, aber dennoch weckte er mit seiner ungezähmten dunklen Mähne, die im Sonnenlicht rot wie glühende Kohle funkelte und seinen stechenden, bernsteinfarbenen Raubtieraugen eine altbekannte Angst mir, deren scheinbar zusammenhangloses Auftreten ich mir aber kaum erklären konnte.

„So, ihr drei wollt also auch ans schöne Meer?“ stellte der Rothaarige fröhlich fest, worauf Vilthon ihm dies freundlich bestätigte.

„Ich bin Thyllos.“ stellte sich der Verliek selbstbewusst vor, und auch Vilthon und Mirlien nannten ihm ihre Namen.

Ich hingegen schwieg, immer noch sowohl irritiert als auch beunruhigt von seinem Anblick, den ich auf eine unangenehme Art mit unheimlichen Momenten und bangen Augenblicken in Verbindung brachte.

Sogleich spürte ich Vilthons Ellenbogen in vertrauter Manier in meiner Seite, doch trotzdem brachte ich keinen Ton heraus.

„Und du musst das Drachenmädchen sein, von dem man überall gelesen hat, nicht wahr?“ nahm Thyllos mir den Part ab, lehnte sich mir gegenüber an die Reling und ließ ein überlegenes, breites Grinsen um seine Fangzähne spielen.

Ich fröstelte und bekam eine Gänsehaut.

Dieser Typ war mir ganz und gar nicht geheuer.

Ich wusste nicht warum, aber eine innere Stimme warnte mich vor ihm, und die Abneigung, die ich gegen ihn entwickelte, wuchs bei jedem seiner Worte.

Seine Blicke tasteten ungeniert über mich, über meine verknitterte Kleidung, die eigentlich für das andere Geschlecht geschneidert worden war, über mein perlmuttartig schimmerndes Haar, zwischen dem sich zahlreiche zarte, lange Federn ringelten und blieben dann unverschämt lange in meinen Augen haften.

Ich spürte auf einmal kalten Schweiß auf meiner Stirn, das Herz schlug mir wie wild gegen die Rippen und das Blut rauschte mir schwindelerregend rasant durch die Ohren.

„Was glotzt der denn so dämlich?“ murmelte ich fahrig, wandte meinen Blick ab und stürmte gesenkten Kopfes Richtung Heck.

„Tut mir leid, ich weiß nicht, was heute in sie gefahren ist.“ hörte ich noch Vilthons gestammelte Entschuldigung hinter mir verklingen, als ich fast mit einem der Alwen zusammenstieß, der gerade damit beschäftigt war, Knoten aus einem Netz zu lösen.

„Was ist, Süße, schon seekrank bei dem laschen Gang?“ fragte mich der Fischer feixend.

„Äh, ja.“ log ich, um eine wahrheitsgemäße Antwort verlegen. Ich wurde rot, als der dunkelhäutige Mann mich belustigt angrinste.

Mit den Lachfältchen um die schwarzen Augen, dem schulterlangen, schlohweißen Haar und der langen Adlernase, die so typische Merkmale der Bewohner des Karglandes waren, sah er aber wirklich unverschämt gut aus.

„Knirsch mit den Zähnen und schau in die Fahrtrichtung, dann überstehst du jede Reise übers Wasser!“ riet mir der Alwe nachsichtig schmunzelnd.
 

Ich bedankte mich für diese Empfehlung, und flüchtete aufs Backbord, wo Vilthon mir schon mit besorgtem Ausdruck auf dem schmalen Gesicht entgegenkam.

„Was ist denn nun schon wieder los mit dir, Kleines? Warst du gerade nicht ein wenig ungerecht diesem Thyllos gegenüber? So kenn ich dich ja gar nicht! Musstest du ihn unbedingt dermaßen unhöflich anfahren?“ fragte mich mein Freund.

Ich zuckte hilflos die Achseln. „Ich weiß nicht, warum, aber an dem Kerl ist was faul. Ich kann ihn nicht ausstehen.“

Vilthon schüttelte ratlos den Kopf. „Das kann ich absolut nicht nachvollziehen. Er hat dir doch gar nichts getan. Woher soll er wissen, dass du so empfindlich auf fremde Blicke reagierst? Er fand dich wohl einfach sehr interessant, und das ist doch nun durchaus verständlich!“ Vilthon zwinkerte mir zu, doch ich starrte unter zusammengezogenen Brauen in die vorbeiziehende Landschaft. „Ich finde diesen Mann sogar sehr sympathisch, Kleines. Reiß dich zusammen, diesen kurzen Wasserweg lang wirst du ihn ja wohl ertragen können, ohne ihm die Augen auszukratzen, oder?“ fragte Vilthon leicht säuerlich.

Meine seltsamen Launen konnten sogar ihm manchmal ziemlich auf die Nerven fallen.

Ich nickte stumm und folgte also meinem alwischen Freund mit bedrückter Miene zurück zu Mirlien, der verschüchtert neben dem rothaarigen Verlieken kauerte.

Letztendlich konnte ich mich allerdings doch nicht dazu durchringen, mich in seine Nähe zu setzen, geschweige denn, mich auf eine Unterhaltung mit ihm einzulassen, die der aufdringliche Thyllos zu erzwingen versuchte.
 

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Als ich am Vormittag hinter einer Flussbiegung das Meer sehen konnte, auf das uns die sich immer weiter verlangsamende Strömung zutreiben ließ, atmete ich erleichtert auf.

Ich konnte es kaum erwarten, von diesem Schiffchen hinunterzukommen, das mich auf so engen Raum mit diesem Widerling pferchte.

Endlich war es soweit, und das Fischerboot gelangte in die offene See. Die Segel wurden gehisst und die Alwen brachten ihr Schiffchen an den umwerfend schönen Ruinen der kalkweißen Salzterrassen dieser Küste zum Anliegen, sodass ihre vier Passagiere wieder festen Boden unter den Füßen bekamen.

Dankend verabschiedeten wir uns von den freundlichen Fischern, die nun ihren Seeweg Richtung Süden bestreiten würden.
 

Mir wurde jedoch bald unangenehm bewusst, dass Thyllos offenbar genau wie wir gen Norden weiter zu wandern beabsichtigte, und deshalb bat ich Mirlien und Vilthon, eine Pause einzulegen, mit dem einzigen Hintergedanken, dem verhassten Verlieken dadurch einen möglichst großen Vorsprung zu verschaffen.

„Wovon brauchst du denn jetzt bitte schön eine Pause, wir haben es uns doch die ganze Zeit über auf dem Boot gemütlich gemacht.“ motzte Vilthon.

„Ach, bitte, Vilthon! Lass uns doch hier eine Runde schwimmen gehen! Das ist vielleicht für längere Zeit unsere letzte Chance, im Meer zu baden. Komm schon, sei nicht so spießig!“ begann ich zu quengeln.

„Spießig nennst du mich? Gerade du?“

„Bitte!“ quäkte ich flehend.

Der Alwe rollte resigniert mit den Augen. „Von mir aus…“ seufzte er schließlich. „Ich gebe eben Thyllos darüber Bescheid, dass er nicht auf uns zu warten braucht.“

„Du wolltest, dass er uns begleitet?“ zischte ich entrüstet.

„Warum nicht? Ihn treibt es zum Hafendorf, genau wie uns, und dann wollte er sehen, wohin es ihn anschließend verschlägt. Er reist aus Vergnügen, liebt es, fremde Orte zu besuchen. Interessanter Typ! Fand übrigens auch Mirlien. Sicherlich hätte er es ebenso begrüßt, wie ich, diesen erfahrenen Wanderer an unserer Seite zu wissen.“ erwiderte Vilthon, den meine heftige Antipathie gegen den Rotschopf sichtlich befremdete.

Schließlich gab er aber nach und winkte Thyllos zum Abschied zu, der schnellen Schrittes fröhlich pfeifend zwischen den Salzbergen verschwand.

Anscheinend hatte auch er keine Angst, dem sagenumwobenen Tier des Kontinents irgendwann alleine Auge in Auge gegenüberzustehen.

Eine Last schien mir von den Schultern zu fallen, als der Verliek endlich aus meinem Blickfeld verschwand.

Dann wühlte ich auch schon in den Rucksäcken nach geeigneter Unterwäsche in dunkelfarbigen Stoffen, mit denen ich unbesorgt in die Fluten stürmen konnte.

Ich fand mein dunkelgrünes, ärmelloses Spinnwollhemdchen, das man unter der Brust zusammenknoten konnte und ein tiefblaues Leinenhöschen.

Spinnwolle liebte ich, denn sie war robust und extrem widerstandsfähig, flexibler als Leinen und umschmeichelte die Haut seidig.

Als ich hinter einem Salztürmchen hervor lugte, hinter dem ich mich umgezogen hatte, sah ich Mirlien bereits bis zur Hüfte im Wasser waten, den Blick neugierig auf den Meeresboden unter seinen Füßen gerichtet.
 

Vilthon stand noch am Strand, tauchte skeptisch eine Zehe in die Gischt und verzog bibbernd das Gesicht. „Willst du da wirklich rein, Kleines? Das Wasser ist eiskalt, obwohl es so warm hier ist!“

Ein dämonisches Grinsen umspielte meine Lippen.

„Aber natürlich wollen wir da rein!“ zwitscherte ich mit einer verstellten lieblichen Stimme, dann sprang ich wie eine wild gewordene Zaronne mit großen Sätzen jauchzend auf meinen besten Freund zu.

Vilthon erkannte meine bösartige Absicht nicht rechtzeitig, und als er endlich in Deckung vor mir gehen wollte, war es bereits zu spät.

Ich hopste in die aufschäumende Gischt direkt vor dem Alwen und das eisige Wasser spritze ihn nass, und zwar von Kopf bis Fuß.

Einige Augenblicke stand Vilthon einfach nur in einer lächerlichen Haltung triefend vor mir, die Kinnlade vor Empörung heruntergeklappt. Ich begann zu kichern und zu giggeln und konnte mich gar nicht mehr beruhigen.

„Dafür wirst du büßen, du kleiner Frostfrosch!“ rief Vilthon plötzlich drohend, schnappte mich, hob mich auf seine Arme und trug mich unter Mirliens argwöhnischen Augen einige Schritte ins klare Wasser.

Ich bog mich immer noch vor Lachen, als Vilthon tief Luft holte, die Arme fester um mich schlang und sich ohne Vorwarnung mit mir in das kalte Meer fallen ließ.

Prustend tauchten wir beide wieder auf, und ich konnte mich weiter vor Lachen ausschütten, doch nun nur noch unter heftigem Gehuste und Geschimpfe.

„Vilthon, du Schuft! Ich habe Salzwasser verschluckt! Pfui, Spinne!“ japste ich, immer noch grinsend und klatschte dicht vor dem Alwen meine Fäuste in das Wasser.

„Das macht mir jetzt auch nichts mehr aus, meine Liebe!“ höhnte dieser und tauchte meinen gefiederten Schopf unter.

Mirlien beobachtete besorgt die mehr oder weniger ernst gemeinte Rangelei zwischen uns beiden Spitzohren, und war sichtlich erleichtert, als wir uns Arm in Arm wieder zurück zum Ufer schleppten.

Man trocknete sich ab, zog sich im Schutze der Salzterrassen um, wrang die feuchte Kleidung aus und wickelte die vor Salz starrende Badewäsche in die Plane auf meinen Rucksack.

„Das hat Spaß gemacht!“ rief ich erschöpft, aber glücklich. „Wenn wir irgendwann alles hinter uns haben, müssen wir öfter mal zusammen ans Meer gehen!“

Mirlien nickte zustimmend. „Es war sehr schön. Das Wasser steckt voller Leben. Es gibt so viel zu entdecken. Vor allem, wenn man als Beobachter konzentriert und vorsichtig diesen sensiblen Lebensraum erkundet.“

Schuldbewusst zogen Vilthon und ich die Köpfe ein.
 

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Wir drei kletterten über salzige Felsen, als der Strand langsam in eine Steilküste überging, an der die Wellen rauschend zerschellten.

Ein heftiger Wind zerrte an unseren Kleidern, die Möwen über unseren Köpfen kreischten ohrenbetäubend.

Durch die lärmende Schar segelte unbeirrt der graue Schwarzfuß, der uns schon wieder eingeholt hatte.

Plötzlich blieb Mirlien stehen. „Dieses Tier dort drüben ist verletzt!“ rief er ernsten Blickes gegen das Tosen der Wellen an.

Vilthon und ich blickten in die Richtung, in der unser Freund seinen Arm ausstreckte und erkannten erst jetzt die fünf Schritte lange Flugechse, die perfekt getarnt durch die blass grün-gelbe Musterung ihrer Haut zwischen den matten Gräsern der wuchernden Küstenpflanzen lag.

Sofort war zu erkennen, dass ein tiefer Riss die Flughaut ihres linken Vorderlaufes spaltete.

Das schlanke, geschmeidige Tier lag apathisch auf der Seite, die rudimentären Hinterbeine scharrten nutzlos auf dem felsigen Boden.
 

Flugechsen waren für ihre Größe erstaunlich leichte, hohlknöcherne Tiere, die fast ihr ganzes Leben lang in der Luft verbrachten und nur zum Brüten mühevoll ans Festland krabbelten.

Sie hatten kräftige Arme, und die Flughäute zwischen ihren langen Fingern ließen sich zu einer beachtlichen Tragfläche spannen, die sie auf ihrer Jagd nach Fischen im Sturzflug eng an den Körper legten.

Durch ihren muskulösen, flachen Schweif, mit dem sie virtuos balancierten, konnten sie sowohl in der Luft als auch unter Wasser präzise Manöver durchführen.

Doch mit einem gerissenen Flügel würde sich dieses Tier nicht ernähren können und mit Gewissheit bald verhungern.

„Können wir ihm helfen?“ fragte Mirlien, als wir uns der Echse vorsichtig näherten.

„Ich hoffe es.“ flüsterte Vilthon und versuchte, den verletzten Flügel des Tieres zu ergreifen.

Doch das Reptil riss gereizt sein langes, schmales Maul auf und schnappte mit seinen kleinen, aber messerscharfen Zähnen nach der Hand des Alwen, der es doch nur hatte untersuchen wollen.

Erschrocken riss Vilthon seinen Arm zurück.

„Sie fühlt sich in die Ecke gedrängt und hat furchtbare Angst.“ flüsterte der verständnisvolle Mirlien mitfühlend.

„Sie?“ hakte ich überrascht nach. „Woher weißt du, dass es ein Weibchen ist?“

Mirlien lächelte mit den Schultern zuckend.

„Die Wundnähte müssen noch mal geöffnet, und der Riss danach sofort wieder vernäht werden.“ stellte Vilthon mit einem prüfenden Blick auf das Tier fest. „Das wird eine schmerzhafte Prozedur für sie werden, aber es ist ihre einzige Chance. Aber wie schaffen wir es, sie für diese Zeitspanne ruhig zu stellen? Sie wird sich sicherlich wehren wollen und uns dabei vielleicht verletzen.“

„Nein, das wird sie nicht.“ widersprach Mirlien leise und trat behutsam an die Echse heran, die ihn zwar nicht aus den Augen ließ, jedoch nicht einmal mit der Wimper zuckte, als er sich langsam neben sie kniete.

„Sei vorsichtig, Mirlien!“ warnte ich bang meinen Freund.

Doch dieser griff bedenkenlos nach den Flügeln des Tieres und wir beiden Spitzohren staunten nicht schlecht, als die Echse daraufhin entspannt ihren wuchtigen Schädel zurück ins trockene Gras bettete.
 

„Wie hast du das angestellt?“ flüsterte Vilthon perplex. Mirlien schmunzelte nur bezaubernd, seine Augen strahlten.

„Kommt nur näher, eure Patientin wird sich nun ganz ruhig und geduldig verhalten!“ forderte er uns auf.

Zögernd knieten Vilthon und ich uns neben Mirlien nieder und legten unsere Taschen ab.

Vilthon kramte in seinem Rucksack nach dem Nähzeug, kurz darauf fädelte er mit etwas zittrigen Fingern das Wollspinnengarn durch das kleine Nadelöhr. „Jetzt kommt der unangenehmste Teil, Freunde. Wir müssen den Wundschorf entfernen. Mirlien, meist du, sie wird es über sich ergehen lassen?“

Der Befragte nickte nur angespannt.

„Gut. Tilya, ich trage die Kruste nach außen hin ab. Sobald beide Flügelhälften bluten, nähst du sie unverzüglich zusammen. Das Nähen wird dem Tier nicht halb so wehtun, wie das Abtragen des Schorfes. Trotzdem musst du zügig arbeiten. Aber lass einen fingerdicken Abstand zwischen jedem Stich, klar?“

„Klar.“ antwortete ich nervös.

„Na dann, halt dich bereit, es geht los.“

Vilthon tupfte erst die Nadel, dann die Wunde mit einer von Saponsiskrautsaft getränkten Spinnwollbinde ab, danach löste er schnell, aber vorsichtig den Schorf von den gerissenen Flügelhälften, drückte diese dann zusammen, und ich vernähte sie wieder zu einem Ganzen.

Stückchen für Stückchen arbeiteten wir uns im Schweiße unseres Angesichtes voran, während das arme Tier permanent zu Mirlien hinauf schielte, der sanft den Kopf der imposanten Echse hielt.

Endlich war die Wunde verschlossen, und Vilthon goss noch mal eine gehörige Portion des keimabtötenden Krautsaftes auf die frische Naht.

„Der Faden kann im Flügel bleiben, bis er sich vielleicht irgendwann von alleine löst. Die Narbe wird sich etwas verhärten und den Flügel dadurch um ein weniges unflexibler machen, aber die Gute wird bald wieder fliegen können.“ erklärte Vilthon, als er zufrieden das Ergebnis betrachtete.
 

„Ein Glück!“ keuchte ich erleichtert. „Aber ich frage mich, was ihr den Flügel überhaupt dermaßen tief zerreißen konnte. Meint ihr, mein Malar würde aus irgendeinem Grunde auch über Tiere herfallen?“

„Ach, Tilya, jetzt mach dich doch nicht lächerlich!“ schimpfte Vilthon, und die Flugechse riss aufgescheucht ihren Kopf herum. „Kleines, dein Malar ist nicht für jedes Übel dieser Welt verantwortlich, oder glaubst du das etwa?“ fuhr er etwas leiser fort. „Wahrscheinlich hat sie sich unglücklich an einem dieser scharfkantigen Felsen hier geschnitten. Warum, zum Donnerwetter, sollte dein Malar ein Tier angreifen? Also wirklich, Kind! Langsam zweifele ich an deinem logischen Verstand.“

Ich schnaufte beleidigt.

„Denkt ihr, wir können sie in ihrem Zustand alleine lassen?“ machte sich Mirlien, die frische Naht sorgsam begutachtend, bemerkbar.

Vilthon nickte ihm zu. „Wenn sie sich bereit fühlt und keine Schmerzen mehr verspürt, wird sie sich die Klippen hinunter gleiten lassen, als wäre nichts geschehen. Aber bestimmt hat sie großen Hunger. Tilya, bitte schaue mal in meinen Rucksack, da habe ich heute drei Leguaneier für unsere Raben eingesteckt. Unsere Patientin braucht sie jetzt nötiger.“

Ich wühlte gehorsam in der Tasche meines besten Freundes, fand die hartgekochten Eier, schälte und zerkrümelte sie in meinen Händen.

Die Pampe warf ich dem gierigen Tier ins lange Maul, wobei ich höllisch darauf achten musste, dass nicht auch meine Finger zwischen seinen spitzen Zähnen verschwanden.

Mirlien blickte einige Male liebevoll zurück, als wir die nun deutlich lebhaftere Echse sich selbst überließen.
 

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Die Sonne stand am Zenit, als wir im Leguandorf eintrafen.

Nach unserem Aufenthalt hier würden wir wieder den Weg der Hauptstraße verfolgen, doch zuerst wollten wir uns am Gemeindeplatz eine kleine Stärkung verschaffen.

Ich war schier begeistert von den vielen Chamäleons und Leguanen, die bedächtig durch dieses Dorf wandelten, über zwischen den Häusern aufgespannten Wäscheleinen balancierten, es sich auf Dachrinnen gemütlich machten und in dem ein oder anderen Abfallbehälter nach Nahrung stöberten.

Mirlien staunte nicht schlecht, als er die riesigen Kaktuswarane erblickte, die gemächlich auf einigen Wiesen und Feldern rings um das Dorf die Dämmerung abwarteten, um nach Riesenmoskitos zu jagen.
 

Es war erstaunlich wenig los auf den Dorfstraßen, und als wir den Gemeindeplatz erreichten, erkannten wir auch, warum.

Die meisten der Dorfbewohner hielten gerade Mittagsruhe in ihren Häusern, oder versammelten sich andernfalls an diesem Ort zum gemütlichen Beisammensein und einem Gläschen Beerensaft.

Als ich aber als das Drachenmädchen wahrgenommen wurde, kam Leben in die träge Versammlung.

Die eben noch verschlafen wirkenden Leute sprangen plötzlich von ihren Stühlen und Bänken auf, drängten sich um uns drei Besucher und redeten wie wild auf uns ein. Ich fand es furchtbar.

Aus dem Durcheinander hörten wir nach und nach heraus, dass einige Verlieken, die in der letzten Nacht in den Wäldern zu jagen gewagt hatten, eine grauenhafte Kreatur in der Nähe des Eichendorfs gesichtet haben sollen.

Um ein großes, menschenähnliches Monster mit haarigen, langen Gliedmaßen wie die einer Wollspinne sollte es sich hierbei handeln, sein Kopf gleiche dem Schädel eines geifernden Wolfes.

Mich wunderte es, dass die nachtsichtigen Verlieken meinen Malaren nicht als solchen erkannt hatten.

Aber vielleicht sieht man in schrecklichen Situationen auch einige Dinge anders, als sie wirklich sind.

Ein Malar außerhalb der Träume… das kann den gesunden Verstand schon ziemlich stark beanspruchen
 

Nachdem uns die kleine Meute endlich genügend über die neuesten Gerüchte informiert hatte, hielt wieder altbewährte Ruhe auf dem Gemeindeplatz Einzug und ich beobachtete darauf vergnügt, wie sich eine Traube kichernder Frauen um Mirlien bildete, während sich die übrigen Leute wieder murmelnd und tratschend an ihre Tische verteilten.

„Und wo kommen Sie her, guter Mann?“

„Sind Sie allein unterwegs?“

„So jemanden wie Sie sieht man ja auch nicht alle Tage. Darf ich noch einmal in Ihre Augen schauen. Ach du meine Güte…“

„Ist der süß! So schüchtern!“

Mirliens Blicke wanderten nervös zwischen den gackernden Damen und uns, seinen beiden betreten grinsenden Freunden hin und her.

„Sie brauchen sich wirklich nicht zu ängstigen.“ versuchte der hilflose Mann den völlig aufgelösten Frauen zu erklären. „Dieses besagte Tier wird nur in besonderen Ausnahmefällen zu einer möglichen Gefahr für die Bevölkerung. Und meine beiden Freunde hier arbeiten daran, dieses Risiko zu analysieren und dementsprechend einzudämmen.“

Mirliens weibliche Anhänger aber schienen sich überhaupt nicht um den Sinn seiner Worte zu kümmern, denn der Grund ihrer Fiebrigkeit rührte eindeutig nicht von einer drohenden Gefahr, sondern viel mehr von der alleinigen Anwesenheit des reizenden Fremden.

Schmachtend zirpten sie weiter.

„Oh, wir haben einen tapferen Mann in unserem Dörfchen, hört ihr?“

„Sie beschützen das Drachenmädchen und ihren Freund auf der Jagd nach dem Monster? Sie mutiger Mann!“

Mir klappte der Mund auf, mir schossen die Tränen in die Augen und ich konnte gerade noch den Lachanfall unterdrücken, der sich unerbittlich seinen glucksenden Weg durch meine Kehle bahnen wollte.

Vilthon legte sicherheitshalber beide Hände um meinen Mund, denn er traute meinen Beherrschungskünsten nicht.

„Bleiben Sie doch noch ein wenig hier!“ säuselte ein hübsches Ding aus der zweiten Reihe.

Der völlig überforderte Mirlien, dem dieses Schauspiel überhaupt nicht zu behagen schien, kämpfte sich mit sanfter Gewalt aus der lärmenden Schar zu uns durch, und wir erwarteten ihn mit breitem Grinsen in unserer Mitte.
 

Wir beeilten uns, ins Gästehaus zu kommen, das Bad zu benutzen, um darauf dieses idyllische Dörfchen mit seinen redseligen Einwohnern schnell wieder zu verlassen.

Meiner Ansicht nach machte Mirlien hinter den Dorfgrenzen bereits wieder einen deutlich weniger gehetzten und verstörten Eindruck.
 

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Wir wanderten weiter, vorbei an einem Steinbruch, einer Mine und einigen kleinen Gruben bevor wir im beschaulichen Steindörfchen eintrafen, in dem wir uns gleich zu einer kleinen Mahlzeit niederließen.

Dann führte uns die Hauptstraße, die uns wieder der Küste nahe brachte, am späten Nachmittag über ebenes, ödes und unbewohntes Land, und wir waren froh, wenn uns gelegentlich ein quietschender Karren überholte, oder fremde Botenraben krächzend über unsere Köpfe hinweg flogen.
 

Endlich kündigte am frühen Abend der alte, monumental große Leuchtturm auf einem höheren Hügel die Grenzen des Deichdorfes an, welches den Ruf hatte, der beste Schauplatz der Insel zu sein, um den beständigen Wechsel von Ebbe und Flut zu beobachten.

Man einigte sich darauf, die Nacht hier im Gästehaus zu verbringen.

Bevor wir drei aber den Gemeindeplatz des auf einer Anhöhe liegenden Dorfes betreten konnten, meldete sich Kwantsch aus den Lüften mit einem Brief aus dem Hügeldorf.

Ich verzog die Lippen zu einem dünnen Strich, als ich ihn las.

„Meine besorgten Eltern teilen uns hiermit unter anderem mit, dass sich erzählt wird, dass sich das Tier, das wir suchen, letzte Nacht in den Eichendorfwäldern herumgetrieben haben soll. Was die nicht sagen, das ist ja ganz was Neues! Die können sich doch denken, dass wir das inzwischen auch mitgekriegt haben, oder?“

„Schreib doch bloß irgendwas Beruhigendes zurück, die wollen jetzt bestimmt einfach nur hören, dass es dir gut geht, Kleine.“ wollte mich Vilthon milde stimmen.

Ich rollte genervt mit den Augen, ließ mich aber gefügig zu diesem Unterfangen breitschlagen. Bald flog Schwarzfuß mit meiner Antwort im Schnabel zurück ins Heimatdorf.

Auf dem Platz war es recht voll.

Einwohner aller Altersklassen tummelten sich einträchtig auf den Bänken und an den Tischen um das Gemeindehaus herum und hielten bei einem Glas Honigfruchtwein oder Beerensaft ein Schwätzchen.

Mit ausgelassener Begeisterung wurden wir drei Wanderer begrüßt und zugleich aufgefordert, uns zu der heiteren Versammlung hinzuzugesellen.

Wir nahmen nebeneinander zwischen den gastfreundlichen Leuten Platz, worauf geachtet wurde, Mirlien schützend in die Mitte zu nehmen, da ihn bereits jetzt schon wieder einige interessierte Frauen zu belagern versuchten.

Dieser Mann zog mehr Blicke auf sich, als ich mit meinem ungewöhnlichen Äußeren, was mir eigentlich sehr gefallen hätte, würde mir unser eingeschüchterte Freund dabei nur nicht so leid tun.
 

Jetzt tippte mir Mirlien sacht auf die Schulter und neigte seinen Kopf zu mir hin.

„Schau, mal, Tilya, ist das da vorne nicht dieser Thyllos von heute morgen?“ flüsterte er mir zaghaft zu.

Mir blieb das Stückchen Patuttpuffer, an dem ich gerade kaute, im Halse stecken, als ich die wuscheligen weinroten Haare meines Widersachers erkannte.

„Spinnendreck! Ich meinte natürlich, ja, Mirlien. Das ist er wohl. Verdammt! Also, ich geh rein! Esst ruhig hier weiter, wir treffen uns später im Gästehaus nebenan!“

„Was hat sie jetzt wieder, Mirlien?“ hörte ich noch Vilthons gedämpfte Stimme hinter mir fragen, als ich mich zum Gehen wandte.

„Wo willst du denn hin, Drachenmädchen? Hier draußen ist es doch viel schöner!“ dröhnte der braunlockige Alverliek mit dem dichten Bart, neben dem ich gesessen hatte, als ich mich unbemerkt hinter seinem Hocker an ihm vorbei drängen wollte, um mich rasch ins Gemeindehaus zu verdrücken.

Ich gestikulierte noch wild mit den Händen und bedeutete dem Mann, bitte leiser zu sprechen, aber es war schon zu spät.

Thyllos hatte mich gesehen, und winkte mit einem breiten Grinsen herüber.

Ich stellte meinen Teller einfach irgendwo ab und flüchtete hastig ins Gemeindehaus.

Von dort aus beobachtete ich durch eine milchige Fensterscheibe, wie sich Thyllos auf meinen verlassenen Hocker neben Mirlien setzte.

Ärgerlich knirschte ich mit den Zähnen und setzte mich an einen freien Platz in die Nähe einiger junger Frauen, die hier im Gemeindehaus duftenden Caybatee tranken und sich dabei angeregt unterhielten.

Eine hübsche Verliekin aus ihrer Runde, lehnte sich zu mir rüber und bot mir wohlwollend eine Tasse von dem würzigen Getränk an, doch ich musste dankend ablehnend.

Zwar fühlte ich mich durch die Aufmerksamkeit der eleganten Damen geschmeichelt, aber ich war im Augenblick aufgeregt genug.
 

Dieser Zustand sollte sich aber noch um einiges verschlimmern, als kurze Zeit später die Tür zum Gemeindehaus geöffnet wurde, und Thyllos vor Selbstbewusstsein strotzend in die Stube marschierte.

„Hoffentlich willst du nicht zu mir, du Blödmann.“ murmelte ich leise zu mir selbst.

Doch genau das hatte der Verliek vor.

Mit einer schwungvollen Bewegung ließ er sich auf die Bank neben mir fallen, worauf ich dezent ein Stückchen weiter weg rückte und mit zusammengepresstem Mund stur an die gegenüberliegende Wand starrte.

„Na, mein Mädchen, so sieht man sich wieder, was?“ grinste Thyllos.

Ich nickte einmal mit dem Kopf.

„Sag mal, gehst du mir etwa aus dem Weg, Tilya?“ Thyllos senkte vertraulich die Stimme. „Du hast doch nicht etwa Angst vor mir, oder?“

Mich überlief ein Schauer, als er meinen Namen aussprach und mir wurde heiß und kalt.

„Nein!“ antwortete ich ihm gedehnt und blickte stur weiter geradeaus.

Aus den Augenwinkeln heraus sah ich aber, wie dieser abscheuliche Typ mich unverschämt neugierig musterte.

Ich musste mich wahrhaft zusammenreißen, um nicht abermals vor ihm wegzurennen.

„Na, was hat dich denn hier gebissen?“ fragte Thyllos plötzlich und strich ekelhaft sanft mit seinen warmen, rauen Fingern über meine Schulter, just über die Stelle, an der sich noch vor wenigen Tagen die Zähne des Malars in die weiße Haut gebohrt hatten.

„Nimm sofort deine dreckigen Pfoten von mir!“ schrie ich ungehalten und sprang wie vom Querkenkneifer gebissen von der Bank auf.

Die jungen Frauen und die übrigen Leute im Gemeindehaus blickten alarmiert zu uns beiden herüber und begannen zu tuscheln.

Mir war das einerlei, mit großen, stampfenden Schritten rauschte ich aus dem Gebäude hinaus, ohne mich noch einmal umzublicken.

„Ich bin im Gästehaus, Wäsche waschen!“ blaffte ich meine beiden Freunde an, die immer noch draußen am Platz saßen und mit den Einwohnern plauderten, dann riss ich brutal die getragenen Kleidungsstücke aus den Rucksäcken und aus der Plane heraus, schulterte energisch meine eigene Tasche und stolperte unter ihren verwunderten Blicken derart beladen ins Gästehaus.
 

Ich hoffte inständig, das Thyllos nicht auch in einem der Zimmer sein Nachtlager aufschlagen würde, denn wenn dies der Fall sein sollte, würde ich sicher kein Auge zu tun können.
 

Als ich mich gewaschen hatte und darauf im Bad des Gästehauses schimpfend die Wäsche wusch, dauerte es nicht lange, bis Vilthon und Mirlien hinter mir in der Tür standen.

„Wir wollten wissen, ob alles in Ordnung mit dir ist, Liebes.“ sprach Vilthon mich mit sanfter Stimme an. „Du bist gerade so plötzlich verschwunden. Alle haben sich gewundert. Besonders Thyllos war enttäuscht.“

„Thyllos…“ zischte ich abfällig.

„Was hast du denn gegen ihn? Ich verstehe dich einfach nicht. Findest du nicht, dass du dich etwas unfreundlich ihm gegenüber verhältst?“

Ich schnappte empört nach Luft. „Ich benehme mich schlecht, gegenüber diesem widerwärtigen Kerl?“

„Dieser Verliek mag dich sehr, Tilya! Er hat uns viele Fragen über dich gestellt und er hätte dich recht gerne näher kennengelernt.“ erklärte Vilthon verständnislos.

„Hilfe. Bloß nicht.“ murmelte ich betont angeekelt.

„Du solltest diesen netten Mann wirklich nicht so mies behandeln, Liebes. Aber du bist es, wie es aussieht, einfach nicht gewohnt, dass sich ein Mann so sehr für dich zu interessieren scheint. Oder?“

Mirliens Blicke wanderten zwischen Vilthon und mir hin und her.

Dieser aggressiv angehauchten Diskussion seiner beiden Freunde zu folgen machte ihm anscheinend zu schaffen.

„Vilthon! Er interessiert sich nicht für mich, er ist einfach viel zu neugierig! Fällt dir das nicht auf? Du bist doch sonst nicht so blauäugig! Der Typ will uns nur ausfragen! Der heckt doch irgendetwas aus! Vielleicht will der sogar unserem Mirlien etwas anhaben! Dem würde ich alles zutrauen!“ ereiferte ich mich.

Vilthon schnalzte abwertend mit der Zunge. „Das ist doch lachhaft. Thyllos ist ein Verliek, warum sollte er uns etwas antun wollen? Woher kommt nur dieses unangemessene Misstrauen?“

Unwillig wandte ich mich Mirlien zu. „Was hältst du eigentlich von ihm, Mirlien? Würdest du dich auf ihn einlassen wollen?“ fragte ich ihn in einem aufgebrachten Tonfall.

Er sollte sich jetzt bloß auf meine Seite schlagen!

Mirlien aber wich hilflos einen Schritt vor mir zurück. „Er erscheint mir nicht weniger vertrauenswürdig als alle anderen Leute dieser Insel. Ich denke nicht schlecht von ihm. Er ist kontaktfreudig, weltoffen und sehr selbstbewusst.“

Ich griff mir kraftlos an den Kopf. „Ach, warum frage ich dich denn überhaupt, mein Lieber…?“
 

Als ich die gewaschenen Kleider mit auf den Balkon neben dem Waschraum nahm, um sie an der Leine aufzuhängen, erblickte ich im Schein der Glühbeeren Thyllos, selbstzufrieden grinsend.

An seinem Arm taumelte eine der jungen Damen, die mir im Gemeindehaus einen Caybatee angeboten hatten, neben ihm her.

Sie hing an Thyllos Lippen und schmachtete ihn mit glasigen Augen an, dass es mir schon vom Zusehen peinlich für sie war.

Das brünette Mädchen mit den großen grauen Augen war sehr schön, und ich auf dem sicheren Balkon konnte mich nur über ihren schlechten Geschmack, was Männer anging, wundern.

Sie musste viel zu tief ins Honigweinglas geschaut haben.

Anscheinend hatten die beiden vor, die Nacht gemeinsam im Gästehaus zu verbringen.

Na fantastisch!

Also beeilte ich mich, die Wäsche aufzuhängen, damit ich schnell mein Zimmer aufsuchen konnte, bevor mir Thyllos mit seiner Beute über den Weg laufen konnte.

Im Flur drückte ich hektisch erst dem überraschten Mirlien, dann dem nicht minder erstaunten Vilthon einen obligatorischen Kuss auf die Wange, dann stürmte ich eilig in mein Zimmer und schmiss mich auf die Matratze.

„Verstehe einer dieses Mädchen!“ hörte ich Vilthons Stimme dumpf aus dem Badezimmer tönen.

Dann vernahm ich Thyllos dunkles Lachen und das glockenhelle Kichern seiner Freundin.

Ich vergrub angewidert meine Ohren in den Kissen und schlief bald darauf ein.
 

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Ein leichtes Klopfen an meiner Tür weckte mich mitten in dieser Nacht.

„Was? Wer ist da?“ bellte ich schlaftrunken.

„Ich, bin es, Mirlien.“ ertönte die tiefe, leise Stimme meines neuen Freundes.

„Na, komm schon rein!“ lud ich ihn zu mir ein. Mirlien öffnete vorsichtig die Tür und schob sich schüchtern ins Zimmer.

„Was ist denn los?“ fragte ich beunruhigt, als er an mein Bett huschte und sich behutsam neben mich auf die quietschende Matratze setzte.

„Hörst du nichts?“ flüsterte er und blickte mich aus großen, besorgten Augen an.

Ich lauschte und vernahm tatsächlich erstickte, langgezogene Schreie und dumpfes Stöhnen aus einem der Nebenzimmer, in dem sich Thyllos mit seiner Trophäe zu vergnügen schien.

„Meinst du wir sollten mal nachschauen, ob es den beiden gut geht?“ fragte Mirlien ängstlich.

„Mirlien! Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“

„Als ich Vilthon geweckt habe, und ihn fragte, ob wir mal nach ihnen sehen sollten, hat er sich nur die Decke über den Kopf gezogen und mich weggeschickt.“ erzählte er.

„Also, wirklich, Mirlien, ich finde nicht, das sich diese Lautäußerungen in irgendeiner Form beunruhigend leidvoll anhören.“ meinte ich nachdrücklich und starrte ihm vielsagend in seine vier Pupillen.

„Aber ich höre diese Frau schon die ganze Zeit schreien!“ erklärte er aufgeregt.

Ich schürzte verständnislos die Lippen.

War dieser arglose Mann tatsächlich so naiv?

Oder hatte er etwa unter anderem auch vergessen, wie ein lüsterner Herr mit einer willigen Dame umzugehen pflegte?

Ich horchte noch mal den brünftigen Geräuschen, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. „Die zwei haben nur ihren Spaß, wenn du mich fragst. Die Angelegenheit ist genauso harmlos wie die lustige Kabbelei zwischen Vilthon und mir im Meer. Äh, nur eben in einer anderen Art und Weise! Mach dir keine Gedanken darüber, leg dich einfach wieder hin und versuch zu schlafen, Mirlien!“

Ich begleitete meinen immer noch verunsicherten Freund zur Tür und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

Tatsächlich hörte sich im Flur der Krach noch viel schlimmer an, als aus meinem Gästezimmer.

Armer Mirlien.

Als ich mich wieder in meine Decken kuschelte, hoffte ich, trotz dieser Lärmbelästigung, die wir diesem rothaarigen, rücksichtslosen Ekel verdankten, wieder einschlafen zu können.

Das Lied - Tag 7

Am nächsten Morgen wachte ich schon frühzeitig auf, fühlte mich aber dabei ziemlich unausgeruht.

Als ich den Waschraum aufsuchen wollte, fand ich die Tür versperrt, doch Mirlien kam recht bald frisch geduscht heraus und machte mir Platz.

„Auch schon länger auf, Mirlien? Hast du wenigstens gut geschlafen?“

Mein Freund nickte schief.

Eine halbe Stunde später hingen wir gemeinsam die trockene Wäsche auf dem Balkon ab, wobei wir uns flüsternd miteinander unterhielten.
 

„Ich hasse diesen Thyllos. Weißt du vielleicht, was Vilthon an dem Typen so sympathisch findet, Mirlien?“

„Ich wüsste nicht, was man an ihm unsympathisch finden sollte.“

„Eine andere Antwort hätte ich von dir auch gar nicht erwartet, mein Freund. Du bist einfach zu gut für diese Welt.“ seufzte ich resigniert.

Mirlien zuckte hilflos lächelnd mit den Schultern.

„Warum bist du ihm gegenüber überhaupt so abgeneigt, Tilya? Ich versuche, dich zu verstehen, aber es fällt mir sehr schwer.“

„Dieser Thyllos schafft es irgendwie, die Leute um seinen Finger zu wickeln. Aber es ist nicht sein verliekischer Charme, der ihn so gut bei Mann und Frau ankommen lässt. Er ist anders, aber nicht auf so eine bezaubernde Weise, wie du es bist. Irgendeinen faulen Trick hat er auf Lager, aber ich komme nicht darauf, was es ist. Er macht mir damit Angst, ich weiß nur noch nicht, warum. Und an irgendwen erinnert er mich. Und es geht mir verdammt schlecht dabei, Mirlien. Außerdem finde ich den Kerl total undurchsichtig. Mein Gefühl sagt mir, dass man sich vor ihm in Acht nehmen sollte.“

Meine Hände begannen schon wieder vor Aufregung zu zittern und Mirlien nahm sie sacht in die seinen.

Wie immer war seine Haut ungesund kalt.

„Du verkühlst dich noch, Mirlien! Hättest du mir bloß nicht mit der Wäsche geholfen! Hoffentlich wirst du uns nicht doch noch krank, mein Guter.“ bangte ich und wollte ihn gerade durch die Balkontüre zurück in den Flur drängen.
 

Doch plötzlich erklang ein helles Pfeifen unter dem Balkon.

Wir schauten hinunter und entdeckten einen kleinen, schwarzlockigen Jungen, der mit großen, ernsten Augen zu uns aufsah.

„Guten morgen, junger Mann!“ grüßte Mirlien lächelnd den alverliekischen Knaben, der vielleicht gerade drei Sommer zählte.

Mir schoss auf einmal die Vorstellung durch den Kopf, was für einen tollen Vater ein Mann wie Mirlien abgeben würde.

Der Junge scharrte verlegen mit den Füßen. „Guten Morgen, zusammen. Darf ich einmal allein mit ihrer Tochter sprechen, bitte?“ piepste das entzückende Kind schüchtern.

Mein Blick flog zu Mirlien und wir beide strahlten uns an.

„Wenn du möchtest, kannst du ruhig frei reden, Kleiner! Vor meinem Freund hier habe ich keine Geheimnisse.“ rief ich freundlich und legte demonstrativ einen Arm um Mirlien, dem das sichtlich wohl tat, denn seine stolz glänzenden Augen ließen mir nun das Blut in den Kopf schießen und mir wurde sehr warm ums Herz.

„Ach so. Na gut, wenn du meinst.“ willigte der kleine Alverliek altklug ein und senkte seine Stimme. „Also, dann. Heute Nacht hat mich nämlich ein schwarzes Wolkenmonster besucht.“
 

Meine Mundwinkel rutschten nach unten. „Geht es dir und deiner Familie gut?“ fragte ich den kleinen Jungen sofort.

„Ja, ja.“ beruhigte das Kind mich ungeduldig. „Keine Angst, es war eigentlich ein ganz nettes Wolkenmonster. Ich bin aufgewacht, und es war da, es flog beim Fenster auf und ab. Es hat gefragt, warum es nicht hinein kann. Wieso, du bist doch schon hier im Zimmer, habe ich gesagt, und das Monster hat ganz lustig gelacht. Aber dann ist es auf einmal böse geworden und hat über dich geschimpft, Drachenmädchen. Da hatte ich dann doch ein wenig Angst.“

„Über mich geschimpft?“ wiederholte ich ungläubig.

Der Junge nickte heftig mit dem Kopf. „Ja, ganz leise hat es geschimpft. Verfluchtes Drachenmädchen, hat es sogar dabei einmal geflüstert. Mami hat mir aber nicht geglaubt, als ich sie wach gemacht hab. Die sagt, ich habe zu viel Fantasie und ich soll die Fensterläden schließen. Sagt nicht meiner Mami, dass ich verflucht gesagt habe, ja?“

„Nein, nein!“ versprach ich hastig. „Hat das Monster noch was gesagt?“

„Habe ich nicht verstanden. Nur, dass du Schuld bist an Allem. Du bist doch das Drachenmädchen, und ich dachte mir, ich warne dich davor, dass das Monster sauer auf dich ist.“

„Danke Junge, das hast du gut gemacht. Und was ist dann passiert?“ fragte ich atemlos.

„Dann ist das Wolkenmonster durch das Fenster geflogen und sah plötzlich aus wie ein haariger Mann, der schnell wegrennt. Aber das war ganz, ganz gruselig! Da habe ich mich dann auch sehr doll gefürchtet, denn ich dachte ja die ganze Zeit, er wäre bloß eine sprechende Wolke. Aber in Wirklichkeit war er ein verwandeltes Monster.“ flüsterte das Kind verschwörerisch.
 

Ich raufte mir die Federn.

Da hatten wir wohl alle noch einmal Glück gehabt, wie es aussah.

Der Kleine war ja noch verhältnismäßig glimpflich mit dem Schrecken davongekommen.

Nur gut, dass die unheimlichen Märchen der Eltern und die alwischen und verliekischen Urängste vor Malaren stets eine gesunde Furcht vor diesen Wesen auslösten, denn wenn man schon als Kind Sympathie für so einen Malar zu hegen beginnen würde, konnte man sich leicht an meinem erschreckendem Beispiel ableiten, wohin das führen konnte.

„Hast du eigentlich schon dein Totem gefunden, Junge?“ fragte ich dann den Knaben neugierig.

Der Kleine verneinte beschämt.

Ich erfasste sogleich die Zusammenhänge.

„Dein Glück, sonst hätte dich das Wolkenmonster gestern bestimmt ein bisschen geärgert!“ erklärte ich dem Kind lächelnd.
 

Doch im Inneren schäumte ich vor Wut.

Jetzt versuchte dieses Mistvieh es also auch schon bei den ganz Kleinen, die vielleicht noch nie zuvor einen Malar gesehen hatten.

Hatte er vor, sich ein neues Bündnis mit einem unbedarften Kind zu erzwingen? Nun, das schien wohl nicht zu funktionieren, Pech für das Monstrum!

Der kleine Alverliek rannte, nachdem er sich verabschiedet hatte, zurück zu seinem Elternhaus.

Irgendwann, dachte ich, wenn er mal älter war, und schon längst ein Totem und ein Talent besaß und sein eigener Malar ihm zur lästigen Gewohnheit geworden war, würde er sich vielleicht an diese Nacht erinnern und sich fragen, ob ihm seine kindliche Fantasie damals wirklich nur einen Streich gespielt hatte.

Ich war froh, dass Mirlien in diesem Moment bei mir war und ich mich einen Augenblick lang an seiner Schulter von dem Schrecken erholen konnte.
 

Als wir mit dem Korb trockener Wäsche vom Balkon in den Flur stiegen, sahen wir die junge Dame, die Thyllos diese Nacht Gesellschaft geleistet hatte, ziemlich verwirrt und mit verstörtem Gesichtsausdruck aus seinem Zimmer hasten und die Treppen hinunter rennen.

Der dumpfe Knall der zuschlagenden Eingangstür des Gästehauses verriet, dass sie wohl nicht gedachte, gemeinsam mit uns vier Besuchern zu frühstücken.
 

Vilthon kam aus dem Bad.

Mit seinem nassen, schulterlangen feinen Haar sah er sehr jung aus, doch tiefe Augenringe zeugten von einem sehr unerholsamen Schlaf.

Ich warf einen hasserfüllten Blick auf Thyllos, der sich nun räkelnd an den Türrahmen seines Zimmers lehnte.

„Guten Morgen, Kollegen.“ schleimte er. „Guten Morgen, Tilya.“

Der Verliek präsentierte seine spitzen Fangzähne unter einem breiten, schäbigen Grinsen. „Ich hoffe, ihr hattet auch eine so angenehme Nacht wie ich.“ feixte er.

Ich hätte ihm am liebsten meinen Pantoffel ins Gesicht gepfeffert, aber diesen brutalen Anblick wollte ich meinem geliebten Mirlien ersparen.

Außerdem fürchtete ich Vilthons Standpauke.

Also riss ich mich zusammen und antwortete stattdessen ruhig. „Nun ja, Thyllos, ich will mir ja gar nicht genauer vorstellen, was du da mit diesem bedauernswerten Ding getrieben hast… Aber was es auch war - es war eindeutig zu laut!“

„Tilya, wo bleiben deine Manieren?“ rief der peinlich berührte Vilthon, dem sofort die Wangen zu glühen begannen.

„Was denn? Er hat uns alle drei auf irgendeine Art und Weise wach gehalten! Und diesem armen Mädchen scheint es ebenfalls nicht gut zu gehen, sonst hätte sie es doch sicherlich vorgezogen, mit ihrem Wohltäter zu frühstücken, anstatt wie von dem Querkenkneifer gebissen aus dem Haus zu stürmen!“ schimpfte ich erbost.

„Aber Tilya, das ist Privatsache und geht uns überhaupt nichts an.“ knurrte Vilthon eindringlich zwischen zusammengepressten Zähnen, entschuldigend in Thyllos Richtung lächelnd.

Ich fauchte ärgerlich und begann wütend, die Wäsche zusammenzufalten und die Rucksäcke zwischen den Zimmern auf dem Flur zu packen.

Ich hatte wegen diesem flegelhaften Ignoranten ziemlich schlecht geschlafen, und nun nahmen meine beiden Freunde ihn auch noch in Schutz.

Und ich hatte einmal gedacht, Myroon wäre das Dreisteste, was die Insel zu bieten hatte.

Von wegen!

Dieser Typ übertraf wahrscheinlich sogar noch die Menschen in sämtlichen schlechten Eigenschaften.

So benahm sich doch kein Verliek!

Eine Schande für sein Volk war er!
 

Mies gelaunt riss ich die Gurte der Taschen stramm und verknotete sie sorgsam, vielleicht ein wenig zu fest.

Tränen der hilflosen Wut stiegen mir unaufhaltsam in die Augen, als sich Thyllos im Flur absichtlich dicht an mir vorbei in den Waschraum drängte.

Der Verliek war, wie ich leider schon in Erfahrung bringen musste, knapp einen Kopf länger als ich, also kleiner als jeder meine beiden Freunde, doch in seiner Bedrohlichkeit kam er mir immer noch viel größer als Vilthon und Mirlien vor.

Nun stieg mir der Geruch nach körperlicher Aktivität in die Nase, sein sehr maskuliner Duft und gleichzeitig ein Hauch von …regennasser Wollspinne.

Ich sog scharf die Luft ein und drehte mich mit klopfendem Herzen nach dem Verlieken um, der gerade beschwingt pfeifend die Tür des Bades öffnete.

Thyllos, der dies zu spüren schien, wandte sich langsam um, und fragte mich dann zu allem Überfluss mit unerträglich samtiger Stimme, ob ich ihm nicht in den Waschraum folgen und ihm Gesellschaft leisten möge.

Dabei funkelte er mich aus seinen stechenden Bernsteinaugen provokant an.

Leider war ich momentan zu schockiert, um mit einer entsprechend ätzenden Antwort dieses Angebot abzulehnen, sondern schüttelte nur panisch den Kopf und rannte die Treppen hinunter in den Speiseraum, wo sich Mirlien und Vilthon angeregt miteinander unterhielten, während sie auf mich warteten.
 

„Na, Liebes, hast du dich wieder eingekriegt?“ fragte Vilthon forsch, als ich mich ihm mit wackeligen Knien gegenübersetzte.

„Mirlien, Vilthon! Thyllos stinkt nach Malar!“ platze ich unvermittelt heraus.

Vilthon schielte vielsagend zu Mirlien, der aber mit dieser Information nicht viel anzufangen wusste.

„Versteht ihr denn nicht? Bestimmt macht er gemeinsame Sache mit dem Monster. Vielleicht ist er ja sogar selbst niemand anderes als mein Malar persönlich, der durch seinem Staub die Gestalt eines Mannes angenommen hat, um uns zu täuschen. Deswegen war er mir auch bestimmt von Anfang an so unangenehm. Wir sollten uns nicht auf ihn einlassen!“ flüsterte ich verschwörerisch.

Vilthon stützte seinen Kopf in die Hände. „Liebes, du solltest dich einmal reden hören. Diese ganze Geschichte um den Malar nimmt dich viel zu sehr mit. Alles, was dich verunsichert, bringst du auf Biegen und Brechen irgendwie mit diesem Wesen in Verbindung, merkst du das nicht? Du musst das Alles etwas lockerer angehen, sonst wirst du noch einmal die Leute mit deinen unüberlegten Worten und deinen aus der Luft gegriffenen Verdächtigungen sehr verletzen, glaube mir bitte.“

„Vilthon, ich weiß, was ich wahrnehme. Wir müssen ihn im Auge behalten! Du darfst ihm nicht so schnell vertrauen, wie wir es bei Mirlien tun konnten, das wäre in diesem Fall ein großer Fehler!“ versuchte ich meinen Freund zu überzeugen.

Doch ich stieß bei ihm auf taube Spitzohren.
 

„Ich möchte mir bitte mein eigenes Bild von Thyllos machen, Liebes. Es ist verständlich, dass du vorsichtig geworden bist und uns vor allen Gefahren, die von dem Malar ausgehen, schützen möchtest, aber ich habe gar keine Bedenken, was diesen Verlieken angeht. Auch deine Einwürfe veranlassen mich immer noch nicht, ihm zu misstrauen, dafür gibt es schlicht und einfach noch keinen festen Grund. Und jetzt guck nicht mehr so böse und nimm dir schon mal ein Brötchen.“

Mirlien räusperte sich. „Tilya, möchtest du Vilthon nicht vielleicht von der Geschichte des jungen Alverlieken erzählen?“

„Ach, ja.“ besann ich mich. „Das habe ich in der Aufregung ganz vergessen. Erzähl du, Mirlien, ich bin noch zu zappelig vor Ärger, um mich jetzt an alle Einzelheiten zu erinnern.“ grummelte ich und spießte grausam ein Xeraatbrötchen mit meinem Messer auf.

Zu meiner Überraschung schilderte Mirlien nun seine Ausführung akribisch detailliert und gab das Gespräch im exakten Wortlaut wieder.

Ich konnte nun nur noch über sein exzellentes Gedächtnis und seine hervorragende Auffassungsgabe staunen, und vergaß darüber sogar meine verzweifelte Wut auf Thyllos, der sogar beim pingeligen Vilthon mit seiner Masche durchzukommen wusste.

Vilthon, der von alledem nichts ahnte, lauschte Mirliens Worten aufmerksam, dann atmete er einmal tief durch und begann gewohnheitsmäßig zu analysieren. „Ich bin erst mal ziemlich erleichtert, dass der Malar bei Kleinkindern auf Granit beißt. Also kann er nur in Träume einbrechen, die bereits unter einem Bündnis stehen. Das heißt, er kann nicht einfach in den Untiefen wildern. Und dann muss er es erst noch einmal schaffen, den innewohnenden Malar und das Totem seines Opfers zu besiegen. Ich glaube, Freunde, dass die ganze Sache gar nicht mal so schlimm ist, wie sie scheint.“
 

In diesem Augenblick hörten wir Thyllos mit schweren Schritten die Stufen hinuntersteigen.

Ich begann sogleich, intensiv die Luftlöcher in meinem aufgeschnittenen Xeraatbrötchen zu studieren.

„Ihr habt mit dem Frühstück auf mich gewartet, meine Freunde? Wie liebenswürdig!“ stellte der Rotschopf erfreut fest und setzte sich neben mich, die ich auf einmal gar keinen Appetit mehr verspürte.

„Was ist los, Süße? Warum schaust du so finster aus der Wäsche? Schlimme Träume gehabt?“ gurrte Thyllos und lehnte sich doch tatsächlich so weit zu mir herüber, dass seine kurzen, rotgoldenen Bartstoppeln schon an meiner Wange kratzten.

Mein brennender Blick bohrte sich vorwurfsvoll in Vilthons und Mirliens Augen, aber keinem von beiden schien Thyllos widerliches Verhalten einen Einspruch wert zu sein.

Frustriert knallte ich mein angebissenes Brötchen auf den Teller, rannte die Treppen hoch, schnappte mir den Rucksack und verließ wutschnaubend das Gästehaus.

„Ich warte draußen auf euch beide, mir ist plötzlich so schlecht geworden!“ verkündete ich betont kühl.

Draußen lehnte ich mich entnervt an die Backsteinmauer des Gebäudes.

Das durfte doch alles nicht wahr sein!

Dem gutgläubigen und weltfremden Mirlien hätte ich ja ohnehin nicht zugetraut, dass er das Schlechte in irgendwelchen Leuten erkannte, doch zumindest von Vilthon hätte ich eine gewisse Personenkenntnis erwartet.

Wie konnte er nur so blind sein?

Oder war vielleicht doch nur ich selbst diejenige Person, mit der etwas ganz und gar nicht stimmte?
 

Mirlien war mir gefolgt. „Geht es dir tatsächlich nicht gut, oder wolltest du einfach nicht länger bei Thyllos sitzen bleiben, da du seine Anwesenheit nur schwer erträgst?“ fragte er mich direkt.

Ich antwortete wahrheitsgemäß.

Mirlien konnte ich wahrscheinlich sowieso nichts vormachen.

Er legte seinen Arm um mich. „Fühl dich nicht von Vilthon im Stich gelassen, Tilya. Er würde niemals an dir zweifeln und er wird zu dir halten, wenn es darauf ankommt.“

„Dann ist es vielleicht schon zu spät, Mirlien. Ich habe das Gefühl, dass dieser Thyllos etwas Mieses im Schilde führt.“ jammerte ich, die ich mich von meinem besten Freund unverstanden fühlte.

„Du hast Angst vor Thyllos, das erkennt Vilthon. Aber er ist viel zu fair und gerecht um eine Person zu verurteilen, deren Schuld nicht eindeutig bewiesen ist.“ versuchte Mirlien das Verhalten seines geschätzten Freundes zu erklären. Ich sah ihn mit glänzenden Augen an.

„Du hast ein Herz, reiner als Kristall, Mirlien. Daran sollte ich mir ein Beispiel nehmen. Ich hoffe nur inständig, dass ich es sein werde, die sich in Thyllos geirrt hat.“

Vilthon kam aus dem Gästehaus und gesellte sich zu uns.

Er gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Geht es dir besser, Liebes? Ich kann nicht am Frühstückstisch sitzen, wenn ich weiß, dass du dich nicht wohl fühlst.“

Ich umarmte den Alwen stürmisch. „Ich hab dich lieb, Vilthon, auch, wenn du Torfkopf dich von diesem Thyllos einwickeln lässt.“

„Ich hole unsere Rucksäcke.“ sprach Mirlien zufrieden lächelnd und ließ uns beiden versöhnten Spitzohren kurz allein.

„Ich habe dich auch lieb, Tilya.“ flüsterte Vilthon. „Deshalb habe ich Thyllos nun doch nicht angeboten, sich uns anzuschließen. Wenn er dir so sehr zuwider ist, will ich dir seine ständige Gegenwart nicht zumuten, obwohl ich deinen Widerwillen gegen ihn nicht im Geringsten nachempfinden kann. Er ist ein ganz toller Kerl, mit einer ordentlichen Portion Lebenserfahrung. Du hättest ihn besser kennen lernen sollen.“

„Lieber nicht.“ brummte ich abwehrend. „Sieh mal, der hier ist ein wirklich toller Kerl!“ rief ich dann, und deutete strahlend auf Mirlien, der mittlerweile die Taschen der Männer aus dem Gästehaus geholt hatte.

„Ein ganz unvergleichlicher, einzigartiger, wunderbarer Kerl!“ schwärmte ich weiter und fiel nun auch ihm um den Hals.

Mirlien schwankte ein wenig unter der Last der Taschen und meiner impulsiver Umarmung, und Vilthon nahm ihm schmunzelnd seinen Rucksack ab.

Er freute sich sichtlich, dass auch eine introvertierte, misstrauische Person wie ich sich so schnell für Mirlien erwärmen konnte.

Aber war dies denn wirklich noch verwunderlich?

Durfte es überhaupt jemanden geben, der sich Mirliens Wesen entziehen konnte? Auch ein so überzeugender, witziger, kompetenter Mann wie Thyllos hätte es niemals mit Mirliens Sensibilität, seinem Einfühlungsvermögen und seiner rücksichtsvollen, zuvorkommenden und liebevollen Art aufnehmen können.
 

Wir drei machten uns in aller Eintracht auf den Weg, und Mirlien zeigte sich sichtlich zufrieden und erleichtert.

Als er uns wieder einmal darum bat, ihm weitere Einzelheiten über Kultur und Gesellschaft der Alwen und Verlieken nahe zu bringen, nahm ich dies zum Anlass, um ihm einige volkstümliche Melodien zu trällern, die ich damals bei Myroon erlernt hatte.

Ich sang ihm die Lieder von verliekischen Jagden, bot alwische Seefahrerweisen dar, erzählte schaurige Kindermärchen von Malaren in Reimen, und diskutierte mit Vilthon über die verschiedenen kleinen Bräuche und Sitten des Totemkultes, die von Dorf zu Dorf unterschiedlich intensiv praktiziert wurden.

Mirlien lauschte so aufmerksam wie er es immer tat, wenn er etwas Neues lernte. Nur bei der Schilderung der verliekischen Jagden erstarb sein Lächeln kurz.

„Jede Nacht jagen die Verlieken, nur um der alten Tradition willen?“ fragte er etwas traurig.

Ich zuckte entschuldigend mit den Achseln.

„Um ehrlich zu sein, ja. Die ersten Verlieken dieser Erde waren regelrechte Raubtiere, die sich ursprünglich ausschließlich von Fleisch ernährt haben sollen.“ erklärte ich.

„Im Laufe der Jahrtausende hat sich das zum Glück geändert. Nur noch diese nächtlichen Jagden, in denen in den Wäldern wilde Zaronnen oder Betoolenspringböcke erlegt werden, zeugen von der Wildheit der Urverlieken. Und wer weiß, vielleicht wird auch dieser Brauch in einiger Zeit aufgegeben werden.“

„Und die Malare, gab es die auch schon immer?“ fragte Mirlien interessiert,

„Nach den ältesten Überlieferungen waren Alwen und Totemtiere schon seit der Entwicklung der Schriftzeichen ein Begriff. Viele noch heute bestehende Relikte zeugen von diesem alten Wissen. Nur die Erkenntnis und effektive Nutzung der Begabungen reicht erst wenige Jahrhunderte zurück.“ erklärte Vilthon seinem Freund.

„Faszinierend.“ flüsterte Mirlien beeindruckt.
 

Ein Karren mit Textilwaren, gezogen von einem prächtigen Paar Reitechsen, rollte über die Hauptstraße von hinten auf uns drei Wanderer zu.

„Wollt ihr aufspringen? Ich fahre ins Salamanderdorf!“ schrie uns die dunkelhäutige Verliekin, die den Wagen lenkte, zu.

Wir ließen uns nicht zweimal bitten, und hüpften dankbar in die weiche Fracht.

„Das sind aber große Reitechsen!“ staunte ich über die Tiere, deren Schulterhöhe meine eigene Körpergröße überragte.

„Tja, Süße, die kommen ja auch von den Vulkaninseln des Donnerlands. Groß wie Laufechsen sind sie.“ verkündete die Verliekin stolz, während die Felder an uns vorüberrauschten. „Mein Vater hat sie damals von einer seiner Reisen mitgebracht. Aber sie sind störrischer als die Echsen vom Festland. Wenn du sie nicht selbst aufgezogen hast, gehorchen sie dir auch nicht.“ erklärte sie.

Vilthon schmunzelte und warf einen Blick auf mich. „Dieses Problem kenne ich.“ flachste er.

Mirlien schien diese liebevolle Anspielung auf meine Eigenwilligkeit nicht verstanden zu haben.

Gut gelaunt puffte ich meine beiden Freunde in die Seite.

Ich freute mich, durch die Fahrt einen großen Abstand von Thyllos zu gewinnen.
 

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Gegen Mittag erreichten wir das Salamanderdorf, wo uns eine herrliche Kürbissuppe im Gästehaus erwartete.

Die dunkelhäutige Verliekin, die sich Gyselle nannte, speiste mit uns.
 

Als wir alle miteinander am Tisch saßen und über Reitechsen plauderten, stellte sich heraus, dass die burschikose Frau gleich, nachdem sie einen Teil der mitgeführten Stoffe im Lager des Salamanderdorfes abgeladen haben würde, die restliche Ware in ihre Heimat, das schöne Hafendorf zu transportieren gedachte.

„Auch wir wandern Richtung Norden weiter.“ stellte Mirlien sachlich fest.

Die Frau beugte sich zu Mirlien hinüber und betörte ihn mit ihren irreführend hellen Augen.

„Also, ich hätte nichts dagegen, wenn ihr mir noch etwas Gesellschaft auf meinem Weg leisten würdet. Ihr seid eine wirklich niedliche Bande.“

„Das ist sehr freundliche Geste von Ihnen.“ bedankte sich Mirlien höflich, und die Verliekin kicherte wie ein kleines Mädchen.

Vilthon und ich zwinkerten einander zu.

Unser ungewollt charmanter Freund schien nicht zu ahnen, welche herzerfrischende Wirkung er auf die Damenwelt auszuüben vermochte.
 

Der Karren rollte über weite Ebenen und Weiden, durch Wälder, und an zahlreichen Feldern vorbei, bis die Hauptstraße einen Bogen beschrieb und uns wieder einmal entlang der Küste führte.

Ich grinste triumphierend.

Thyllos würde uns nun kaum noch einholen können.

Der Abend war noch jung, als wir das wunderschöne Hafendorf am Meer erreichten.

„Unsere letzte Station an der Küste.“ meinte Vilthon mit einem prüfenden Blick auf die Karte. „Genieße noch einmal diesen Anblick, Tilya!“

Auch ohne diese Aufforderung hätte ich die herrliche Aussicht mit meinen Augen verschlungen.

Staunend betrachtete ich die vielen bunten Schiffchen, die am Hafen an lagen und munter auf den glitzernden Wellen schaukelten.

Meeresvögel schwebten kreischend durch die Lüfte und hofften auf eine milde Gabe der Angler.

Die letzen Fischer kehrten in ihren Booten von ihren Jagdausflügen auf dem offenen Meer zurück und wurden erwartungsvoll von ihren Familien empfangen.
 

Gyselle hielt an einem gemauerten Wall und befestigte ihren Karren an einigen Ketten, damit er nicht die Steigung hinab rollen konnte.

Dann machte sie die beiden Reitechsen von ihrem Geschirr los, die sofort mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit die Straße hinunter ins Dorfinnere sprinteten.

„Die laufen jetzt zu meinen Brüdern!“ erklärte uns Gyselle. „Wenn die Jungs ihr dumpfes Gebrüll hören, wissen sie, dass ihr Schwesterchen bei den Lagern auf sie wartet. Die starken Kerle sollen mir gefälligst dabei helfen, die schweren Stoffrollen einzuräumen, für so was hat man ja schließlich ältere Geschwister!“

Schelmisch zwinkerte sie uns zu, worauf wir sofort hilfsbereit anboten, der freundlichen Verliekin zur Hand zu gehen. Die winkte aber dankend ab.

„Lieb von euch, aber meine beiden Brüder werden jeden Augenblick auf den Echsen angeritten kommen. Das wäre ja auch noch schöner, wenn wir unsere Gäste hier arbeiten lassen würden! Ab mit euch zum Gemeindeplatz, da wird gleich frischer Fisch aufgetischt! Vielleicht sieht man sich noch nachher!“ lachte die hübsche Frau.

Ich bedauerte dies. Wenn die Brüder dieser Verliekin nur entfernt so attraktiv wie ihre Schwester waren, was ich doch stark vermutete, hätte ich lieber gänzlich auf das Abendbrot verzichtet, anstatt mir diesen optischen Leckerbissen entgehen zu lassen.

Gyselle verabschiedete sich herzlich von uns dreien, besonders aber von Mirlien, den sie besonders innig umarmte und wohl am liebsten gar nicht mehr los gelassen hätte.
 

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Wir schlenderten gemütlich über die Piere, und beobachteten dabei, wie die Fischer ihre Netze säuberten, ihre Schiffchen warteten und wie der Fang sortiert und in das Dorf verfrachtet wurde, als Mirlien mich sanft an stupste. „Seht mal, ihr beiden! Ist das nicht Thyllos da hinten?“

„Nein, Mirlien! Nicht schon wieder!“ Meine Blicke flogen entsetzt in die Richtung, in die mein Freund wies.

Weiter hinten turnte tatsächlich ein rothaariger Mann, behände wie ein Berglemur auf einem Steg herum.

Er hatte uns den Rücken zu gedreht, doch ich konnte erkennen, dass er eine Klampfe in den Händen hielt, von der gelegentlich einige Klänge durch das Rauschen der Wellen drangen und mit dem Wind zu uns getragen wurden.

„Das kann doch gar nicht sein! Wie sollte er uns so schnell eingeholt haben! Er kann doch nicht fliegen!“ hauchte ich verzweifelt.

Um die verhasste Person scharten sich einige Leute, vor allem Kinder und junge Frauen fanden sich um Thyllos herum ein und schienen ihm andächtig zu lauschen.

„Was macht er da eigentlich?“ überlegte Vilthon. „Sicher führt er etwas vor, sowie Myroon es im Hügeldorf immer zu tun pflegt. Kommt mit, das müssen wir uns ansehen!“

Begeistert zog der Alwe Mirlien und mich an den Armen hinter ihm her.

Ich sträubte mich vehement. „Nein! Bitte, Vilthon!“

„Jetzt hab dich nicht so, Liebes! Wir werden ihm wohl zwangsläufig früher oder später im Gästehaus begegnen! Komm schon, tu es Mirlien zu Liebe! Schau doch nur, so etwas kann wirklich sehr interessant werden!“

„Davor habe ich ja so große Angst!“ jammerte ich unwillig.
 

Vilthon hatte Mirlien und mich in die Gruppe der Schaulustigen geschleift.

Damit auch ich recht klein geratenes Ding etwas von dem Spektakel, dass Thyllos veranstaltete, mitbekam, schubste der Alwe mich kurzerhand durch die Menge hindurch nach vorne.

Fast wäre ich vor die Füße des ganz in grau gekleideten Verlieken gestolpert, so sehr erschrak ich in dem Moment, als ich in sein Antlitz sah.

Bleich geschminkt war sein Gesicht, mit Kohlruß hatte er die Augen akzentuiert, so dass sie noch stechender, noch gieriger blickten als sonst.

Über den Lippen hatte er eine schwarze, blitzförmige Musterung aufgetragen, so dass der Eindruck großer, scharfer Reißzähne erweckt wurde.

Sein scharlachrotes Haar leuchtete in diesem Kontrast wie gerinnendes Blut.

Die Ähnlichkeit, die dieser Verliek nun mit einem Malar aufwies, war erschreckend, und auch seinen verwirrenden Geruch konnte ich nun wahrnehmen, so nah, wie ich nun vor ihm stand.
 

Sein Instrument beherrschte er nicht besonders gut, aber die Leute, die ihm lauschten, fesselte er mit seinen Worten, seinem Anblick, seiner Stimme.

Gebannt hingen sie an seinen Lippen, blickten zu ihm hoch, als wären sie ihm hörig.

Unablässig zupfte Thyllos seine Klampfe und sprach in seinem Singsang weiter, die Stimme tief und rau, aber melodisch.

Ich zwang mich, ruhig zu bleiben.

Das gelang mir auch, bis ich zu erkennen glaubte, wovon der Verliek eigentlich sang.
 

„Das rote Tier, es hungert sehr,

das Mädchen setzt sich nicht zur Wehr,

die Angst vor ihm, die nährt in nicht,

es schwächt der Blick in ihr Gesicht.
 

Was Staub erschafft, sie lachen lässt,

das Tier, es hält sein Mädchen fest.

Sein Griff, so hart, er schmerzt sie beide.

Das Tier, dem Mädchen rückt zu Leibe.
 

Wahrhaftig sieht sie sein Gesicht,

das Totem tot, es hilft ihr nicht.

Das Tier ist frei, es sät die Frucht,

Menschenträume, seine-„
 

„Halt deine elende Klappe, verdammt noch mal!“ brüllte ich, die ich mich endlich aus meinem lähmenden Entsetzen reißen konnte, sprang an Thyllos hoch und riss ihn mit ungeahnter Kraft zu Boden.

Irgendwo über uns hörte man das hysterische Kreischen von Kwantsch.

Die Klampfe fiel unter einem sterbenden Klang ihrer Saiten auf den Kiesweg, auf dem wir beiden ungleichen Kontrahenten jetzt lagen.

Ich saß mit wutverzerrtem Gesicht auf Thyllos, der unter seiner Maskerade so entspannt grinste, als spiele er mit einem kleinen Schnabelgecko.

Meine zitternden Hände krallen sich in den grauen Hemdkragen meines Widersachers. „Was erzählst du den Leuten da, du Mistkerl? Was machst du überhaupt hier?“ schrie ich wutentbrannt.

„Hallo, meine Süße, wie schön dich zu sehen.“ antwortete der Verliek mit spöttischen Grinsen und winkte seinen beunruhigten Zuschauern, die von meinem Angriff zutiefst empört zu sein schienen, entwarnend zu.

„Keine Sorge, liebe Leute! Eigentlich ist die Kleine ganz anschmiegsam, aber was erzähle ich euch…Frauen eben…“

Der lachende Thyllos fing erst meine rechte, dann meine linke Faust ab, mit denen ich ihn zu traktieren gedachte. „Denk nach, Schätzchen, ob du jetzt nicht lieber nett zu mir sein solltest.“ raunte er mir leise zu.

Die Schaulustigen, die sich um uns beiden Kampfhähne gedrängt hatten, begannen zu tuscheln.
 

Ich überlegte kurz.

Dieser Bastard hatte Recht.

Wenn den Leuten auffiel, wie empfindlich gerade ich, die Jägerin des berüchtigten Tieres, auf Thyllos Lied reagierte, würde es nicht mehr lange dauern, bis man sich eins und eins zusammenzählen konnte.

Außerdem benahm ich mich gerade nicht viel besser als ein Mensch.

Mirlien und Vilthon versuchten sich anscheinend gerade durch die Menge hindurch zu kämpfen, ich hörte die besorgte Stimme des Alwen durch die vielen anderen Stimmen tönen, sah Mirliens große Augen, die bestürzt auf mir ruhten.

Ich begann, mich vor ihm zu schämen.
 

„Um auf deine Frage zu antworten, was ich hier treibe, kann ich dir antworten, dass ich den Leuten bloß ein unterhaltsames Liedchen vortrage, ich erzähle eine spannende, neue Geschichte in der allgemeinen Sprache. Was ist schon dabei?“ zirpte Thyllos mir süßlich entgegen.

Ich knirschte mit den Zähnen.

„Und wie ich so schnell hierher gelangt bin, willst du wissen? Nun, Kleine, Reitechsen sind, wie der Name schon sagt, zum Reiten geeignet. Und wenn man keinen lästigen Karren hinter sich herziehen muss, und statt die verschlungene Hauptstraße zu benutzen, die Abkürzungen querfeldein verfolgt, dann-„

„Woher…? Aha! Du hast uns also nachspioniert!“ unterbrach ich ihn hitzig.

„Aber, aber, Tilya! Was für ein böses Wort.“ schnurrte der Verliek und zog meine Fäuste, die er noch immer in seinen Pranken hielt, ruckartig nach oben über seinen Kopf, so dass ich meinen Halt verlor und mich auf ihm lang machen musste. Wie erniedrigend!

Hilflos auf meinem Erzfeind zappelnd hörte ich einige Leute lachen, die meisten jedoch begannen den Schauplatz desinteressiert zu verlassen.

Wütend riss ich ihre Hände aus der Umklammerung des Verlieken und rappelte mich zornig hoch.

Endlich gaben die Zuschauer Vilthon und Mirlien den Weg frei.
 

Ungeduldig wischte ich mir die fettige, weiße Schminke von Stirn, Mund und Nase. Nur Mirlien hatte es dieser Thyllos zu verdanken, dass ich ihm jetzt nicht kurzerhand den Hals umgedrehte.

Eine hübsche Alverliekin mit weißblondem, feinen Haar und hellblauen Augen drängte sich zwischen meine beiden Freunde hindurch, ergriff flink meine Hand, und zog mich von Thyllos weg.

„Zhannya, meine liebe Freundin! Lange ist es her…“ tönte Thyllos vertraulich, als er die junge Frau erblickte, die etwa in meinem Alter sein musste und auch eben so klein geraten war wie ich, jedoch auffallend schlank und grazil wirkte.

„Wir sind keine Freunde, du falscher Fuchs!“ knurrte das Mädchen, das Zhannya hieß abfällig, und bedeutete uns drei Gefährten, mit ihr zu kommen.
 

Mirlien nahm mich bei meinem freien Arm und erkundigte sich besorgt, ob denn alles mit mir in Ordnung sei. Ich nickte abwesend.

Vilthon lief an Zhannyas Seite und redete wild auf mich ein.

„Tilya, was ist nur wieder in dich gefahren? Der arme Mann hat doch gar nichts getan, außer irgendein harmloses Lied zu singen, und du fällst über ihn her? Was sollen denn nun die Leute von uns denken, wir sind in diesem Dorf zu Gast!“

„Irgendein harmloses Lied?“ schnaubte ich, und schnappte nach Luft.

Doch noch bevor ich dem Alwen etwas entgegensetzen konnte, ergriff Zhannya das Wort. „Vilthon, deine Freundin ist nicht im Unrecht, was ihr Misstrauen gegen Thyllos angeht. Ich weiß zwar nicht, warum sie so wütend auf ihn ist, aber sie wird ihre Gründe haben! Thyllos ist keineswegs so harmlos, wie er scheint. Leider fallen die Leute reihenweise auf ihn herein, aber er ist eine äußerst zwielichtige Gestalt, die mit Vorsicht zu genießen ist.“

„Vilthon…, du…Ihr kennt euch?“ fragte ich verwirrt.

„Erst seit eben!“ erklärte Zhannya. „Ich breche morgen früh mit meinen Kumpeln zu unserer nächsten Seereise auf und wollte noch mal nach dem Zustand unseres Schiffes schauen. Und was sehe ich da am Hafen? Meinen ehemaligen Gefährten Thyllos und das Drachenmädchen, von dem in jedem Dorf im allgemeinen Schreiben an der Tafel zu lesen ist. Natürlich wollte ich sofort dazwischen gehen, aber die ganzen Leute um euch herum standen im Weg. Und dann ist mir Vilthon auf den Fuß getreten. So haben wir Bekanntschaft geschlossen.“

„Thyllos war dein Gefährte?“ fragte ich argwöhnisch nach.

„Ja, wir waren vor einigen Jahren zusammen mit ihm auf der See, auf einer Reise zum Kontinent. Aber im Gegensatz zu meinen Freunden habe ich mich nicht von ihm um den Finger wickeln lassen. Ich habe sein wahres Gesicht erkannt, leider zu spät. Der Typ benimmt sich wie ein Mensch, aber wenn man seine Vergangenheit kennt, verwundert das kaum noch!“

„Du warst bei den Menschen? Was hast du dort gesehen? Wie sind sie so?“ wollte Vilthon wissen.

„Vilthon, ich möchte jetzt lieber mehr über deinen ach ja so verehrten Thyllos erfahren! Du hast doch gehört, ich lag richtig mit meiner Einschätzung, also lenk nicht vom Thema ab!“ brauste ich auf.
 

Zhannya sah Vilthon tief in die Augen. „Lass dich nicht von dem überzeugen, was Thyllos zu sein vorgaukelt. Ich weiß nicht, wie dieser raffinierte Betrüger es anstellt, aber er kann allen Leuten einen guten Eindruck von sich vermitteln, sie manipulieren, und hinterrücks zieht er sie dann alle heimtückisch über den Tisch. Und die Gelackmeierten bewundern ihn auch noch und danken ihm auf Knien für seine edelmütigen Taten. Ich will jetzt nicht näher darauf eingehen, was er auf dem Kontinent alles verbrochen hat, aber er hat unsere Forschungen behindert, er hat uns bestohlen, verraten und verkauft, das kann ich euch schon mal erzählen! Und unter den Menschen hat er noch viel rücksichtsloser gewütet. Ich mag dieses seltsame Volk nicht besonders, aber wie Thyllos sich bei ihnen benommen hat, schadet dem guten Ruf unserer Inselgemeinschaft. Pass bloß auf deine beiden Freunde auf, Vilthon! Mit Thyllos ist nicht zu spaßen.“

Vilthons Wangen hatten sich gerötet, und er nickte stumm.

Seine Augen glänzten.

Ich glaubte diesen Blick aus alten Zeiten zu kennen, als Calissa noch bei ihm war.
 

Ich hoffte nur, Vilthon hatte trotzdem verstanden, was Zhannya ihm sagen wollte. Zwar war ich etwas eifersüchtig darauf, dass er Zhannyas Meinung widerspruchslos respektierte und sie, im Gegensatz zu meinen Ansichten, nicht hartnäckig in Frage stellte, doch ich war auch froh, dass das fremde Mädchen als erste Person meine Auffassung teilte und meinen Freund damit zu überzeugen schien.

„Wie hast du sein Spiel durchschaut, Zhannya?“ fragte ich sie interessiert.

„Komplizierte Sache. Schwer zu erklären. Ich muss gestehen, dass auch ich Thyllos zunächst aus der Hand gefressen habe. Aber als dieser Typ dann zudringlich wurde, hat mich irgendetwas in meinem Inneren geweckt, und ich habe erkannt, dass ich mich zu ihm nicht in der Weise verhalte, wie es eigentlich typisch für mich ist. Ich habe instinktiv mein Talent zu Hilfe genommen, und ein Fingerschnipsen später löschte eine kalte Woge, die rein zufällig über das Deck peitschte, seine Glut. Zwar waren wir danach beide bis auf die Knochen durchnässt, aber seitdem hat er mir nie wieder etwas vorgemacht und ich konnte hinter seine aalglatte Fassade blicken. Leider hat mir keiner meiner Freunde Glauben geschenkt.“

Ich lauschte Zhannya gebannt und erkannte endlich auch erste Anzeichen von Zweifel auf Vilthons Gesicht.

Ich hoffte inständig, sie galten nicht Zhannyas Schilderung, sondern seiner eigenen Einschätzung des ungeliebten Verlieken.

„Und von welcher Vergangenheit war die Rede, der Thyllos sein schlechtes Benehmen zu verdanken hat?“ wollte der Alwe wissen.

„Ihr habt doch sicher schon einmal von der Geschichte der Verliekin gehört, die hier vor über dreißig Jahren bei der Geburt ihres Sohnes verstorben ist. Ihr wisst schon, die schöne Fuchsfrau, die in ihren Wehen verlauten ließ, ihr Malar sei bereits vor Monaten aus ihren Träumen entkommen, kurz nachdem er ihr Totemtier, einen Fuchs mit dem Flammentalent gefressen hatte. Immer noch wird hier, in ihrem Heimatdorf viel über sie gesprochen.“

Vilthon nickte in plötzlicher Erkenntnis. „Ja, ein Bekannter von mir hat mir mal davon geschrieben!“

„Als Thyllos sich wieder einmal völlig betrunken hat, hat er mir einige seltsame Dinge erzählt.“ fuhr Zhannya fort. „Alles was ich verstanden habe, war, dass diese Fuchsfrau Thyllos Mutter gewesen sein muss. Damit nicht genug, sein Vater soll angeblich niemand anderes als der Malar gewesen sein, der sich aus den Träumen der Fuchsfrau befreit haben soll.“
 

Ich schauderte bei dieser Vorstellung und klammerte mich fester an Mirliens Arm.

„Das klingt aber mehr als unglaublich.“ ließ sich Vilthons Stimme vernehmen.

„Nun ja, Thyllos war ziemlich alkoholisiert und sehr anlehnungsbedürftig, als er mir das erzählt hat. Untypisch für ihn, so viel Schwäche zu zeigen. Erst hielt ich es für eines seiner Spiele. Ich kann die Geschichte ja eigentlich auch kaum glauben, aber dies würde wenigstens erklären, warum er so anders ist als die Insulaner. So skrupellos und egoistisch kann doch kein Verliek sein.“ meinte Zhannya mit finsterem Blick.

„Und was hast du mit Thyllos und deinen Freunden auf dem Kontinent gesucht?“ fragte Vilthon, brennend vor Neugier.

Ich rollte mit den Augen.

War es momentan nicht wesentlich entscheidender, mehr über Thyllos wahre Natur zu erfahren?

„Wir versuchen, mehr über die Fortschritte der menschlichen Kultur zu erfahren, die uns in unserem Exil entgehen. Selbstverständlich haben wir nicht vor, all ihre destruktiven Erfindungen auf der Insel anzuwenden, denn wir beobachten auch die langfristigen Folgeschäden in der Natur und innerhalb der sozialen Gemeinschaften, die die Technisierung mit sich bringt. In Menschenhänden verwandeln sich die harmlosesten Dinge in verheerende Waffen, wie wir erkannt haben.

Doch einige Entwicklungen können uns Insulaner im guten Sinne fördern und unterstützen.

Unsere kleine Organisation, die es schon fast so lange gibt, wie die gemischte alwisch-verliekische Gemeinschaft, arbeitet sehr subtil. Hier und da finden auf dieser Instrumente Verwendung, die von Menschenhand gefertigt wurden, und niemand ahnt dies. Wir haben sie für die Insulaner übers Meer gebracht, zu ihrer Bequemlichkeit, zur Erweiterung ihres Horizontes.

Auch menschliches Wissen, Konzepte, Erkenntnisse und Ideen bringen wir gelegentlich vom Kontinent mit, von denen die Insel lernen, und sie unter Einhaltung ihrer Prinzipien umsetzen kann.

Vor jeder Einführung prüfen wir jede neue Errungenschaft auf mögliche Risiken für unsere Heimat.

Beispielsweise wäre es töricht, Pflanzen und Tiere aus dem Kontinent zu verschiffen, da wir niemals abschätzen können, welche Folgen das für unsere heimischen Arten haben könnte.“ schilderte Zhannya zögerlich die Intention ihrer Bande.
 

Wir hörten fasziniert zu. „Ein kühnes Unterfangen.“ flüsterte Vilthon beeindruckt.

Ich nickte andächtig.
 

„Ja, manchmal wird es ziemlich gefährlich unter den Menschen.“ gab das Mädchen zu. „Aber wir finden es wichtig, über die Menschen auf dem Laufenden zu bleiben. Wir dokumentieren jede unserer Reisen, vielleicht hilft es uns irgendwann, in hoffentlich recht ferner Zukunft, die Menschen doch noch zu verstehen. Die Insulaner, die von unserer Organisation wissen, befürworten sie nicht immer. Sie finden es verwerflich, punktuell von den Produkten zu profitieren, die auf dem entbehrungsreichen Weg der Menschheit entstanden, den wir niemals gegangen sind. Auf einem Weg voller widernatürlicher Gewalt und ideellem Verlust, den sie selbst gewählt haben. Wir können uns bereichern, weil sie untergehen. Doch vor Allem haben viele Insulaner davor Angst, dass wir die menschliche Mentalität mit ihren Produkten auf die Insel zu bringen. Aber das ist grober Unfug. Alwen, Verlieken und auch wir Alverlieken sind keine Menschen, und wir werden auch niemals wie Menschen denken und leben. Pah! Ein Volk, das sich und die Welt, auf der es lebt, zugrunde richtet.“

Die letzten Worte spie Zhannya regelrecht aus, und ich spürte die tiefe Verachtung, die die Blonde für die Menschen hegte.
 

Vilthon hatte die ganze Zeit mit offenem Mund ihren Worten gelauscht, doch nun hatten wir vier den überfüllten Gemeindeplatz erreicht, und so verlegte Zhannya das Gesprächsthema auf eine andere Ebene und fing an, einen vertraulichen Plausch mit dem Alwen zu führen.

Mit gemischten Gefühlen sah ich meinen Freund regelrecht aufblühen, er lachte und scherzte mit Zhannya, der der Schalk im Nacken zu sitzen schien, und genoss sichtlich ihre Aufmerksamkeit.

Ihre Familie lebte, wie sie erzählte, im Pfahldorf, und sie sei schon seit einigen Tagen hier im Hafendorf eingetroffen, um ja nicht die Abfahrt des Schiffes zu verpassen, mit denen sie und ihre Freunde morgen früh in See stechen würden.

Bis dahin nächtigte sie im hiesigen Gästehaus.
 

Vilthon und Zhannya setzten sich zum Essen an einen Tisch, und ich bedeutete Mirlien, der die ganze Zeit stumm und bescheiden neben Vilthon, Zhannya und mir hergelaufen war, sich mit mir an einen abgelegenen Platz zu begeben, damit sich Vilthon ungestört mit der jungen Frau unterhalten konnte.

Sie schienen beide sehr voneinander angetan zu sein, und ich gönnte meinem besten Freund ein wenig weibliche Zuwendung, auch wenn die sich momentan nur in Zhannyas groben Neckereien äußerte.
 

„Wir sehen uns heute Abend im Gästehaus!“ schrie ich ihnen über die Köpfe der Dorfbewohner hinweg zu, dann schnappte ich mir Mirlien, bevor er sich von irgendwelchen begeisterten Damen entführen lassen konnte und wir beiden ließen uns an einem Tisch nieder, an dem einige bärtige, ältere Verlieken schon die Gräten aus den duftenden Fischen entfernten.
 

„Was Zhannya über die Menschen erzählt hat, hat mich gleichzeitig fasziniert und erschüttert.“ raunte Mirlien mir zu, während ich hungrig den Fisch verschlang, ohne richtig zu kauen. „Ich würde gerne einmal den Kontinent besichtigen, auf dem sie leben. Ich möchte so gern ihr Wesen begreifen lernen.“ flüsterte er.

Mampfend versprach ich meinem Freund mit vollem Mund, aber in aller Aufrichtigkeit, zusammen mit ihm und vielleicht auch mit Vilthon zum Kontinent zu segeln, sobald wir das Problem mit meinem Malar in den Griff bekommen hatten.
 

Ich schickte Kwantsch noch mit einem kurzen Brief ins Hügeldorf, dann suchten wir beiden das Gästehaus heim.

Dem Schicksal sei dank gab es keine Anzeichen dafür, dass Thyllos ebenfalls hier zu übernachten gedachte.

Mirlien setzte sich noch eine Weile zu mir ans Bett, und wir unterhielten uns angeregt über die Ereignisse des Tages.

Eigentlich redete hauptsächlich ich, und mein Freund schenkte mir geduldig sein Gehör.

Mirliens stumme Anteilnahme an meinen Gedanken und Ängsten, die ich ihm anvertraute, entlastete mich ungemein von meinen aufgestauten Emotionen und ich konnte die Ereignisse in einer unerwartet entspannten Perspektive für mich reflektieren.
 

Erst sehr spät in der Nacht hörte ich, wie Vilthon und Zhannya im Gästehaus einkehrten und sich auffällig lange an ihren Zimmertüren verabschiedeten.

Ein tiefer Seufzer entwich meiner Kehle, dann kuschelte ich mich tief in die Kissen des Gästebetts und schlief wieder ein.
 

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Ich wachte auf, als Mirlien mich sanft schüttelte.

Es war noch stockdunkel.

„Tilya, wach auf, Zhannya hat den Malaren gesehen!“ flüsterte Mirlien mir leise ins Ohr.

Sofort war ich hellwach. „Was? Wann?“

„Sie hat vor einigen Augenblicken laut geschrien. Es wundert mich, dass du es überhören konntest. Vilthon ist schon bei ihr und redet ihr gut zu.“ erklärte Mirlien leise. „Er konnte noch sehen, wie er aus Zhannyas Fenster entflohen ist, aber er will ihr nun einreden, dass sie nur einen schlechten Traum hatte!“

„Klar, ich verstehe!“ murmelte ich, während ich auf nackten Füßen Mirlien in Zhannyas Schlafraum folgte.
 

Dort fanden wir ein völlig aufgelöstes Mädchen vor, das Vilthon eng umschlungen hielt, und sanft in seinen Armen wiegte.

„Alles in Ordnung mit dir?“ erkundigte ich mich besorgt.

„Zhannya hatte einen entsetzlichen Alptraum!“ kam Vilthon der jungen Frau zuvor, doch die selbstbewusste Zhannya ließ sich trotz ihrer Erschütterung nicht das Wort aus dem Mund nehmen.

„Ich bin mir gar nicht mal so sicher, ob das wirklich ein Traum war, Leute! Zwischen den Alpträumen war ich einen kurzen Moment wach, und habe im Halbschlaf die Visage eines unbekannten Malaren direkt über mir gesehen. Als ich weitergeträumt habe, stand dieser Malar plötzlich hinter meinem und wollte ihn davon überzeugen, mich und mein Totem anzugreifen. Mein Malar war dann wie ausgewechselt, er hat sich sofort auf den Fremdling gestürzt. Das Totem hat ihm geholfen, und heftige Stürme auf den anderen Malaren gelenkt, bis er sich in rotem Rauch verflüchtigt hat. Mein Malar sah danach ziemlich abgekämpft aus und hat sich zu mir hin geschleppt. Ich habe früher sehr unter ihm gelitten und musste wegen ihm viel zu lange nach meinem Talent suchen. Doch in diesem Augenblick war er sehr sanft und ruhig. Auch mein Totem war völlig entspannt. Der Malar hat mich gebeten, zu erwachen, und ich bin darauf tatsächlich aufgewacht.“

Zhannya lief während ihrer Schilderungen unruhig im Zimmer auf und ab, wobei sie wild mit ihren schmalen Händen gestikulierte.

„Nein, meine Liebe, du bist erst aufgewacht, als ich in dein Zimmer gekommen bin, und dich geweckt habe. Du hast im Schlaf um Hilfe gerufen.“ griff Vilthon ein.

„Quatsch, ich war wach, und der fremde Malar hat ist neben dem Bett aus einer roten Wolke entstiegen. Er hat nichts gemacht, er hat nur da gestanden und hat zur Tür gestarrt. Er hat sich erst wieder aufgelöst, als du diesen Raum betreten hast! Du musst ihn noch gesehen haben, Vilthon, du hast doch frische Glühbeeren dabei gehabt!“ widersprach ihm die schlanke Alverliekin erregt.

„Auch das musst du geträumt haben, Zhannya!“ versuchte der Alwe sie zu überzeugen.

„Vielleicht ist das Tier, das ihr sucht, der Malar der Fuchsfrau! Vielleicht ist er es ja gewesen, den ich gesehen habe!“ spann Zhannya weiter.

Vilthon nahm das aufgewühlte Mädchen bei den hektisch herumfuchtelnden Händen und führte sie zurück in ihr Bett.

Liebevoll deckte er sie zu und strich ihr über die Wange.

Diese Geste versetzte mir einen kleinen Stich, obwohl die enge, fast familiäre Beziehung zwischen meinem besten Freund und mir eine ganz andere war, als die romantische, die sich nun zwischen ihm und Zhannya zu entwickeln begann.

Ich lächelte verwirrt über meine eigenen, seltsamen Gedanken und schämte mich ein wenig dafür.

„Zhannya, du hast die Augen erst aufgemacht, als ich bei dir am Bett stand.“ begann Vilthon vorsichtig. „Und niemand sonst war in diesem Zimmer. Du musst in deiner Aufregung einiges durcheinander gebracht haben. Wenn du aber möchtest, werde ich die ganze Nacht an deinem Bett bleiben und auf dich acht geben.“

Ich hielt dies für einen geeigneten Moment, die beiden allein zu lassen, und zerrte Mirlien am Ärmel aus dem Zimmer hinaus.
 

Auf dem Flur beugte sich Mirlien zu mir hinunter und flüsterte mir ins Ohr. „Ich bedauere Vilthon. Er hat dieses Mädchen gern, aber muss sie belügen, um sie und alle anderen zu schützen. Das muss schwer für ihn sein.“

„Nicht nur bei Leuten, die man sehr gern hat, ist das anstrengend, Mirlien. Ich bin froh, dass ihr dieses Geheimnis mit mir teilt.“ antwortete ich dem Freund. „Aber wenigstens haben wir gerade gelernt, dass auch Malare von Alverlieken treu, standhaft und weitsichtig sein können. Gute Nacht, Mirlien. Ich habe dich sehr lieb.“
 

Mit einem Kuss auf sein Kinn verabschiedete ich mich zum zweiten Male in dieser Nacht von ihm, und hoffte, in dieser Nacht noch einmal Schlaf finden zu können.

Sonne, Salz, See und Sand - Tag 8

Als wir drei Freunde uns am nächsten Morgen um den Frühstückstisch des Gästehauses versammelten, blies Vilthon Trübsal.

Lustlos krümelte er an seinem Brötchen herum.

Ich beugte mich verschwörerisch grinsend über den gedeckten Tisch.

„Und, wie ist es gestern Nacht noch gelaufen?“ wollte ich neugierig wissen. „Wo hast du Zhannya gelassen?“

Vilthon blickte mich aus geränderten Augen an. „Tilya, denkst du bitte zukünftig daran, deine Federn aus der Haarbürste zu entfernen, nachdem du sie benutzt hast?“

„Jetzt sag schon, Vilthon.“ drängte ich ungeduldig.

„Zhannya ist schon längst am Hafen. Ich soll euch liebe Grüße von ihr ausrichten.“ berichtete der Alwe zögernd.

„Du hast es vermasselt, Vilthon, nicht wahr?“ brachte ich es auf den Punkt.

Ich kannte meinen Freund lange genug, um seine schlechte Laune an seinen Mundwinkeln abzulesen.

„Was hast du angestellt?“ verlangte ich zu erfahren.

Vilthon seufzte schwer. „Ich habe einen Fehler gemacht. Anscheinend bin ich noch nicht ganz über Calissa hinweg. Ich habe Zhannya von ihr erzählt.“

„Du hast was?!“ brüllte ich fassungslos, und verschluckte mich fast an meinem Brötchen. „Du Trottel!“

Gequält verzog Vilthon das Gesicht. „Zhannya war danach irgendwie seltsam und ist heute Morgen sehr früh aufgebrochen.“

„Was du nicht sagst, Vilthon!“ tönte ich.

Ich war richtig sauer auf meinen Freund.
 

Es war anfangs ein seltsames Gefühl für mich gewesen, als ich Vilthon die junge Zhannya mit einer Zärtlichkeit behandeln sah, die er bisher nur mir zugestanden hatte.

Aber es war wundervoll gewesen, ihn in seiner Schwärmerei zu beobachten, und ich hatte die freche, etwas burschikose Zhannya gern.

Sie war nicht nur hübsch und mutig, sie war auch sehr gebildet und klug.

Und sie hätte dem ordentlichen, etwas kontrollsüchtigen Vilthon gut getan.

„Man sieht sich immer zweimal im Leben, Vilthon.“ tröstete Mirlien seinen Freund und klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. „Das nächste Mal wirst du dich an deinen Fehler erinnern und es besser machen.“

Vilthon rang sich ein kleines, trauriges Lächeln in Mirliens Richtung ab und biss herzhaft in das Xeraatbrötchen. „Meint ihr, ich erwische sie noch am Hafen?“ fragte er Mirlien und mich dann.

„Einen Versuch ist es wert, Vilthon. Wir kommen mit, vielleicht ist ja noch was zu retten.“ rief ich entschlossen.
 

Als wir einige Minuten später schwer unter unseren dicken Rucksäcken keuchend den Hafen erreichten, bekamen wir leider zu hören, dass das Schiff zum Kontinent schon längst vom Pier abgelegt hatte.

Enttäuscht kickte Vilthon eine leere Muschelschale ins Hafenwasser.

Da legten sich plötzlich zwei schwere Hände von hinten auf meine Schultern.

Ich fuhr in einer fürchterlichen Ahnung herum und blickte direkt in Thyllos stets grinsende Visage. Diesmal war er wenigstens nicht wie ein mir wohlbekanntes metaphysisches Raubtier bemalt.

„Na wen haben wir denn da?“ flötete der unsympathische Verliek vergnügt. „Meine drei Lieblingswanderer!“

Ich zeigte ihm kurz ein gekünsteltes Lächeln, dann drängte ich mich zähneknirschend zwischen meine beiden höflich grüßenden Gefährten und verbarg mich Schutz suchend hinter ihren Rücken.

„Wie erfreulich, euch hier zu treffen. Ihr seid gestern so schnell verschwunden, mit der guten Zhannya. Ich habe sie gerade noch einmal gesprochen, kurz, bevor ihr Schiff den Hafen verlassen hat. Ein reizendes Ding. Leider mag sie mich nicht besonders.“

„Wen wundert das?“ ließ ich meine gedämpfte Stimme aus dem Hintergrund hören.

Thyllos hüstelte. „Wartet ihr auch hier auf die Abfahrt des Schiffes, das die Nordküste umsegelt?“

„Eigentlich nicht.“ murmelte Vilthon abwesend.

Dann blickte er auf. „Die Nordküste sagst du?“

Thyllos nickte langsam und blinzelte verführerisch.

„Die Leute an Bord fahren zum Nadelwald, um Larven und Eier von Querkenkneifern, Roonengräbern und vielleicht anderen Riesenkäfern zu suchen und später auf der Insel zu verteilen. Aufregende Sache. Aber erst fahren sie noch einmal am Hafen entlang um weitere Mitfahrer aufzulesen. Einige hartgesottene Dunkelhäute sind mit von der Partie. Ich dachte, ihr würdet vielleicht gerne ein Stückchen mitfahren.“
 

Vilthon kratzte sich am Kinn und wandte sich grübelnd an Mirlien und mich. „Wäre gar keine schlechte Idee. Wir könnten auf diese Weise schneller und auf sicherem Wege das Kargland hinter uns lassen.“

„Auf sicherem Wege?“ höhnte ich. „Wenn dieser Typ in der Nähe ist? Hast du vergessen, was Zhannya über ihn erzählt hat?“

Hinter Vilthons Rücken winkte Thyllos mit bezaubernd charmantem Lächeln.

„Liebes, sei doch vernünftig.“ bat Vilthon mit gezwungen sanfter Stimme, aber seine Braue zuckte verräterisch nervös.

Mirlien beobachtete seinen Freund vorsichtig aus den Augenwinkeln.

Unwillig stöhnte ich auf.

Ich beschloss, jetzt einfach in den sauren Apfel zu beißen, allein schon deshalb, weil ich mir vor Thyllos keine Blöße geben wollte. „Wie du meinst, Vilthon.“ zeigte ich mich einverstanden.

Doch ich schwor mir, noch mal ein ernstes Wörtchen mit dem Alwen zu wechseln, sobald wir auf dem Schiff unter vier Augen miteinander sprechen konnten.
 

Eine knappe Stunde später sollte ich auf hoher See endlich die Gelegenheit dazu bekommen.

Während ich den hilflosen Mirlien einer kleinen, freundlichen Gruppe neugieriger Seereisender vorwarf, nahm ich Vilthon zur Seite und stellte ihn zur Rede.

Ich stemmt die Arme in die Hüften und blickte mit trotzig vorgeschobenen Lippen zu meinem besten Freund auf.

Die kräftigen Wellen, die den Bug hochschlugen, entsprachen in ihrer Unbändigkeit meiner Wut.

„Du kannst dir bestimmt denken, was ich dir zu sagen habe, oder?“ schrie ich gegen den Wind an.

„Wahrscheinlich hat es wieder irgendetwas mit Thyllos zu tun, richtig?“ fragte der Alwe gelangweilt.

„Natürlich hat es das!“ ärgerte ich mich. „Warum vertraut ihr ihm noch, nach allem, was Zhannya uns über ihn zu berichten wusste? Nun, für Mirlien spielt dies natürlich keine Rolle, er wertet und er urteilt nicht. Aber warum lässt du dich trotzdem auf ihn ein? Er ist der Sohn eines Malaren!“

„Tilya, du glaubst doch nicht etwa diesen Seemannsgarn?“ lächelte Vilthon milde und ließ seinen Blick lässig über das Meer schweifen.

„Warum sollte diese Geschichte weniger wahr sein, als Greyans Bericht über diese Fuchsfrau?“ gab ich zurück.

„Malarensohn hin oder her, Tilya. Selbst wenn dem so wäre, wäre dies immer noch kein schlagendes Argument dafür, ihm nicht vertrauen zu können. So etwas Oberflächliches! Erinnere dich doch mal an dein Leben im Hügeldorf. Wie hättest du es gefunden, wenn die Leute dich damals wegen deines ungewöhnlichen Aussehens gemieden oder gar angegriffen hätten?“ wollte der Alwe wissen.

„Vilthon! Das ist doch wohl keine vergleichbare Situation!“ rief ich erzürnt. Wollte dieser Mann mich denn einfach nicht verstehen?

„Tilya, ich kenne dich gar nicht so aufbrausend und intolerant! Was ist nur los mit dir?“

„Das fragst du mich? Was ist zum Donnerwetter los mit dir? Wenn es um Thyllos geht, bist du wie ausgewechselt, Vilthon. Wo ist mein kritischer Freund, der alles fünfmal hinterfragt und immer auf Nummer sicher geht? Du bist leichtsinnig und siehst über die Zwielichtigkeit dieses seltsamen Typen hinweg, noch gutgläubiger und naiver als Mirlien!“ rief ich aufgebracht.
 

Vilthon schwieg eine Weile.

„Auch Mirlien war uns zuerst fremd. Warum kannst du Thyllos nicht das gleiche Vertrauen entgegenbringen, wie Mirlien damals?“ hakte Vilthon nach.

Ich schüttelte energisch den Kopf. „Du weißt genau, dass das mit Mirlien etwas ganz anderes ist. Mirlien braucht nichts zu tun, damit die Leute ihn lieben. Jeder schließt ihn in sein Herz, obwohl er es gar nicht beabsichtigt. Er zieht für sich keinen Nutzen daraus, er ist einfach zufrieden, wenn es allen anderen gut geht. Den aufdringlichen Thyllos mit unserem anständigen Mirlien zu vergleichen, grenzt an eine Beleidigung, Vilthon!“

„Welchen Nutzen sollte aber Thyllos aus unserer gewonnenen Sympathie ziehen?“ fragte mich der Alwe.

„Du hast Zhannya doch gehört. Sie hat ihn als üblen Kerl beschrieben, der die Leute um seinen Finger wickeln kann, und sie zu seinem Vorteil manipuliert. Er wird schon seine Gründe haben, warum er sich an uns hängt.“ erwiderte ich. „Oder glaubst du nicht einmal Zhannya?“

Vilthon seufzte. „Ich glaube nicht, dass Zhannya gelogen hat, Tilya. Aber vielleicht hat sie auch einiges missverstanden.“

„Das glaubst du nicht wirklich!“ entfuhr es mir.

„Wie dem auch sei, Liebes, ich finde du nimmst die ganze Geschichte um Thyllos viel zu ernst. Du solltest dich auf den Malar konzentrieren, nicht auf einen Verlieken, den du zufällig nicht magst.“

Ich riss mir eine lange Feder aus den Haaren und zerpflückte sie, um mich abzureagieren.
 

Mich beschlich das Gefühl, dass wir einfach aneinander vorbei redeten, was dieses bestimmte Thema betraf.

„Liebes, wovon träumst du eigentlich in der Nacht?“ lenkte Vilthon das Thema plötzlich auf eine andere Ebene.

Überrascht blickte ich zu ihm auf. „Was hat das denn jetzt damit zu tun?“ fragte ich trotzig.

Vilthon schwieg und blickte mich fest aus seinen grauen, klaren Augen an.

„Ich träume von gar nichts mehr!“ antwortete ich schließlich leise. „Ich bin allein an einem Ort, der leergefegten Untiefen gleicht. Es ist still dort, schwarz und leer, aber ich fühle mich geborgen. Als ob ich die ganze Zeit in Mirliens Augen schauen würde. Dort kann ich mich in Ruhe besinnen. Warum willst du das wissen?“

„Ich will herausfinden, warum du so überspannt bist, und so übertrieben auf alles reagierst, was dich verunsichert. Das Verschwinden des Malars scheint dir nicht gut zu tun. Angst ist nicht nur im wahren Leben als überlebenswichtiger Faktor notwendig, auch in deinen Träumen musst du dich mit ihr auseinandersetzen, wie willst du deinen aufgestauten Stress sonst verarbeiten? Ist das vielleicht der Grund, warum du immer hysterischer und gereizter wirst?“

Voller Verständnis legte der Alwe seine Hände um meine vom Fahrtwind verkühlten Arme.

Ich stand zwar kurz davor, zu explodieren, nahm mich aber zusammen, da ich wusste, dass mein Freund ja nur mein Bestes wollte.

„Ja, es stimmt, der Malar fehlt mir auf eine gewisse Weise, Vilthon! Aber das hat nichts mit meiner schlechten Laune zu tun. Ich komme bestens zurecht! Mich macht nur diese Blauäugigkeit wahnsinnig, mit der ihr Thyllos wahrnehmt. Mirlien mache ich daraus keinen Vorwurf, der scheint nicht anders gestrickt zu sein, aber von dir Vilthon, bin ich eben etwas anderes gewohnt. Es macht mich fertig, dass wir uns wegen so einem…Menschen…überhaupt in die Wolle kriegen. Und es wundert mich besonders, dass du dich nicht für die Gerüchte über seine malarische Herkunft interessierst.
 

Jedenfalls nehme ich das alles nicht mehr länger einfach so hin. Ich gehe jetzt zu Thyllos und rede Klartext mit ihm!“

Ich befreite mich sanft aus Vilthons warmen Händen, gab ihm einen Kuss auf die Wange und schlug entschlossen den Weg zum Heck ein, auf dem ich den ungeliebten Verlieken vermutete.

„Warte! Worüber genau willst du denn jetzt mit ihm sprechen?“ hielt Vilthon mich skeptisch zurück.

Ungeduldig wandte ich mich noch einmal zu dem Alwen um.

„Er soll mir verraten, wer er wirklich ist. Thyllos soll ruhig wissen, dass seine Masche nicht bei jedem zieht, und dass man ihm nun langsam auf die Schliche kommt.“

Vilthon verzog wenig begeistert den Mund.

„Tilya, überleg es dir noch einmal. Mach dich doch nicht lächerlich! Gib dem Mann doch eine Chance!“

„Die geb ich ihm. Nämlich, mir hier und jetzt die Wahrheit zu sagen!“ zischte ich grimmig über meine Schulter und schlurfte mit finsterem Gesicht über das Deck.
 

Leider begannen die Seeleute in diesem Moment auf einen kleinen Steg am Ufer zuzusteuern, auf dem schon vier weitere reiselustige Bewohner des nächsten Dorfes auf ihr Schiff warteten.

Als die Passagiere zugestiegen waren, und das Schiff wieder ablegte, ergriff ich die Gunst der Stunde, und bevor Thyllos Gelegenheit bekam, mit seinem Charme die Neuankömmlinge zu umgarnen, schnappte ich mir den Verlieken und zerrte ihn in die Lagerräume unter Deck.

Ich hoffte inständig, Vilthon würde uns hier nicht finden und mich vor Thyllos spöttischen Blicken wegen meines schlechten Benehmens rügen.
 

Thyllos ließ sich lachend von mir die knarrenden Holztreppen hinunter ziehen. „Was hast du mit mir vor, an diesem dunklen, abgeschiedenen Ort, Tilya?“ wollte er wissen.

Mir behagte der süffisante Unterton in seiner Stimme nicht.

„Ich möchte nur, dass du mir einige Dinge über dich erzählst.“ antwortete ich knapp. Thyllos Geruch nach Malar brachte mich fast um den Verstand, doch ich wollte mir um keinen Preis anmerken lassen, wie nervös ich war.

„Aber gerne. Wie schmeichelhaft, zu erfahren, dass du dich für mich interessierst. Endlich lernen wir uns ein wenig näher kennen. Du kannst mich fragen, was du willst.“ gewährte mir Thyllos großzügig.

Misstrauisch funkelte ich den Verlieken an. „Wir haben Zhannya kennengelernt. Kannst du dir vorstellen, was sie uns über dich erzählt hat?“

Thyllos grinste breit. „Wahrscheinlich hat die kleine Diebin nicht sonderlich gut von mir gesprochen, wenn du mich schon so fragst.“

„Wie kannst du es wagen, Zhannya als eine Diebin zu bezeichnen!“ erboste ich mich. „Du warst es doch, der sie und ihre Gefährten bestohlen hat!“

„Eine völlig falsche Darstellung der Tatsachen, Süße. Was meinst du, auf welchem Wege sich diese Bande das ganze Gerümpel vom Kontinent beschafft? Richtig, sie haben die Menschen beklaut! Ich habe lediglich frühzeitig für sie aussortiert, was ohnehin nicht auf die Insel gelangen durfte. Waffen, alkoholische Genussmittel, und anderes gefährliches Zeug habe ich vorsorglich entfernt, zum Schutz der Gruppe. Den ganzen Kram habe ich natürlich zurück zu den Menschen gebracht und ihn ihnen für gutes Geld verkauft.“ schilderte Thyllos genüsslich.

„Du Scheusal, damit prahlst du auch noch?“ ereiferte ich mich. „Mit Füßen trittst du die Gastfreundschaft der Menschen! Damit beschmutzt du das Ansehen aller Insulaner, ist dir das klar?“

„Menschen sind nicht gastfreundlich, Schätzchen! Alles, was du über sie in unseren Büchern lesen kannst, ist ihnen noch geschmeichelt. Wie oft schon musste ich Zhannyas Truppe aus der Patsche ziehen, wenn sie sich wieder einmal mit den Menschen angelegt hatten…“

„Zhannya sagte, dass du sie verraten hättest.“ unterbrach ich ihn in schneidendem Ton.

„Nein, wirklich, so etwas sagt Zhannya?“ wiederholte Thyllos kopfschüttelnd.

„Sie meint, du würdest die Leute manipulieren, sie mit faulen Tricks um den Finger wickeln, damit sie glauben, was du sie glauben machen willst.“ fuhr ich unerbittlich fort.

Thyllos lächelte zuckersüß. „Tatsächlich? Und warum bist du mir dann noch nicht schon längst verfallen, Kleine?“

Ich zuckte unbeeindruckt die Schulter. „Sag du es mir. Vielleicht amüsiert es dich ja, mich alleine in dem Bewusstsein um die Wahrheit zu lassen, für die alle anderen erblinden. Ist kein angenehmes Gefühl, wenn man die einzige ist, die sie kennt.“

Der Verliek legte den Kopf schief. „Das glaube ich dir gerne.“ tat er verständnisvoll. „Aber von welcher Wahrheit redest du, Tilya?“

„Das weißt du genau. Du bist kein Verliek.“ stellte ich mit kalter Stimme fest.
 

Thyllos lachte herzhaft. „Wie kommst du auf solche Gedanken? Sehe ich etwa nicht aus, wie ein waschechter Verliek?“

Der Mann beugte sich zu mir vor und zeigte mir sein furchteinflößendes Grinsen, welches seine auffälligen Eckzähne entblößte.

Seine bernsteinfarbenen Raubtieraugen reflektierten das spärliche Licht der Lagerräume auf eine beunruhigende Art.

Ich wich erschrocken zurück, als Thyllos seine linke Hand nah an mein Gesicht hob und die Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger gegeneinander rieb, bis eine winzige, blasse Flamme über seinen Fingerspitzen zu tanzen begann.

„Sieh nur, mein Talent liegt ganz klassisch in der verliekischen Flamme.“ flüsterte er.

Ich stieß verärgert seine Hand weg und das Flämmchen erlosch in der Luft. „Das was du mir gerade vorgeführt hast, wird nicht alles an Begabung sein, was du vorzuweisen hast. Schließlich bist du ein halber Malar!“

Thyllos runzelte die Stirn und schnalzte mit der Zunge. „Ich sehe, Zhannya hat wahrhaftig nichts ausgelassen. Ich habe ihr die Geschichte meiner Herkunft nach einer Flasche Xeraatrum erzählt. Wer hätte gedacht, dass sie dieses Geschwätz ernst nimmt?“

„Hat sie aber!“ bemerkte ich. „Und ich tu es nun ebenfalls.“

Der Verliek sah mir fest in die Augen, und ich musste mich zwingen, seinem stechenden Blick standzuhalten.

„Dann liegt ihr beide goldrichtig mit eurer Annahme. Mein Vater ist ein Malar.“ gab er nun unverhofft offen zu. Ich schluckte.
 

„Man erzählt sich im Hafendorf und auch noch weit außerhalb von einer rätselhaften Fuchsfrau, die kurz bevor sie starb, den Leuten anvertraute, sie habe ihren Malaren aus ihren Träumen entkommen lassen.“

„Diese Frau war meine Mutter. Und der Malar, der ihr entwischt ist, ist mein Erzeuger.“

Thyllos taxierte mich mit dem Blick eines Kaktuswarans, der nur auf den richtigen Augenblick wartet, um sich einen Riesenmoskito zu schnappen.

„Wie ist das… Äh, ich meine, woher willst du wissen, dass dieser Malar dein Vater ist?“ wagte ich endlich zu fragen.

Thyllos bedachte mich mit einem triumphierenden Grinsen. „Er selbst hat es mir vor einigen Jahren verraten. Es war zunächst ein Schock für mich, aber sein Geständnis hat mir so einiges erklärt.“

Ich machte unwillkürlich einen Schritt auf Thyllos zu.

Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. „Du hast deinen Vater – den Malar später wieder getroffen? Wo ist er jetzt? Warum hat man nie von ihm gehört?“

Thyllos trat seinerseits einen Schritt auf mich zu, und das ich wich wieder zwei zurück.

„Langsam, langsam, Süße. Er treibt seit jeher auf dem Kontinent sein Unwesen, und dort bin ich ihm auch zum ersten Mal begegnet, mitten auf einem Menschenfest. Er hat mich erkannt. Schlauer Kerl. Bei den Menschen lässt es sich gut leben für einen Malaren. Leichte Beute, überall. Keine Talente, keinen Totemkräfte. Ich bin mir sicher, dass dein Malar inzwischen auch auf dem Weg zum Kontinent ist, mein liebes Drachenmädchen.“
 

Das Blut wich aus meinem Gesicht.

„Mein Malar? Was meinst du damit?“ stammelte ich.

Thyllos grinste selbstgefällig und begutachtete seine Fingerspitzen als er weiter sprach.

„Na dein Malar. Du weißt schon. Das rote Ungeheuer, das dein Totem vernichtet hat, als du ihm zum ersten Mal begegnet bist. Musste sich um etwas gehandelt haben, was einem Vogel ähnelt, wenn dies zu deiner Erinnerung beiträgt.“ meinte er mit einem prüfenden Blick auf mein gefiedertes Haar.

„Dein Malar hat sich aus deinen Träumen befreit, genau, wie es damals meiner Mutter widerfahren ist.“

„Ich weiß nicht, wovon du redest, Thyllos.“ versuchte ich mich rauszureden.

„Ach nein?“ flüsterte der Verliek beinahe zärtlich. „Weißt du, im Hügeldorf gibt es einen außergewöhnlichen Mann, der einige meiner Leidenschaften teilt. Er mag Xeraatrum, er liebt die schönen Künste, und er schien auch von dir nicht abgeneigt, Tilya. Er hat mir alles erzählt, wonach ich zu wissen begehrte.“

„Myroon!?“ erschrak ich heftig.

„Es hat ihn sehr geknickt, dass du dich nicht persönlich von ihm verabschiedet hast.“ setzte Thyllos noch einen drauf.

„Dieser vermaledeite Säufer!“ fluchte ich, mühsam die Tränen der Wut zurückhaltend. „Und ich dachte, man könnte sich trotzdem auf ihn verlassen!“

„Das kann man auch!“ nahm Thyllos Myroon unerwartet in Schutz. „Er ist ein guter Kerl, dieser Alverliek. Niemals hätte er dein kleines Geheimnis ausgeplaudert, egal wie viel Rum er intus gehabt hätte, wenn er eben nicht ausgerechnet an mich geraten wäre. Die Leute müssen nicht betrunken sein, damit ich von ihnen bekommen kann, was immer ich will. Wo wir schon bei diesem Thema sind…Du trinkst gerne Valdrobularrindentee, Tilya?“
 

Mein Magen krampfte sich zusammen und mir wurde übel. „Widerling! Wie lange weißt du schon bescheid?“

Thyllos verschränkte die Arme und lehnte sich lässig an das wackelnde Treppengelände.

„Lange genug.“ gab er knapp zurück und weidete sich offenbar an meinem belämmerten Gesichtsausdruck.

„Wie bist du auf uns aufmerksam geworden?“ verlangte ich zu erfahren.

„Ich habe meine Quellen.“ Der Verliek amüsierte sich köstlich

„Und was hast du mit deinem Wissen vor?“ fragte ich ängstlich

„Ich behalte es für mich.“ antwortete Thyllos bedächtig.

Er schien seine Überlegenheit genussvoll auszukosten.

„Tatsächlich.“ Meine Stimme zitterte vor Verzweiflung. „Was willst du eigentlich von uns?“ fragte ich dann hilflos.

„Nichts will ich von euch.“ konterte Thyllos. „Aber vielleicht wollt ihr was von mir.“

„Was sollte das sein?“ Ich hatte keine Vorstellungen, um was es dem Verlieken gehen könnte.

„Ich könnte euch helfen!“ meinte er.
 

Ich lachte bitter. „Verfolgst du uns deshalb und schnüffelst uns so dreist hinterher?“

Der Mann grinste schief. „Vielleicht verfolge ich nicht euch, sondern deinen Malaren, Süße.“

Ich kniff meine meeresblauen Augen zusammen und hoffte, dass sie in typisch verliekischer Manier hier im Dunkeln beängstigend leuchteten und Thyllos wenigstens halb so viel Furcht einflößen würden, wie seine Augen es bei mir zu tun vermochten. „Warum solltest du das tun? Was hast du vor, zum Donnerwetter? Oder weißt du irgendetwas, was wir noch nicht wissen, Thyllos?“

Thyllos faltete die Hände, streckte sich ausgiebig und näherte sich mir.

Ganz langsam, Schritt für Schritt.

Das Glitzern in seinen Augen empfand ich, die mit dem Rücken zur Wand stand, als äußerst bedrohlich.

„Wenn du nur bereit wärst, dich auf mich einzulassen und mich zu akzeptieren, Tilya, könnten wir beide so wunderbar zusammenarbeiten.“ raunte mir Thyllos leise zu.

„Warum sollte ich dir vertrauen?“ stieß ich nervös zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Du bist zur Hälfte ein Malar. Wer garantiert mir dafür, dass du nicht doch auf seiner Seite stehst?““

„Niemand.“ antwortete Thyllos ehrlich. „Aber ich bin auch zur Hälfte ein Verliek und ich liebe diese Insel und seine entzückenden Bewohner.“

„Was für ein überzeugendes Argument!“ frotzelte ich. “Womöglich steckt ihr beiden sogar längst unter einer Decke!“

„Ich überlasse dir die Entscheidung, an was du glauben willst.“ gestand mir Thyllos gnädig zu.

„Danke, zu gütig, Thyllos. Ich verstehe nur nicht, was du davon hast, wenn du uns tatsächlich hilfst. Jemand wie du macht so was doch nicht umsonst, so ganz ohne sich selbst etwas davon zu versprechen. Wofür also die Mühe, warum der weite Weg?“ begehrte ich auf und ärgerte mich darüber, dass ich mich vor Aufregung an meinen eigenen Worten zu verhaspeln begann.
 

„Das ist allein meine Sache. Familieninterne Angelegenheit, sozusagen. Außerdem reise ich gern.“ gab Thyllos zurück.

„Aber natürlich.“ ätzte ich. Mit einem flauen Gefühl im Bauch registrierte ich, dass der Verliek immer dichter an mich heranrückte.

Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen und sah mich mit gehetztem Blick nach einem geeigneten Fluchtweg um.

Thyllos triumphierendes Grinsen kam immer näher. „Ich bleibe erst einmal einfach nur in eurer Reichweite, und wenn du mich brauchst, Schätzchen, werde ich da sein. Na, was hältst du davon?“ schnurrte der Verliek.

„Ist das jetzt eine Drohung?“ fragte ich entsetzt.

„Wie man es nimmt…“ flüsterte Thyllos und legte wie zufällig seine warmen Pranken um meine Taille.

Meine Hände schnellten reflexartig hervor und trafen den Mann gegen seinen Brustkorb.

Es war nur eine kleine, abwehrende Geste gewesen, um den Mann auf Abstand zu halten, und ich hatte wohl kaum genug Kraft dazu aufgewendet, um Thyllos von mir stoßen zu können, doch der Verliek zuckte ächzend zusammen, griff sich ans Herz und starrte mich mit überraschtem Blick einige Augenblicke lang keuchend an.

Dann lachte er dröhnend.
 

„Du Mistkerl!“ schimpfte ich.

Meine Knie zitterten und meine Fingerspitzen begannen unangenehm zu kribbeln. „Du hältst dich gefälligst fern von uns! Denk bloß nicht, dass ich Vilthon und Mirlien vorenthalten werde, was ich gerade hier von dir erfahren habe.“ rief ich voller Entrüstung.

„Tu dir keinen Zwang an, Süße.“ feixte Thyllos. „Aber an deiner Stelle würde ich mir die Mühe sparen. Deine beiden Freunde lieben dich, sie werden dir deshalb vielleicht sogar glauben wollen. Trotzdem wird sich nichts an ihrer Einstellung mir gegenüber ändern, Tilya. Was dies betrifft, kann ich die Gedanken, besser gesagt, die Gefühle der Leute lenken, wie es mir beliebt. Vilthon wird mich als das wahrnehmen, als was ich ihm zu erscheinen wünsche, dank dem Erbe, das ich meinem malarischen Vater zu verdanken habe. Er wird mir vertrauen, er wird zu mir aufsehen und er wird mit mir sympathisieren, so wie alle anderen es tun. Weil ich es so will.“ tönte der Verliek selbstherrlich. „Bei diesem Fremden, den ihr Mirlien ruft, beiße ich mir allerdings noch die Zähne aus, aber fürs Erste brauche ich mich noch nicht um ihn zu kümmern. Aber ich finde schon noch raus, warum ich ihn nicht überlisten kann.“

„Lass die Finger von Mirlien!“ schrie ich, schäumend vor Wut. „Wenn du ihm oder Vilthon nur ein Haar krümmst, dann bekommst du es mit mir zu tun, das schwöre ich dir!“

„Oh, das sollte ich wohl angesichts deines Talentes lieber vermeiden! Aufregende Begabung! Prickelnd!“ grölte mir Thyllos hinterher, als ich so schnell mich meine Beine trugen, die Treppen hinauf zum Deck eilte.
 

Völlig verstört suchte ich das Schiff nach meinen beiden Freunden ab, bis ich sie endlich auf dem Sonnendeck fand. Ich fiel Vilthon erleichtert in die Arme.

„Bitte, versprich mir, dass wir dieses Schiff auf dem schnellsten Wege verlassen, Vilthon!“ flehte ich den Alwen an.

„Kleine, du bist ja vollkommen durch den Wind! Wo warst du denn so lange? Ist was passiert?“ fragte mein Freund besorgt. „Hast du dich mit Thyllos ausgesprochen?“

Mirlien musterte mich mit seinem sanften, forschenden Blick.

Doch ich schüttelte nur heftig meinen Kopf. „Ich erzähle euch alles später, wenn wir alleine sind. Aber lasst uns bitte an der nächsten Anlegestelle aussteigen, ja?“

Vilthon erbarmte sich schließlich meiner und erklärte sich widerwillig dazu einverstanden.
 


 


 

In der Hitze des Mittags steuerte das Schiff endlich in die Nähe des Ufers und die Anker wurden geworfen.

Inzwischen hatte sich die Landschaft in eine karge, felsige Einöde verwandelt, nur noch vereinzelt sah man einige sukkulente Pflanzen auf der ausgedörrten Erde wachsen.
 

Ein kleines Boot ruderte unter der Last einiger hünenhafter schwarzhäutiger Verlieken auf das Schiff zu. Am Strand winkten ihnen ihre Angehörigen zum Abschied zu, umringt von einem dutzend gezähmter Stachellaufechsen, die ungeduldig an ihrem Reitgeschirr zogen und mit ihren vier großen Klauen im heißen Sand scharrten.

Ebenso zappelig erwartete ich an Deck die Ankunft des Bootes ab.

Ich fürchtete, Vilthon könnte es sich im letzten Moment doch noch anders überlegen. Egal, wie als wie unkomfortabel sich der Wüstenmarsch erweisen würde, mich trieb nur der Gedanke, weg zu kommen von diesem Malarensohn.

Nachdem die fünf neuen Passagiere die Klimmleiter hinauf in das Schiff geklettert waren, nahmen Vilthon, Mirlien und ich ohne Umschweife ihren Platz auf dem kleinen, wurmstichigen Kahn ein und erklärten dem überraschten Fährmann, dass uns unser Weg nun eben in westlicher Richtung durch die Steppenwüste führen würde.
 

Kaum, dass wir abgelegt hatten, fühlte ich mich schon viel besser.

„Das Schiff mit unseren Männern fährt soviel ich weiß ebenfalls in nordwestlicher Richtung zum Nadelwald. Warum zieht ihr den beschwerlichen Weg durch das Kargland vor, wenn ihr über das Meer viel schneller und bequemer reisen könntet?“ wollte der dunkle Verliek wissen, während wir gemeinsam zu den Reitern am Strand ruderten.

„Weil uns die Spur des Tieres, nach dem wir suchen, hierher geführt hat.“ verdrehte ich die Wahrheit ein wenig, bildete mir ein, Vilthons vorwurfsvolle Blicke in meinem Rücken zu spüren und kam mir nun nicht besser vor, als der verhasste Thyllos.
 

Am seichten Strand angekommen, halfen die schwarzhäutigen Reiter ihrem Fährmann und uns drei wackeren Wanderern, das Boot aus dem warmen Wasser gemeinsam ans trockene Land zu ziehen.

Das Schiff mit ihren fünf tapferen verliekischen Freunden und Verwandten hatte schon längst seinen Anker gelichtet, die Segel wieder gehisst und ließ sich vom heißen, kräftigen Wind davon treiben.

Mit Genugtuung sah ich es in tieferes Gewässer gelangen, wo die Strömung seine Fahrt beschleunigte.

Eine ältere Verliekin mit schneeweißem Haar und einer Haut, so herrlich schwarz wie Caybabohnen wandte sich an Mirlien, der den Blick nicht von den mächtigen Laufechsen wenden konnte, die sich, kaum dass sie den Mann erblickt hatten, unterwürfig zu seinen Füßen legten.

„Dies hier sind die beiden Laufechsen meiner Söhne.“ klärte sie Mirlien freundlich auf. „Vielleicht sind Ihnen gerade die Zwillinge aufgefallen, die eben auf das Schiff gestiegen sind. Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen, wenn man sie nicht reden hört. Das sind meine großen Jungs gewesen.“

Mirlien lächelte die Frau an. „Sie reden von den beiden stattlichen Herren in den weißen Tuniken. Einer der Brüder hat eine kleine Narbe am Kinn, die ihn optisch von seinem Zwilling unterscheidet. Sie können stolz auf diese mutigen Burschen sein.“

„Das bin ich auch!“ rief die Verliekin erfreut. „Verblüffend, das Ihnen sofort die Narbe an Xanthos Kinn aufgefallen ist.“

„Unserem Mirlien fällt so einiges auf, was unsereins kaum bemerkt.“ mischte sich Vilthon in das Gespräch, legte einen Arm um seinen Freund und stellte uns höflich vor.
 

Ich war derweil mit einer besonders großen Stachellaufechse beschäftigt, deren gepanzerte Schultern mir bis über den Kopf reichten.

Behutsam fuhr ich mit meinen Fingern die Gruben zwischen ihren Halsschuppen nach und strich ehrfürchtig über die langen Hörner des Tieres.

Es waren wunderschöne Geschöpfe.

Die Verliekin beobachtete mich mit Wärme im Blick.

„Goldiges Ding. Eine Tochter habe ich mir immer vergeblich gewünscht. Und heute musste ich meine beiden jüngsten Söhne ziehen lassen. Wir haben sie und unsere Freunde zu dieser Flachküste hier begleitet, um uns noch einmal von ihnen zu verabschieden. Bis sie aus den Wäldern wiederkehren, wird einige Zeit vergehen. Aber nun wollen wir rasch in unser Lager zurückkehren, bevor wir in die abendlichen Stürme geraten. Steigt auf die reiterlosen Echsen meiner Söhne und kommt mit in unser Dorf. Wir haben so selten Besuch, es wäre uns eine Ehre, euch als unsere Gäste begrüßen zu dürfen.“

„Ist das ihr Ernst, wir dürfen auf Stachellaufechsen reiten?!“ jubelte ich begeistert. Meine kühnsten Träume versprachen, wahr zu werden!

Die Frau nickte strahlend.

Einige Verlieken um mich herum begannen zu lachen.

„Sieh dich vor! Ein kleines, zartes Mädchen wie dich nehmen die Echsen kaum auf ihren Rücken wahr. Du musst ihnen deutlich zeigen, wo es lang geht! Wenn du sie mit Samthandschuhen anfasst, machen sie, was sie wollen!“ rief eine große, durchtrainierte Verliekin grinsend. Ihre kleinen, scharfen Eckzähne blitzen weiß unter ihren dunklen Lippen hervor.

„Setz dich lieber hinter jemanden, der schwerer ist als du!“ riet ein anderes Mädchen, das etwa meine Größe und mein Gewicht haben musste, und bereits im Sattel auf einer Echse an den Rücken eines alten Mannes gelehnt saß, der ihr Großvater sein musste.

Ich warf einen Blick auf die muskulösen Körper der Tiere und schluckte schwer.

Im Geiste sah ich mich bereits von einer sich übermütig aufbockenden Laufechse meterweit durch die Luft geschleudert fliegen um dann mit gebrochenen Knochen die Dünen herabzukullern.

„Setzt du dich vor mich, Mirlien?“ fragte ich meinen Freund kleinlaut.
 

Kurz darauf setzten sich die Tiere mit ihren Reitern auf den Rücken in Bewegung.

Wir drei hatten unsere Rucksäcke einer herrenlosen Echse umgeschnallt und hofften, dass sie bei dem turbulenten Ritt nicht an Inhalt verlieren würden.

In Vilthons strahlendem Gesicht glühte wilde Abenteuerlust, als das Tier unter ihm mit eleganten, geschmeidigen Bewegungen seinen Weg über den Sand bestritt, der das Sonnenlicht in einer blendenden Weise reflektierte.

Hinter Mirlien kauernd beobachtete ich glücklich unseren alwischen Freund, der gelöst und voller Lebensfreunde dicht neben uns daher ritt.

Ich hatte meine Arme fest um Mirliens mageren Körper geschlungen und schmiegte mich entspannt an seinen harten Rücken.

Die Zügel hielt er fest in seinen feingliedrigen Händen.

Trotz der Hitze fühlte sich der Körper des Mannes für mich nicht wärmer an als sonst, und so kühlte ich meine heißen Wangen an ihm, während wir auf unserer Laufechse über die Dünen rasten.

Zuerst war es mir schwer gefallen, mich den schnellen, zackigen Bewegungen des Tieres anzupassen, doch bald hatte ich mich an den fließenden Rhythmus seiner ruckartigen Schritte gewöhnt und saß sicher, mit locker mitschwingenden Hüften im Sattel.
 

Am späten Nachmittag erreichten die Echsenreiter ihr Ziel, das Zeltdorf um die kleine Oase unweit des Kaltfeuerflussdeltas.

Es handelte sich hierbei um eine offene Gemeinschaft mehr oder weniger sesshafter, schwarzhäutiger Verlieken, die sich, im Gegensatz zu den Nomaden des Karglandes, vorzugsweise in der unmittelbaren Nähe des Kaltfeuerflusses oder anderer dauerhafter Trinkwasserquellen aufhielten, während die Nomaden stetig quer durch die Wüste zogen und ihren Durst an Kakteensaft zu stillen pflegten.

Mit schmerzendem Hintern rutschte ich an Mirliens helfender Hand aus dem harten Sattel und rieb mir den Rücken.

So schön der Ritt durch die Steppe auch war, so froh war ich auch, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
 

Die Einwohner hießen uns herzlich als ihre Gäste willkommen und luden uns zum gemeinsamen nächtlichen Mahl unter dem großen Baldachinzelt im Zentrum der Zeltstadt ein.

Ich freute mich. Wie immer hatte ich Kohldampf und war neugierig darauf, unbekannte, fremdartige Speisen kosten zu dürfen.

Vilthon wusch, solange es noch hell war, bereitwillig die getragene Wäsche im Flusswasser, während Mirlien und ich ihm beim Aufhängen halfen.

Im heißen Wind würde die Wäsche schnell trocknen.

Das einzige, was meine gute Laune jetzt trüben hätte können, wäre das plötzliche Auftauchen eines gewissen Rotschopfes gewesen.

Ich bemerkte, dass Mirlien mich beobachtete, als ich meine Blicke wieder und wieder unruhig über die Dünen wandern ließ.

„Wen erwartest du?“ wollte er wissen und sah mich aus seinen durchdringenden Augen an. „Wolltest du uns übrigens nicht in einem ungestörten Moment noch etwas Wichtiges erzählen, Tilya?“

Wieder einmal hatte Mirliens Gespür mich überführt.
 

„Ich erwarte niemanden. Ich leide höchstens unter Verfolgungswahn.“ murmelte ich stotternd. „Aber es stimmt, Mirlien, ich bin euch noch die Erklärung schuldig, warum ich mit euch das Schiff so schnell verlassen wollte.“

„Exakt.“ knurrte Vilthon, der am Flussufer kniete. „Darauf warte ich schon die ganze Zeit. Ich wette, unsere überstürzte Flucht haben wir deinem unsinnigen Gespräch mit Thyllos zu verdanken, oder?“

„Ja.“ gab ich freimütig zu und Vilthon sog zischend die Luft durch die Zähne.

„Jetzt hört mir doch erst einmal zu!“ rief ich verärgert. „Ich habe Thyllos direkt mit Zhannyas Aussagen konfrontiert, und er hat mir bestätigt, der Sohn jener Fuchsfrau zu sein. Nicht nur das, sein Vater ist tatsächlich der Malar, der ihren Träumen entflohen ist!“

„Das hat er ernsthaft behauptet?“ fragte Vilthon ungläubig. „Wieso sagst du das erst jetzt? Tilya, wenn er nicht gescherzt hat, dann weiß Thyllos vielleicht unschätzbar wichtige Dinge zu berichten, die uns weiter bringen könnten!“

„Was seine Herkunft betrifft, glaube ich Thyllos Geschwätz sogar ausnahmsweise.“ gestand ich. „Ich habe doch gleich gesagt, dass er nach Malar stinkt!“

Vilthon stand mit knackenden Knien auf und ließ achtlos das letzte gewaschene Kleidungsstück auf die staubige Erde fallen.

„Anscheinend steckt doch viel mehr hinter dieser alten Geschichte, als angenommen.“ murmelte er und rieb sich nachdenklich das Kinn.
 

„Stellt euch nur vor, es gab tatsächlich einmal jemanden, dem ein ähnliches Schicksal wie Tilya widerfahren ist. Und ihrem Sohn begegnen wir auch noch auf unserer Suche. Wir könnten so viel von ihm erfahren, wenn tatsächlich malarisches Blut in seinen Adern fließt. Ist es denn die Möglichkeit? Warum hast du uns nur dazu überredet, einfach von Bord zu gehen? Tilya, sobald wir bei Greyan waren, müssen wir sofort nach Thyllos suchen! Spinnendreck, wir wissen nicht einmal, wohin er eigentlich wollte. Hat er noch mehr erzählt? Über seinen Vater vielleicht?“

Ich seufzte und las das nasse, verdreckte Hemd vom Boden auf, während Mirlien die übrige Wäsche an der im warmen Wind schaukelnden Leine auf hing. „Jede Menge. Seinen Vater, äh…den Malaren soll es nach seiner Flucht auf den Kontinent verschlagen haben, deshalb wurde auf unserer Insel auch niemals etwas über ihn berichtet. Thyllos ist ihm bei einer seiner Reisen zu den Menschen dort begegnet. Er meinte, dass ein Malar bei den Menschen ein bequemes Leben führen könnte. Und deshalb würde es auch meinen Malaren zu ihnen ziehen.“

Vilthon horchte erstaunt auf. „Er weiß also von deinem Malaren? Du hast es ihm erzählt?“

Ich verneinte. „Er hat Myroon das Geheimnis entlocken können.“
 

Vilthon schloss die Augen. Seine Mundwinkel zuckten vor Anspannung. „Konnte dieser Säufer also nicht dicht halten!“ zischte er erzürnt. „Bald weiß es die ganze Insel!“

„Nein, das denke ich nicht.“ widersprach ich ruhig, wobei ich sorgfältig den Sand aus Mirliens Hemd wusch. „Thyllos hat sich zu seiner Fähigkeit bekannt, die Leute derart manipulieren zu können, dass sie blind nach seiner Pfeife tanzen. Myroon kann nichts dafür, dass Thyllos die Geschichte aus ihm herausquetschen konnte, ob er nun zu diesem Zeitpunkt besoffen war oder nicht.“

„Ich kenne Myroon gut genug, du brauchst ihn nicht vor mir zu verteidigen.“ wehrte Vilthon ab.

Ich lächelte milde. „Ich wollte dir es dir nur gesagt haben, Vilthon. Inzwischen bin ich dir nicht mehr böse, dass du meine Wahrnehmung von Thyllos nicht anerkennen kannst, ich weiß ja jetzt, dass es nicht an dir liegt. Jedenfalls wird Myroon niemanden sonst erfahren lassen, was es mit unserem berüchtigten Tier auf sich hat. Angeblich beabsichtigt Thyllos darüber zu schweigen. Aber er hat vor, sich in die Angelegenheit einzumischen, weiß der Geier, weshalb, und davor graut es mir.“

Vilthon runzelte verständnislos die Stirn. „Wie bitte? Thyllos ist angesichts seines Hintergrundes vielleicht die beste Hilfe, die wir kriegen können. Wir sind angewiesen auf alle neuen Erkenntnisse und du stellst dich quer! Wieso?“

„Vilthon, das wirst du nicht verstehen können. Nicht, solange Thyllos seinen faulen malarischen Zauber nicht von dir genommen hat. Zhannyas Anschuldigungen kamen nicht von ungefähr, Thyllos hat alles gestanden! Und vielleicht verbindet ihn mehr mit den Malaren als nur gemeinsames Blut. Außerdem habe ich ihm befohlen, sich von uns fern zu halten.“
 

Einige Augenblicke herrschte unangenehmes Schweigen zwischen uns beiden. Vilthon blickte mich an, wie einen bemitleidenswerten, verwirrten Heranwachsenden, der noch nicht recht mit seinen schwankenden Stimmungen umzugehen weiß.

Mirlien legte seine Hand wie zum stummen Trost auf meine Schulter, als ich mit fahrigen Bewegungen sein Hemd an der Wäscheleine befestigte.

Es tat mir gut und gab mir noch einmal die nötige Kraft, weiterzusprechen.

„Ihr wisst immer noch nicht, was mich letzten Endes dazu bewogen hat, vor Thyllos zu fliehen. Vilthon, ich hatte einerseits große Angst davor, dass wir uns wegen diesem linken Fuchs voneinander entfernen. Aber das schafft auch ein Thyllos nicht, und wenn sich unsere Meinungen, insofern es um ihn geht, auch noch so sehr voneinander trennen mögen. Dessen bin ich mir nun sicher. Aber die größte Sorge mache ich mir um dich, Mirlien. Thyllos wunderte es, dass sein Talent, den Leuten den Kopf zu verdrehen, bei dir auf Grenzen stößt, und er wollte herausfinden warum. Ihr habt ihn nicht reden hören, diesen verschlagenen, reuelosen Kerl! Er war zum fürchten! Versteht ihr mich denn nicht? Ihr zwei seid für mich wie eine kleine Familie geworden, und ich kann nicht zulassen, dass euch etwas geschieht.“

„Ach, Liebes, du bist wirklich drollig…“ seufzte Vilthon gerührt.

Er trat zu mir, die ich mich Halt suchend an Mirliens Schulter gelehnt hatte und strich mir zärtlich über die gerötete Wange.

Dann klopfte er Mirlien liebevoll auf den Rücken. „Wir geben schon gut aufeinander Acht, das verspreche ich dir. Und wenn es dich beruhigt, werde ich bei unserer nächsten Begegnung mit Thyllos besonders gut auf mein kleines schreckhaftes Mädchen aufpassen.“

Ich lächelte zaghaft. „Danke, Vilthon. Ich werde wohl immer ein ungutes Gefühl in der Gegenwart dieses Verlieken haben, doch vielleicht kann er uns trotzdem auf die richtige Fährte des Malars führen. Aber daran hätte ich wohl früher denken sollen. Es tut mir leid. Wenn es soweit ist, werde ich mich nicht weigern, ihm Gehör zu schenken. Aber ich werde ihm niemals ohne Vorbehalt vertrauen, verstanden?“

„Na, das ist doch schon mal ein Fortschritt.“ freute sich Vilthon nachsichtig.
 

Wie es uns die alte Verliekin vorausgesagt hatte, wurde es zum Abend hin immer stürmischer.

Als die Sonne unterging und wir drei uns mit knurrendem Magen auf den Weg zum Baldachinzelt machten, trieb uns bereits ein heftiger Wind die Sandkörner in die tränenden Augen.

Die Laufechsen hatten sich tief im warmen Sand vergraben und warteten die kalte Wüstennacht ab, in der sich der Sturm wieder legen würde.

Hungrig gesellten sich Vilthon, Mirlien und ich zu den versammelten Einheimischen unter die großen Baldachine.

Die Klänge von Flöten, Trommeln und Lauten mischten sich in altverliekische Sprachfetzen, der Duft fremdartiger Gewürze zog durch die Zelte und versetzte uns in eine andere Zeit, als die Verlieken noch alleine auf der Insel lebten.

Ich hatte mir einen leichten Sonnenbrand eingefangen, während der blasse Mirlien besonders extrem mit seiner pergamentartigen, hellen Haut aus der dunklen Masse der Einwohner heraus stach.

Einige Verliekinnen kicherten, als Mirlien sich freundlich lächelnd zwischen sie setzte.

Unter ihnen war auch die große, athletische junge Frau, die mich vor dem einsamen Ritt auf der Laufechse bewahrt hatte.

Amüsiert legte sie ihre schlanke, schwarze Hand auf die bleiche Hand von Mirlien.

„So weiß wie Zaronnenflaum!“ neckte sie den Mann. „Auch das Blut, das dein Herz durch deinen Körper pumpt, muss die Farbe von reinem Schnee haben, nicht wahr?“

Mirlien zog belustigt die Mundwinkel kraus, was anscheinend nicht nur mich vor Verzückung aufseufzen ließ.

Die Verliekin stand aus ihrem Schneidersitz auf, nahm Mirlien bei den Händen und zog ihn vom Teppich hoch, ganz nah zu sich, flüsterte ihm etwas ins Ohr, und begann, vor ihm zu den folkloreartigen Rhythmen zu tanzen.
 

Vilthon lachte überrascht auf, als er sah, wie schnell Mirlien die Schrittfolgen des traditionellen altverliekischen Wüstentanzes lernte, und bald sah man den Freund mit der dunkelhäutigen Schönheit tanzen, als hätte er nie etwas anderes getan.

Die beiden gaben ein traumhaftes, kontrastreiches Paar ab, und die Verlieken klatschten begeistert im Takt der Musik mit, oder mischten sich selbst mit ihren Partnern unter die wachsende Schar der feurigen Tänzer.

Vilthon zog mich trotz meiner verzweifelten Versuche, mich zu wehren, ebenfalls auf die Tanzfläche, doch wir scheiterten kläglich bei dem jämmerlichen Versuch, uns nicht nach allen drei Schritten gegenseitig auf die Zehen zu treten.
 

Das Lied endete in einem Crescendo, und die Verliekin, mit der Mirlien getanzt hatte, ließ sich von ihrer ekstatischen Leidenschaft hinreißen, schlang ihre schlanken Arme um den Nacken des Mannes und küsste ihn voller Hingabe auf den Mund, was mit johlendem Beifall von allen Seiten quittiert wurde.

Etwas überwältigt von ihrer eigenen Courage schlug sie dann verlegen die Hand vor die vollen Lippen und blitzte mit glänzenden schwarzen Augen ihren Tanzpartner halb entschuldigend, halb herausfordernd an.

„Für Mirlien war das gerade der erster Kuss, an den er sich erinnern kann!“ wisperte ich aufgeregt kichernd in Vilthons spitzes Ohr.

Doch Mirlien bewahrte offensichtlich die Fassung.

Zwar schaute er etwas verdutzt aus der Wäsche, dann verbeugte er sich aber tief vor der hübschen Frau, bedankte sich höflich für den wunderbaren Tanz und begleitete die wie auf Wolken taumelnde Verliekin an den Platz zwischen ihren applaudierenden, pfeifenden und tobenden Freundinnen zurück.

Vilthon und ich staksten mit wehen Füßen durch das Meer aus Sitzkissen zu unserem stolz und zufrieden lächelnden Freund hin.

Vilthon setzte sich strahlend neben Mirlien und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Ihr beiden habt fantastisch zusammen ausgesehen! Für den Fall, dass ich Zhannya wiedertreffe, musst du mir unbedingt einige Lehrstunden geben, mein Guter!“

Ich glaubte fast, mich verhört zu haben, als ich Mirliens leises, hinreißendes, herzerwärmendes Lachen vernahm.
 

Endlich beruhigte sich die tanzende Menge, die Musiker legten ihre Instrumente beiseite, und die lauten, lebhaften Gespräche unter den Zeltdorfbewohnern klangen so weit ab, dass man das Heulen des Sandsturmes um die Baldachine hören konnte.

Aus den umliegenden Zelten brachten die Frauen mit Leinentüchern abgedeckte, dampfende Speisen in Tontöpfen herbei und verteilten sie an die erwartungsvoll raunende Gesellschaft.

Vilthon und ich hatten uns derweil gegenseitig unsere Unbeholfenheit verziehen und wir beide sahen uns im stummen Einverständnis unserer rumorenden Mägen an.

Seit heute morgen hatten wir drei lediglich unser bescheidenes Frühstück verzehrt, und nur dem Seelenfrieden des anspruchslosen, genügsamen Mirliens zuliebe hatten wir uns den zehrenden Hunger nicht anmerken lassen.

Das Wasser lief mir im Mund zusammen, als ich das Tuch lüftete, und am liebsten hätte ich es sofort wieder über den Topf gezogen.

Vilthon starrte mit hervortretenden Augen auf den immer noch kochend heißen Inhalt, der zwar verführerisch gut roch, aber einen Anblick bot, den nur hartgesottene Alwen zu ertragen vermochten.

„Was ist das?“ flüsterte ich entsetzt.

Vilthon beugte sich etwas tiefer über den Topf.

„Sieht aus wie das zerteilte Bein eines Steppenspringbocks in Caybablütenkopfsauce.“ erkannte er fachmännisch und begegnete meinem schockierten Blick. „Müssen wir das jetzt essen?“ wollte ich verzweifelt wissen. Mirlien runzelte fragend die Stirn.

Begeisterung sah anders aus.

Vilthon schüttelte den Kopf. „Wir beide können das nicht essen, wenn wir morgen früh weiter ziehen wollen. Und wie es aussieht, will auch Mirlien lieber verzichten. Lasst uns abwarten, ob noch Beilagen aufgetischt werden.“
 

Leider waren einige winzige Frikadellen aus dem Mehl getrockneter Wüstenkrabben das einzige auch für alwische Abkömmlinge halbwegs genießbare Essen, welches uns noch gereicht wurde.

Zögerlich tunkten wir drei die Klößchen in der Caybablütenkopfsauce, uns zu sehr genierend, um einen der vielen Verlieken um uns herum nach einer vegetarischen Mahlzeit zu fragen.

Auf die besorgten Fragen unserer Gastgeber, ob wir denn keinen Appetit mitgebracht hätten, antworteten wir mit der höflichen Lüge, wir hätten leider schon viel zu reichlich zu Mittag gegessen.

„Kommen die denn nicht von alleine darauf, dass wir keine Verlieken sind, und das Fleisch nicht vertragen?“ murmelte ich dezent in Vilthons Richtung. Der aber bedeutete mir energisch, den vorlauten Schnabel zu halten, um die Gastfreundschaft der Zeltdorfbewohner nicht zu verletzen.

„Wir haben doch noch Nolmengrieß in deinem Rucksack!“ fiel mir ein.

Unsere Rettung!

„Den können wir aber nicht unauffällig zubereiten.“ zischte Vilthon.

„Hunger!“ piepste ich wehleidig.

„Wir gehen gleich schlafen.“ tröstete mich mein Freund. „Und morgen früh, sobald wir das Zeltdorf hinter uns gelassen haben, mache ich uns meinen berühmten wohlschmeckenden Nolmengrieß.“

„Ich würde mich jetzt sogar auf Nolmengrieß stürzen, den ich persönlich zubereitet habe.“ gestand ich.

Das wollte schon was heißen, denn meine Kochkünste waren berüchtigt und hatten damals bei Myroon für einige Scherereien mit ihm gesorgt.
 

Vilthon leerte noch einen kleinen Becher Caybatee mit einem ordentlichen Schuss Xeraatrum und Mirlien wurde noch von einem lustigen älteren Verlieken, welcher ihn anscheinend mit Freude als zukünftigen Schwiegersohn in seiner Familie gesehen hätte, zum Tanz aufgefordert.

Eine Stunde aber später verabschiedeten wir uns aber von den Verlieken, die etwas enttäuscht darüber waren, ihre ungewöhnlichen Gäste so früh entbehren zu müssen.

Erschöpft krochen wir in das Zelt, welches Xanthos Mutter eigens für uns hatte aufstellen lassen und ließen uns auf den großen, weich gepolsterten Kissen nieder. Es war richtig gemütlich.

Vilthon hörte man schon wenige Augenblicke später geräuschvoll schnarchen.

Ich musste einen nicht enden wollenden Lachanfall unterdrücken und war mit einem Male unheimlich aufgekratzt.

Mirlien nahm mich, sich um Vilthons Schlaf sorgend, beruhigend in den Arm und ich kuschelte mich eng an meinen Freund.

Die unerschütterliche Ruhe, die Mirliens kühler, sehniger Körper ausstrahlte, übertrug sich bald auch auf mich und mein Atem ging ruhig und regelmäßig.

Fast schon war ich neben meinem Freund eingeschlafen, als ich plötzlich hoch schreckte.

Meine Hand auf Mirliens Brustkorb fühlte kaum das Pochen eines schlagenden Herzens, noch wurde sie durch die flache Atmung des Mannes merklich gehoben und gesenkt.

„Mirlien?“ flüsterte ich und rappelte mich voller Panik in meinem Kissen hoch, suchte verzweifelt nach einem Zeichen der Lebendigkeit auf seinem entspannten Gesicht. Mirlien schien noch nicht eingeschlafen zu sein, denn als er seine Lider hob, war sein Blick wach und aufmerksam.

Ich blickte vor Erleichterung aufatmend in seine großen, rätselhaften Augen und begegnete seinem warmen, fragenden Lächeln.

„Ich bin hier, Tilya.“ sprach er leise mit seiner tiefen, rauen Stimme.

Ich sank zurück auf seine Brust und klammerte mich fest an den Mann, den Vilthon und ich in der kurzen Zeit, die wir gemeinsam mit ihm verbringen durften, so lieb gewonnen hatten wie einen Bruder.

„Schön, dass es dich gibt…“ murmelte ich noch schläfrig, bevor die Nacht ihren traumlosen Tribut von mir forderte.

Reliquien - Tag 9

Kaum hatte die Morgenröte die ersten warmen Strahlen an den Horizont gezaubert, stimmten die Kaktuswarane ihr Geheul an.

Doch wir drei ungleichen Freunde hatten uns bereits nach der Morgentoilette in den gewöhnungsbedürftigen Waschkabinen einiger abgelegener Zelte auf den Weg gemacht und stapften nun munter über den Sand, der noch kalt von der eisigen Nacht war.

Mirlien und ich hatten in aller Frühe die trockene Wäsche von der Leine genommen, den Sand aus ihr herausgeklopft und sie in ihren Taschen verstaut, während Vilthon hinter einer Düne in der Nähe des Flusses heimlich einen Kessel Nolmengrieß hatte quellen lassen.

Noch nie, fand ich, hatte sein Nolmengrieß so fantastisch geschmeckt wie an diesem Morgen.

Bevor die Sonne unangenehm warm auf unsere Köpfe zu scheinen begann, erreichten wir die steinerne Brücke über den großen Fluss, der das große Dorf im Kaltfeuerflussdelta begrenzte.
 

Die hohen, in Tuffgestein geschlagenen Bauten zogen sich, unterbrochen von goldenen Feldern und einigen Plantagen von der Flussgabelung bis hin zur felsigen Küste und wurden vorwiegend von temperamentvollen verliekischen Dunkelhäuten und stolzen Dunkelalwen bewohnt.

An jeder Ecke zierten große und kleine Statuen typischer Totemtiere wie Füchse, Wölfe, Drachen, Insekten, Schlangen und Vögel aus Vulkangestein Häuserfassaden, Brunnen und Zäune.

Die ganze Stadt war ein einziges bildhauerisches Kunstwerk.

Vilthon berichtete Mirlien von den vielen Festen und Riten zu Ehren der alwischen und verliekischen Begabungen, die man hier intensiver praktizierte als irgendwo anders auf der Insel.

Das Dorf im Delta sprühte vor Tradition und der alten Kulturen beider Völker.

Zahlreiche bunte Pavillons dienten den Einwohnern, die sich emsig wie Ameisen in den schmalen Gassen tummelten, als willkommene Schattenspender.
 

„Brauchen wir noch etwas?“ fragte Vilthon uns. „Denkt daran, dies hier ist das letzte Dorf, in dem wir Einzug halten, bevor wir uns durch den Nadelwald schlagen werden.“

„Vielleicht sollten wir vorsichtshalber noch eine dieser wasserdichten Zeltplanen mitnehmen.“ überlegte Mirlien weitsichtig.

Während wir drei durch die Lagerhäuser des Deltadorfes zogen, fanden neben der dünnen Plane noch einige Phiolen mit unverdünntem Saponsiskrautkonzentrat, ein Fläschchen Xeraatöl und eine Öllampe Platz in Mirliens Rucksack.

Endlich gelangte wir ins gemütliche Gästehaus dieses Dorfes, wo wir uns mit einem wunderbar würzigen Piragien-Patutt-Eintopf und frischem Salnachsalat verwöhnen lassen durften.

Nach wenigen Minuten hatten wir zusammen mit zwei blassen, dunkelhaarigen alverliekischen Schwestern, die hier ebenfalls nur zu Besuch waren, den großen Kessel bis auf den letzen Krümel geleert.

Die beiden Frauen hatten sich gerade in einem lockeren Gespräch mit Vilthon und Mirlien vertieft, als ich das heisere Krächzen von Schwarzfuß vernahm.

Eilig lief ich mit einem Stückchen Xeraatbrot bewaffnet aus dem Gästehaus und rief nach dem grauen Vogel, der sofort reagierte, abdrehte, und auf mich zu flatterte.

Der kluge Rabe wurde mit einem Bombardement kleiner Brotbrocken belohnt, die er mit Spaß und viel Geschick in der Luft aufschnappte.

Aus seiner Kralle ließ er dann den klein gefalteten Zettel fallen, den ich von ihm verlangte.
 

Lächelnd las ich den Brief meiner Eltern.

„Hallo, ihr Lieben.

Jetzt seid ihr schon über eine Woche unterwegs und schon so weit weg, wie wir gehört haben. Neue Nachrichten, die euch bei eurer Jagd nutzen können, haben wir leider nicht bekommen. Manchmal schreiben uns die Betreuer des Gästehauses der Dörfer, in denen ihr zu Gast wart, kleine Nachrichten über eure kurzen Besuche, aber wir freuen uns natürlich besonders, wenn ihr persönlich an uns schreibt. Es macht uns glücklich, zu wissen, dass unsere Tochter bei dir, Vilthon und auch bei Mirlien, den wir gerne einmal kennen lernen würden, in guten Händen ist. Leider haben wir aus keinem Dorf einen Hinweis über ihn erhalten. Wenn ihr diesen Brief bekommt, führt euch euer Weg vielleicht schon durch das Moor und die Wälder, weg von der Hauptstraße. Bitte achtet gut aufeinander und vergesst nicht, uns zu schreiben, und wenn ihr uns nur einen leeren Zettel schickt! In Liebe, Auriannah und Chareleo.“
 

Ich faltete sorgsam das Blatt und steckte es in meine Hemdtasche.

Die Sorge meiner Eltern rührte mich, und ich empfand es als meine Pflicht, sofort an sie zurückzuschreiben.

Zurück im Gästehaus verfasste ich einen liebevollen, längeren Brief an Mutter und Vater, in welchem ich einige lustige und interessante unverfängliche Begebenheiten der Reise mit meinen beiden Freunden schilderte.

Wir waren nun ja schon ziemlich weit herumgekommen, hatten jede Menge erlebt, und es gab entsprechend viel zu berichten.

Zum Schluss ließ ich auch Myroon herzlich von mir grüßen.

Ich bat meine Eltern darum, ihm einfach nur auszurichten, dass ich ihm wegen der Sache mit dem Rotschopf nicht böse sei, aber dass er doch bitte seine Trinkgewohnheiten überdenken möge.

Myroon wüsste schon, was ich ihm damit sagen wollte, schrieb ich.

Ob meine Eltern nun über Myroon von Thyllos erfahren würden oder nicht, überließ ich bewusst dem Zufall.

Dann schickte ich Schwarzfuß mit gutem Gewissen zurück ins Hügeldorf.
 

Ein letztes Mal genossen wir drei die Annehmlichkeiten eines Waschraums im Gästehaus, bevor wir das Dorf im Delta verließen.

Nach Überquerung der Brücke über den anderen Arm des Kaltfeuerflusses, an dem noch einmal die Feldflaschen aufgefüllt wurden, endete auch die Hauptstraße und nun kam endlich Vilthons Karte und der Kompass zum Einsatz und voraussichtlich auch bald der ganze andere Plunder, den Vilthon, ich und später auch Mirlien seit Beginn unserer Reise in den Rucksäcken mit uns herumgeschleppt hatten.

Die Riemen meiner Tasche scheuerten unangenehm auf meinen von der Sonne geröteten Schultern, doch ich nahm mir tapfer ein Beispiel an dem zähen, ausdauernden Mirlien und vermied es, meine Gefährten mit sinnlosem Gejammer zu belästigen.

Die öde Dünenlandschaft verwandelte sich langsam im Laufe ihrer Wanderung in eine von trockenem Dornengestrüpp durchwucherte Ebene.
 

Von Zeit zu Zeit entdeckten wir vereinzelt kleine Menhire und rundliche Findlinge in der Gegend, die in eingemeißelten alten Schriftzeichen beider Völker von den Kräften der Totemtiere erzählten und von virtuos in den Stein geschlagenen Reliefs geschmückt wurden.

Bei einem dieser Steine blieb Mirlien plötzlich stehen und fragte Vilthon nach dem Namen des darauf abgebildeten Tieres.

Mit zusammengezogenen Brauen begutachtete der Alwe die Figur. „Könnte eine stilisierte Wasserschlange sein.“ meinte er dann. „Wieso fragst du?“

Ein kaum merkliches Lächeln spielte um Mirliens Mundwinkel. „Ich habe den Eindruck, dieses Wesen gesehen zu haben, kurz bevor ihr mich gefunden habt.“ flüsterte er mit einem Blick auf mich, die ich schon ein Stück vorausgeschlendert war, mich nun aber wieder neugierig zu meinen Freunden gesellte.

Vilthon überlegte. „Dort, wo wir dich gefunden haben, war das Wasser viel zu seicht, um dort einer Wasserschlange zu begegnen. Vielleicht hast du sie weiter flussaufwärts gesehen. Das würde bedeuten, dass du dich vom Landesinneren zur Küste hin bewegt hast, bevor du deine Erinnerung verloren hast, Mirlien!“

Doch bevor der Alwe weiter spekulieren konnte, bemerkte er, dass Mirlien ihm kaum Gehör zu schenken schien, sondern sich vollkommen auf mich fixierte, als ich just mit großen Augen und offenem Mund vor dem Menhir wie versteinert stehen blieb. „Was hast du, Tilya?“

Fassungslos fuhr ich mit den Fingern über das Relief, über die horizontale Zickzacklinie, die vertikal über dem Kopf der Schlange eingeritzt war. „Das ist mein Totem, Vilthon. Das ist die Vogelschlange.“ flüsterte ich ergriffen. „Kannst du mir übersetzen, was der Text bedeutet?“

Vilthon beugte sich in neu entflammtem Interesse vor und entzifferte mühselig die von der Witterung fast komplett abgetragenen Schriftzeichen.

„Der lebendige Blitz. Unzähmbar und eigenwillig.“ las er andächtig. „Darunter seht ihr das Symbol für die alverliekischen, die chimärenartigen Totemtiere. Dieser Stein muss älter sein, als das Hügeldorf. Man hat schon sehr früh erkannt, dass Mischlinge beider Völker keine Totemtiere in Gestalt heimischer Tierarten besitzen, sondern fremde Wesen, die eher wie eine Mischung gewöhnlicher Totemtiere anmuten. Wenn die Theorie stimmt, dass alle gleichartigen Totemwesen auch ähnliche Talente entwickeln, dann hatte deine Schlange wahrscheinlich außergewöhnliche, elektrische Kräfte, Tilya.“

Mirliens unablässiger, durchdringender Blick ließ mein Herz immer schneller schlagen.

„Lasst uns gehen.“ bat ich schließlich aufgewühlt.
 

Stumm überquerten wir eine lavendelfarbene, duftende Heidelandschaft außerhalb der Prärie, einen weiten Umweg um das gefährliche Moor nehmend.

Die Erde unter unseren Füßen wurde immer feuchter, immer fruchtbarer und die Anzahl der Baumgerippe verdichtete sich zusehends, als wir die ersten Sümpfe zu unserer Rechten wahrnahmen.

Kühle Nebelschwaden glitten über das knackende Unterholz hinweg.

Wilde Rabenvögel flatterten durch die knorrigen Äste, Grillen zirpten in den Schlingfarnen.

Achtsam zog Vilthon Mirlien und mich weiter vom gurgelnden Sumpf weg, bis unsere Sohlen keine tiefen Abdrücke mehr auf dem matschigen, weichen Boden hinterließen, als plötzlich die Erde unter seinen eigenen Füßen nachgab, und der Alwe bis zur Hüfte im lehmigen Grund versank.

Geistesgegenwärtig packten Mirlien und ich ihn bei den Armen und zogen ihn schnell aus der Grube, wobei wir höllisch darauf aufpassen mussten, nicht selbst abzurutschen.

„Was war denn das?“ stieß ich hervor, als wir alle drei keuchend auf einem mit Moos bewachsenen Baumstamm Platz nahmen, um uns von dem Schrecken zu erholen.

„Ein alter Schlegeltunnel!“ japste Vilthon. „Hat man doch gerochen, oder?“

Ich nickte und zog angeekelt die Nase kraus. „Igitt. Mieft immer noch entsetzlich, hier. Lasst uns verschwinden!“ Ich erhob mich ächzend und half meinen Freunden auf.

„Einen Moment noch, bitte!“ meldete sich Mirlien.

Vorsichtig füllte er das Loch im Schlegeltunnel mit verrottendem Holz und welkem Laub, dann betrachtete er sein Werk zufrieden. „Damit der Schlegel in seinen vertrauten Gängen nicht irgendwann unerwartet von sengendem Tageslicht verletzt wird.“ erklärte er lächelnd.

Vilthon und ich tauschten hinter seinem schmalen Rücken einen gerührten, liebevollen Blick miteinander aus.
 

Die Dämmerung überraschte uns, als wir am frühen Abend den Waldrand erreichten. In den ausladenden Kronen der wuchtigen Roonen flüsterte gespenstisch der Wind und der Gesang der Vögel verstummte langsam.

Die kleinen Zapfen der prächtigen Nadelbäume knirschten und knackten unter unseren Schuhen.

An einigen Stämmen entdeckten wir die aufgebrochenen Eierschalen eines Roonengräbergeleges, das vielleicht von einem hungrigen Wolf oder einem Fuchs geplündert worden war.

Es duftete ätherisch nach Kräutern und Kiefernbäumen, was die Geruchsbelästigung, die durch unsere mit Schlegelmist kontaminierte Kleidung verursacht wurde, übertünchte und man beschloss, hier die Zelte aufzuschlagen.

Ein Glück für Vilthon und mich kleinen Tollpatsch, dass wir Mirlien an unserer Seite hatten, der kräftig mit an packte und seinem alwischen Freund in Sachen Geschicklichkeit durchaus das Wasser reichen konnte.

Bevor die Nacht endgültig über uns hereinbrach, hatten wir mit den beiden dünnen, flexiblen Planen zwischen einigen Bäumen ein geräumiges Lager errichtet, unter dem wir unsere Xeraatmatten über weichem Moos ausrollen konnten.

Die Nächte im Nadelwald konnten kalt werden.

Das wusste Vilthon aus eigener Erfahrung, aus der Zeit, als er als junger Mann selbst in dieser Gegend mit seinen Freunden nach Querkenkneiferweibchen suchte.
 

Da wir mit unserem Wasser sparsam umgehen mussten, fiel die Körperpflege notgedrungen dürftig aus, was im Anbetracht des hartnäckigen Schlegelgestankes, der immer noch an Schuhen und Kleidung haftete, besonders für mich nur schwer zu ertragen war.

Mirlien putzte sich vor dem Zelt die Zähne, als ich mich schon unter den Wärme speichernden Decken dicht an Vilthons Rücken kuschelte.

„Vilthon, mir ist gerade etwas aufgefallen.“ flüsterte ich leise.

Der Alwe brummte fragend.

„Nun ja, nachdem meine Vogelschlange von meinem Malar gefressen wurde, sind mir die Haare in dem gleichen Farbton nachgewachsen, wie ihr Schuppenkleid. Dazu kamen die Federn und die Echsenhaut. Thyllos Mutter, deren Malar ihr Feuerfuchstotem beseitigt hatte, nannte man sicher nicht umsonst die Fuchsfrau. Kann es nicht sein, dass auch Mirliens Malar sein Totem vernichtet hat, und er deshalb so anders als alle anderen Insulaner aussieht? Wenn ein Malar entflieht, geschieht dies außerdem offenbar unter lebensgefährlichen Umständen für die betroffene Person. Die Fuchsfrau starb, ich wäre fast verblutet. Es wäre doch möglich, dass Mirlien durch die Flucht seines Malaren derart traumatisiert wurde, dass er seine Erinnerung verloren hat, oder?“ sprudelte ich aufgeregt hervor. Ich fand diese Idee zumindest plausibel.

„Wäre zumindest vorstellbar.“ murmelte Vilthon besonnen. „Aber sieh dir Mirlien an. Er ist einzigartig. Unbeschreiblich. Er könnte genauso gut von einem anderen Stern gekommen sein.“

„Stimmt.“ Ich lächelte versunken. „Manchmal habe ich unglaubliche Angst, ihn einfach zu verlieren. Er ist wie ein Schlüssel zu etwas Fremdem, Wunderbarem, Kostbarem.“

Vilthon schnurrte bestätigend. „Mirlien ist einmalig, so wie er ist. Manchmal denke ich, dass er alle Geheimnisse der Welt kennt, und nun einfach keinen Zugang mehr zu ihnen findet.“

Ich hörte den Alwen schlaftrunken gähnen.

Mirlien betrat leise das Zelt und legte sich behutsam neben Vilthon auf seine Matte. Der Alwe zog fürsorglich einen Teil seiner Decke über Mirliens Schulter.

Eng rückten wir drei zusammen, als nur noch das Brausen des eisigen Windes durch die Kronen der Bäume, das Knacken einiger morscher Roonen und das ferne Heulen der Wölfe die Stille des Waldrandes zerrissen.

Feuergiftfrösche -Tag 10

Kwantsch weckte am frühen Morgen uns Langschläfer mit lautem, aufdringlichem Gekrächze.

Die Sonne war schon aufgegangen.

Wie gerädert rappelten sich Vilthon, Mirlien und ich von unserem Lager auf und dehnten und streckten erst einmal unsere steifen, klammen Glieder.

Auf Vilthons Wange zeichneten sich deutlich die Gurte des Rucksacks ab, den er in der Nacht als Kopfkissen zweckentfremdet hatte, und mir blieb mein schadenfrohes Lachen im Halse stecken, als ich meinen eingeschlafenen linken Arm einige schreckliche Minuten lang weder spüren noch bewegen konnte.

Der anspruchslose, ausdauernde Mirlien baute mit Elan und guter Laune das Zelt ab, und motivierte uns lamentierenden Gefährten zum raschen Aufbruch.

„Nächstes Mal sollten wir alle Steine von der Stelle, auf der wir schlafen, entfernen. Und wenn sie noch so dick mit weichem Moos bewachsen sind! Und wir schichten eine zusätzliche Lage Trockenlaub unter die Plane, einverstanden?“ murmelte ich mit einem vorwurfsvollen Seitenblick auf Vilthon.

Der Alwe räusperte sich betont. „Nächstes Mal, Tilya, schläfst du wieder auf Mirliens Seite, wie letztens im Zeltdorf, damit das klar ist! Ihm scheinst du offenbar nicht mitten in der Nacht deine Finger in die Augen zu bohren!“ säuselte er süffisant.
 

Wilder Jasmin schwängerte die frische Waldluft mit seinem Wohlgeruch.

Ein aufgescheuchtes Käuzchen schrie empört, während wir uns unseren Weg durchs dichte Geäst bahnten und Vilthon lauthals fluchte, als er einen zurückpeitschenden Zweig, den ich eben noch zur Seite gebogen hatte, vor die Nase geschlagen bekam.

Ein Rudel Wölfe kreuzte unseren Weg, uns drei zweibeinige Eindringlinge vornehm ignorierend.

Ich witterte irgendwann den Gestank von Verwesung in den Tiefen des Waldes, und eine halbe Stunde später stießen wir tatsächlich auf den unansehnlichen Kadaver eines massigen Bearelks, über den sich eine Riesenwollspinne schmatzend und geifernd her machte.
 

Am frühen Nachmittag stolperten wir Unglücklichen zu allem Überfluss über ein Querkenkneifernest.

Unzählige männliche Jungtiere stoben drohend mit ihren scharfen Zangen klappernd aus dem Bau, und die grüne Schar verfolgte uns, bis wir uns in unserer Verzweiflung eingeschüchtert auf eine dickstämmige Betoole retten mussten, was sich mit den sperrigen Rucksäcken als eine äußerst schwere Angelegenheit erwies.

Vilthons Versuch, die angriffslustigen Krabbentiere mit Hilfe seines Talentes zu vertreiben, scheiterte in einem jämmerlichen Luftzug, der die Tiere nicht im Mindesten zu beeindrucken vermochte.

Erbärmlich auf den Astgabeln hockend harrten wir drei Flüchtlinge aus, bis endlich eine Horde hungriger Zwergwollspinnen die auf den Betoolenwurzeln lauernden Jäger selbst zu Gejagten machte.

Wir nutzten diese Chance, kletterten flink die Betoole hinunter und rannten, so schnell wir konnten weiter, in nordwestlicher Richtung, wo der riesige Waldsee zu finden sein würde.
 

Der Abend war schon angebrochen, als sich der Wald lichtete und wir ihn endlich im Schweiße unseres Angesichtes hungrig, durstig und von Dornen zerkratzt erreichten.

Glühbeeren und Schilfpflanzen säumten das traumhaft schöne, endlos erscheinende Ufer.

Der Mond spiegelte sich glitzernd auf dem kristallklaren, kalten Wasser, dass wir uns gierig aus der hohlen Hand in die trockenen Münder schöpften.

Es war eine wahre Wohltat und eine Erlösung, als die Last der Rucksäcke von unseren geplagten Rücken fiel.

Plötzlich stob ein Schwarm großer Flughunde schaurig jaulend vom jenseitigen Ufer auf uns drei zu.

Kwantsch stieß einen Warnschrei aus und flatterte feige in ein Gebüsch.

Die Tiere rauschten mit ohrenbetäubendem Lärm über unsere Köpfe hinweg und verschwanden so schnell, wie sie erschienen waren, in den Tiefen des Waldes, aus denen wir eben gekommen waren.

Vilthon und ich blickten uns gegenseitig unheilvoll an, als wir das bedrohliche, uns mittlerweile wohlbekannte Summen hörten, welches aus der Dunkelheit über den Weiten des Waldsees dröhnte.

„Uns bleibt heute wirklich nichts erspart, oder?“ fragte Vilthon in die Runde. „Riesenmoskitos! Ab ins Wasser mit uns! Schnell!“
 

Ohne zu zögern sprangen wir alle in voller Bekleidung ins eisige Nass.

Ich hörte Vilthon unter Wasser aufbrüllen, Luftblasen sprudelten aus seinem aufgerissenen Mund an die Oberfläche, an der ich mit meinem verliekischen Blick die flirrenden Schemen der Insekten über uns vorbeirasen sehen konnte.

Ich packte meine Freunde an den Ärmeln und bedeutete sie damit, unter Wasser zu bleiben, bis die Gefahr gebannt war.

Sekunden kamen mir wie Minuten vor, als sich die Oberfläche beruhigte, nichts weiter reflektierte als das Licht des fahlen Mondes, und unsere Köpfe endlich japsend und schwer nach Luft ringend über dem Wasserspiegel auftauchten.

„Hilfe, Feuergiftfrösche!“ röchelte Vilthon bibbernd, als er der kleinen roten Amphibien gewahr wurde, die sich zutraulich im kalten Wasser um ihn herum tummelten.

„Feuergiftfrösche…“ stieß ich verächtlich hervor. „Wir haben uns gerade erfolgreich vor einem Schwarm hungriger Riesenmoskitos versteckt, und das einzige, worum du dir Gedanken machst, sind diese kleinen harmlosen Kerlchen, die uns nur gefährlich werden könnten, wenn wir sie eimerweise verspeisen würden?“

„Ekelhaft, schleimig…“ wimmerte der Alwe völlig aufgelöst, und Mirlien erbarmte sich seiner und schob mit seinen Händen sanft die winzigen Störenfriede von seinem Freund fort.

„Wunderbar, Mirlien!“ mokierte ich mich. „Jetzt wird Vilthon dich nie wieder berühren können, es sei denn, du wäschst dich sofort mit unverdünntem Saponsiskrautkonzentrat.“

Der Mann schaute mich verstört aus seinen großen Augen an.

„Das war ein Witz, Mirlien. Ein doofer Witz.“ erklärte ich nüchtern.
 

Erleichtert kletterte Mirlien an das Ufer und half erst mir, dann dem vor Kälte und Entsetzen gelähmten Alwen aus dem kühlen Nass.

Triefend schleppten uns und unsere Rucksäcke zu einigen Bäumen, hinter denen wir uns eilig unserer klammen Bekleidung entledigten, um sie gegen trockene zu tauschen.

Dann wagten wir uns an die Errichtung unseres Nachtlagers heran, diesmal vorausschauend den Untergrund mit Trockenlaub polsternd.

Die durchfeuchteten Klamotten hängten wir an eine der Zeltleinen, über die die Plane gespannt wurde, und die Kwantsch zu seinem Schlafplatz auserkoren hatte.

Vilthon entzündete auf einem großen, flachen Stein mithilfe von Schlegelsand und Funkensteinchen ein loderndes Feuer, welches diverse Rieseninsekten abschrecken, und das Wasser im Kessel zum Kochen bringen sollte, in welchen er gleich drei gehäufte Tassen Nolmengrieß und etwas Xeraatöl geschüttet hatte.

Wir bedauernswerten drei Reisenden setzten uns im Schneidersitz um die prasselnden Flammen und warteten, bis das Getreide im heißen Wasser ausreichend aufquoll, wobei jeder von uns hellhörig den Geräuschen der Nacht lauschte und seine unruhigen Blicke argwöhnisch in der Dunkelheit umherschweifen ließ.
 

Hoheitsvoll drehte Kwantsch seinen Kopf zur Seite, als ich ihm eine Hand voll abgekühlter Nolmen anbot.

„Verwöhntes Vieh!“ zischte ich leise.

Hastig und ohne viele Worte zu sprechen, schlangen wir den heißen Grieß hinunter, und waren heilfroh, uns endlich im sicheren Zelt verkriechen zu können.

Riesenmoskitos waren nachtaktive Räuber, und wir konnten uns erst gänzlich entspannen, als wir den Zelteingang mit Wäscheklammern verschlossen hatten und uns unter den warmen Decken auf unseren Xeraatmatten dicht aneinander gedrängt hatten.

Vilthons Zähne klapperten noch immer aufeinander und ich war viel zu nervös und zappelig, um Müdigkeit zu verspüren, so erschöpft mein Körper auch sein mochte.

Mirlien, der zwischen uns beiden auf dem Rücken lag, breitete mit einem geheimnisvollen Lächeln seine Arme aus, schob sie sachte unter unsere Köpfe und ließ uns auf ihnen ruhen, wie auf einem Kissen.

So sehnig und kühl seine Arme auch sein mochten, so ruhig und erholsam war der Schlaf, den Vilthon und ich schnell in ihnen fanden.

Querkenfäuler - Tag 11

Als Vilthon aufwachte und gähnend aus dem Zelt schlurfte, hatten Mirlien und ich schon die trockene Kleidung von der Leine genommen, im kalten, klaren Wasser des Waldsees gebadet und warteten an den züngelnden Flammen des Lagerfeuers auf unseren alwischen Freund.

„Guten Morgen, Vilthon!“ begrüßte ich ihn munter. „Der Kessel und das Geschirr sind sauber, machst du uns jetzt Nolmengrieß zum Frühstück? Ich habe ein paar wilde Himbeeren dazu gepflückt!“

Vilthon grinste und räkelte sich genüsslich. „Eigentlich sollte man ja von einer jungen Dame erwarten dürfen, dass sie selbst dazu in der Lage ist, eine solch ordinäre Mahlzeit zuzubereiten.“ neckte er mich.

„Aber lass mal gut sein. Ich wasche mich eben und dann fange ich an, zu kochen.“

„Gut. Wir bauen solange das Zelt ab.“ schlug Mirlien gut gelaunt vor.

Eine Stunde später brachen wir drei auf, und setzten unseren Weg entlang des Waldsees fort.
 

Die frische Morgenluft belebte unsere Geister, die Vögel zwitscherten melodisch in den Wipfeln, und wir plauderten amüsiert über die Ereignisse des vergangenen Tages.

Gegen Mittag gelangten wir an die Fälle, an denen die Wassermassen des Waldflusses hinab in den See stürzten.

Im Schatten einer Querke verspeisten wir kalten Nolmengrieß vom Frühstück, den ich mit einer Hand voll Minze gewürzt hatte.

Trotzdem hielt sich das Geschmackserlebnis in Grenzen.

Anschließend kämpften wir uns mühsam den steilen Hang hinauf und wanderten stromaufwärts den Fluss entlang.

Deutlich spürte man die erbarmungslose Steigung des Geländes in seinen krampfenden Waden.

Schwerer als je zuvor drückte die Last der Rucksäcke auf den Schultern, weshalb sich auch niemand außer Mirlien recht an dem lebhaften Plätschern der reißenden Strömung erfreuen konnte, welches uns zum ständigen Begleiter wurde.
 

Außer einem kleinen Rudel Stachelbeutler, die sich beim Fischen am Flussufer gestört fühlten und lautstark nach uns Eindringlingen bellten, begegneten uns heute keine angriffslustigen Tiere, die eine Bedrohung für uns darstellen konnten.

Ich brach gelegentlich die Monotonie ihres Marsches, indem ich von Zeit zu Zeit meine beiden Gefährten in mehr oder weniger sinnvolle Gespräche verwickelte.
 

„Ich finde es schön, dass du immer noch bei uns bist, Mirlien. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass du uns immer noch begleitest, und dann auch noch in diese Wildnis, in der wir sicher niemandem begegnen werden, der uns etwas über deine Vergangenheit erzählen könnte.“

„Ihr seid meine Freunde. Ihr habt euch um mich gekümmert, als ihr mich verloren im Fluss am Blumendorf gefunden habt.“ antwortete Mirlien lächelnd. „Und ich habe versprochen, euch bei eurer Suche zur Seite zu stehen. Die gemeinsame Zeit mit euch genieße ich sehr, und ich verliebe mich jeden Tag aufs Neue in eure Heimat, die immer mehr auch zu meiner wird.“

„Bis jetzt haben meine Eltern aber keine Nachricht von irgendeinem Insulaner erhalten, der dich gekannt hätte. Wahrscheinlich werden wir tatsächlich erst auf dem Kontinent Hinweise auf deine Identität finden. Und dorthin werden wir allem Anschein nach schneller gelangen, als erwartet.“ meinte ich. „Wenn Thyllos die Wahrheit gesprochen hat, wird es auch meinen Malar früher oder später zu den Menschen verschlagen. Wenn wir übermorgen bei Greyan angekommen sind, und mit ihm geredet haben, werden wir wohl oder übel nach Thyllos suchen, und auch ihn um Hilfe bitten. Darauf freue ich mich ja schon ganz besonders. Ich habe so sehr gehofft, ihm nie wieder begegnen zu müssen.“

„Thyllos kann uns eine große Hilfe werden, wenn wir tatsächlich auf dem Kontinent nach dem Malar suchen müssen.“ warf Vilthon dazwischen. „ Der Kontinent ist riesig, und Thyllos ist erfahren im Umgang mit Menschen und vielleicht auch mit seinem malarischen Vater. Dein Malar hat übrigens schon lange nicht mehr von sich reden gemacht, Tilya. Ob er überhaupt noch auf der Insel herumstreunt?“

Ich zuckte mit den Achseln. „Ich hatte bisher fast schon den Verdacht gehegt, dass er von uns gefunden werden will, und deshalb immer in unserer Nähe geblieben ist. Er schien uns geradezu herausfordern zu wollen, hatte ich den Eindruck. Ich verstehe nur nicht, was er sich davon verspricht.“

Vilthon schüttelte ratlos das Haupt. „Ich hoffe nur, dass Thyllos dir deine Eskapaden verzeiht, Tilya, und sein Angebot, uns zu helfen noch steht.“

Ich senkte den Kopf und brummelte schuldbewusst.

Vilthon runzelte nachdenklich die Stirn. „Auf dem Kontinent sind wir auf jede Unterstützung angewiesen. Wir müssen in Kontakt mit den Menschen treten. Auch, um die Leute auf Mirlien aufmerksam zu machen. Wenn seine Herkunft tatsächlich etwas mit dem Kontinent zu tun hat, müssen wir die Menschen mit ihm konfrontieren.“
 

Mir war es, als stecke mir plötzlich ein Kloß im Hals, als ich die Stimme erhob.

„Ganz egal, was geschieht, Mirlien, irgendwie habe ich Angst davor, dass du dich irgendwann an alles erinnerst, und dass diese Erinnerungen furchtbare Dinge zu Tage bringen, die dich unglücklich machen, oder dich verändern.“

„Das ist natürlich nicht auszuschließen Tilya.“ räumte Mirlien nachdenklich ein. „Aber selbst, wenn dem so wäre, würde ich es wissen wollen. Die Idee, dass mir vielleicht irgendwo da draußen dringende Aufgaben und Pflichten auferlegt wurden, denen ich augenblicklich nicht nachkommen kann, beschäftigt mich sehr. Besonders erschreckend empfinde ich allerdings die Möglichkeit, vielleicht selbst für furchtbare Vorkommnisse verantwortlich zu sein, und nun einfach nur die Erinnerung daran verloren zu haben.“

Vilthon lachte. „Mirlien, ich denke, zumindest an deine zuletzt geäußerte Befürchtung brauchst du keinen Gedanken zu verschwenden!“

Freundschaftlich fuhr er seinem Gefährten durchs Haar. „Egal, was deine Vergangenheit offenbart, wir stehen zu dir. Meine einzige Sorge ist die, dass wir dich dann einmal nicht mehr bei uns haben, mein Lieber.“

Mirliens Blick füllte sich mit Wärme und Stolz, als er uns mit seinem unwiderstehlichen Lächeln für unser Vertrauen und unsere Treue dankte.
 

Als die Nacht den blassen Abendhimmel in ein düsteres Blau tauchte, ließen wir uns nahe am Flussufer nieder und spannten gemeinsam unsere Zeltplanen zwischen einigen schlanken Roonen auf.

Das Schlegelsandfeuer wurde auf einem Kieselsteinhaufen entfacht, und Vilthon wollte gerade einen Beutel Nolmengrieß aus dem Rucksack fischen, als ich schaurig aufheulte.

„Nicht schon wieder Nolmen, Vilthon! Das Zeug hängt mir langsam zum Hals raus!“

„Hast du einen besseren Vorschlag?“ fragte der Alwe etwas pikiert.

Ich ließ meinen verliekischen Blick einige Augenblicke durch die finstere Gegend schweifen, dann hellte sich meine Miene auf. „Wie wäre es mit gerösteten Querkenstammpilzen?“ rief ich beschwingt.

Vilthons Braue zuckte in die Höhe. „Und wer soll deiner Meinung nach um diese Tageszeit noch einen Querkenstammpilz von einem Querkenfäuler unterscheiden können?“ fragte er mich matt.

Ich krabbelte zu ihm auf die Xeraatmatte und kam Vilthon mit meinem Gesicht so nahe, dass sich unsere Nasenspitzen berührten. „Jemand Nachtsichtiges, zum Beispiel.“ grinste ich spitzbübisch und blitzte ihn frech aus ihren meeresblauen Augen an, von denen ich wusste, dass sie im Schein des Feuers nach verliekischer Art glühten.

Vilthon verzog wenig überzeugt seine Mundwinkel.

„Das kann ja heiter werden. Ich schwöre dir, Kleines, wenn sich nachher einer von uns die ganze Nacht über vor Lachen auf dem Boden kugelt, sein Abendessen frühzeitig verliert oder rote Querkenkneifer sieht, dann…“

„Was dann?“ lachte ich keck.

„Überlege ich mir noch.“ drohte Vilthon unheilvoll. „Und das du ja auf die violetten Lamellen an der Unterseite des Querkenstammpilzes achtest! Die Querkenfäuler haben…“

„Ja, ja! Die haben blaue Lamellen, ich weiß! Zweites Lehrjahr, Meister Vilthon…“ nölte ich entnervt.

„Ich verlasse mich auf dich.“ betonte Vilthon noch einmal und entließ mich, seine ehemalige Schülerin, mit gemischten Gefühlen.
 

Kurze Zeit später kam ich mit einem Kessel voller Pilze aus dem Wald zurück, die wir drei im Flusswasser wuschen, auf Zweige spießten und über den tanzenden Flammen unseres Lagerfeuers garten.

Die saftigen Gewächse boten eine willkommene Abwechslung zu dem faden Grieß, und wir ließen es uns schmecken.

Nur ich hatte wieder einmal Pech und erwischte einen leicht verdorben schmeckenden Querkenstammpilz, den ich sofort ins prasselnde Feuer spuckte.

„Sehr appetitlich, Tilya!“ meckerte Vilthon. „Sag jetzt bitte nicht, der Pilz hätte bitter geschmeckt.“

„Wie eine Caybabohne. War wohl ein älteres Exemplar.“ antwortete ich knapp und spülte rasch den üblen Geschmack mit einer halben Feldflasche Wasser hinunter.

„Wollen wir es hoffen.“ murmelte der Alwe misstrauisch. „Oder soll ich dir vorsichtshalber einen Becher Saponsissaft geben, damit du versuchen kannst zu spucken?“

„Blödsinn!“ brüskierte ich mich. „Das war kein Querkenfäuler! Ich bin doch nicht farbenblind!“

Vilthon und Mirlien tauschten vielsagende Blicke aus.
 

Als wir drei es uns schließlich auf unseren Matten bequem machten, dauerte es nicht lange, bis Mirlien auffiel, dass etwas mit mir nicht stimmen konnte.

Mit wachsender Besorgnis registrierte er meine zitternden Hände, mit denen ich mich in den weichen Stoff meiner Decke krallte, meine Lippen, die lautlos wirre Worte formten und meinen starren, glasigen Blick zur Zeltplane.

„Vilthon!“ flüsterte er beunruhigt dem Alwen zu, der uns beiden schon längst ermattet den Rücken zugedreht hatte. „Ich fürchte, Tilya hat es erwischt.“

Stöhnend wälzte sich der Alwe auf die andere Seite und erkannte erschrocken im Schein des knisternden Lagerfeuers, dass meine Augen kaum mehr als verliekisch erkenntlich waren, denn die typischen schmalen Pupillen hatten sich so sehr geweitet, dass sie geradezu rund schienen.

„Ich habe es doch geahnt!“ jammerte er verzweifelt. „Querkenfäulervergiftung. Das kann ja heiter werden, diese Nacht!“

Ich, die ich zwischen meinen beiden Freunden lag, blickte immer noch in starrem Entsetzen wie gebannt an die vom Feuer beleuchtete Plane, auf der sich die Schatten der sanft im Nachtwind wiegenden Glühbeersträucher abzeichneten.

„M…Malar! Da, da!“ stotterte ich mit erstickter Stimme und deutete mit wilden Gesten auf den Zelteingang.

„Kleines, du fantasierst.“ erklärte Vilthon nüchtern und strich mir über die Federn. „Da musst du jetzt durch, wir können jetzt nichts weiter für dich tun, als dir reichlich zu trinken zu geben. Morgen sieht die Welt wieder ganz harmlos aus, das verspreche ich dir!“

„Du hast so wunderschöne Ohren, Vilthon!“ hauchte ich errötend und lächelte verklärt.

Der Alwe schielte hilfesuchend zu Mirlien hinüber. „Ich glaube, Tilya braucht etwas Wasser.“

„Ich gehe mit ihr an das Flussufer.“ beschloss Mirlien kurzerhand, zog mich behutsam an den Armen hoch und führte mich vorsichtig, aber bestimmt aus dem Zelt hinaus.
 

„Durst! Es ist so heiß!“ plärrte ich erbarmungswürdig und wollte mich gegen Mirliens unbequemes Vorhaben sträuben.

„Wir sind gleich am Ufer.“ beschwichtigte mich mein Freund, der seine kalte Hand fürsorglich um mein Genick gelegt hatte, und mich sanft vor sich her schob.

„Aber der Malar ist hier in der Nähe. Ich kann ihn spüren. Was machen wir, wenn er uns in die reißende Strömung schubst?“ stammelte ich ängstlich. Mirlien lächelte milde.

„Tilya, vielleicht lässt dich das Gift des Querkenfäulers heute Nacht Dinge wahrnehmen, die nur in deiner Einbildung existent sind. Deshalb musst du dich jetzt ganz auf Vilthon und mich verlassen. Wir bleiben wachsam, und du versuchst, dich zu erholen, in Ordnung?“

Gehorsam nickte ich und kniete mich in die Böschung, um mit beiden Händen das klare Nass aus dem breiten Fluss zu schöpfen und es mir gierig in den trockenen Mund zu schütten.

Kurz hielt ich inne, als sich in einer Hand voll Wasser das helle Licht des Mondes wie ein tanzender Blitz spiegelte.
 


 

„Mirlien.“ flüsterte ich tief bewegt und richtete mich wankend auf. Als ich ihm in die Augen sah, war mein Blick sternenklar. Mein Freund legte mir stützend den Arm um die Taille, als wir uns langsam zurück zum Zelt begaben. „Als wir dich damals im Fluss am Blumendorf fanden, da ist etwas Merkwürdiges geschehen. Eine seltsame Kraft, von der ich zuerst glaubte, sie käme von dir, hat sich zwischen uns entladen und dich erwachen lassen. Später auf dem Schiff zur Steppenwüste habe ich Thyllos mit derselben Energie von mir gestoßen, als er mir eine Todesangst eingejagt hatte. Und als damals der Malar mein Totem fraß, konnte ich ebenfalls diese Macht um mich herum spüren. Kann es sein, dass mein Talent niemals wirklich mit meinem Totem gestorben ist?“

Mirlien überlegte.

Dann fuhr er mit seinen langen Fingern sanft über mein gefiedertes Haar, über die feinen, echsenhäutigen Stellen meiner Arme. „Ich habe nicht den vollen Einblick in die Geheimnisse eurer Völker, Tilya.“ sprach er mit rauer Stimme. „Aber nur weil deine Vogelschlange nicht mehr in deinen Träumen lebt, heißt das nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Auch dein Malar hat deine Träume verlassen, und ihn hindert dies nicht daran, zu wirken. Kann es nicht vielleicht sein, dass du die Vogelschlange nicht mehr als solche erkennen kannst, weil sie dir nicht in vertrauter Form erscheint?“

Ich blickte verträumt lächelnd zu den Sternen am Himmel.

Der Gedanke gefiel mir.

Doch noch bevor ich etwas Vernünftiges antworten konnte, erfasste mich ein neuerlicher Schub des Querkenfäulerirrsinns und meine Augen schienen sicherlich so schwarz und glänzend wie die eines Schnabelgeckos, als ich aufgeregt um Mirlien herumwirbelte und hektisch an seinem Hemdrücken zupfte.

„Seit wann wachsen denn graue Federn in deinen Flügeln, Mirlien?“ fragte ich meinen Gefährten fassungslos. „Ich glaube, du wirst langsam alt.“
 

Es war seltsam.

Irgendwie war mir schon klar, dass ich spinnen musste, aber es drang dennoch nicht wirklich in die letzten Winkel meines entrückten Verstandes.

Aus dem Hintergrund hörte man Vilthon aufseufzen. „Brauchst du Hilfe, alter Freund?“ tönte es mitleidig aus dem Zelt.

Mirlien verneinte lächelnd und schob galant die Plane beiseite, damit ich ungehindert zum gemeinsamen Schlafplatz gelangen konnte.

Doch jetzt dachte ich gar nicht daran, mich wieder hinzulegen. „Ich kann doch nicht schlafen, wenn der Malar hier vor dem Zelt herum strolcht!“ widersetzte ich mich entrüstet Mirliens zaghaften Versuchen, mich in das Lager zu befördern, wandte mich energisch wie ein Rothörnchen aus seinem vorsichtigen Griff und wuselte orientierungslos über die Lichtung.

Dicht vor dem knisternden Lagerfeuer blieb ich schließlich atemlos stehen.

„Er ist hier, Mirlien. Genau hier. Ich fühle seine Nähe.“ flüsterte ich abwesend, und starrte in die lodernde Glut.

Mein Freund kam langsam näher, legte mir die Hände um die Schultern und zog mich vorsorglich etwas weiter von den heißen Flammen weg, die mit einer eigenartigen Lebendigkeit in meine Richtung züngelten, dem heftigen Wehen des Windes entgegen, unter dem sich bereits die schlanken Stämme junger Roonen bogen.
 

Ich wusste warum er es tat.

Auch, wenn ich an diesem Abend gewiss nicht wirklich zurechnungsfähig sein konnte.

Dennoch war ich mir in meinem Gefühl ganz sicher.

Und mir war bewusst, dass auch Mirlien ihn spüren konnte.

„Er hat uns schon beobachtet als wir beim Fluss waren.“ raunte ich meinem Gefährten zu, der sich nun wie in plötzlicher Erkenntnis schützend vor mich stellte, und seinen durchdringenden Blick starr auf das Feuer richtete, dessen eigenwilliger Tanz jeden physikalischen Gesetzen zu trotzen schien.

„Vilthon!“ rief er mit fester Stimme. „Da ist etwas im Feuer!“

Schnaufend kam der Alwe aus dem Zelt geschossen. „Oh nein, nicht du auch noch, Mirlien!“ begann er verzagt, aber als er den roten Qualm aus den Flammen stieben sah, der sich neben dem Feuer zu einer scheußlichen, gebeugten Gestalt verdichtete, begriff er mit Schrecken den Ernst der Lage, da er doch stark bezweifeln mochte, dass wir mittlerweile alle drei unter einer Pilzvergiftung litten.

Mein Malar richtete sich hinter der Flammenwand des Lagerfeuers zu seiner vollen Größe auf.
 

Niemals zuvor hatte er sich mir so mager und ausgezehrt gezeigt.

Seine roten Augen reflektierten die Glut in einer schaurigen Weise, und als er sprach, dröhnte seine blecherne, tiefe Stimme in meinem Kopf wie das ferne Brüllen eines Kronennebeldrachen.

„Ein Jammer, dass ich dich nie alleine erwische, mein Drachenmädchen.“ donnerte das Ungeheuer. „Ich hätte mich so gern ungestört von dir verabschiedet, bevor sich unsere Wege vielleicht für immer trennen werden. Aber es ist leider eine Sache der Unmöglichkeit, dich ohne einen deiner Freunde anzutreffen.“

Vilthon fasste mich, die ich hinter Mirlien kauerte, fest um mein Handgelenk.

„Du willst zum Kontinent, nicht wahr?“ fragte ich das Monster mit brüchiger Stimme.

„Ich sehe, man hat dich ausgezeichnet informiert.“ grinste der Malar. „Der Kontinent ist groß, zu groß, um mich dort zu jagen, nicht wahr? Und er ist reich an leichter, lohnender Beute für mich, den minderbemittelten Menschen, die weder ein Totem noch ein Talent vor mir bewahren könnte.“

Genüsslich leckte sich das Wesen mit der langen Zunge über die langen, säbelartigen Zähne.

„Bleib hier!“ flehte ich demütig. „Komm zu mir zurück, bitte! Wir brauchen einander!“

Vilthon schlang vorsichtshalber seine Arme um mich.

Der Malar gab einen bellenden Laut von sich. „Was ich nicht lache! Du willst mich doch nur zurück, um dein Gewissen zu beruhigen, Kind! Dir ist es doch gleichgültig, ob wir beide daran zugrunde gingen, denn du sorgst dich nur um diese einfältigen Menschen. Kümmere dich erst einmal um dich selbst, denn du bist längst noch nicht soweit, um einen Malaren zu nähren!" spuckte das imposante Wesen verächtlich aus.

„Was muss ich tun, damit ich es kann?“ begehrte ich zu erfahren.

„Das musst du selbst herausfinden, Drachenmädchen.“

Der Malar durchbohrte mich mit seinen glühenden Blicken und schritt schwerfällig mitten durch die sterbenden Flammen hindurch auf uns zu.

Vilthon lockerte seinen Griff um mich, richtete seine Handflächen auf den Malaren und war bereit, sein Talent gegen ihn einzusetzen, wenn dieser es wagen sollte, noch näher an uns heranzutreten.
 

In dem Augenblick duckte ich mich unter Vilthons Armen hinweg, schob mich an Mirlien vorbei und stand nun unmittelbar vor dem Malar, der mich mindestens um zwei Köpfe überragte.

Der Alwe rief schockiert meinen Namen und war im Begriff, blindlings zu mir hin zu stürzen, wurde jedoch von Mirlien umsichtig, aber kraftvoll zurückgehalten.

„Warte, Vilthon! Der Malar hat nicht die Absicht, Tilya zu verletzen, sonst hätte er es schon längst getan!“ hörte ich den fahlgesichtigen Mann gegen das Brausen des Windes auf ihn einreden und wurde gewahr, wie er seinem aufgelösten, verständnislosen alwischen Freund nach einem langen, bedeutungsvollen Blick zum Himmel gebot, einen gewissen Abstand zu meinem Malaren und mir einzuhalten.

Inzwischen wütete ein regelrechter Sturm über den Wäldern, der tosend und heulend schwarze, regenschwangere Wolkengeschwader über den Himmel trieb und an den bedrohlich knarrenden Ästen der Bäume zerrte.
 

Der Malar stand mir gegenüber, und jeder von uns beiden ertrug auf seine Weise gepeinigt den Blick des Anderen.

Roter Staub flirrte um den hageren, im Sturm bebenden Körper des Untiers, und ich stand Todesängste aus, in ständiger, unerträglicher Erwartung eines heimtückischen Angriffes.

Die Narben an meinem Hals, die mich stets an seinem Biss erinnerten, kribbelten, sie brannten wie Feuer.

Und dennoch fühlte ich mich magisch zu dem Monster hingezogen, wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als für immer in seiner Nähe zu bleiben.

Wie hypnotisiert taumelte ich erschöpft und beinahe vollkommen willenlos auf den Malaren zu.

Dann geschah alles ganz schnell.
 

Aus dem dichten, gesträubten Nackenfell des knurrend zurückweichenden Malaren stob eine gewaltige rote Rauchschwade in die Höhe, deren Partikel einen Augenblick lang schwerelos in der Luft tanzten, erstarrten, und sich dann unheilvoll über mir formatierten, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie auf mich herabregnen oder sich zu einer bedrohlichen Schattenkreatur materialisieren wollten.

Ich streckte die Hände nach der scharlachfarbigen, pulsierenden Wolke aus, worauf ein Donnerschlag vom Himmel dröhnte und ein Blitz die schwarzen Wolken über mir bersten ließ.

Gleichzeitig begannen winzige Lichtpunkte über meinen Fingerspitzen zu tanzen, immer schneller, bis sich ein gleißendes, spinnwebfeines Netz zwischen ihnen spann, das schließlich zu einem einzigen, sich um sich selbst windenden Strahl reinen Lichtes schmolz.

Den Bruchteil einer Sekunde lang schlängelte sich der leuchtende Faden über meinen empor gestreckten Fingern gleich einer schillernden Reflexion strahlenden Sonnenlichtes auf dem klaren Grund eines ruhigen Seeufers.
 

Dann raste das blendende Gebilde mit irrsinniger Geschwindigkeit himmelwärts, einen glühenden Schweif violetten Lichtes hinter sich herziehend, um sich in einem spektakulären Funkenschlag mit dem heran züngelnden Blitz inmitten der scharlachroten Wolke des Malarenstaubes zu verbinden.

Der Malar brüllte überrascht auf, als ihn das Licht traf und sein wertvoller roter Nebel sich in glimmendem Puder niederschlug, und in Form unzähliger verschmorter Körnchen die Erde bedeckte, während Vilthon sich wie paralysiert an Mirlien klammerte, der mit glänzenden Augen dem faszinierenden Schauspiel aus Licht und Schatten folgte.
 

Der Sturm legte sich so rasch, wie er gekommen war und hinterließ eine tödliche Stille, die nur von dem rasselnden Keuchen des Malars und dem unerschütterlichen Rauschen des Flusses unterbrochen wurde.

Das Lagerfeuer war erloschen, der Klang des Donners verhallte in weiter Ferne.

Meine Knie gaben kraftlos unter mir nach und schürften sich auf den harten Kieseln wund, bevor der vor Wut rasende Malar sich in einer Wolke blutroten Staubes verflüchtigte, sich in dem fließenden Gewässer verteilte und von der Strömung hinfort reißen ließ.

„Suche mich! Erkenne mich! Überwinde mich! Und dann banne mich, wenn du stark genug für mich bist, kleine Vogelschlange!“ flüsterte es gehässig aus dem Fluss.

„Das werde ich, Malar.“ versprach ich mit entrücktem Lächeln auf dem Lippen.
 

Es begann zu regnen.

Das Gebirge - Tag 12

Stumm bestritten wir drei unseren Weg in der Frühe des nächsten Morgens.

Jeden von uns hatten die gestrigen Ereignisse bis in sein Innerstes aufgewühlt, doch vor allem mich hatte dieser Alptraum, der kein Traum war, ziemlich mitgenommen.

Ob es an der Restwirkung des Querkenfäulers lag, oder ob die Begegnung mit meinem Malar mich so sehr erschüttert hatte, dass ich mich augenblicklich nicht dazu in der Lage fühlte, ein sinnvolles Gespräch mit meinen beiden Gefährten zustande zu bringen, wusste ich selbst nicht genau zu sagen.
 

Vilthon zeigte sich einsichtig und verschonte mich mit weiteren bohrenden Fragen, als er bemerkte, wie unkonzentriert ich an seiner Seite herlief und ein ums andere Mal über Wurzeln und dicke Äste stolperte.

Zudem war ihm ohnehin klar, dass ich mir die Geschehnisse des vergangenen Abends selbst nicht zu erklären wusste.

Er und Mirlien waren außerdem hautnah dabei gewesen, hatten selbst erlebt, was mit mir passiert war und was gab es da noch großartig zu debattieren?

Er beschloss wohl deshalb, mich einfach in Ruhe zu lassen, damit ich mich allein mit der Geschichte auseinandersetzen konnte.

Wenn ich Unterstützung bräuchte, würden er und Mirlien für mich da sein.
 

Es hatte sich im Grunde nichts geändert.

Wir würden Greyan aufsuchen, um danach dem Malar auf den Kontinent zu folgen.

Doch nun war ich mir sicher, dass es eine Möglichkeit geben musste, den Malar zurück in meine Träume zu bannen, und vielleicht sehnte sich auch das Monster in seinem Innersten sogar heimlich danach.

Genau so, wie es mich tief in meiner Seele zu dem Malar zog.

Vilthon musterte mich aus seinen Augenwinkeln, wie ich registrieren konnte.

Auch er merkte es.

Irgendetwas an mir hatte sich verändert.

Auch wenn der Querkenfäuler meine Bewegungen noch unbeholfen erscheinen lassen konnte und meine Pupillen weitete, so nahm er dennoch sicher den wilden Stolz in meinem Blick war, das leise Lächeln, das um meine Lippen spielte.

Ich wusste nun um mein Talent, und wenn ich es auch noch nicht nach meinem eigenen Ermessen zu kontrollieren wusste.

Ich wusste, dass mein Totem noch existierte, auf irgendeine latente Art und Weise.

Ich war nicht völlig machtlos.

Meine Hoffnung wurde gestern Nacht neu entfacht, und das gleißende Licht eines Blitzes schien meine verliekischen Augen zum Leuchten zu bringen, wie Vilthon anerkennend feststellte.

Einige Augenblicke später verhedderte sich mein rechter Schuh in einer Schlingpflanze und ich strauchelte fluchend in das umliegende Gebüsch.

Vilthon grinste.

Das war sein Mädchen.
 

Gegen Mittag, als der Wald sich lichtete, und das Rauschen des immer breiter werdenden Flusses in unseren Ohren wie ein einziger, unendlicher Donnerschlag erklang, wurde unser langer Marsch endlich mit dem Anblick der gigantischen Wasserfälle belohnt, in denen das Gewässer, dem wir bisher stromaufwärts gefolgt waren, seinen Anfang fand.

Ein Regenbogen ward aus dem hoch stiebenden Schaum geboren, an der Stelle, an der die Fälle, die an einer steilen, schier unendlich hoch scheinenden Felswand herunter in das breite Flussbett krachten, und suchte sich seinen Weg in den wolkenlosen blauen Himmel.

Hier begann das Gebirge.
 

Vilthon zückte Karte und Kompass, denn nun musste er uns den sichersten und komfortabelsten Weg zum Bergdorf weisen, an dem übrigens auch die Quelle des großen Flusses entsprang.

Es versprach ein mühseliger Marsch zu werden.

Schon bald spürte man die unbarmherzige Steigung der Landschaft förmlich in seinen Waden und Oberschenkeln.

Ich, die ich endlich wieder bei vollkommenem Bewusstsein war, summte exakt in der gleichen Tonart der herabstürzenden Wassermassen der Fälle diverse altverliekische und altalwische Schimpfwörter vor mich hin.

Bis ich merkte, dass Vilthon wohl am liebsten Mirliens Ohren mit dem restlichen Nolmengrieß vom Frühstück verstopft hätte.

Doch dieser musste uns ja nun als Wegration dienen.
 

Während wir ihn, auf von der strahlenden Sonne aufgewärmten Felsvorsprüngen sitzend, mit größerer oder auch geringerer Begeisterung verzehrten, bewegte sich eine riesige Schlange, dick wie ein Roonenbaumstamm an uns vorbei.

Ihre Bauchschuppen schliffen mit einem Geräusch rieselnden Sandes über den kiesigen Boden des schmalen Weges.

„Oh Mann, der will ich aber nicht im Wege stehen.“ bekannte ich mich beeindruckt. „Gut, dass wir gerade Rast eingelegt haben, nicht wahr, Leute?“
 

Vilthon stimmte mir zu. „Habt ihr ihren dicken Hinterleib gesehen? Ich wette, sie sucht nach einem geeigneten Unterschlupf, in der sie ihre Eier ablegen kann. So ein Mist! Ich habe vollkommen vergessen, dass nun die Brutzeit der Riesenschlangen beginnt. Nun, ich schätze mal, wir sollten diese Nacht wohl lieber nicht innerhalb einer Höhle schlafen. Das könnte uns nämlich rasch zum Verhängnis werden.“

„Na super! Wo sollen wir denn hier unsere Planen aufspannen, Vilthon?“ maulte ich.

„Hast du etwa eine bessere Idee?“ gab Vilthon flapsig zurück.

„Uns wird schon etwas einfallen.“ brummte Mirlien versöhnlich.
 

Tatsächlich schafften wir es an diesem Abend gemeinsam, unser Zelt notdürftig zwischen einigen Felsvorsprüngen aufzuspannen.

Es hielt mehr schlecht als recht und drohte, schon beim nächsten Windstoß umzufallen.

Aber zumindest fühlte man sich um einiges geborgener mit einem behelfsmäßigen Dach über dem Kopf.

Der steinige Untergrund jedoch trug sein Übriges dazu bei, um diese Nacht zu einer der unangenehmsten unserer Reise zu machen.

Ich hatte noch zuvor Kwantsch mit einem kurzen Brief ins Hügeldorf geschickt und zwischen meinen beiden Freunden liegend schlief ich mit dem Gedanken an ein weiches Bett glücklicherweise recht schnell ein.

Schon morgen Abend nämlich würden wir alle wieder in einem gemütlichen Gästezimmer nächtigen dürfen.

Greyan - Tag 13

Unsanft wurde Vilthon am frühen Morgen von mir geweckt, indem ich ihn aufgeregt an den Ohren zupfte.

„Was ist los, Kleines, ist es nicht noch etwas früh zum Aufstehen?“

Der Alwe zog sich unmotiviert die Decke bis über die Nasenspitze.

Mirlien rappelte sich vom unbequemen Nachtlager hoch, brachte sich in eine mehr oder weniger senkrechte Position und blinzelte aufmerksam auf uns hinunter.

Sogar er sah nach dieser Tortur von einer Nacht reichlich zerknittert aus.

„Ich hab heute etwas geträumt, Leute!“ berichtete ich mit funkelnden Augen.

Interessiert lupfte sich Vilthons Augenbraue in die Höhe.

Ich grinste.

„Es war fürchterlich, Vilthon, einfach fürchterlich! Ich habe von dem Zimmer geträumt, das du damals in deinem Haus für mich hergerichtet hast. Mein Bett stand direkt vor mir, so weich und gemütlich. Und auf der seidigen Spinnwolldecke prangte ein riesiger Berg… Nolmengrieß!“

„Wirklich entsetzlich.“ bestätigte Mirlien aufrichtig betroffen.

Die Nüchternheit, mit der er sein Beileid formulierte brachte selbst den Morgenmuffel Vilthon zum Lachen.

Da nun an Schlaf nicht mehr zu denken war, beschlossen wir frühzeitig aufzubrechen.
 

Gegen Mittag ließen wir das Höhlengebiet hinter uns.

Kleine Herden zutraulicher Bergbeutler kreuzten unseren beschwerlichen Weg.

Doch trotz der unbarmherzigen Steigung und unserer schmerzenden Glieder waren wir drei Wanderer frohen Mutes und bester Laune.

Bald würden wir das Bergdorf erreicht haben und uns an der Gastfreundschaft der kauzigen Einwohner erfreuen dürfen.

Die Leute vom Berg waren berüchtigt für ihr unterkühltes Auftreten, aber ebenso geschätzt als manierliche, fleißige und disziplinierte Personen.

Es hätte wohl niemanden verwundert, zu erfahren, dass vor allem viele Alwen im Gebirge anzutreffen waren.
 

So erwartete uns am späten Nachmittag ein fantastischer, geradezu utopischer Anblick, als wir eine letzte, fordernde Anhöhe erklommen hatten und sich der weite, sternenklare Bergsee vor uns auftat.

Rings um ihn schmückten liebevoll verzierte Fachwerkhäuschen das liebliche Ufer, um die Gebäude selbst flatterten bunte, lärmende Papageien in den ebenso bunten, herrlich angelegten Gärten herum.

Schillernde Kolibris und Schmetterlinge bestäubten farbenfrohen Hummeln gleich die duftenden Blüten.
 

Auf dem dekorativen Eingangstor ärgerte ein neugieriger Lemur ein entnervtes Chamäleon, was die Idylle dieses traumhaften Ortes ein wenig störte.

„Ist es nicht fantastisch?“ fragte Vilthon uns mit einem seligen Lächeln auf den Lippen.

„Schau dich nur gut um Tilya! Meine Familie und die Familie deiner Mutter stammen aus diesem Bergdorf. Hast du keine Lust, dich nach der lieben Verwandtschaft zu erkundigen?“

Ach du Schreck!

Vilthon hatte ja Recht!

Meine Mutter war damals, als sie als sehr junges Mädchen ihre Ausbildung gerade abgeschlossen hatte, alleine mit dem größten Teil Vilthons Familie und einigen anderen heilkundigen Bergalwen durch das Gebirge gezogen, um dann flussabwärts in die Zaronnenauen zu ziehen und ihr Wissen mit in die Ebenen zu bringen.

Meine alwischen Verwandten bekam ich sehr selten zu Gesicht und hatte kaum einen Bezug zu ihnen.

Ich wusste nur, dass mein Großvater ein begnadeter Erfinder gewesen war, dass mein Onkel für alwische Verhältnisse ein ziemlicher Querkopf sein musste, und dass der weibliche Teil der Familie einen ausgeprägten Sinn für Humor hatte, was ebenfalls nicht sehr typisch für das alwische Geschlecht war.
 

Trotzdem hatte ich keine Lust, meiner Sippschaft zu begegnen und ihnen Rede und Antwort stehen zu müssen.

„Hast du denn keine Lust, deine Familie zu besuchen?“ lenkte ich deshalb boshaft grinsend ab.

Vilthon verzog die Mundwinkel.

Seine Verwandtschaft nämlich lebte geradezu das Klischee der alwischen Archetypen aus.

Unterkühlt, stolz, ästhetisch und trotzdem mit einem anbetungswürdigen Charme gesegnet, den sie spielen lassen konnten, wenn sie es denn mal wollten.

Das kam allerdings sehr selten vor.

Vilthon legte seine Stirn in Falten.

„Nun ja, wenn wir schon mal hier sind, könnten wir mal kurz bei meinem Bruder Elmeth hereinschneien. Den habe ich schon sehr lange nicht mehr gesehen.“

Ich war überrascht.

Ich hätte nicht erwartet, dass Vilthon tatsächlich auf meinen Vorschlag eingehen würde.

Andererseits war ich sehr gespannt auf diesen Elmeth.

Vilthon hatte kaum jemals von ihm gesprochen.
 

Wir folgten Vilthon über einige Felder in satten Farben, die wie in die Landschaft hinein gemalt anmuteten, als wir ihm dann tatsächlich begegneten.

Elmeth schlug gerade den Xeraat mit seiner Sense, als Vilthon ihn erkannte und nach seinem Namen rief.

Langsam wandte sich der Alwe zu uns um, und als ich sein Gesicht erblickte, war mir, als stünde mir ein zweiter Vilthon gegenüber, so ähnlich sahen sich die Brüder.

„Darf ich vorstellen, mein böser Zwillingsbruder…“ witzelte mein bester Freund, als wir uns seinem Ebenbild näherten.

Ich war überwältigt.

Vilthon hatte mir nie etwas von einem Zwillingsbruder erzählt.
 

Als ich Elmeth etwas näher kennen lernte, verstand ich allerdings auch, warum.

Diesen Alwen hätte man überall als einen waschechten Bewohner des Gebirges erkannt.

Schief sah er an mir herab, nahm meine Federn wahr, meine Echsenhautzeichnungen, meine Herrenkleidung und rümpfte hoheitsvoll die Nase.

Mirlien starrte er einige Sekunden an, als wäre er eine blaue Piragie.

Auffallend kühl begrüßten sich die Brüder dann mit einem Händedruck, wir wurden einander kurz vorgestellt, von Elmeth zu sich nach Hause eingeladen, und es dauerte nicht lange, bis dieser mit Vilthon bei Tisch einen handfesten Streit vom Zaun brach.

Unangenehm berührt schlürften Mirlien und ich unseren Tee, während Elmeth unablässig an unserem bedauernswerten Freund herumnörgelte.

Irgendwann gab Vilthon überdrüssig seine fruchtlosen Bemühungen, sich gegen seinen Bruder zu verteidigen, auf, und bald darauf verstummte auch der gelangweilte Elmeth.
 

Das einzige Geräusch, das man nun in Elmeths Hütte hören konnte, war das Knirschen meiner Zähne auf den steinharten Keksen, die der Junggeselle selbst gebacken hatte.

Ganz fantastisch, so also stellten sich alwische Zwillinge anscheinend ein unerwartetes Wiedersehen nach Jahren vor.

Sonderlich viel zu sagen hatten sie sich anscheinend nicht mehr, nachdem Elmeth seinen angestauten Frust an Vilthon ausgelassen hatte.

Plötzlich fiel mir auf, wie überaus interessiert der schöne Alwe nun unseren eingeschüchterten Mirlien musterte.

Genau genommen verschlag er ihn sogar mit seinen lüsternen Blicken.

Sein strenger, stolzer, ja fast hochmütiger Gesichtsausdruck hellte sich zusehends auf und er verlangte mehr von unserem ungewöhnlichen Freund zu erfahren.

Nun, was sollte man schon groß über Mirlien erzählen? Ihn musste man eben erleben!

Interessiert stolzierte Vilthons Bruder um seinen Gast herum, legte ihm dann vertraulich seine Hand auf den Arm und nahm sie auch nicht mehr von ihm herunter.

Elmeth schien äußerst angetan von unserem Freund, was ich zunächst belustigt registrierte, aber als der Alwe irgendwann fast schon auf Mirliens Schoß saß, fiel dem schamesroten Vilthon leider wieder ein, wie eilig wir es doch hatten, zu Greyan zu kommen.

„Ein seltsamer Kauz ist das, dieser Greyan!“ warnte uns Elmeth noch, bevor er sich von uns verabschiedete. Während er seinen eigenen Zwilling mit einem raschen Schulterklopfen abfertigte, nahm er Mirlien recht innig in den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Mirlien schaute darauf etwas ängstlich drein und nickte verunsichert.
 

Als ich Elmeth die Hand zum Abschied reichen wollte, schaute er pikiert auf mich herunter, wobei sein angewiderter Blick meinem Oberarm galt, auf der sich nicht zu übersehen meine Echsenhaut abzeichnete.

„Das ist nicht ansteckend!“ erklärte ich dem Schönling zur Entwarnung.

Du meine Güte, kein Wunder, dass es Vilthon peinlich gewesen war, ihn mit uns bekannt zu machen!

Elmeth gab ein ergebenes Winseln von sich und schüttelte mir gezwungenermaßen die Hand.

Nun gut, er bemühte sich jetzt wenigstens, sympathisch zu erscheinen, dachte ich mir.

Was sollte es, er war nun einmal der Zwillingsbruder meines besten Freundes, den ich liebte, als wäre er ein Teil von mir.

„Wenn ihr nur diesen schnuckeligen Mirlien mitbringt, seid ihr gerngesehene Gäste in meiner Hütte, hörst du, Drachenmädchen?“ zeigte sich Elmeth sogar letztendlich versöhnlich.

„Wird sich sicher einrichten lassen!“ erwiderte ich vergnügt. „Aber lasse dir bis dahin bitte ein besseres Rezept für diese Kekse geben!“

Elmeth presste leicht beleidigt die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und zog die Braue hoch, wie Vilthon es so oft tat.

„Wie hast du es nur so lange mit so einer verwöhnten, undankbaren Göre ausgehalten?“ wollte er von seinem Bruder wissen.

Dabei grinste er ziemlich seltsam, so dass ich nicht deuten konnte, ob er das jetzt scherzhaft oder ernst gemeint hatte.

Vilthon lächelte von einem Spitzohr zum anderen und schlang seinen linken Arm um meine Schultern, seinen rechten um Mirliens Hüfte. „Mein Geheimnis, Bruderherz!“
 

Der Weg zu Greyan hielt für uns noch die eine oder andere Gefahr bereit.

Wir verließen das Bergdorf und folgten dem steinigen Pfad, der uns im Zickzack zwischen den Gipfeln entlang führte.

Ein leichtes Beben löste einen kleinen Steinschlag aus, der nicht weiter dramatisch gewesen wäre, hätte er nicht eine Horde Riesenwollspinnen aufgescheucht, die uns in ihrer Panik fast zu Tode getrampelt hätten.

Wir wandelten an schwindelerregenden Schluchten und Hängen vorbei, bis wir in solche Höhen vordrangen, dass ich bald schon das erste bisschen Schnee von den Felsen klauben konnte, um Vilthon damit zu bewerfen.

Obwohl es langsam recht kühl hier oben wurde, war die Gefahr, sich einen Sonnenbrand zu holen, nicht von der Hand zu weisen, und so zogen wir uns lieber langärmlige Pullover über die Hemden.
 

„Wir sind gleich da!“ keuchte Vilthon, und deutete auf eine hohe Felswand, die einen großen Spalt in ihrer Mitte aufwies.

„Was? Hier wohnt Greyan?“ fragte ich perplex.

Ich wusste zwar, dass er wie ein Einsiedler lebte, aber hier, in einem riesigen, kargen Steinhaufen konnte man doch wohl nicht wohnen?

„Nein, natürlich nicht hier, du naiver Frostfrosch!“ schalt mich Vilthon ungeduldig. „Wir werden jetzt die Abkürzung durch die Höhlen nehmen. Oder willst du lieber durch die dünne, eisige Luft dieses Gipfels kraxeln?“

„Und was ist mit den Riesenschlangen? Brüten die hier nicht?“ fragte ich ängstlich.

„Nicht hier oben, Kleines!“ beruhigte mich Vilthon. „Hier ist es auch den Schlangen zu kalt. Aber vielleicht begegnen wir einem Kronennebeldrachen!“

Kronennebeldrachen?

Mein Herz machte einen aufgeregten Satz nach vorn.

Du meine Güte, natürlich!

Hier im Gebirge könnte ich tatsächlich endlich welche zu Gesicht bekommen!

Jauchzend folgte ich Vilthon und Mirlien durch den Felsspalt hindurch in das weit verzweigte Höhlenlabyrinth.

Zum Glück hatte Vilthon Karte und Kompass parat und Mirlien entzündete mit unseren Funkensteinen die neue Öllampe um seinem Freund zu leuchten.

„Lauf nicht ohne uns in der Gegend herum Tilya!“ mahnte mich Vilthon, als ich mich etwas von meinen Freunden entfernte. „Verliekenaugen hin oder her, hier ist es einfach zu gefährlich, um alleine auf Entdeckungstour zu gehen!“

Enttäuscht schnaufend kehrte ich um und folgte meinen beiden Gefährten artig durch die Dunkelheit.

Im flackernden Schein der Öllampe sah ich auf unserem Weg gigantische Kristalle in der Schwärze des Berginneren funkeln.

Aber einen Kronennebeldrachen sah ich hier leider nicht.
 

Es war lausig kalt hier drin, und deshalb war ich froh, als sich irgendwann die Finsternis teilte und uns der Höhlenausgang mit Tageslicht und duftender, warmer Luft erwartete.

Auf dieser Seite des Berges zeigte sich das Klima wieder milder.

Grün bewachsene Pflanzen säumten den schmalen Pfad hangabwärts, dem wir jetzt folgten.

Über eine lange Hängebrücke mussten wir noch einen dicht bewaldeten Abgrund überwinden.

Durch das Rauschen des Windes hörte ich den breiten Bach tief unter uns dahin plätschern, als wir sie überquerten. „Wie weit ist es noch?“ schrie ich Vilthon vor mir zu.

„Wir sind gleich da, direkt hinter der Anhöhe müssten wir die Alm sehen können! Zum Dorf im kleinen Tal müssen wir ja nicht gar mehr runter steigen, Tilya!“ brüllte Vilthon zurück.

„Dann ist ja gut!“

Und tatsächlich, hinter der Steigung erstreckte sich die herrlich grüne Alm vor unseren Augen!

Zahme Bergbeutler begrüßten uns, als wir schnellen Schrittes zwischen den Windwerken hindurch auf eine einsame Hütte zwischen mir fremdartig erscheinenden Nadelbäumen zusteuerten.

Unglaublich!

Wir hatten es geschafft!

Strahlend blickte ich mich zu meinen Freunden um.

Auf Mirliens Gesicht las ich eine tiefe Zufriedenheit.

Vilthon hingegen sah einfach nur abgekämpft aus.
 

Inzwischen fing es an zu dämmern.

Einige Sekunden standen wir unschlüssig vor dem dunklen Holzhaus, dann fasste sich Vilthon ein Herz und klopfte kräftig gegen die schwere Tür.

Ich spitzte die Ohren und vernahm einige Augenblicke später leichtfüßige Schritte, die sich uns vom Inneren des Hauses näherten.

Dann wurde uns die Tür geöffnet.

Ich hielt den Atem an.

Das war also Greyan.

Mein Herz klopfte schneller, als mich der schwarzhäutige Alverliek einige endlose Sekunden wortlos anstarrte.

Sein Haar war weiß wie Schnee, die scharfen Augen blitzen über der Adlernase gleich mandelförmigen Aquamarinen.

Irgendwie kam er mir vertraut vor, als er mich etwas geringschätzig betrachtete und den Mund zu etwas verzog, was entfernt einem Lächeln ähnelte.

„Guten Abend, Drachenmädchen.“ raunte er mir dann zu, mit einer Stimme, so dunkel und seidig, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte.

Ein wohliger Schauer überlief meinen Nacken.

Ich machte den Mund auf, um den Gruß zu erwidern, aber es kam nur ein erbärmliches, unartikuliertes Krächzen heraus.

„Ihr habt euch ja ganz schön Zeit gelassen, hierher zu finden.“ bemerkte Greyan spöttisch, trat dann auf Mirlien zu und begrüßte ihn mit einem kräftigen Händedruck. Dabei betrachtete er unseren Freund mit unverhohlener Neugier.

Zum Glück nicht mit derselben Intensität, wie es Elmeth vor einigen Stunden getan hatte.
 

Dann baute sich Greyan vor dem jüngeren Vilthon auf.

Der Alwe war einen halben Kopf größer als der dunkelhäutige Alverliek.

Einige Sekunden lang starrten sich die beiden Männer nur grimmig in die Augen. Dann sah ich, wie ganz langsam ein Lächeln Greyans Lippen umspielte und seine strahlend weißen Zähne entblößte.

Nicht nur sein Mund lachte, sondern auch seine Augen taten es.

Dieses Lächeln sollte ich nur sehr selten zu Gesicht bekommen, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Jedenfalls begann nun auch Vilthon zu schmunzeln, und das Eis war gebrochen.

Zu meiner Überraschung holte der Alverliek plötzlich aus, und klopfte meinem besten Freund so herzlich, aber dabei auch so grob auf den Rücken, dass der Alwe einen Schritt nach vorne stolperte und seinem ehemaligen Mitlehrling mehr oder weniger freiwillig in die Arme fiel.

Von irgendwoher kam mir diese Szene bekannt vor. Aber wie auch immer…

So eine schöne Begrüßung hätte ich mir auch gut bei Vilthon und Elmeth vorstellen können.

Irgendwie beneidete ich Vilthon um diesen seltsamen Moment.

Aber schon nach einigen Sekunden war dieser Augenblick vorüber und Greyan wirkte wieder wie das Abbild eines alverliekischen Eisklotzes auf mich, als der er sich noch entpuppen sollte.

Reserviert, aber höflich gewährte er uns Einlass in sein großes, dunkles, rustikales Holzhaus mit den schweren, alten Möbeln und der kargen Beleuchtung.

Greyan zeigte sich recht unpersönlich, dabei jedoch im Laufe des Abends gesprächiger, als man vermuten konnte.

Es lag auf der Hand, dass dieser Mann selten Besuch empfing und auch ansonsten kein sonderlich großes Bedürfnis verspürte, sich mitzuteilen.

Doch schließlich eröffnete Vilthon ihm nun den eigentlichen Grund unseres Besuches.

Meinen Malaren. Und seine Flucht.
 

Greyans Interesse wurde sichtbar geweckt, seine Augen funkelten aufmerksam wie die eines Raubvogels.

Während er uns eine deftige Suppe auftischte, forderte er genaueste Informationen über mich, meine Träume, den Verlust meines Totems, das Verhalten meines Malars, die Nacht seines Entkommens, und über das, was wir danach beobachten konnten.

Vilthon und ich mussten akribisch genau alle Details schildern.

Mir war das sehr unangenehm.

Unvorstellbar unangenehm.

Doch der unnachgiebige Greyan ließ nicht locker.

Er entlockte mir so manches, was selbst Vilthon an diesem Abend zum ersten Mal von mir hörte.

Besonders schien ihn das Geheimnis um Mirlien zu fesseln, auch, wenn er es nicht mit meinem Malar in einen Zusammenhang zu bringen wusste.

Auch die neuen Erkenntnisse über die Fuchsfrau und den Malarensohn Thyllos faszinierten ihn.
 

Bis in die Nacht hinein schilderten wir ihm alles, was wir bis jetzt in Erfahrung gebracht hatten.

Dann entließ uns Greyan gnädig in den Schlafraum, den er im Obergeschoß für uns hergerichtet hatte. Morgen würden wir weiter über die Angelegenheit diskutieren.

Völlig übermüdet torkelte ich an diesem unerbittlichen Alverlieken vorbei.

Dabei streifte ich unabsichtlich seinen Arm mit meinem.

Die Berührung ging mir durch Mark und Bein.

Sie brannte unterschwellig, wie unzählige, winzige, eisige Nadelstiche.

Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich fühlte dabei ein seltsames Knistern zwischen uns.

Greyan musste es auch gespürt haben, denn er wandte sich mit einer ruckartigen Bewegung zu mir um und sah mir direkt in die Augen.

Vilthon, Hilfe!

„Also tatsächlich…“ murmelte er dann und ließ seinen linken Mundwinkel belustigt zucken. „Herzlichen Glückwunsch zu deinem Talent, Drachenmädchen. Angenehme Nachtruhe!“

Kronennebeldrachen - Tag 14

Ich wachte bestens erholt zwischen Mirlien und Vilthon auf.

In dem dunklen, aber urgemütlichen Schlafraum war so viel mehr Platz, um sich ausgiebig auszustrecken, als in dem engen Zelt, dass ich mir die letzten Tage mit meinen beiden Freunden hatte teilen müssen.

Greyan hatte uns ein bequemes Lager aus goldenen, mit Spinnenwolle bespannten Heuballen errichtet.

Der Duft des Strohs und die frische Bergluft ließen uns selig schlummern.

Im Badezimmer hatte unser Gastgeber uns zuvorkommend frische Handtücher bereitgestellt.

Unten in der Küche erwartete er uns mit einem Frühstück und finsterem Blick.

Ich schaute verunsichert zu Vilthon hinauf, der hinter mir die knarrenden Holztreppen hinunterstieg.

„Geh weiter, Schätzchen, der guckt immer so mürrisch drein. Keine Angst, er beißt nicht.“ wisperte mir der Alwe verstohlen grinsend zu.

Ich vertraute auf sein Wort und ließ mich brav auf einen der lieblos gezimmerten, klobigen Holzschemel am Tisch sinken.

Es duftete nach gerösteten Caybabohnen, frischen Kräutern und würzigem Bergbeutlerkäse.

Doch so dicht neben dem düster dreinblickenden Greyan kauernd, verging mir mein Appetit und ich nippte scheu an dem viel zu starken Caybaaufguss herum.

Der Alverliek schien ein Morgenmuffel zu sein, dachte ich bei mir.

Ich sollte noch früh genug herausfinden, dass es sich aber um Greyans übliche Verfassung handelte, die er für gewöhnlich den ganzen Tag über auszuleben pflegte
 

Seine Gegenwart machte mich nervös, und ich vermied es um jeden Preis, ihn zu berühren, als ich über den Tisch langte, um von Vilthon die Kanne mit Bergbeutlermilch entgegenzunehmen, mit der ich Greyans starken Tee verdünnen wollte.

Natürlich kleckerte ich damit eine weiße Linie quer über den schwarzen Holztisch.

Greyans Blick, der von einer Mischung aus Mitleid und tiefster Verachtung zeugte, galt erst mir, dann Vilthon und sprach Bände.

„Tilya!“ rügte mich Vilthon in vorwurfsvollem Ton.

Er schüttelte betrübt sein Haupt. Sicher blamierte ich ihn vor Greyan bis auf die Knochen, war der Alwe doch jahrelang mein verantwortlicher Mentor gewesen.

Ich war aber auch nicht gerade stolz auf meine Ungeschicktheit.

Greyan drückte mir ohne ein weiteres Wort zu verschwenden einen Lappen in die Hand.

Es sollte jedoch noch schlimmer kommen.

Kurze Zeit später fiel mir die Tasse mit dem verdünnten, aber immer noch heißen Gebräu in den Schoß.

Ich sprang auf, wie vom Querkenkneifer gebissen, unterdrückte aber tapfer den lauten Schrei, der meiner Kehle entweichen wollte.

Mein Oberschenkel brannte wie Feuer.

Bevor Mirlien reagieren konnte, oder der entsetzt glotzende Vilthon mich fragen konnte, was denn heute nur wieder mit mir los sei, hatte Greyan mit leicht entnervtem Blick seine Hand in meine Richtung ausgestreckt.

Erst nahm ich an, er hätte mich mit dieser Geste aufgefordert, ihm augenblicklich aus den Augen zu gehen, da er dieses Elend nicht mehr länger ertragen konnte, dann aber spürte ich diesen eisigen Hauch, der sich um meine Beine legte. Überrascht registrierte ich, dass sich die Stelle, an der ich mir den Oberschenkel mit dem brühend heißen Getränk verbrannt hatte, angenehm gekühlt wurde.

Kalt und klamm klebte mir meine weiße Spinnwollhose nun am Bein.

„Also Tilya, was machst du für Sachen?“ hörte ich Vilthon etwas näselnd fragen. „Alles in Ordnung? Tut es weh?“

„Nein.“ stammelte ich. „Nicht mehr. Entschuldigung.“

Ich schielte auf Greyans dunkle Hand. „

Danke.“ murmelte ich.

„Keine Ursache, Drachenmädchen.“ schnarrte der Alverliek gedehnt. „Du kannst nichts dafür. Schließlich warst du jahrelang Vilthons Schülerin.“

Sein kristallklarer Blick wanderte wie zufällig zu dem überrumpelten Vilthon und diesmal konnte man nur an Greyans Augen erkennen, dass er seinen alten Kollegen etwas auf die Schippe nehmen wollte.

Vilthon zog seine Braue fragend in die Höhe.

Mirlien verblüffte mich, als er über die typische Reaktion unseres Freundes wie ein frecher Lausbube grinsen konnte.
 

Gedankenverloren wandelte ich die Stufen zu unserem Schlafraum empor und zog mir saubere, trockene Kleidung an.

Den Caybafleck in meiner weißen Hose würde ich Vilthon anvertrauen. Wenn er den nicht aus dem besudelten Beinkleid zu entfernen wusste, dann wohl niemand.

Nach dem Frühstück bot ich Greyan an, den Abwasch zu übernehmen.

„Du wäscht freiwillig ab? Was ist bloß in dich gefahren, Kleines?“ fragte mich Vilthon mit leicht entgleisten Gesichtszügen.

Ich errötete und flüchtete mich in Greyans kleine, karg eingerichtete Küche.

Als ich etwas später das Geschirr so vorsichtig und gewissenhaft spülte, wie es nur möglich war, damit ja nicht noch etwas zu Bruch ginge, registrierte ich plötzlich Mirliens Anwesenheit direkt hinter mir.

Lautlos wie immer war er an mich herangetreten, doch die innerliche Ruhe und Gelöstheit, die ich von einem auf den anderen Moment verspürte, wenn er mir nahe kam, hatte ihn verraten.

„Na, Mirlien? Willst du mir Gesellschaft leisten?“

„Möchtest du, dass ich dir beim Abtrocknen helfe?“

Mirlien hatte mir wieder einmal meinen Wunsch von den Augen abgelesen.

„Ach, Mirlien! Du bist ein Schatz!“

Beinahe neckisch blinzelte er mich an.

„Eigentlich wollte ich mich nach deinem Bein erkundigen.“

„Du Armer! Und ich spann dich einfach für mich ein!“

Mirlien lächelte, immer noch auf seine eigenartige, bezaubernde, geheimnisvolle Weise, aber irgendwie kam sein Lächeln mir lebendiger vor als sonst.

Viel näher, viel realer.
 

Mirlien konnte die Welt zum Positiven verändern, das wusste ich.

Aber seit einiger Zeit durften wir, seine Freunde, mit Freude feststellen, wie die Welt um ihn herum auch ihn veränderte, da er sie durch die Beziehung zu uns, durch die Fehler, die wir in seiner Gegenwart machten, immer besser zu verstehen begann.

Er schien so selbstverständliche Wesentlichkeiten, wie Humor, Enttäuschung, Ironie erst durch uns neu zu erfahren.

Oder vielleicht überhaupt erst zu lernen.

Doch nach wie vor blieb er für mich noch immer das wundersame, fremde, unantastbare Wesen.

„Mach ich doch gerne.“ raunte er mir verständnisvoll zu und schnappte sich ein trockenes Leinentuch.

„Meinem Bein geht es übrigens bestens. Danke der Nachfrage.“

„Das ist schön.“ murmelte Mirlien verträumt. In seiner sanften, rauhen Stimme schwang eine tiefe Zufriedenheit mit, Glückseligkeit und ein leiser Stolz. „Ich freue mich, Tilya. Sehr sogar.“
 

Greyan hatte sich an diesem Tag viel Zeit für uns genommen.

Er hoffte, uns mit seinem jahrelang erworbenen Wissen und seiner Erfahrung helfen zu können.

So machten wir es uns zu viert auf unserem behelfsmäßigen Lager aus Stroh bequem, denn die karge Einrichtung des Hauses beinhaltete keine sonderlich gemütlichen Sitzgelegenheiten wie beispielsweise Sessel oder andere weiche Garnituren, auf denen man sich für einen längeren Zeitraum niederlassen wollen würde.

Dankbar lauschte ich seinen Worten, immer darauf bedacht, mich nicht zu sehr vom faszinierenden Klang seiner samtigen Stimme ablenken zu lassen.

Greyan verkörperte den typischen Alverlieken.

Er hatte einen eigenwilligen Charakter, in seiner Jugend heftige Probleme mit seinem Malar und ein Talent, das er nicht immer exakt nach seinem Willen lenken konnte.

Tatsächlich war er niemand geringeres als der vielzitierte Alverliek aus dem Gebirge, dem das Talent des Eises gegeben worden war.

Doch Greyan zeichnete noch etwas völlig anderes aus, etwas, das es ihm erst möglich gemacht hatte, so viel über das Wesen und die Eigenheiten der Malare und das Verhältnis zu ihren Wirten in Erfahrung zu bringen.

Es war seine eigene Beziehung zu seinem Malar, die mehr freundschaftlicher Natur war, als dass sie sich in einem erbitterten Machtkampf zwischen beiden Seiten geäußert hätte.

Nüchtern bekannte sich Greyan dazu, dass er seinem Malar vertraue, wie niemand anderem sonst, und dass er ihm dankbar wäre für die Einsichten, die sich ihm durch dieses Wesen erschlossen hatten.

Ich beneidete Greyan.

Sein Malar schien das komplette Gegenteil des Extrems zu verkörpern, das mein Malar auslebte.

Zu gern wäre ich in seine Träume geklettert und hätte diesen Malar all das gefragt, was mir schon so lange auf der Seele brannte.

Aber nun wollte uns Greyan in die Geheimnisse einweihen, die ihm dieses Wesen preisgegeben hatte.
 

„Ihr vermutet also, dass Tilyas Malar im Begriff ist, den Kontinent heimzusuchen.“ stellte der dunkelhäutige Alverliek fest.

Vilthon nickte.

Mir lief ein abermals wohliger Schauer über den Rücken. Er hatte meinen Namen ausgesprochen!

„Nach allem, was ihr mir erzählt habt, kann der befreite Malar also in die Träume anderer Insulaner einbrechen, nicht aber zurück in die Untiefen zu Talent- und totemlosen Kindern hervordringen.

Das macht natürlich Sinn.

Doch wie verhält es sich bei den Menschen?“

Ich zuckte ratlos mit den Schultern.

Greyan antwortete sich selbst auf die rhetorische Frage.

„Eigentlich dürfte der Malar nicht in die Träume eines Menschen gelangen.

Alwen, Verlieken und ihre Abkömmlinge besitzen ein erweitertes Bewusstsein; das, was uns unter anderem von den Menschen unterscheidet. Sie besitzen nicht den metaphysischen Zugang, der sie mit Untiefen, Malaren und Totemtieren in Kontakt bringen könnte. Für die Menschen ist der Malar bisher allenfalls ein Hirngespinst zweier aussterbender Völker gewesen, die sie erfolgreich aus ihrem Territorium verdrängen konnten.

Ein vergessener, fremder Mythos.

Dein Malar, Drachenmädchen, existiert aber nun hier, körperlich, in dieser Welt, auf dieser Ebene. Steh auf und komm her!“

Zögerlich und mit klopfendem Herzen leistete ich Greyans Aufforderung Folge.

Greyan zog mich an meinem Ärmel näher zu sich heran, dann nestelte er mit seinen Händen, die noch viel kälter waren als die von Mirlien, an dem ausgeleierten Kragen meines Strickpullovers herum, bis er die vernarbte Wunde an meinem Hals fand, die die Zähne meines Malars geschlagen hatten.

Inzwischen brannten seine eisigen Fingerspitzen geradezu auf meiner Haut.

Der Puls pochte mir geradezu aufdringlich in den Schläfen.

„Und hier haben wir dafür sogar den Beweis.“ Der charismatische Alverliek tippte mir energisch auf den Narben herum. „Setz dich wieder!“ befahl er mir dann.

Ich gehorchte.
 

Mirlien grinste und zwinkerte mir aufmunternd zu, als ich mit schlotternden Knien wieder meinen Platz neben ihm einnahm. „Was ist?“ fragte ich ihn, vielleicht mit etwas zu viel von der verräterischen Nervosität in meiner Stimme.

Aber Mirlien lächelte mich nur liebevoll an.

Wissend.

Greyan fuhr fort. „Wenn wir vorhaben, den Malaren davon abzuhalten, Schaden anzurichten, sei es hier, oder auf dem Kontinent dann kann es nicht schaden, so viel wie möglich über ihn zu wissen. Auch Mirlien sollte so gut wie ein gebürtiger Insulaner über die Zusammenhänge informiert sein. Fangen wir also noch einmal von vorne an…“

„-Wenn wir vorhaben, den Malar aufzuhalten? Sie werden uns also tatsächlich begleiten?“ rief ich aufgeregt dazwischen.

„Selbstverständlich, vorlautes Drachenmädchen. Willst du etwas dazulernen? Dann hör jetzt gefälligst zu und unterbrich mich nicht weiter!“

Ich nickte kleinlaut und schwieg. Mein Herz aber vollführte übermütige Sprünge in meiner Brust.

Aber… Warum eigentlich?

Greyan wandte sich nun Mirlien zu, der sich wissensdurstig auf seinem Lager neben mir vorgelehnt hatte, und dem Alverlieken gespannt lauschte.

„Es ist nicht bekannt, ob das Volk der Menschen jemals Zugang zu jenem Teil des Bewusstseins hatte, in welchem Alwen und Verlieken mit ihrem vorherbestimmten Totem in Kontakt kommen.

In diesen sogenannten Untiefen erhält aber auch der Parasit Malar die Chance, uns, seinen Wirt, zu befallen.

Ein unausgesprochener Pakt wird zwischen dem Schmarotzer und dem betroffenen Kind geschlossen. Wir nennen diesen Pakt das Bündnis.“

Mirlien nickte verständig.

Vilthon und ich hatten ihm schon Einiges über dieses Phänomen berichten können. Aber Greyan sollte uns noch ganz andere Perspektiven eröffnen.

„Das Wechselspiel der Machtverhältnisse innerhalb eines solchen Bündnisses wird bestimmt durch einen Faktor, der meiner Meinung nach seit jeher viel zu sehr missachtet wird. Ich rede von der Materie des Schattenstaubes.“

„Schattenstaub?“ dachte ich laut.

Redete Greyan von diesem seltsamen purpurfarbenen Puder, der im Fell des Malar haftete?

„Schattenstaub, Drachenmädchen. Mit dem Erhalt des ersten Schattenstaubes seines Opfers wird das Bündnis zwischen dem Malar und seinem kindlichen Wirt geschlossen.“

„Du meinst, der Schattenstaub ist ursprünglich unser Eigentum gewesen?“ fragte Vilthon überrascht.

Greyan nickte. „Das erzählte mir zumindest mein Malar.“

„Was genau hat es mit dem Schattenstaub auf sich?“ wollte ich wissen.

Offenbar war Vilthon besser mit dem Thema vertraut als ich.

„Dazu kommen wir noch, ungeduldiges Drachenmädchen. Wird der kindliche Wirt in den Untiefen von seinem Totem gefunden, bilden sie in dieser Dimension eine Einheit, die von den Malaren als potentielles Opfer erkannt werden kann.

Die Malare werden nicht lange auf sich warten lassen und Wirt und Totem schnell aufgespürt haben. Nach dem Abschluss des Bündnisses entführt der Malar sein Opfer aus den Untiefen in eine gemeinsame Dimension. Man träumt.“
 

Greyan konnte sein Wissen gut an den Mann bringen, fand ich.

Wie viel lieber hätte ich ihn zum Lehrmeister gehabt als den exzentrischen, verrückten Myroon…

„Schlafende Totems und die hungrigen, auf Beute lauernden Malare existieren in den Untiefen friedlich nebeneinander her.

Auch in der kurzen Phase, in der sich das erwachte, bereits an das zugehörige Kind gebundene Totem in den Untiefen aufhält, welches von den Malaren als Wirt erachtet wird, werden sich beide Parteien nicht attackieren. Kein Totemtier greift einen unbedeckten, wehrlosen Malar an, bevor er mit dem Abschluss des Bündnisses die Möglichkeit bekommt, sich dem schützenden Schattenstaub zu bemächtigen, sowie kein gesunder Malar jemals versuchen würde, sich ins eigene Fleisch zu schneiden, indem er das Totem seines Wirtes vernichtete.

Das Totem und sein Kind verschmelzen miteinander zu dem, was wir in dieser Welt als einen talentierten, mehr oder minder in seiner Persönlichkeit gereiften Insulaner erleben können.

Doch im Schlaf spaltet sich dieses gemeinsame Bewusstsein jede Nacht, und das Totem und sein Besitzer agieren voneinander unabhängig.

Dabei wissen wir, dass während der Traumsequenz unser jeweiliges Talent nur von unserem Totem beherrscht wird, also dem Teil, der sich beim Eintritt in diese Dimension von uns löst. Das bedeutet, wir verdanken dem Totem unsere Fähigkeit.

Dies wiederum erklärt, warum unser Talent versagt, wenn unser Totem durch den Schattenstaub, mit dem der Malar es angreifen kann, geschwächt wird.“
 

Diese Stimme…

Er konnte erzählen, was er wollte, es hörte sich einfach alles so… gut an…

Tilya, altes Mädchen, was ist denn los mit dir?

Reiß dich zusammen!

Ich schlug mir mit der flachen Hand vor die Stirn. Vilthon und Greyan wandten nahezu synchron ihre Gesichter zu mir, zogen jeweils missbilligend einen Mundwinkel nach unten und eine Braue in die Höhe.

Ah! Ich glaubte, zu wissen, woher mir Greyan so bekannt vorkam!

„Ein Bündnis entsteht traditionell und im Idealfall aus der Abfolge von dem ersten Blickkontakt zwischen Malar und Wirt, der Wahrnehmung der unbedeckten, unveränderten, wahren Gestalt des Malars, der Flucht, dem Kontakt, des daraus resultierendes Schocks und dem Erwachen, welches in diesem Falle nichts anderes als den endgültigen Ausschied aus den Untiefen bedeutet.

Eigentlich sollte dies die angeborene Urangst unserer Völker vor der Spezies Malar gewährleisten, die durch anerzogene Furcht gefördert werden muss.

Nur wenn der Malar durch seine reine, unveränderte Erscheinung bei der ersten Begegnung mit seinem Wirt Angst erzeugt, kann sich dieser letzte Traum in den Untiefen mit Einhergehen eines gesunden Bündnisses abschließen.

Angst ist in ausgeglichenem Verhältnis kein Feind, sondern ein überlebenswichtiger Faktor, sie trainiert uns, prüft unsere Fähigkeiten, sie ist Indikator für potentielle Gefahrenquellen, ist ein heilendes Gift für den Geist, welches nur in Überdosen schadhaft ist.“

Vilthon grinste. „Da spricht doch ganz der erfahrene Heiler, alter Kollege. Nicht wahr, Tilya?“

Ich hing gebannt an Greyans Lippen und nickte nur gedankenverloren, ohne den Blick von ihm zu wenden.
 

„Das Bündnis wird mit dem Erwachen des Wirtes unter den gegebenen Bedingungen endgültig besiegelt.

Der Wirt gelangt ab diesem Zeitpunkt nicht nur in das gemeinsame Bewusstsein mit seinem Totem in der Wachwelt, sondern auch in eine gemeinsame erlebbare Dimension mit dem Malaren während der Traumsequenzen im Schlaf.

Mit der traumatischen Verbannung aus den Untiefen in die vom Malar mit beeinflusste Dimension schlägt sich auf den kindlichen Wirt ein Gift, ein Ballast nieder, den wir als Schattenstaub der Seele kennen.

Diese Materie überträgt sich in dieser Form auf den Malaren, doch eben nur, wenn sein Wirt ihn als Antagonisten zur erweiterten Wahrnehmung durch die Sinne des Totems akzeptiert, ja als mögliche Bedrohung für die Entfaltung einer gesunden Persönlichkeit, und vor allem als ernst zunehmende, verändernde Kraft im Unterbewusstsein. Totem und Malar gleichen im günstigsten Fall einander aus.

Die Verarbeitung aller erlebten Eindrücke hängt ab jetzt nicht mehr allein vom Kind ab, sondern kann durch den Malar negativ, oder durch das Totem positiv verstärkt werden.

So werden unsere Persönlichkeiten geprägt.

Natürlich wird der Malar stetig darauf hin arbeiten, seinen Einfluss auf seinen Wirt zu erhöhen. Für ihn bedeutet Machtgewinn, ernährt zu werden.

Er wird immer präsent sein, er wird versuchen die Erfahrung und die Wahrnehmung seines Wirtes in beängstigenden Weisen zu manipulieren, um ihn mental zu schwächen, Zweifel und Ängste hervorzurufen und seine Schattenkonstrukte entsprechend effektiv ausrichten zu können.

Da der Wirt mit dem Bündnis an den Malar geschmiedet wurde, ist sein Totem seine einzige Chance, ihn in Schach zu halten. Doch auch der Malar ist auf seine Weise gefesselt an seinen Wirt und die gemeinsame Traumwelt, die durch beide Parteien gleichermaßen beeinflusst werden sollte, wenn die Machtverhältnisse sich im gesunden Gleichgewicht befinden.

Durch den Übertrag des Schattenstaubes haben sich Malar und Wirt gleichermaßen miteinander infiziert.“
 

Endlich schien Greyan sich mit der Natur des Schattenstaubes auseinandersetzen zu wollen.

Ich hatte meinen Kopf an Mirliens knochige Schulter gelehnt.

Vilthon schien etwas gelangweilt von Greyans führ ihn sicher sehr langatmigen Ausführungen.

Ich fand es sehr interessant, die ganze Angelegenheit gewissermaßen aus Greyans Blickwinkel betrachten zu können.

Und somit auch irgendwie aus dem seines unvergleichlichen Malars.

„Drachenmädchen, träum nicht.“ schnarrte Greyan mit schneidender Stimme und strafte mich mit seinem stechenden Raubvogelblick.

Du meine Güte!

Seine Augen! So kalt und stechend wie Eiszapfen.

Wie sollte man sich da überhaupt noch irgendwie konzentrieren können?

Mir wurde es flau im Magen. Und dieser Mann wollte nun mit uns reisen?

Da war es ja noch einfacher, einen Widerling wie Thyllos an seiner Seite zu ertragen!
 

„Der ursprünglich vom Wirt stammende Schattenstaub wird nun zur Lebensgrundlage des Malars. Mit dieser Materie erschafft er in der gemeinsamen Traumebene seine sogenannten Konstrukte.

Die Konstrukte wachsen, sobald sie bei uns Angst auslösen.

Sie nehmen an Dichte zu und damit wächst die Macht des Malars, davon also ernährt er sich.

Die Angst, aber, die der Wirt vor dem Malaren an sich hat, lässt den Schattenstaub nicht wachsen. Der Malar scheut die Berührung mit dem Wirt, seine Blicke und seine Nähe, denn dies schwächt ihn in derselben Weise, wie es die Macht des Totems vermag. Deswegen zerfallen seine erschaffenen Konstrukte.

Den Konstrukten selbst aber schadet die Nähe zum Wirt nicht.

Nun kommt unser Totem ins Spiel.“
 

Ich fragte mich, was für ein Totem Greyan besaß.

Es musste ein relativ unbekanntes Totemtier sein, denn das Talent des Eises war ebenfalls äußerst rar.

Und es war sicherlich kein existentes Tier, den Greyan war ein Alverliek.

Ob seine Mutter eine Dunkelalwin war? Oder war sein Vater…

„Drachenmädchen, wo bist du wieder mit deinen Gedanken?“

Erwischt!

Greyans strenge, wachsame Augen hatten anscheinend registriert, wie gedankenverloren ich auf seinen Mund starrte, hinter dem die weißen, verliekischen Fangzähne einen schönen Kontrast zu der dunklen Haut bildeten.

„Fühl dich von mir mit dem Ellenbogen malträtiert, unaufmerksame Schülerin!“ frotzelte Vilthon aus seiner Ecke.

„Sobald geträumt wird, und sich die Ebene von dem Malar mit der seines Wirtes überschneidet und parallel dazu die Spaltung des Bewusstseins von Wirt und Totem erfolgt, macht sich das Totem auf die Suche nach dem Malar, der von ihm als einen Fremdkörper wahrgenommen wird, oder besser gesagt, als Störfaktor.

Wenn der Malar aufgespürt wurde, wird das Totem sein Talent gegen seinen Körper einsetzen, um ihn zu schwächen.

Der Malar büßt die Kraft ein, die nötig ist, um seine Konstrukte zu erhalten und sie zerfallen, um sich als die ursprünglichen restlichen Staubfragmente, die sie einst waren, wieder im Fell des Malaren niederzuschlagen.

Die gewonnene Dichte, die das Konstrukt vielleicht in der Sequenz durch Auslösen von Angstgefühlen erlangt hatte, schrumpft wieder bis auf die für das Erschaffen des Konstruktes aufgewandte Dichte zurück und geht somit dem Malar verloren.

Gegen die Konstrukte selbst aber kann das Totem genau wie der Wirt direkt nichts ausrichten. Die Quelle muss angegriffen werden.“

„Ich bitte um Verzeihung, Greyan, aber welche Bedeutung hat es speziell für den Träumenden, wenn die Schattenstaubkonstrukte des Malars zerfallen?“ meldete sich Mirlien leise zu Wort.

„Nun, da die Furcht auslösenden Faktoren verschwinden, wird der Traum eine positive Wendung für den Wirt nehmen.

Der Malar büßt Macht ein, das Totem bleibt unbeeinträchtigt und der Wirt gewinnt an Selbstvertrauen und Kompetenz in der Ausübung seines Talentes.

Wenn man aber bedenkt, dass der Malar nicht nur den Verlust seiner mühsam eroberten Schattenstaubdichte zu beklagen hat, sondern auch den seiner wertvollen Energie, die er nun ganz vergeblich für die Erschaffung seiner Konstrukte eingesetzt hat, kann man sich sicher leicht vorstellen, wie sehnlich der hungrige Verlierer auf seine nächste Chance lauert, und wie ehrgeizig und verbissen er trotz seiner Erschöpfung in der folgenden Nacht um weiteren Schattenstaub kämpfen wird.

Was ihm dabei übrigens zugute kommt, ist die Tatsache, dass er den gewachsenen Schattenstaub für sich verbuchen darf, wenn der Wirt erwacht, noch bevor sein Totem die Staubkonstrukte des Malars zerfallen lassen konnte.

So hat der Malar auch bei einem starken Wirt die Chance, gut über die Runden zu kommen.“
 

Mirlien senkte dankbar seinen blonden Schopf, dann sprudelte er aber schon mit der nächsten Frage hervor.

„Und wie verhält es sich, wenn ein mächtiger Malar kontinuierlich die Oberhand in diesem Spiel gewinnt? Nennt man diesen Fall den Wendepunkteffekt?“

Greyan nickte und lächelte Mirlien freundschaftlich zu.

Du meine Güte, und wie er lächelte!

Nun gut, eigentlich presste er nur die Lippen zusammen und zog den einen Mundwinkel ein Stückchen näher zu seinem alwischen Spitzohr hoch, aber in seinen sonst so kühlen Blick lag eine gewisse Wärme.

Ach, Mirlien konnte aber auch wirklich ganze Gletscher zum Schmelzen bringen mit seiner stets blütenreinen, unvoreingenommenen Wesensart.
 

„Na, da haben dich die beiden Chaoten hier also doch hinreichend gut informieren können, mein Guter! Aber ja, du hast den Zusammenhang korrekt gedeutet.

Der Wendepunkteffekt tritt ein, wenn ein Malar irgendwann so viel Schattenstaub an sich gebunden hat, dass er das Totem permanent durch ihn schwächen kann.

Man muss wissen, dass der Malar auch über eine gewisse, aber recht eingeschränkte Möglichkeit verfügt, sich gegen das Totem zu Wehr zu setzen.

Es handelt sich dabei um Schattenstaubreserven, die vielleicht noch ungenutzt in seinem Fell vorhanden sind.

Freigesetzter, gestaltloser, reiner Schattenstaub, der sich nicht zum Konstrukt manifestiert hat, schwächt das Totem und damit sein Talent.

Zu diesem Zweck verwendeten Staub verliert der Malar allerdings vollständig, ob er damit einen Erfolg verzeichnen konnte oder nicht.

Und so wird er ihn in diesem Sinne nur dann einsetzen, wenn er noch genug Reserven hat, von denen er zehren kann und aus denen er auch wieder neue Konstrukte bilden kann.

Hat der Malar aber Staub im Überfluss angereichert, stellt die Verteidigung gegen das Totem kein Problem mehr für ihn dar.

Er gewinnt die totale Kontrolle über die Träume und damit genügend Einfluss, um die Verarbeitung wach erlebter Eindrücke seines Wirtes negativ zu bestimmen und es damit zu demoralisieren. Hinzu kommt, dass sich der schlafende Malar auch noch nach dem Erwachen seines Wirtes an den von seinen Konstrukten hervorgerufenen belastenden Emotionen laben kann, und auch die Erinnerung an diese den Staub in geringem Maße nachhaltig wachsen lassen können, obwohl der Wirt wach ist und der Malar schläft.

Wirt und Totem haben ab einem bestimmten Grad der Staubexpansion keine Chance mehr, den Malar zu überwinden. Dies würde den sicheren Verfall des Wirtes bedeuten, wenn der Malar nicht rechtzeitig den Wendepunkteffekt einleiten würde.

Dieses Verhalten bezeugt nicht etwa Mitleid, dass der Malar mit seinem ausgelaugten Wirt verspürt, sondern ist reine Taktik, echtes Kalkül.

Nennt es eine Überlebensstrategie, bedingt durch seinen Instinkt oder seinen Intellekt und die Fähigkeit, voraus zu schauen.

Der Malar ist viel mehr als nur ein Tier, ein Monster oder ein verhasster Parasit.

Der Tod seines Wirtes bedeutet auch den Tod des Malaren, der sich an ihn gebunden hat.“
 

Mein Unterkiefer war hinunter geklappt.

So viel steckte also hinter der Beziehung zu Wirt und Malar.

Das war mir bisher nie so bewusst geworden.

„Mund zu, Tillie!“ zischte Vilthon.

Mirlien hob sachte mein Kinn an.

„Der Malar vermag sich unter Aufwendung all seines vorhandenen Staubes durch ihn zu maskieren. Tut er dies, kann er kein Quantum Staub zu anderen Zwecken verwenden, ohne diese Maskerade zu verlieren.

Mit ihr tarnt er sich vor dem Totem und macht sich für dieses unangreifbar.

Derart verkleidet nähert sich der Malar seinem Wirt.

Er kommt ihm immer näher, so nahe, bis diese Nähe seine Maskerade aus Schattenstaub zerfallen lässt. Der Malar verliert seinen Staub bis auf einen unscheinbaren Rest, den er erhält, wenn sein Wirt vor Schreck erwacht.

Auf diesem Rest kann der Malar wieder neu aufbauen.

Der Kreislauf der Macht schließt sich. Ein neues Gleichgewicht könnte entstehen.“
 

Vilthon pfiff anerkennend durch die Zähne. „Allerhand Greyan, da eröffnen sich mir schon wieder einmal neue Horizonte. Aber auch neue Fragen.“

„Halte dich nicht zurück, Alwe!“ knurrte Greyan gespielt angriffslustig.

„Wie du willst!“ erwiderte Vilthon grinsend. „Erzähle mir mehr über Schattenstaub im freien Zustand. Der Malar kann also das Totem mit dieser Materie in dieser bestimmten Modifikation angreifen. Was hat es noch damit auf sich? Ich will alles darüber wissen, Greyan!“

Greyan fuhr sich mit den Fingerspitzen über die kurzen, schneeweißen Bartstoppeln an seinem Kinn.

Ich versuchte, sein Alter zu schätzen.

Eigentlich durfte Vilthon nur einige Sommer weniger zählen als er, doch Greyans pigmentloses Haar und sein verhärmter, grimmiger Gesichtsausdruck ließen ihn wahrscheinlich älter wirken als er war.

Du liebe Zeit, warum interessierte mich das überhaupt?

Ich sollte mich auf ganz andere Dinge konzentrieren!

„Tja, Junge, da kann ich dir im Moment nur verraten, dass freigesetzter, nicht manipulierter Staub dem Malar nur verloren gehen kann, wenn er ihn dazu benutzt, das Totem anzugreifen. Man kann ihm ihn also nicht aus eigener Initiative entwenden. Dann wäre noch zu erwähnen, das einige wenige Exemplare die Raffinesse besitzen, von sich aus ihre effizient gewesenen Konstrukte in freien Staub zerfallen zu lassen und die verdichtete Materie in ihr Fell aufzunehmen, bevor das Totem dafür sorgen kann, dass die Schreckensbilder in sich zusammenfallen und dem Malar so seine hart erarbeitete Ernte abhanden kommt.

Da das Totem aber auf den freien Staub sensibilisiert ist, wird es ihn wittern, ihm folgen, und so das Versteck des Malars ausfindig machen können, da der Staub zu dem Parasiten strebt, um sich in seinem Fell zu sammeln.

Das Totem wird dem Malar dann keine Möglichkeit mehr gewähren, den Traum noch weiter zu beeinflussen, doch der Malar hat meist etwas an Staub gewonnen.

Dies ist die stille, heimliche Art und Weise, langsam an Macht zu gewinnen.

Jeder Malar hat seine eigene Persönlichkeit und seine eigene Methode, zu jagen.

Das kann man allerdings nur begreifen, wenn man aufhört das Thema zu tabuisieren und sich offen mit anderen Personen über die Erfahrungen austauscht.

Diesen ersten Schritt hast du ja bereits getan, Drachenmädchen. Nun werden wir einen Weg finden müssen, deinen Malar verstehen zu lernen, und ihn wieder zu dir zurück zu bringen.“
 

Ich schluckte. „Das heißt also, wir werden zum Kontinent segeln. Zu den Menschen.“

„Nach all dem, was wir bisher wissen, lässt sich dies wohl nicht vermeiden.“ schnarrte Greyan ungeduldig. „Ausgezeichnet. Wir sollten alles daran setzten, den Nachkommen der Fuchsfrau ausfindig zu machen.“

„Thyllos heißt er.“ würgte ich hervor.

„Thyllos, der Malarensohn.“ wiederholte Greyan grübelnd. „Das verspricht ja, interessant zu werden. Mal ganz abgesehen von der Frage, wie sich der Malar unter den Menschen verhalten wird, welche Möglichkeiten sich ihm überhaupt bieten werden, sich zu ernähren. Mirlien, bist du sicher, dass du mit uns kommen möchtest?“ fragte der Alverliek unseren lieben Freund plötzlich unvermittelt.

Mirlien nickte stumm.

Seine Augen glänzten.

„Das Volk, dem du auf dem Kontinent begegnen wirst, hat seine Wunder und Geheimnisse, genau wie die Bewohner dieser Insel. Doch die Seele der Menschen hat Abgründe, so tief wie die Gräber der Malaren. Ich kenne dich erst wenige Stunden, Mirlien, und weiß wahrscheinlich nicht viel mehr über dich, als du selbst. Aber dennoch befürchte ich, dass dich viel von dem, was auf dem Kontinent vor sich geht, zutiefst erschüttern wird. Möchtest du dir das alles wirklich zumuten?“

Mirlien lächelte geheimnisvoll. „Ja, das möchte ich. Nicht zuletzt, weil ich es Tilya und Vilthon fest versprochen habe. Sicherlich wird jeder von uns nach dieser Reise viel mehr gefunden haben, als er anfänglich gesucht hat.“

Verwirrt blickte ich in unsere bunte Runde.

Was meinte unser geliebter Fremdling nur schon wieder?
 

Greyan räusperte sich. „Nun gut, entschuldigt bitte, nichts gegen euch, Jungs, aber für mich war das jetzt genug Konversation für einen Tag. Bevor wir morgen früh gemeinsam aufbrechen, muss ich noch einige wenige Dinge hier erledigen. Drachenmädchen, du wirst jetzt mit mir mitkommen.“

„Ich?“ Schmetterlinge tanzten verliekische Volkstänze in meinem Bauch.

„Ja, du, Federkopf!“ knurrte Greyan, wahrscheinlich höchst genervt von meiner Begriffsstutzigkeit.

„Was hast du denn mit der Kleinen vor?“ fragte mein lieber Vilthon argwöhnisch.

„Ach, ich bin einfach nur neugierig, wie sich das mickrige Drachenmädchen unter strahlenden Drachenkönigen macht.“ raunte der Alverliek zwinkernd meinem besten Freund zu, dessen skeptisches Gesicht sich nun sehr rasch aufhellte.

„Ach so! Na, das ist wirklich eine schöne Idee, Greyan!“ rief mein Lieblingsalwe erfreut.

„Nun, ich könnte heute ein paar helfende Hände an meiner Seite gut gebrauchen. Und nach dem zu urteilen, was du mir über den Federkopf erzählt hast, eignet sie sich hinreichend gut dafür, mich heute Abend zu begleiten und zu unterstützen.“

Ich wusste zwar nicht, worum es ging, aber ich freute mich unbändig.

Dieser interessante, unnahbare Mann wollte mich in seiner Nähe wissen.

Weil er mich brauchte!

Ach, warum auch immer!

Es spielte keine Rolle. Ich empfand es als eine Ehre!

Mirlien grinste mir aufmunternd zu.

Ich glaubte, tiefste Zufriedenheit in seinen wunderbaren, strahlenden Augen lesen zu können.

Selbstlos, wie er war, verspürte er die größte Freude, wenn er dem Glück anderer beiwohnen konnte.

Und ich empfand in diesem Augenblick tatsächlich wahre Hochgefühle!

„Aber passe bitte gut auf meinen kleinen Tollpatsch auf!“ rief Vilthon uns noch etwas besorgt hinterher, als ich vergnügt hinter Greyan die knarrenden Stufen hinunter stolperte.

Der Alverliek schnappte sich einen abgenutzten Rucksack, der betörend nach ätherischen Ölen duftete, und wir verließen seine dunkle, aber urgemütliche Residenz.
 

Die rotgoldene Sonne suchte sich gerade gemächlich ihr Bett zwischen den scharfkantigen Gipfeln der atemberaubend schönen Landschaft.

Zuerst nahm ich an, Greyan wollte noch einige Besorgungen im Dorf im Tal erledigen, doch er schlug schon bald einen schmalen, unebenen Weg bergauf durch einen kleinen, dichten Tannenwald ein.

Stumm folgte ich ihm den steinigen Pfad hinauf.

Kurz nachdem der Wald sich zu lichten begann, griff Greyan ohne Umschweife nach meiner Hand und half mir die letzten, beschwerlichen Schritte hinauf.
 

Als ich den Blick endlich von seiner großen, dunklen Hand, die sich angenehm kühl um meine kleinen blassen Finger schlang, abwenden konnte, da sah ich sie endlich auf den sanften, schimmernden Hügelwiesen, die sich unter uns erstreckten.

Es waren sicherlich einige dutzend Kronennebeldrachen verschiedener Generationen, die sich im Glanze der untergehenden Sonne an ihren letzten wärmenden Strahlen erquickten.

Entspannt räkelten sich die Tiere auf dem seidigen Gras.

Einige junge Weibchen tranken dicht aneinandergedrängt aus einem kristallklaren Bergsee, aus dem sich gerade ein imposantes männliches Tier träge ans Ufer bewegte.

Es schüttelte sich, wobei die vielen kleinen Wassertropfen, die von seinen glitzernden Schuppen stoben, zusammen mit dem letzten Tageslicht einen schwachen kleinen Regenbogen um seine prächtige Krone zauberten.

Zwei der Weibchen bäumten sich plötzlich auf und hackten mit ihren spitzen Mäulern aufeinander ein, bis klar war, wer von beiden das Anrecht auf den Platz auf dem warmen Felsen neben dem großen Männchen besaß.

Der dröhnende Bass meines aufgeregten Herzschlages übertönte das Triumphgebrüll der Siegerin.

Tränen traten mir in die Augen, meine Knie drohten unter mir nachzugeben und ich musste mich an Greyans dunkelgrünem Hemd festkrallen.

Wie sehnlich hatte ich mir immer gewünscht, diesen Tieren zu begegnen!

Drei ausgelassene Jungtiere stoben direkt vor uns in den Himmel empor, um sich im milden Aufwind spielerisch umhertreiben zu lassen.

Was für ein ergreifender Augenblick...
 

Spöttisch taxierte Greyan mich mit seinem stechenden Blick.

„Schluss jetzt mit dieser Gefühlsduselei, Federkopf! Fühlst du dich gewachsen, mit mir einem jungen, noch flugfähigen Drachenjungen seine vorab letzte Dosis an Hustenkraut zu verabreichen?“

Ich mochte es, wenn er mich Federkopf nannte.

Es hörte sich um einiges liebevoller an, als der von mir so sehr verhasste Spitzname Drachenmädchen.

Dümmlich grinste ich aus meiner verknitterten Wäsche und nickte selig.

Ich hätte jetzt so ziemlich alles getan, worum mich dieser Alverliek gebeten hätte.

„Dann höre jetzt gefälligst auf, zu flennen, Weib, und pack mit an!“ raunzte mich Greyan jedoch bloß unwirsch an, zog mit einem Ruck den Hemdzipfel, an den ich mich gekrallt hatte, aus meiner schweißnassen Hand und schulterte seinen Rucksack ab.

Er kramte ein Bündel duftender Kräuter heraus, die ich allesamt als krampflösend und auswurffördernd einstufen konnte, stopfte es mir in die Arme und wies mich an, ihm zu folgen.

„Bewege dich ruhig und sicher, Drachenmädchen, keine hektischen Bewegungen, ist das klar?“

„Jawohl!“ rief ich voller Elan.

„Und nicht so laut, verdammt noch mal!“ zischte der Alverliek wütend.

„Jawohl...“ wiederholte ich flüsternd.
 

Ehrfurchtsvoll folgte ich Greyan durch die Herde der gewaltigen Tiere, deren Hörner und Schmuckschuppen im Abendrot beeindruckend funkelten wie reinstes Edelmetall.

Die Drachen schienen Greyan zu kennen.

Seelenruhig mahlten einige erwachsene Exemplare der üblicherweise sanftmütigen Allesfresser mit ihren sichelförmigen Reißzähnen kleine Steine und Erdklumpen zwischen den gigantischen Kiefern, ohne von uns Notiz zu nehmen, während Greyan selbstbewusst seinen Weg zwischen den massigen Leibern bestritt, mich im Schlepptau.
 

Wir kamen bei einem heranwachsenden Drachen zu stehen, der etwas abseits der Herde graste.

Das Tier konnte ich als junges, geschlechtsreifes Männchen identifizieren, denn seine Backenhörner waren schon deutlich ausgeprägt.

Ob er aber noch dazu in der Lage war, sich wie ein Jungtier mit seinen Flughäuten in luftige Höhen zu schwingen, konnte ich nicht beurteilen.

Der Drache wälzte sich gerade träge auf die Seite, als er uns zwei ungleichen Spitzohren bemerkte.

Dabei stieß er einen röchelnden Seufzer aus, schnaubte einmal geräuschvoll durch seine Nüstern und blickte uns mit einem derart gelangweilten Ausdruck an, dass ich lauthals auflachen musste.

Greyan wandte seinen Kopf mit der Agilität eines Raubvogels nach mir um.

Schuldbewusst zog ich den Kopf zwischen die Schultern.

„Du solltest es vermeiden, unseren Patienten zu erschrecken, Federkopf. Damit könntest du uns beiden jede Menge Ärger einhandeln. Der Knabe hier hat nämlich immer schlechte Laune.“ schnarrte der Alverliek gefährlich leise.

„Na, mit diesem Problem steht er ja jetzt wenigstens nicht mehr alleine da.“ platzte es aus mir raus.

Ich biss mir erschrocken auf die Lippen.

Das hatte ich jetzt nicht wirklich gesagt!

Ich spürte im Geist mindestens dreiundsechzig vilthon´sche Ellenbogen, die mich zu Recht malträtierten.

Greyan wandte sich nun ganz zu mir um.

Du meine Güte, jetzt würde er mich zerpflücken wie eine reife Piragie...

Aber der Alverliek nahm mir nur wortlos das duftende Bündel Kräuter aus den Armen, legte es vor sich auf den Boden und widmete sich seinem großen Schützling, der das Schauspiel mit geringschätzigem Desinteresse verfolgt hatte.
 

Ich beobachtete fasziniert, mit welcher Selbstverständlichkeit der dunkelhäutige Mann dem golden schimmernden Tier an die schuppigen Lefzen griff, um es dazu zu bewegen, den riesigen Oberkiefer zu öffnen und den Blick in seinen einschüchternd tiefen Rachen freizugeben.

Der Atem des Drachen ging zwar ruhig, doch ein latentes, rasselndes Nebengeräusch verriet, dass seine Bronchien noch belegt sein mussten.

Wie rührend!

Der kaltschnäuzige Greyan kümmerte sich also um kranke Drachenjungen!

Wie verantwortungsvoll und mutig war dieser Mann doch nur!
 

Mit der freien Hand packte mich Greyan grob am Ärmel und riss mich aus meinen Träumen und vor das Maul des Jungdrachen.

Das Tier blähte seine Nüstern und schnupperte, ohne seinen Schädel nur eine Handbreit zu bewegen, unbeteiligt an meinen Knien, die sich auf derselben Höhe befanden.

Dann funkelten seine Augen plötzlich mit einer beunruhigenden Intelligenz auf, er legte den Kopf schief, öffnete seine Kinnlade und ehe ich begriff, was Sache war, hatte seine lange, spitze Zunge meinen linken Arm mit zähflüssigem, klebrigem Speichel benetzt.

Ich unterdrückte tapfer einen Aufschrei des Ekels und wischte meine Hand unauffällig an meinem Hemd ab.

„Er scheint dich zu mögen. Seltsam.“ knurrte Greyan mäßig berührt.

Nun, diese Bemerkung konnte man wohl eher nicht als Kompliment verstehen.

„Federkopf, setze dich hin und spitze die Lauscher!“ befahl er mir nun in schneidendem Tonfall.

Ich gehorchte und pflanzte mich neben den Schädel des Drachen.

Sein Atem roch nicht gerade appetitlich…
 


 


 


 

Greyan ließ sich vor mir auf die Knie gleiten.

Ich kam nicht umhin, ihn attraktiv zu finden, auch wenn er den Charme eines frisch ausgespienen Eulengewölles besaß.

„Also, ich werde dem Patienten jetzt die Nase zu halten, und er wird daraufhin sein Maul öffnen, um nach Luft zu schnappen. Sobald er das tut, wirst du ihm portionsweise die Kräuter zwischen die Zähne schieben, die du kurz vorher leicht in deinen Händen angerieben hast. Das Zeug schmeckt unserem Freund nicht gerade besonders, also klopf ihm einige Male freundlich auf die Schnauze, das hat er gerne. Konntest du mir soweit folgen?“

Ich nickte empört.

Hielt mich dieser Mann etwa für geistig beschränkt?

„Dann mal los.“

Greyan umschlang mit seinem Armen das Drachenmaul und deckte so die Nüstern des Tieres ab.

Es war ein schöner Anblick.

Fast vergaß ich, meiner Aufgabe nachzukommen, doch Greyan rief sie mir mit einem strafenden Zähneknirschen in meine Richtung in Erinnerung.

Wenige Augenblicke später war alles ätherische Grünzeug zwischen den Drachenkiefern verschwunden.
 

Erleichtert lehnte ich mich vor und schlug dem Tier liebevoll mit der flachen Hand auf das schuppige Maul, das jetzt mehr denn zuvor Wohlgeruch verströmte.

Du meine Güte, ich berührte gerade einen leibhaftigen Kronennebeldrachen!

Diese direkte Nähe zu diesem Wesen, diese intensive Erfahrung ließ mich für einige wundervolle Sekunden fast alles andere vergessen.

Bis ich plötzlich merkte, wie nahe ich inzwischen einem anderen außergewöhnlichen Wesen gekommen war, welches man Greyan nannte!

Mein Gesicht befand sich plötzlich unverschämt dicht neben seinem.

Der Blick aus seinen Augen, die nun die Farbe von Blautannen hatten, durchbohrte mich überlegen, abschätzend, ja, amüsiert.

Mechanisch fuhr ich immer noch dem Drachen über die Lefzen, registrierte, wie meine Hand wie zufällig die dunkle Haut von Greyans Unterarm streifte.

Und dann war es schon zu spät.

Die feinen Haare auf meinen Armen stellten sich auf, es knisterte und die Spannung entlud sich auf mein Gegenüber.

Und auf den Drachen.

Unter einem erschrockenen Kläffen zuckte der Kopf des Tieres zur Seite, ich kippte rücklings nach hinten weg, schlug etwas unsanft mit dem Hinterkopf auf einen steinigen Bergbeutlerhügel und fühlte das Gewicht von Greyans Oberkörper auf meinem Schoß.

So richtig in Verlegenheit schien ihn dieser Vorfall nicht gebracht zu haben, denn er begann sofort mit mir zu schimpfen, noch während er versuchte, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen.

„Bist du nun völlig übergeschnappt? Das hier ist wirklich der denkbar schlechteste Ort, um sein Talent auszutesten, junge Dame! Lerne erst einmal, es zu kontrollieren, bevor du dich und andere Leute in Gefahr bringst!“

Gerade wollte ich mit einer patzigen Antwort Kontra geben, als ein großer Umriss den leuchtenden Himmel über uns verdunkelte und Greyans ohnehin schon dunkles Antlitz von seinem Schatten verfinstert wurde.

Unser Drache hatte sich wutschnaubend über uns zwei ineinander verkeilten Spitzohren gebeugt und die funkelnden Augen in seinem gewaltigen Schädel blitzen mal rechts mal links über Greyans Schulter hervor.

Er schien nicht besonders gut auf mich zu sprechen.

Das nahm ich ihm auch nicht übel, immerhin hatte ich ihn gerade mit einem elektrischen Schlag aus seiner heilsamen Ruhe der Genesung katapultiert.

„Federkopf, wir machen uns jetzt besser unauffällig aus dem Staub, bevor das ganze hier noch eskaliert.“ schlug Greyan weise vor und half mir auf die Beine, ohne den bedrohlich knurrenden Drachenkopf, der über uns schwebte, eines Blickes zu würdigen.
 

Mit zitternden Knien wankte ich neben dem Alverlieken her, wohl wissend, dass der verärgerte Kronennebeldrache uns argwöhnisch auf Schritt und Tritt verfolgte.

Der dumpfe Klang der schweren Klauen auf der weichen Wiese machte mich etwas nervös.

Aber nicht so nervös wie die scharfen Seitenblicke meines Begleiters.

„Ja nicht umdrehen, Drachenmädchen, sonst weiß er, dass du Angst vor ihm hast.“

Eigentlich war ich eher betrübt, das Vertrauen des Tieres in mich mit diesem Missgeschick erschüttert zu haben.

Angst verspürte ich nämlich eher vor Greyan und seiner momentanen Stimmung, die sich sichtlich auf dem Tiefpunkt befand.

Ich wollte mir nicht ausmalen, was er mir alles an den Kopf schmeißen würde, wenn wir uns erst mal außer Reichweite der Drachenweide befinden würden.

Merkwürdigerweise schwante mir, dass mich dieser Mann mit seinen Worten und seinen Blicken verletzen konnte, wie sonst niemand es vermochte.

Der eingeschnappte Kronennebeldrache verabschiedete sich an der Grenze zum Tannenwald mit einem leichten Stups seiner Schnauze in unsere Rücken, der Greyan zum Stolpern brachte und mich in die piksenden Arme einer Tanne trieb.
 

Mit einem markerschütternden Brüllen drehte der Gigant uns den golden gepanzerten Rücken zu und stapfte zurück zu seiner Herde, nun, da er die zweibeinigen Störenfriede aus seinem Revier vertrieben hatte.

Greyan pflückte mich vom Nadelbaum und sah mich an.

In seinen Augen blitze blanke Wut, aber auch der Schalk.

Um seinen Mund zuckte es.

Er wirkte auf mich, als ob er nicht recht wüsste, ob er mich nun anbrüllen, oder auslachen sollte.

Natürlich lachte mich Greyan nicht aus.

Wann sah man ihn denn auch schon einmal lachen?

Ratlos zog er einige Tannennadeln aus meinen Federn.

Dann schüttelte er den Kopf.

„Das kann ja heiter werden mit dir.“ knurrte er mürrisch.
 

In meinen Ohren rauschte es.

Mir war schwindelig. „Wir haben Ihren Rucksack vergessen, Greyan.“ bemerkte ich schüchtern. „Den brauchen Sie sicher für morgen. Oder wollen Sie nun vielleicht doch lieber nicht mit uns reisen?“

Greyan schnalzte verächtlich mit der Zunge. „Das hättest du wohl gerne, Federkopf. Es ist im Allgemeinen bekannt, dass das weibliche Geschlecht für nichts zu gebrauchen ist, außer vielleicht, um Probleme zu verursachen. Du bist wahrhaftig die reinste Zumutung, Kind, aber denke bloß nicht, dass mich das davon abhalten könnte, mit euch zu kommen. Und jetzt halte deinen Schnabel.“

„Ja, danke…“ Was für eine rhetorische Glanzleistung…
 

Während ich eingeschüchtert an Greyans Seite her lief, machte ich mir so meine Gedanken über ihn.

Er schien bisher nicht die besten Erfahrungen bei den Frauen gesammelt zu haben, sonst würde er weniger abfällig über sie urteilen.

Also war er wahrscheinlich momentan auch nicht in festen Händen.

Natürlich nicht, sonst hätte er ja auch kaum so spontan eingewilligt, uns verrückten Haufen zu begleiten.

Vielleicht hatte er sich ja unglücklich verliebt, und war nun froh, Abstand von seiner Herzensdame gewinnen zu können… Augenblick einmal, was interessierte mich das alles eigentlich überhaupt?

Ich schielte verstohlen zu ihm hinüber.

Über Greyans ausgeprägter Adlernase hatten sich seine Brauen störrisch zusammengezogen, so dass sich zwischen ihnen eine steile Zornesfalte in seine Stirn grub.

Seine Lippen hatte er streng aufeinander gepresst.

Ich sah, wie sich die kleinen Muskeln an seinen Schläfen bewegten.

Ziemlich unfreundlich schaute er aus.

Warum fand ich ihn trotzdem so furchtbar anziehend?

Moment mal!

Ich fand ihn inzwischen schon anziehend?

Ich riss die Augen weit auf und starrte ihn an, als wäre er ein karierter Querkenkneifer.

Greyans Blick flog unwillig in meine Richtung, als ich über eine freche Roonenwurzel stolperte, die mir plötzlich einfach in meinen Weg hinein gewachsen sein musste.

Du liebe Zeit! Das bildete ich mir ganz sicher nur ein!

Oder war ich etwa auf dem besten Wege, mich in diesen kauzigen Einsiedler zu verlieben?

„Nein!!!“ brüllte ich lauthals, und ein Schwarm fuchsroter Dalyazine stob empört keckernd aus einem dichten Nadelbaum heraus, um sich einen Schlafplatz mit einer geringeren Lärmbelästigung zu suchen.

Greyans verliekischen Augen, die in der Dämmerung mit einem unheimlichen, kalten Grünschimmer zu leuchten begannen, trafen mich mit einer Mischung aus Erschrockenheit, Ärger und äußerster Geringschätzung.

Er verzichtete aber auf einen ätzenden Kommentar und zischte nur einmal vernehmlich durch die Zähne.

Wenn er mich bisher nicht für völlig verrückt gehalten hatte, dann tat er es mit Sicherheit spätestens jetzt.
 

Den ganzen restlichen Weg bis zu seinem Haus wechselten wir kein Wort miteinander, was ich nicht sonderlich bedauerte.

Als Greyan die Tür öffnete, wurden wir beide fast vom köstlichen Duft eines frischen Patuttauflaufs erschlagen.

Vilthon hatte gekocht!

Ich stürmte in das Wohnzimmer und fiel meinem Lieblingsalwen, der gerade im Begriff war, den klobigen Holztisch zu decken, um den Hals.

Ein Teller zerschellte am Boden.

Greyan schloss erschöpft die Augen und massierte seine Stirn mit beiden Händen.

„Wir waren bei den Kronennebeldrachen, Vilthon! Es war wahnsinnig toll!“ sprudelte ich heraus.

„Die Betonung liegt auf wahnsinnig… knurrte Greyan aus dem Hintergrund.

„Was ihr nicht sagt!“ grinste Vilthon. „Erspart mir lieber die Details, Hauptsache, ihr beiden seid heil wiedergekommen!“

„Du hättest mich vor dieser Frau warnen müssen.“ maulte Greyan und ließ sich auf einen der knarrenden Stühle um den Tisch fallen.

„Wo ist Mirlien?“ wollte ich schnell wissen.

Vilthon deutete in Richtung Küche. „Der presst gerade frische Blaubeeren, Kleines. Wir zwei waren fleißig, während ihr beiden euch amüsiert habt.“

Amüsiert? Naja.

Gerade wollte ich losspurten, als sich die Küchentür öffnete, und Mirlien mit einer großen Kanne Blaubeersaft in der einen und einigen ineinander gestapelten Tassen in der anderen Hand in den Raum trat. Ich quietschte erfreut und breitete die Arme aus.

„Hiergeblieben!“ keuchte Greyan. „Blaubeerflecken kriegt man nie mehr wieder aus dem Zaronnenfellteppich raus!“

Mirlien stand nun wie angewurzelt im Wohnzimmer und blickte etwas verunsichert in der Gegend herum.

Sein hilfloser Gesichtsausdruck war entzückend!

Und dann trug er auch noch eine hässliche, ausgefranste Schürze von Greyan, die auch schon bessere Zeiten erlebt haben musste. Niedlich!

Gemäßigten Schrittes kam ich Mirlien entgegen, nahm ihm die Tassen ab, worauf Greyan angespannt mit seinen verliekischen Zähnen fletschte, und drückte diesem Ausbund an Liebenswürdigkeit erst einmal einen dicken Kuss auf die kühle Wange. „Ich wünschte, du wärst dabei gewesen, Mirlien.“ flüsterte ich in sein Ohr. „Du hättest sie sehen müssen. Eine große Herde Kronennebeldrachen. Sie waren so wunderschön, so kraftvoll und anmutig! Nächstes Mal musst du unbedingt mitkommen!“

Grinsend stellte mein Freund nun die Kanne mit dem Saft auf den Tisch, und ich gesellte gerade die Tassen hinzu, als ich Mirliens lange, dünne Finger spürte, die mir sanft einige störrische Federn aus dem Gesicht strichen.
 

Ich wandte mich wieder zu ihm um.

Mirlien schaute mir in die Augen.

Das Lächeln auf seinen Lippen kam langsam immer näher.

Seine kalte Stirn berührte nun die meine, die dagegen geradezu zu glühen schien. Seine Hände ruhten auf meinen Schultern. I

ch glaubte, niemals zuvor eine derart intensive Berührung erfahren zu haben.

Mirliens geheimnisvolle, forschende Augen waren jetzt so nahe, dass ich regelrecht fühlen konnte, wie ich in seinem Blick versank.

Mirlien nickte mir sanft zu. „Es freut mich, dich so glücklich zu sehen, Tilya. Und ich danke dir dafür, dass du mich an deinen Empfindungen teilhaben lässt.“

Tief berührt streichelte ich Mirlien über die Wange, über der sich die fahle Haut pergamentartig spannte, und wünschte mir nichts mehr, als ihm jetzt wenigstens einen kleinen Teil zurück geben zu können, von dem, was er uns allen tagtäglich schenkte.

„Donnerwetter, da scheinen sich ja zwei vermisst zu haben.“ tönte Greyan leiernd. „Werdet langsam fertig mit dem elenden Geschmuse und setzt euch zu Tisch, sonst wird der Auflauf kalt. Der ist dir übrigens gar nicht mal so schlecht gelungen, Vilthon. Hätte nicht gedacht, dass du jemals kochen lernst. Wohl kein Weib mehr in deiner Hütte, was?“

Vilthons Lächeln gefror zusehends.
 

Oh, Mann. Greyan schien das Wort Taktgefühl wohl nicht zu kennen.

Mein Armer Alwe…

„Calissa hat mich vor einigen Monden verlassen.“ erklärte Vilthon und stocherte nun ziemlich lustlos in seinem Teller herum.

Natürlich war ihm jetzt der Appetit vergangen.

Greyan dagegen ließ es sich schmecken. „Wie man sieht, schlägst du dich ganz gut ohne sie. Selbst ist der Mann. Sei froh, dass du sie los bist, alter Knabe. Frauen machen dir nichts als Ärger. Die kannst du allesamt in einen Sack packen und zum Mond katapultieren, dann kommst du noch am Besten weg.“

Ich räusperte mich demonstrativ.

Hatte dieser Alverliek vielleicht vergessen, dass eine weibliche Person mit am Tisch saß, die sich durch solche Bemerkungen ernsthaft kränken lassen konnte? Wahrscheinlich nicht, aber es interessierte Greyan wohl einfach nur nicht.

Anscheinend hatten wir es hier mit einem verbitterten Junggesellen, einem Frauenhasser aus tiefster Überzeugung zu tun. Wundervoll.

Vilthon schaute ziemlich traurig aus der Wäsche.

Sicher hatten Greyans Worte die alten Wunden wieder aufgerissen.

Er tat mir so leid.

Mirlien goss unserem alwischen Freund zuvorkommend ein Glas Blaubeersaft ein, welches von Vilthon in einem Zug geleert wurde.
 

Stumm vertilgten wir vier mit mehr oder weniger großem Appetit den köstlichen Auflauf.

Dann ließ Greyan uns allein in seiner Behausung zurück, da er noch einige wichtige Besorgungen im Dorf zu tätigen hatte.

Kaum hatte er die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen, sank Vilthon auf dem Küchentisch zusammen, direkt vor den kümmerlichen Resten seines delikaten Gerichtes.

Sofort waren Mirlien und ich an seiner Seite.

„Hey, Villo. Alles klar?“ fragte ich und zupfte an seinem Ärmel herum. „Mann, dieser Greyan versteht es wirklich blendend, auf den Gefühlen anderer Leute herum zu trampeln! Kann er sich nicht denken, dass es dich immer noch ziemlich mitnimmt, wenn das Thema Calissa angesprochen wird?“

Vilthon blickte vergrämt zu uns beiden auf. „Ach, Tilya, es geht mir doch jetzt nicht um Calissa. Das zwischen uns ist aus. Endgültig. Ich habe es kapiert und bin auch drüber hinweg. Es ist nur…“

Mirlien lächelte plötzlich. „Du denkst an Zhannya, nicht wahr?“

Vilthons lavendelfarbener Blick wanderte langsam zu ihm hinüber. „Also, manchmal bist du mir direkt unheimlich, mein Freund.“

Mirlien grinste triumphierend. „Vilthon, wir werden zum Kontinent reisen. Es wäre doch gelacht, wenn wir ihr dort nicht begegnen würden, meinst du nicht? Es ist nie zu spät für einen Neuanfang.“

Neu entfachte Hoffnung glomm in den klaren Alwenaugen meines langjährigen engsten Vertrauten auf.

Ich kicherte. „Nun, wenn Mirlien das sagt, dann ist das auch so, Villo!“
 

Gemeinsam beseitigten wir drei die Unordnung, die wir in Greyans Haus hinterlassen hatten, damit der Hausherr später nur noch seine sieben Sachen zusammen packen musste.

Nach einer ausgiebigen Dusche legte ich mich recht früh schlafen.

Doch die Abenteuerlust hatte mich gepackt und ich wälzte mich auf meinem Lager lange Zeit unruhig von der einen auf die andere Seite.

Morgen würden wir losziehen um die Insel zu verlassen.

In einigen Tagen würden wir den Kontinent bereisen.

Was würde uns dort erwarten?

Wohin würde uns unser Weg führen?

Wie weit würde ich gehen müssen, um meinen Malaren wieder an mich zu binden?
 

Vilthon hatte Schwarzfuß ein letztes Mal mit einem Abschiedsbrief in unser geliebtes Hügeldorf geschickt.

Die Botenraben sollten uns nicht übers Meer zum Kontinent folgen.

Es musste schwer für meine Eltern sein, nun den Kontakt zu mir zu verlieren und nicht zu wissen, wann sie wieder etwas von mir hören würden.

Aber ich war erwachsen. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen.

Und ich war nicht allein.

Ich kniff die Augen zusammen und kuschelte mich tiefer in die flauschigen Decken.
 


 


 

Bald befand ich mich in einem wunderbaren Traum, in welchem ich auf spinnenwolleweichen Wiesen wandelte, umgeben von friedlichen, entspannten Kronennebeldrachen.

Einer von ihnen jedoch beeindruckte mich besonders.

Einen so großen Drachen dieser Art hatte ich noch nie gesehen.

Groß wie ein Berg war er, und sein imposantes Gehörn hatte die Ausmaße einer Roonenbaumkrone.

Ich konnte einfach nur da stehen und ihn bewundern.
 

Plötzlich spürte ich einen kühlen Luftzug über mir.

Zuerst nahm ich an, ein Jungdrache sei über uns hinweg geflogen, doch die Silhouette des Wesens, das gerade seine Kreise um den Riesendrachen und mich zog, ähnelte mehr der einer Flugechse.

Doch es war auch keine Flugechse.

Das seltsame Tier, das jetzt neben mir landete, war über und über mit türkisfarbenen Federn bedeckt.

Es hatte den langen, schmalen Hals und Schnabel eines Storches, statt Flügeln spannten sich smaragdgrüne Flughäute zwischen den Gliedmaßen des Tieres und seinen Schweif zierte ein prunkvolles Gefieder.

Das unbekannte Wesen, das auf seine Weise schön war, und das umgeben war von einer eisigen, kristallklaren Aura, fixierte mich mit seinen klugen, wissenden Augen. Schüchtern lenkte ich meinen Blick zurück zum Riesendrachen.

Zählte seine tellergroßen Schuppen.
 

Auf einmal stand Greyan neben mir.

Wieder spürte ich dieses seltsame, unbeschreibliche Gefühl von Eis und Schnee in meiner Nähe.

Ich drehte mich um, doch das Wesen war verschwunden.

Die Kälte jedoch nicht.

Sie kam von Greyan.

Es fühlte sich schön an.

Wunderschön.

Ich wollte sie in mein Herz lassen, die tanzenden Schneeflocken, die starren Eisblumen, ich breitete die Arme aus und ließ mich von grünen und blauen Federn berühren. „Greyan…“

„Der packt gerade unten seine Tasche für morgen!“ funkte der Riesendrache mit Vilthons Stimme dazwischen.

„Was?“

Verstört zog ich mir die Decke über den Kopf.

Als ich mich halbwegs gesammelt hatte, schlug ich sie wieder zurück und sah direkt in Mirliens Gesicht.

Zärtlichkeit schimmerte in seinen Augen, als er mir durch die Federn strich. „Träum ruhig weiter, Liebes.“ flüsterte er. „Das wird dir gut tun.“

Ich fühlte mich so geborgen in seiner Nähe.

Mit Mirlien an der Seite musste einfach alles gut und richtig sein.

Zweifelsfrei.

Was auch geschehen mochte.

Ich spürte noch, wie Vilthon sich neben uns auf das Lager plumpsen ließ, dann schlief ich auch schon wieder ein.

Doch leider setzte sich der schöne Traum nicht fort.
 

Mitten in der Nacht erwachte ich noch einmal.

Auf dem Weg ins Bad begegnete ich Vilthon auf dem Flur, der sich gerade ein Glas Wasser geholt hatte.

„Na, Küken, kannst du auch nicht schlafen?“ flüsterte er.

„Es geht.“ murmelte ich schlaftrunken. „Bin wohl einfach nur ein bisschen aufgeregt. Was ist mit dir? Beschäftigt dich etwa immer noch Greyans einfühlsamer Spruch von gestern Abend?“

Vilthon schüttelte den Kopf. „Ach was. Ist doch Schnee von gestern. Deswegen bin ich ihm nicht böse. Er wollte mich mit seinen Bemerkungen sicher nicht bewusst verletzen. Das ist eben seine Art. Er meint es nicht so. In diesem Punkt zumindest erkennt man die Verwandtschaft zu Myroon.“

„Zu Myroon?“ Das Herz sank mir in die Hosentasche.

„Ja, die beiden sind Halbbrüder, weißt du doch.“

„Sie sind was?!“

„Ruhe!“ hörte man Myroons Halbbruder dumpf aus seinem Schlafgemach tönen.

„Spinnendreck! Das hast du mir nie erzählt!“ zischte ich Vilthon an. Du lieber Himmel! Myroon. Warum ausgerechnet Myroon?

„Nun ja, vielleicht auch nicht. Spielt doch auch keine Rolle.“ brummte Vilthon unwillig. „Warum schockiert dich dieser Umstand so sehr? Überhaupt reagierst du immer gleich so über, wenn es in irgendeiner Form um Myroon geht. Ist da etwas zwischen euch vorgefallen, worüber ich nicht informiert bin?“

„Nein!“ japste ich.

„Was bitte schön ist an dem Wort Ruhe nicht zu verstehen?“ ließ sich Greyan aus dem benachbarten Raum vernehmen.

Seine Stimme klang immer noch gemäßigt leise, aber nun deutlich energischer.

Ich wollte ihm jetzt keinesfalls begegnen und zog Vilthon am Ärmel, damit er mir in die Küche folgte, in der noch immer ein schwacher Hauch von Patuttauflauf in der Luft lag.
 

Vilthon ließ sich aber davon nicht ablenken und hakte weiter nach.

„Doch, Tilya, das läuft jetzt schon seit der Flucht deines Malaren so. Sobald das Thema Myroon in irgendeiner Form angesprochen wird, kriegst du rote Ohren und lenkst vom Thema ab. Gibt es da noch etwas, was ich wissen sollte?“

„Ach, Vilthon hör auf damit!“

Auf keinen Fall würde ich mit meinem besten Freund, der für mich der Bruder war, den ich nie gehabt hatte, über mein verkorkstes Liebesleben sprechen.

Der unnahbare, abweisende Greyan, der mich trotz seiner wenig einfühlsamen, sondern eher verletzenden Art so in seinen Bann zog, war also der Halbbruder meines exzentrischen Lehrmeisters, mit dem ich diese eine verdammte Nacht verbracht hatte, die ich immer noch so schwer bereute.

„Oder bist du vielleicht einfach immer noch sauer auf Myroon, weil ihm Thyllos mit seinen Tricks dein Geheimnis entlocken konnte? Gib es ruhig zu, Tilya.“

Ich nahm diese perfekte Vorlage Vilthons dankbar an. „Ja.“ keuchte ich erleichtert. „So ist es auch. Aber ich verzeihe ihm, es lag ja nicht in seiner Macht, in Thyllos Gegenwart zu schweigen.“

„Warum auch immer.“ knurrte Vilthon. „Aber keine Sorge, die beiden Brüder haben kaum etwas gemeinsam. Greyan ist eher der schweigsame, kontaktscheue und zurückhaltende Typ. Den Charme hat er nicht mit Löffeln gefressen und ein Einzelgänger ist er obendrein. Geheimnisse sind bei ihm in guten Händen. Und auch dem Alkohol ist er nicht zugetan. Glaub mir, Schätzchen, er wird uns ein guter Gefährte sein.“

„Na, dann. Dann ist ja alles in bester Ordnung.“ Ich fletschte die Zähne zu einem Grinsen und schubste meinen alwischen Freund in Richtung Treppe. „Schauen wir, dass wir noch eine Mütze voll Schlaf kriegen, wir haben morgen noch viel vor.“

Natürlich wagte ich stark zu bezweifeln, dass ich diese Nacht noch zu einem Fünkchen Ruhe kommen mochte.

Unruhig wälzte ich mich zwischen Mirlien und Vilthon hin und her, vergrub meinen Kopf tief in den Kissen, zählte Kronennebeldrachenbabys, aber nichts von alledem half mir.

Meine Gedanken kreisten immer in denselben, leidigen Bahnen.

Kleine Sterne, ferne Sterne - Tag 15

Greyan weckte uns in aller Frühe, nein, vielmehr mitten in der Nacht, indem er dreimal brutal gegen die Holztür schlug, hinter der Vilthon, Mirlien und ich friedlich auf unseren gemütlichen Lagern ruhten.

Der Alverliek hatte bereits einen Falken mit einer Botschaft zur Hafenstadt geschickt. Am Morgen des neunzehnten Zypressentages sollte man uns ein Boot zum Ende des Nadelwaldflusses schicken, das uns zum Kontinent bringen sollte.

Greyan hatte erklärt, dass wir, die wir auf der Jagd nach dem mysteriösen Tier waren, vermuteten, dass dieses zum Kontinent zurückgekehrt war.

Und um sicher zu stellen, dass das Tier auch dort bleiben, und nicht ein zweites Mal die Insel heimsuchen würde, wollten wir angeblich dieses Problem diplomatisch mit den Menschen ausdiskutieren.

Greyan schien besser damit klar zu kommen, den Leuten Notlügen auftischen zu müssen, als der Rest unserer illustren Wandergesellschaft.

Außerdem hatte er in diesem Schreiben veranlasst, Thyllos, der sich in den naheliegenden Wäldern aufhalten musste, von unserem Vorhaben zu benachrichtigen, und ihn zu bitten, sich uns anzuschließen.

Zähneknirschend nahm ich dies hin und hoffte insgeheim, dass diese Nachricht Thyllos nicht erreichen würde.

Wenigstens war mir selbst klar, wie kindisch, dumm und egoistisch diese Gedanken waren.

Also blieb mir nichts anderes übrig, als die verbleibende Zeit ohne diesen rothaarigen Quälgeist zu genießen.
 

Ich weiß nicht, ob es an seiner Gegenwart lag, aber es wurden auf unserem Gewaltmarsch recht wenige Worte zwischen allen Beteiligten gewechselt. Andererseits könnte der Grund dafür auch in der Tatsache gelegen haben, dass Greyan, der wie selbstverständlich die Gruppe anführte, ein sehr zügiges Tempo an den Tag legte.

Zwar verstand er es, uns den beschwerlichen Weg durch das Gebirge ums ein oder andere Mal zu erleichtern, indem er uns durch unbekannte Trampelpfade lotste, aber als wir gegen Mittag endlich eine viel zu kurze Rast einlegten, sanken Vilthon und ich erschöpft Rücken an Rücken auf den steinigen Boden und rangen erst einmal nach Atem.

Mirlien musste erst mir, dann unserem alwischen Freund die völlig verkrampften Schultern massieren.

Greyan schnalzte spöttisch mit der Zunge.

Ich schämte mich vor ihm für uns zwei Waschlappen.

Immerhin hatte ich mir eingebildet, dass man eigentlich nicht über unsere sportliche Kondition nörgeln konnte, die wir uns während unserer Reise angeeignet hatten, doch mit Greyans Zähigkeit und Ausdauer konnte nur unser unermüdlicher Mirlien mithalten.

Alles Jammern erweichte unseren silbernen Alphawolf Greyan nicht, denn er hatte es sich fest in seinen Dickkopf gesetzt, noch an diesem Tag das Gebirge hinter sich zu lassen.
 

Sehr, sehr spät in der Nacht erreichten wir endlich die rauschenden Fälle am Gebirgsfuß.

Mit meinen letzten Kraftreserven half ich meinen Freunden, ein Lager an einem kleinen Felsspalt in der Nähe des Wasserfalles zu errichten.

Hunger verspürte ich keinen mehr, ich wollte einfach nur noch liegen, mich nicht mehr bewegen, schlafen.

Ermattet bettete ich schließlich meinen Kopf auf Vilthons Bauch und schlief sofort ein.

Irgendwann weckte mich sein dezentes Schnarchen, das sich von dem monotonen Rauschen der Fälle abhob.

Genervt blinzelte ich mit den Augen und bemerkte, dass die Morgenröte schon im Begriff war, die Schwärze der viel zu kurzen Nacht zu vertreiben.

Lustlos starrte ich in den schmalen, glimmenden Streifen Helligkeit, der unerbittlich seinen Kampf über die Dunkelheit bestritt.

Mein Blick wanderte zur Seite und erwartete den rührenden und beruhigenden Anblick eines schlummernden Mirliens, der sich gestern an meine Seite gekuschelt hatte.
 

Doch der Platz neben mir was leer und stattdessen erkannte ich die düstere Gestalt von Greyan, nur einen Arm breit von mir entfernt.

Das trug nicht wirklich zu meiner Entspannung bei.

Mein Herz klopfte verdächtig laut, uns ich befürchtete fast, sein wildes Getrommel würde einen der beiden Spitzohren neben mir wecken.

Nun gut, Vilthon schnarchte noch immer, aber die Vorstellung, dass Greyan gleich seine stechenden Augen aufschlagen würde, um mich mit seinen bohrenden Blicken aufzuspießen, trieb mich dazu an, mein Lager zu verlassen.

Seine Nähe machte mich einfach viel zu nervös, so ganz ohne einen Mirlien, den man als Schutzwall zweckentfremden konnte.

Überhaupt, wo trieb der sich eigentlich schon wieder herum?

Er konnte doch auch nicht zu viel mehr Schlaf gekommen sein als ich.

Wo nahm dieser Mann nur diese Energie her?

Behutsam rappelte ich mich auf und schlich aus dem Zelt.

Draußen in der schwindenden Dunkelheit stand er, dicht neben den donnernden Fällen, den Rücken dem Lager zugewandt und blickte zum Himmel empor.

Vorsichtig näherte ich mich ihm.

Ich wollte ihn nicht erschrecken.

Aber Mirlien wusste schon, dass ich da war, obwohl ich mich doch noch gar nicht in seinem Blickfeld befand.

Er streckte den Arm nach hinten aus, direkt in meine Richtung, ohne sich umzuwenden, ohne etwas zu sagen.

Ich ergriff seine kalte Hand und er zog mich sanft an seine Seite.

Gemeinsam betrachteten wir die schwach glimmenden Sterne, deren Schönheit sich nun der des anbrechenden Tages beugte.

Lagerfeuer - Tag 16

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als das letzte Funkeln der Sterne in der Glut des morgendlichen Himmels erstarb und nur noch die Venus am Firmament vor sich hin leuchtete.

Mirlien und ich kehrten zurück zum Lager und weckten unsere beiden Freunde. Nach einer warmen Tasse von Vilthons gutem Nolmengrieß verschlug es uns flussabwärts, immer den Lauf des Ufers entlang, bis wir einen wurmstichigen Kahn am Wegesrand entdeckten.

Mit ihm legten wir einen großen Teil unserer Strecke auf mehr oder weniger komfortabler Weise zurück, doch irgendwann wurde das Flussbett zu niedrig und zu felsig, um es gefahrlos mit dem Gefährt, dass schon bald mehr ein Floß denn ein Boot war, weiter zu befahren.

An jeder Ecke lauerten Strudel und Stromschnellen, und so beschloss man einstimmig, zu Fuß weiter zu marschieren.

Doch das Glück schien uns dennoch hold, denn schon kurze Zeit später gelang es Vilthon, ein Prachtexemplar von einem Roonengräber einzufangen und aufzuzäumen, welcher uns auf seinem breiten, gepanzerten Rücken am frühen Abend bis an den großen Waldsee brachte.
 

Den Marsch durch den Wald hatte ich mir weniger entspannend vorgestellt, gerade unter Greyans eiserner Fuchtel.

Noch nicht einmal die Riesenmoskitos ließen sich an diesem ereignislosen Tag blicken, wie ich beinahe enttäuscht feststellen durfte.

Vilthon schüttelte verständnislos sein Haupt. „Du willst jetzt doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass du den Ärger und Trubel vermisst, wenn er mal ausbleibt?“

Ich grinste verlegen. „Bin halt ein Gewohnheitstier, Vilthon. Außerdem wirst zumindest du dich diese Nacht nicht über Langeweile beschweren dürfen, mein Lieber. Wenn ich mich nicht recht entsinne, zelten wir heute direkt im Quartier der Feuergiftfrösche.“

Vilthon schüttelte sich.

Wenn es dem Alwen vor einem graute, dann vor diesen kleinen, possierlichen Viechern.
 

Aber auch die Feuergiftfrösche brachten mir an diesem Abend keine amüsante Abwechslung, denn sie hielten respektvollen Abstand vor unserem Lagerfeuer.

Dafür überraschte mich Greyan, der die geruhsame Zeit ausgerechnet dafür nutzte, sich mit mir zu unterhalten.
 

Nun gut, eigentlich fragte er mich vor allem über die Hintergründe der Beziehung zwischen meinem Malaren und mir aus, aber dennoch genoss ich sein Interesse an meinem Schicksal, auch wenn unser Gespräch sehr distanziert und unpersönlich ablief.

„Vilthon schrieb mir damals, dass deine ersten Federn in deinem elften Lebensjahr zu sprießen begannen, Drachenmädchen.“

Ich nickte überrascht.

„Ist zu diesem Zeitpunkt irgendetwas vorgefallen, was hätte einen Anlass zu dieser physikalischen Veränderung deiner Person geführt haben könnte?“

Ich überlegte, schüttelte aber dann den Kopf. „Nein, dass ist irgendwann einfach so über Nacht geschehen. Mein Haar wuchs zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Monaten in diesem seltsamen Farbton nach.“

„Perlmutt.“ bemerkte Greyan nachdenklich.

„Ja. Nun, ich kämmte mir eines Tages die Haare, und plötzlich fanden sich die ersten kleinen Federn im Kamm. Zuerst habe ich sie mir herausgerissen, aber irgendwann machte das keinen Sinn mehr, für jede gerupfte Feder schienen gleich zwei neue, noch auffälligere zu wachsen. Beinahe zeitgleich haben sich auch diese seltsamen Strukturen auf meiner Haut bemerkbar gemacht.“

„Die Schlangenhaut.“

Ich lächelte. „Ich habe dieses Phänomen zuerst für einen Hautausschlag gehalten.“

Greyan legte den Kopf schief und rückte etwas näher an mich heran.

Mein Herz begann aufgeregt zu hüpfen, und schlug dann einen Salto nach dem anderen, als er seine eisige Hand auf meinen Arm legte. „Darf ich mir das bitte einmal ansehen?“ fragte er, wartete gar nicht erst meine Antwort ab und krempelte meinen Hemdsärmel bis zu meinem Ellenbogen hoch.
 

Nervös starrte ich durch das prasselnde Lagerfeuer hindurch und begegnete Mirliens Blick auf der anderen Seite.

Seine lächelnden Augen wirkten wie immer entspannend auf meine unruhige Seele. Mirlien.

Er konnte mich berühren, er konnte mir tief in die Augen sehen, er konnte mir so unglaublich nahe kommen, ja, und wir konnten sogar miteinander flirten.

Es blieb stets unverfänglich, harmlos, unschuldig und doch war unsere Beziehung einer sehr intensiven Natur.

Ich fühlte mich ihm fast noch mehr verbunden als meinem geliebten Vilthon.

Auf eine ganz andere Art.

Vilthon konnte ich inzwischen als einen Mann wahrnehmen, obschon ich ihn mein ganzes Leben lang kannte, unter seinen liebevollen Augen aufgewachsen bin.

Aber irgendwann kam ich in ein Alter, in welchem ich es als unpassend empfand, mich weiter an meinen großen alwischen Freund zu kuscheln.

Das legte sich zwar mit der Zeit wieder ein wenig, als die schlimmste Zeit meiner Pubertät vorüber gezogen war, doch die Unbefangenheit ihm gegenüber, die ich als Kind ausleben durfte, war verschwunden.

In Mirliens Gegenwart fühlte ich mich in diese unbeschwerte Zeit zurück versetzt.

In allen Aspekten.

Das bedingungslose Vertrauen zu ihm, die vorbehaltslose Liebe, mit der er alles Lebendige betrachtete, und noch so viel mehr, was in diesem Mann steckte, dem Vilthon den Namen Mirlien gegeben hatte, ließ mich so manches Mal in eine Sehnsucht verfallen, die ich nicht erklären konnte.

Warum verliebte ich mich nicht einfach in ihn?

Lag das nicht viel näher, als für diesen störrischen Alverlieken zu schwärmen?
 

Endlich hatte Greyan seine Neugier, was meine Echsenhaut anging, befriedigt und ließ wieder von mir ab.

Erleichtert atmete ich auf.

Seine Berührung war für mich schwer erträglich.

So kalt seine Fingerspitzen auch sein mochten, so heiß schien meine Haut unter ihnen zu glühen.

Greyan, der nicht wusste, wie mir zumute war, löcherte mich mit weiteren Fragen.

„Dein Malar hat dir dein Totem genommen und dich somit mit Talentlosigkeit geschlagen. Dennoch konntest du einen gewissen Zugriff auf das Talent des Fiederskinkes erlangen.“

„Des Fiederskinkes?“ Wovon in aller Welt sprach Greyan?

„Ich vermute, dass damit deine Vogelschlange gemeint ist.“ meldete sich Mirlien leise zu Wort.

„Wie auch immer du dein Totem nennst, Drachenmädchen, es scheint noch in irgendeiner Form existent zu sein. Ich habe die Elektrizität gespürt und nicht zu knapp.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Tillie, jetzt komm schon.“ warf Vilthon ungeduldig dazwischen. „Wir haben dieses Thema nun wirklich lange genug tot geschwiegen. Es wird langsam Zeit für dich, anzuerkennen, dass du dein Talent wieder gefunden, nein es sogar vielleicht niemals verloren hast. Warum fällt es dir immer noch so schwer, dazu zu stehen? Du solltest stolz auf deine Begabung sein und vor allem solltest du langsam anfangen, sie zu trainieren.“

„Wahre Worte.“ bestätigte Greyan.“In deiner augenblicklichen Kondition äußert sich dein Talent eher als eine ungezügelte, zerstörerische Kraft, als dass man es als einen kontrollierbaren Antagonisten zu der Macht deines Malars betrachten könnte.“ Ich senkte schuldbewusst den Kopf.

Die beiden Spitzohren hatte ja Recht.

„Andererseits, “ räumte Greyan ein, „weiß ich aus eigener Erfahrung, dass wir Alverlieken meist kein leichtes Spiel mit unseren Begabungen haben. Deshalb, Drachenmädchen, erprobe dein Talent besser an einem Ort, wo sich möglichst wenig Lebewesen aufhalten, die du verletzen könntest.“

„In Ordnung. Ich werde mir eure Ratschläge zu Herzen nehmen. Versprochen.“ seufzte ich ergeben.

Vilthon nickte zufrieden.

„Wann hat sich dein Talent überhaupt zum ersten Mal bemerkbar gemacht?“ wollte Greyan wissen.
 

Vilthon antwortete für mich. „Als wir Mirlien bewusstlos am Flussufer beim Blumendorf fanden. Wir dachten, wir könnten ihm nicht mehr helfen und Tilya war vollkommen verzweifelt. Und plötzlich lag da so eine merkwürdige Spannung in der Luft, wie kurz vor einem Gewitter. Doch anstelle eines einschlagenden Blitzes ist Mirlien von den Toten auferstanden.“ Mirlien grinste verschmitzt.

„Um ehrlich zu sein, habe ich schon vor diesem Ereignis eine Erfahrung mit dem Talent machen dürfen.“ gab ich schüchtern zu.

„Ach, tatsächlich?“ knurrte Vilthon beleidigt. Oh, nein. Damit hatte ich meinen besten Freund getroffen.

„Es geschah in dem Augenblick, als sich der Malar aus meinem Traum gelöst hat und ich mich ihm Angesicht zu Angesicht in der Wachwelt widerfand. Ich dachte, er wolle mich umbringen, und als ich ihn von mir stoßen wollte, war es, als würde man zwei Magnete mit ihren gleich geladenen Polen aneinander bringen. Funken schlugen. Aber Vilthon, ich wusste doch nicht, dass diese Macht von mir kam. Auch damals, bei unserer ersten Begegnung mit Mirlien glaubte ich doch noch, dass diese Energie von ihm ausgehen würde!“

Der Alwe winkte ab. „Schon gut, Kleines. Ich kann dich ja verstehen.“

„Interessant.“ hörte man Greyan murmeln. „Was konntet ihr noch beobachten?“

„Auf dem Schiff habe ich mehr oder weniger absichtlich diesem Thyllos eine Ladung verpasst, als er mir zu nahe gekommen ist.“

„Der Malarensohn. Der Nachkömmling der Fuchsfrau. Auf diesen Burschen bin ich ja auch schon äußerst gespannt. Mich würde interessieren, wie, und vor allem warum er auf eure Fährte gekommen ist.“

Mirlien räusperte sich. „Ein sehr beeindruckendes Beispiel lieferte Tilyas Talent außerdem noch in der Nacht, als der Malar die Insel verließ.“

Vilthon nickte zustimmend. „Tilyas Talent hat seinen Schattenstaub in funkelnde Asche zusammenfallen lassen.

„Bitte?“ Greyans Oberkörper zuckte raubvogelartig in meine Richtung. „Gestaltloser, reiner Schattenstaub wurde durch dein Talent zerstört?“

„Nein!“ wehrte ich ab. „Also, vielleicht doch.“

„Was denn nun?“

„Naja, der Blitz war auf den Malaren gerichtet und hat ihn auch getroffen. Aber unmittelbar davor hat er sich teilweise mit dem Schattenstaub, der den Malaren umgab, verbunden.“

Greyan verengte seine Augen zu schmalen, funkelnden Schlitzen. „Hat das Drachenmädchen etwa Angst vor dem Schattenstaub?“

Hilflos suchte ich Vilthons und Mirliens Blicke.

Was wollte dieser Alverliek von mir?

„Natürlich. Mit seinen Konstrukten hätte dir dein Malar niemals so viel Furcht einflößen können, wie es seine leibhaftige Erscheinung, umhüllt von Schattenstaub in seinem Urzustand vermag. Wahrscheinlich wollte er dich provozieren, dir deine Unzulänglichkeit bewusst machen, euch beiden beweisen, dass du ihn nicht nähren kannst, weil du ihm unterlegen bist. Er will zu dir zurück, und er hasst dich dafür, weil du ihm nicht gewachsen bist.“
 

In Greyans Blick lag eine beinahe euphorische Wildheit.

Eine Leidenschaft, die sich selten zeigen sollte. „Der Malar muss gespürt haben, dass du und dein Totem immer noch miteinander verbunden seid. Und zwar in einer viel stärkeren Weise, als es normalerweise der Fall ist. Ihr seid eins. Seit dem Augenblick, an dem der Malar den Fiedersink fraß. Es war sein Verdienst. Nimm dich vor dem Schattenstaub in Acht, Drachenmädchen. Wenn es dem Totem schadet, könnte er auch dir gefährlich werden.“

Ich schwieg bestürzt.

„Keine Bange, Kleines, wir passen schon auf dich auf.“ versuchte Vilthon mich zu trösten.

Ich starrte stumm ins Feuer.
 


 


 


 


 


 

Wie sollte ich das alles nur schaffen?

Was erwartete der Malar von mir?

Was sollte ich nur tun, um ihn wieder in meine Träume locken zu können?

Würde ich überhaupt jemals stark genug für ihn sein?

Ich spürte plötzlich Mirliens Hände, die sich von hinten sanft um meine Arme legten. „Hast du nicht gehört, was Vilthon gerade eigentlich gesagt hat, Tilya? Du bist nicht allein.“ flüsterte er mir zu.

Er schenkte mir sein warmes Lächeln und verschwand dann, um zusammen mit Greyan das Lager aufzubauen.
 

Ich musste nur noch meinen spleenigen Alwenfreund zum See begleiten, da er befürchtete, von einer Horde wild gewordener Feuergiftfrösche überfallen zu werden, während er mit unserem kleinen, mittlerweile recht verbeulten Kesselchen etwas Wasser für den Nolmengrieß schöpfte.

Baerelk - Tag 17

Als das heisere Krächzen von Kwantsch uns bei Morgengrauen aus dem tiefen Schlaf, erfasste mich eine gewisse Wehmut.

Unser frecher, aber treuer Briefbote brachte mir hiermit den vorerst letzten Brief mit, den ich während unserer Mission von meinen Eltern zu Gesicht bekommen würde. Die lieben Glückwünsche verstaute ich sorgfältig in meinem Rucksack, bevor ich mich von Kwantsch mit einem kleinen Stückchen Zaronnenkäse verabschiedete.

Dann sah ich ihm zu, wie er über den Wipfeln der Querken und Roonen verschwand, um zurück zu fliegen, in meine Heimat, dem Hügeldorf.
 

Nach dem Frühstück und einer dürftigen Morgentoilette verließen wirr unser Lager am Waldsee und folgten dem Lauf des Flusses durch den finsteren, dichten Wald.

Vilthon suchte zwischen dem wuchernden Grün konzentriert nach der ein oder anderen Heilpflanze, die er für alle Fälle in seinem Rucksack wissen wollte, bevor wir uns allein unter den Menschen befinden würden.

Mirlien beobachtete fasziniert die Fauna um sich herum.

Ab und an kreuzten Wölfe und Wollspinnen unseren Weg.

Manches Mal hörten wir ein Rauschen über unseren Köpfen, doch die ausladenden Baumkronen ließen selten eine freie Sicht auf dem Himmel zu.

Nur purpurfarbene Dalyazine, Spechte, Raben und einige bunte Finken ließen sich hin und wieder blicken, doch die Geräuschkulisse um uns herum ließ uns erahnen, welche unüberschaubare Vielfalt an Vogelarten sich in diesem Waldgebiet tummelte.

Greyan dachte natürlich erst recht nicht daran, sein Schweigen zu brechen.

Also begann ich ein altes Wanderlied anzustimmen.

Es handelte von den Roonenhühnern, die jedes Jahr im Herbst zum Kontinent zogen, um erst im Frühling wieder bei uns einzukehren.

Ich hörte erst auf zu trällern, als mir Greyans entnervter Gesichtsausdruck auffiel.
 

Also suchte ich mir eine andere Art der Beschäftigung und half Vilthon bei seiner Kräutersuche.

Gemeinsam mit meinem besten Freund und ehemaligen Lehrmeister machte das Aufspüren und Einsammeln der vertrauten Heilpflanzen nicht nur Spaß, sondern es lenkte mich auch gleichzeitig von meinen wirren Gedanken ab.

Ich fühlte mich ihm näher als je zuvor.

Mehr denn je empfand ich ihn in diesen Momenten als Seelenverwandten, als mein männliches Äquivalent, meinen Bruder im Geiste.

Mir wurde klar, dass wir beide nun tatsächlich im Begriff waren, unseren kühnen, kindischen Traum, miteinander den Kontinent zu bereisen, zu verwirklichen.

Wenn auch unter unerwarteten, weniger erfreulichen Umständen, und mit einem ganz anderen Ziel vor Augen, als ein Herbarium über fremde Pflanzen anzulegen. Umso erhebender war es, ihn an meiner Seite zu wissen, sich zweifelsfrei darauf verlassen zu können, dass er mich niemals im Stich lassen würde, was immer auch auf mich zu kommen mochte.

Mein Vilthon, der, solange ich mich zurück erinnern konnte, immer präsent, immer in erreichbarer Nähe für mich war, der mir zuhörte, der mich unterstützte, wenn ich ihn brauchte, der mir fast immer mit seinen lieben Worten oder weisen Ratschlägen weiter helfen konnte.

Mein stets vernünftiger und ordnungsliebender Vilthon, dessen Stimme sogar sanft und ruhig klang, wenn er mich zurecht wies.

Mein Vilthon war jetzt hier, bei mir, fernab von unserer sicheren Heimat.

Und er würde mich weiterhin begleiten.

Keine Worte mussten verschwendet werden, um mein Vertrauen in ihn zu bestätigen, mein tief in meinem Herzen verankertes Wissen um seine immerwährende Freundschaft und Loyalität.
 

Die Reise hatte ihn vom ersten Tag an verändert, wie ich fand.

Er wirkte auf mich, die ich ihn doch schon so lange kannte, um einiges risikobereiter als sonst, einfach abenteuerlustiger, aufgeschlossener und auch deutlich humorvoller.

Auch Calissas Verlust schien er in dieser Zeit überwunden zu haben.

Ich hoffte von Herzen, dass eines Tages noch einmal eine Person wie Zhannya in sein Leben treten würde, und zwar bevor der Vilthon, den ich jetzt erleben durfte, wieder dem reservierten, pragmatischen, betont ernsten Alwen wich, als der er sich so oft gab.

Ich mochte es, wenn er Schwäche zeigte, seine kleinen Macken und Eigenarten fand ich unglaublich charmant, und verstand es nicht, warum er so viel Wert darauf legte, sie vor anderen Leuten zu verbergen.

Ein typischer, altmodischer Alwe eben, der nach außen hin das unerschütterliche Abbild von Kompetenz, Würde und Ruhe wahren wollte.

Während unserer Reise hatte mir Vilthon liebenswerte Facetten seiner Persönlichkeit gezeigt, die ich noch nicht kannte.

Seine komische, bemitleidenswerte Hilflosigkeit gegenüber den kleinen, harmlosen Pfeilgiftfröschen, oder seine kühne Spontaneität und sein selbstloser Mut, den er an der Brücke zum Pfahldorf unter Beweis gestellt hatte, waren nur einige Beispiele, die ich nennen könnte.

Ich beobachtete meinen Freund verstohlen von der Seite.

Er hatte sich nun seit zwei Tagen den Bart nicht rasiert und sein Haar fiel ihm verwegen ins schmale Gesicht.

Nicht gerade besonders alwisch!

Vielleicht gerade deshalb fand ich, dass er einfach toll aussah.

Calissa hätte sich sicher auf der Stelle neu in ihren Exmann verliebt.

Doch ich wäre viel erfreuter gewesen, wenn ihn jetzt Zhannya so hätte sehen können.

Ihr hatte er sich öffnen können.

Ich musste sie ausfindig machen!

Das nahm ich mir fest vor.
 

Der gute Mirlien wachte darüber, dass Vilthon und ich uns beim eifrigen Kräutersammeln nicht zu weit vom Flussufer entfernten und rief uns beizeiten zurück.

So verging die Zeit wie im Fluge.

Nebel begann aufzusteigen, als der Tag sich langsam dem Ende neigte.

Zwischen den Bäumen brachen sich die letzten blassen Sonnenstrahlen gespenstisch im wabernden Dunst.

Vilthon hatte es geschafft, die Kräuter, Beeren und Wurzeln irgendwo in seiner Tasche sicher und trocken zu verstauen.

Arm in Arm stapften wir durch das Unterholz zurück zu unseren Gefährten, die dem ebenen Pfad entlang des Ufers gefolgt waren.

Vilthons Augen leuchteten annähernd verliekisch als er mir freundschaftlich durch die Federn wuschelte.

Wir konnten stolz auf uns sein, denn wir hatten tatsächlich ganze Arbeit geleistet.

Ein halbes Haus der Gesundheit schien in Vilthons Rucksack Platz gefunden zu haben.

So gut gerüstet durften wir uns ruhigen Gewissens zum Kontinent wagen.

Unsere Hände dufteten nach Salbei und Lavendel.
 

Sichtlich erleichtert erwartete uns Mirlien.

Selbst unserem stillen, genügsamen Freund musste es doch nach einer so langen Zeit allein mit dem schweigsamen Greyan ziemlich langweilig geworden sein. Schuldbewusst schlang ich meinen Arm um seine schmale Hüfte und drückte seinen ausgezehrten Körper kurz an meine Seite.

Wie zum Dank schenkte er mir sein herzliches, warmes Lächeln, welches ich so sehr liebte. „Da seid ihr beiden ja endlich wieder. Ich fürchtete schon,du könntest wieder einem Querkenfäuler zum Opfer gefallen sein.“

Mirliens rauhes Lachen tat mir wohl in den Ohren.

Es hörte sich gut an.

Befremdlich zwar, aber richtig.

Er sollte es viel öfter tun, fand ich.

Auch Vilthon hatte sich überrascht zu uns beiden umgedreht.

Er grinste verschmitzt. „Oh nein, mein Bester! Das wird nicht ein zweites Mal passieren. Ich verspreche dir feierlich, dass ich unseren kleinen Frostfrosch nie wieder auch nur einen einzigen Pilz abpflücken lasse, ohne mich vorher persönlich von seiner eindeutigen Identität zu überzeugen!“

Greyan warf uns drei fröhlich scherzenden Freunden einen misstrauischen Blick über seine Schulter zu, hielt dann aber plötzlich in seinem Lauf inne, und starrte angespannt in unsere Richtung.

Auch wir blieben stehen, unterbrachen abrupt unsere Unterhaltung, lauschten mit angehaltenem Atem in die Tiefen des Waldes.

Äste knarrten, trockenes Laub raschelte, Zweige brachen.

Schwere Atemzüge, rasselndes Schnauben erklang hinter uns, in nicht allzu weiter Entfernung.
 

„Baerelk.“ flüsterte Vilthon.

Greyan nickte langsam. „Kein Grund zur Beunruhigung. Nur eine kleine Gruppe von ausgewachsenen Weibchen mit ihren Jungtieren. Kein Bulle in Sicht. Ich frage mich nur, warum sich die scheuen Tiere so dicht an uns heranwagen.“

Seine Frage klärte sich von selbst, als ein neugieriges Jungtier, das sich hinterrücks an uns herangepirscht hatte, herzhaft in Vilthons Rucksack biss und genüsslich auf dem abgewetzten Stoff herum kaute.

Der Alwe sog geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen ein, als er mit sanfter Gewalt die Tasche aus dem Maul des Kalbes befreite und ein langer, viskoser Speichelfaden elegant von dem speckigen Ledergurt herab tropfte. „Das ist ja widerlich!“

Ich schmunzelte amüsiert, doch das Lachen verging mir schnell, als ich feststellen musste, dass sich die Herde der Baerelk langsam, aber sicher um uns scharte. Immer näher rückten die massigen Leiber an uns heran, traten uns mit ihren klobigen Hufen fast auf die Füße, stupsten uns mit ihren großen Mäulern an. Besonders hatten sie es anscheinend auf Vilthon abgesehen, doch auch mir schien ihr Interesse zu gelten.

„Verdammt, was wollen die von uns?“ schimpfte ich angeekelt, als sich eine glitschige, kraftvolle Baerelkzunge warm und triefend in meine Handinnenfläche schmiegte.

„Wahrscheinlich hat sie der Duft des Thymian angelockt.“ vermutete Greyan grimmig. „Was seid ihr beiden denn auch so dämlich und nehmt das ganze Grünzeug mit zum Kontinent? Glaubt ihr etwa, die Menschen hätten nicht längst adäquate Arzneistoffe aus ihren eigenen, heimischen Pflanzen isoliert? Aber nein, die Herrschaften müssen ja unbedingt Thymian mit sich herumschleppen. Und das mitten im Revier der Baerelk. Und ausgerechnet während der Brunftzeit.“

Ich schluckte. „Nun ja, immerhin sind wir an weibliche Tiere geraten.“ stammelte ich und warf dann einen bedeutungsschwangeren Blick in die Richtung des ewig mies gelaunten Alverlieken. „Die sind wenigstens nicht so aggressiv!“

„Tilya, Liebes, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um Streit anzufangen!“ kam es japsend von Vilthon, der verzweifelt versuchte, den Thymian aus seinem Rucksack zu klauben, bevor dieser sein bitteres Ende zwischen den mahlenden Kiefern der Baerelk finden musste.

Mirlien kam dem nervösen Alwen zu Hilfe und verfütterte das duftende Kraut direkt an die gierigen Viecher, die sich brummend und gurrend um die beiden Männer scharten.
 

Die Pflanze schien eine entspannende, aber gleichzeitig höchst anziehende Wirkung auf die Baerelk auszuüben.

Als der letzte Halm im Maul der alten Leitkuh verschwand, dachte die Herde jedoch noch lange nicht daran, uns endlich weiterziehen zu lassen, sondern verdichtete sich immer mehr um Vilthon und mich.

Erwartungsvoll starrten uns die großen, hellen Augen der zotteligen Riesen an.

„Was wollt ihr denn noch? Ihr habt den ganzen Thymian gefressen, ihr verlaustes Pack!“ meckerte ich.

Ich erschrak über meine eigene Gereiztheit und schielte verstohlen zu Greyan hinüber. Ob so was ansteckend war?

„Vermutlich wittern die Baerelk Spuren des Thymians an euren Händen.“ versuchte Mirlien die dauerhafte Besessenheit der Tiere, was Vilthon und mich anbelangte, zu erklären.

Greyan klopfte Mirlien kameradschaftlich auf den Rücken. „Dann sollten wir beide doch die Gelegenheit nutzen, und die beiden Idioten hier einfach ihrem Schicksal überlassen. Überleg es dir, Junge, so leicht könntest du sie vielleicht niemals wieder loswerden.“

Die Mundwinkel des Alverlieken wiesen gen Erdboden, aber seine Augen blitzten für einen Moment schelmisch auf.

Mirlien grinste nur kopfschüttelnd.

Dann half er uns beiden, uns einen Weg durch die Herde zum Fluss hindurch zu bahnen, damit wir uns dort die Hände waschen konnten.
 


 

Leider wurde Vilthon dabei von einer besonders aufdringlichen Kuh kopfüber in das knietiefe Gewässer geschubst.

Einen weiteren Grund zur Ärgernis gab die Tatsache, dass die Baerelk eine der Phiolen mit Saponsiskrautsaft in meinem Rucksack zum Zerbrechen gebracht hatten.

Der aromatische Inhalt benetzte nun einige unserer Handtücher und Kleidungsstücke.

Dem Himmel sei dank war der Extrakt nicht zusätzlich mit Thymian versetzt.
 

Während der triefnasse Vilthon sich abtrocknete und umzog, half ich Greyan und Mirlien, unser Lager aufzubauen, was sich als schwierig erwies, da die anhänglichen Baerelk uns immer noch hartnäckig umlagerten, uns entweder im Weg standen oder die Knoten der tragenden Seile, die wir um die Bäume geschlungen hatten, lösten.

Ohne Mirlien, der die massigen Tiere immer wieder geduldig von unserem Lager weglockte, hätten wir es nicht geschafft.

An diesem Abend verzichteten wir auf ein Lagerfeuer und auf den obligatorischen Nolmengrieß.

Als uns mitten in der Nacht ein neugieriges Kalb im Zelt besuchte, und wenige Augenblicke später das mühsam gebastelte stützende Gerüst aus Ästen in sich zusammenfiel, segelte die Plane auf uns herab, um uns unter sich zu begraben.

Greyan fluchte leise.

Ich lachte mich schief.

Vilthon seufzte gequält.

Mirlien fragte vorsichtig, ob wir gedächten, das Zelt wieder neu zu errichten.

Im Endeffekt verzichteten wir aber darauf.

Es wurde zwar etwas stickig unter der Plane, aber wenigstens wurde unsere Nachtruhe nicht weiter gestört.

Ich kuschelte mich vertrauensvoll in Mirliens Arm.

In zwei Tagen würden wir den Boden des Kontinentes unter unseren Füßen haben.

Soweit ich wusste, gab es dort keine Baerelk.

Roonenzapfen - Tag 18

Als wir uns am nächsten Morgen aus den Ruinen unseres Lagers befreiten, waren die Baerelk verschwunden.

Hastig bereitete Vilthon eine doppelte Portion des heiß ersehnten Nolmengrieses zu. Wir schlangen ihn hungrig hinunter, ohne ihn vorher zu würzen.

Greyan gönnte uns ein wenig Zeit für ein Bad im Fluss, dann scheuchte er uns allerdings gnadenlos weiter.

Heute Abend wollten wir uns bis zur Küste durchgekämpft haben, um am Waldrand die letzte Nacht auf der Insel zu verbringen, bevor uns am nächsten Morgen das Boot zum Kontinent bringen würde.

Mir war jetzt schon speiübel vor Aufregung.

Unsere Rucksäcke hatten wir zwar noch im Bergdorf reich gefüllt mit Proviant und nützlichem Kleinkram wie Saponsiskrauttrockenextrakt, Schlegelsand und Funkensteinen, doch ich hatte Angst vor dem Unerwarteten.

Auch Vilthon fuhr sich ums ein oder andere Mal nervös über sein Kinn.
 

Die Anspannung wuchs mit dem Weg der Sonne vom Zenit zu den Weiten des Horizontes.

Versehentlich verpasste ich meinem alwischen Freund einen elektrischen Schlag, als er mir an die Schulter tippen wollte, um mir einige frisch aus dem Zapfen gepellte Roonenkerne anzubieten.

Greyan hetzte uns unerbittlich weiter durch die Wälder, ließ uns keine Pause, aber eigentlich kam mir das sogar ziemlich gelegen.

So lenkten mich die Strapazen, das Schwitzen und die Wadenkrämpfe wenigstens etwas von meiner Aufregung ab.
 

Als sich der Tag dem Ende neigte, begann sich der dichte Wald langsam zu lichten. Einige große Flugechsen kreisten über unseren Köpfen.

Mirlien meinte sogar, ein Tier mit einer gut verheilten Wundnaht in ihrer Flughaut gesichtet zu haben.

Mein Herz klopfte.

Flugechsen bedeuteten die unmittelbare Nähe zum Ozean.

Die Landschaft ebnete sich.

Die Nadelbäume wichen knorrigen, tiefen Sträuchern.

Das Rauschen des Flusses mischte sich mit dem Klang der aufschäumenden Gischt des nahen Sandstrandes.

Weich war der Boden unter unseren Schuhen, beinahe lehmig mutete der Untergrund an, sein Sand war fast so feinkörnig und hell wie Xeraatmehl.

Greyan ließ seinen Rucksack auf die Wurzeln der letzten Roone fallen, die auf dem Gelände wuchs und verschränkte die Arme vor der Brust.

Endlos weit und wunderschön zeigte sich das tiefblaue, ruhige Wasser des Meeres unseren ehrfurchtsvollen Augen.

Unwillkürlich langte ich nach den Händen von Vilthon und Mirlien, die links und rechts neben mir verharrten und drückte sie fest, während die Sonne ein letztes Mal hinter alverliekischen Bergen versank.

Aufbruch - Tag 19

Ich wachte auf, mit dem Klang der Brandung und dem verliebten Gezirp miteinander balzenden Flugechsen in den Ohren.

Es war ein herrlicher junger Morgen.

Die Luft schmeckte frisch und salzig, die Kälte der vergangenen Nacht wirkte belebend auf meiner Haut und ich überlegte mir ernsthaft, ein morgendliches Bad im sicherlich klirrend eisigen Meerwasser zu nehmen.

Doch leider war Greyan auch schon wach und ich genierte mich, meine Echsenhaut vor ihm zu entblößen.
 

Zu viert bauten wir das Lager ab, Mirlien sammelte Feuerholz und ich bereitete an diesem Tag den Nolmengrieß zu, da der aufgewühlte Vilthon irgendwo elendig zwischen einigen Korallenbaumgerippen hing, und sich dort seiner Übelkeit ergab.

Dementsprechend widerlich schmeckten die Nolmen.

Ich hatte erst zu viel Wasser hinein gekippt, und es danach wohl etwas mit den Gewürzen übertrieben.

Mirlien und ich würgten den Fraß tapfer hinunter, Vilthon war momentan sowie nicht in der Lage dazu, etwas zu Essen, und Greyan kostete nur einen einzigen Löffel von meinem Gericht.

Ohne eine Miene zu verziehen, erhob er sich geschmeidig, drehte sich in aller Seelenruhe um, und schleuderte den matschigen Inhalt seiner Schüssel in hohem Bogen ins Meer.

Mit einem unappetitlichen Platschen versank der ekelhafte Brei in den Fluten.

„Die armen Fische…“ bemerkte Mirlien nüchtern.

Ich starrte meinen sanftmütigen Freund voller Entsetzen an.

So abgebrüht hatte ich ihn bisher noch nicht erlebt.

Er bemerkte meinen entgeisterten Blick sofort und versuchte schnell, sich zu erklären. „Oh, Tilya, entschuldige bitte. Ich wollte dich damit nicht verletzen! Es war einfach nur die traurige Vorstellung von den ahnungslosen Meerestieren, die sich unvermittelt einem Regen aus, nun…“

„…völlig versalzenem, widerlichen Nolmenschleim konfrontiert sehen.“ vollendete ich resigniert seinen angefangenen Satz. „Schon gut, Mirlien. Ich bin dir ja gar nicht böse. Im Gegenteil. Ich finde es sogar ziemlich bemerkenswert, dass du dich überhaupt dazu überwinden konntest, das ganze Zeug hinunter zu schlucken.“

Ich schielte etwas vorwurfsvoll zu Greyan hinüber, der diese Art von Respekt nicht unter Beweis gestellt hatte.

Doch der dunkelhäutige Alverliek verzog nur süffisant seinen Mund. „Tja, Federkopf, diesen Burschen würde ich mir warmhalten, an deiner Stelle! Es kann sich nur um ein Zeichen größter Zuneigung handeln, wenn sich jemand dir zu Liebe opfert und diesen Schlangenfraß seine Kehle hinunter wandern lässt.“

Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.

„Wissen Sie, Mirlien besitzt eben den Anstand, zu würdigen, was eine Dame mit Liebe und Sorgfalt zubereitet hat!“ schnauzte ich Greyan an.
 

Einen Moment lang hörte man nur das Rauschen der Wellen und das Prasseln des Feuers.

Dann einen Laut, der, obwohl ich gerade ziemlich verärgert war, einen imaginären Schwarm Silberfinken in meinem Leib zum Flattern brachte.

Es war Greyans Lachen.

Laut, rau, bellend und nicht frei von Spott.

Aber es klang herrlich gelöst und unbeherrscht.

„Eine Dame bist du also, Federkopf, so, so!“ schnarrte er höhnisch. „Gut, dass ich das jetzt auch auf diesem Wege erfahren durfte! Aber wenn du dieses Gericht tatsächlich mit eben der Sorgfalt gewürzt hast, die du in Vilthons Labor erlernt und perfektioniert hast, dann wirft das nun kein besonders gutes Licht auf deinen Lehrmeister!“

Mirlien hatte sich inzwischen mit gesenktem Kopf vom Lagerfeuer entfernt und erkundigte sich augenblicklich fürsorglich nach dem Befinden des eben zitierten ahnungslosen Lehrmeisters, der in einiger Entfernung von uns bei unserem Gepäck verharrte, da ihm der Geruch der garenden Nolmen noch nicht gut bekam.

So stand ich Greyan gegenüber.

Auf seinen Mundwinkeln lag noch die Spur seines Lächelns.

Ich fühlte mich von ihm beleidigt, gedemütigt, nicht für voll genommen.

Trotzdem hätte ich ihn in diesem Moment fast aus einem irrsinnigen Impuls heraus geküsst.

Verstört wandte ich mich schnell von ihm ab. „Spülen…“ presste ich hervor und sammelte hektisch die Schüsseln und das Besteck ein, schnappte mir den kaum geleerten Kessel und verzog mich damit an den Strand.
 

Mit mir selber schimpfend wusch ich mit einer völlig unnötigen Brutalität das Geschirr.

Was war nur in mich gefahren?

Was hatte ich für quere Gedanken?

Greyan musste gut und gerne siebzehn Jahre älter sein als ich, er behandelte mich wie ein dummes, lästiges Kind, hatte eine seltsame Einstellung zu Frauen, und verhielt sich überhaupt ziemlich abweisend und griesgrämig.

Und er war zu allem Überfluss auch noch Myroons Halbbruder.

Warum, verdammt noch mal, wollte ich ihn küssen?

Ich sollte jetzt wirklich andere Dinge im Kopf haben!

Waren das vielleicht die Hormone, die da gerade mit mir durchgingen?
 

Wenig später hatten wir vier uns an einem ebenen Abschnitt der Küste eingefunden, von wo aus man einen guten Überblick über das ganze Meer hatte.

Gespannt blickten wir auf die diffuse Linie des Horizontes und warteten auf unser Fährboot.

Sie waren spät dran.

Eigentlich hätte man uns am frühen Morgen abholen sollen, aber inzwischen war die Sonne schon ein ganzes Stück über den hellblauen, wolkenlosen Himmel gewandert.

Ob sie schon längst an uns vorbei gezogen waren?

Hatten sie uns nicht bemerkt, oder hatten wir sie übersehen?

Ungeduldig lief ich den Strand auf und ab.
 

Dann endlich tauchte das Schiff auf.

Ein kleiner Punkt in der Ferne, der rasch immer größer wurde.

„Sie kommen!“ jubelte ich, und wedelte wild mit meinen Armen.

Vilthon pfiff anerkennend durch die Zähne. „Da müssen sich hochtalentierte Alwen an Bord befinden. Seht nur, wie schnell das Schiff durch die Wogen gleitet! Ein perfektes Zusammenspiel von Wind und Wasser!“

Ich kniete mich auf den samtweichen Boden und ließ eine Handvoll Sand durch meine Finger rieseln. „Auf bald, liebe Insel.“ flüsterte ich bewegt.

„Beim Bart der Zaronne, jetzt dramatisiere die Geschichte doch nicht unnötig, Weib!“ ätzte Greyan genervt.

Innerhalb weniger Minuten waren die Seeleute angekommen und warfen den schweren Anker in das Meer.

„Traute Sterne! Verzeiht die Verspätung!“ rief uns ein alter Dunkelalwe entgegen, der uns in dem kleinen Beiboot entgegenkam.

Ganz ohne Ruder natürlich.

„Wir haben zwischendurch noch einen Zwischenstopp einlegen müssen, um den Verlieken einzusammeln.“

„Keine Ursache. Wir danken recht herzlich für die Überfahrt.“ erwiderte Vilthon höflich wie eh und je, während wir uns mehr oder weniger geschickt in den Kahn hievten.

Mirlien half mir dabei wie ein wahrer Kavalier.

„Nichts zu danken, das ist unser Job. Wir alle wünschen euch viel Erfolg bei eurem ehrenwerten Einsatz.“

„Äh, danke.“ murmelte ich verschämt und mit einem ziemlich schlechten Gewissen.

Als ich die schmale Strickleiter hinauf ins Boot kletterte, packten mich auf den letzten Ellen zwei kräftige Hände und beförderten mich schwungvoll an Deck.

„Traute Sterne…“ säuselte eine mir wohlbekannte, klangvolle Stimme.

Ich blickte in bernsteinfarbene Verliekenaugen, vernahm den unverwechselbaren Duft nach Wollspinne. „Thyllos?“ hauchte ich entsetzt.

„In den Augen der schönen Fremden heißt das, Schätzchen.“ korrigierte mich der Verliek und drückte mich voller Inbrunst an sich. „Hast du mich vermisst? Ich schätze schon, sonst wäre ich jetzt ja wohl kaum an Bord dieses Schiffes.“

Energisch zappelte ich mich aus seinen Armen frei.

Ich hatte vollkommen verdrängt, dass Greyan die Suche nach Thyllos veranlasst hatte, um ihn zu bitten, uns zum Kontinent zu begleiten.

Wie durch einen dämmenden Schleier hindurch registrierte ich die Begrüßung zwischen meinen Gefährten, dem fuchsäugigen Malarenhalbling und den freundlichen Seeleuten.
 

„Hat sich eure Kleine also doch dazu entschlossen, mir zu vertrauen?“ hörte ich Thyllos, der sich nun Vilthon zu wandte. „Ja, ich denke, sie hat eingesehen, wie bedeutsam deine Gesellschaft auf dem Kontinent für unser Vorhaben ist. Wir sind sehr erleichtert, dass du dich trotz der Differenzen zwischen euch beiden dazu bewegen lassen konntest, uns zu begleiten.“

Thyllos lehnte sich vertraulich in meine Richtung und grinste bis über beide Ohren. „Differenzen? Ich weiß wirklich nicht, was dein alwischer Freund damit meint, meine Liebe. Du etwa?“

„Nein, Thyllos. Keinen Schimmer.“ erwiderte ich gedehnt.

Ich wollte mich nicht mehr von ihm aus der Fassung bringen lassen, einfach gute Miene zum bösen Spiel machen.

Stocksteif ließ ich es über mich ergehen, seine warme Pranke über meine Wange streichen zu lassen.

Am liebsten hätte ich mich kopfüber vom Boot gestürzt und wäre zurück zur Insel geschwommen.

Noch war es ja nicht zu spät dafür.
 

Thyllos begrüßte Mirlien.

Dabei bemerkte ich nur allzu deutlich den unterdrückten Argwohn in Thyllos gesamter Gestik und Mimik, während Mirlien die Ausgeglichenheit in Person verkörperte und sein Blick die gewohnte Unvoreingenommenheit und Freundlichkeit ausdrückte, die er jeder Person entgegenbrachte.

„Sie sind also der Nachkomme der sagenumwobenen Fuchsfrau.“ stellte Greyan leise fest.

Ich las eine wilde Neugier in seinen blitzenden Augen.

„Doch nicht so förmlich! Für dich bin ich Thyllos!“ tönte der Rotschopf. Wie war er mir doch zuwider°

„Greyan. Erfreut, dich endlich kennenzulernen. Und das hört man selten aus meinem Mund. Es gibt da eine ganze Menge Fragen, die ich dir gerne stellen würde.“

Thyllos nickte grinsend. „Kann ich mir denken. Vielleicht nicht unbedingt hier an Deck zwischen all den feinen alwischen Spitzohren.“

„Natürlich. Verstehe.“
 

Ich beobachtete die beiden ungleichen Männer voller Besorgnis.

Ob es Thyllos auch gelang, jemanden, der so misstrauisch und so schwer zu beeindrucken war wie Greyan, um den Finger zu wickeln?

Ich hoffte es nicht!

Andererseits war Greyan so fixiert darauf, dem Malarensohn seine Geheimnisse zu entlocken, dass Thyllos ihn in gewisser Hinsicht ja jetzt schon an der Angel hatte.

Verzagt starrte ich auf die Seeschlangen, die unserem Boot folgten und wohl auf Fischabfälle warteten.

Mirlien gesellte sich zu mir.

Gemeinsam sahen wir zu, wie das Festland vor unseren Augen immer kleiner wurde, immer mehr verblasste, bis die Insel irgendwann nicht mehr zu erkennen war. Wehmütig seufzte ich auf.

Mirlien streichelte mir durch die Federn und als ich seinem aufmunternden, beruhigenden Blick begegnete, ging es mir schon wieder besser.
 

Weniger gut ging es allerdings dem armen Vilthon.

Jämmerlich hing er über der Reling und fütterte, wie es ein junger verliekischer Seemann durch die Blume ausdrückte, die Fische.

„Schäm dich, Vilthon.“ neckte ich meinen Freund. „Und so was will ein Alwe sein?“ Vilthon antwortete mir nicht.

Nicht wirklich.

Mirlien tätschelte dem erbarmungswürdigen Freund den Rücken. „Das muss an der Aufregung liegen.“ vermutete er mit einem hilflosen Zucken seiner schmalen Schultern.

Vilthon tat mir zwar unendlich leid, aber wenn ich in seiner Nähe geblieben wäre, hätte ich auf alle Fälle schnell mit ihm zusammen die Fische gefüttert.

Ich bewunderte Mirlien dafür, dass es ihm anscheinend vor gar nichts graute und er Vilthon auch in diesem unangenehmen Momenten bei stand.

Er hätte sich gut im Haus der Gesundheit gemacht.

Oder noch besser im Krankenhort.

Mit den sehnsuchtsvollen Gedanken bei unserem Haus der Gesundheit im Hügeldorf schlenderte ich über das Deck.

Doch bald wurde es mir dort zu warm und ich folgte einer braungebrannten Alverliekin in die Schiffsinnenräume, wo ich ihr zunächst dabei zu helfen versuchte, die gerissenen Fangnetze zu flicken.

Aber kurze Zeit später stellte sich heraus, dass es wohl besser wäre, wenn ich schon mal Patutt für das Mittagessen schälte.
 

Mitten auf offener See mit einem bunten Haufen Seefahrer und seinen mehr oder minder geliebten Gefährten frischen Fisch und in Xeraatöl goldbraun gebratene Patutt zu verzehren, fand ich ziemlich eindrucksvoll.

Das Schiff schaukelte kaum, denn das Meer war ruhig und friedlich, Seevögel flogen dicht an unsere Tische heran und schnappten sich die übriggebliebenen Fischköpfe, die Mirlien und ich ihnen zu warfen.

Vilthon fand das nicht sehr appetitlich, also ließen wir es fürs Erste bleiben, da wir sehr froh waren, dass unser Freund endlich mal wieder etwas im Magen behielt. Kaum aber, dass die Mahlzeit für beendet erklärt war, riss ich mir den Eimer mit den Fischabfällen unter der Nagel, den sich die gierigen Seevögel nun aber mit den geduldig ausharrenden Seeschlangen teilen mussten.

Sogar der empfindliche Vilthon ließ es sich nicht nehmen, diesem Schauspiel beizuwohnen, und gesellte sich doch noch zu uns.
 

Ich aber schaute mich um, wohin Greyan wieder entschwunden war.

Entgegen meiner Vermutung fand ich ihn nicht in Thyllos unangenehmer Gesellschaft, sondern bei dem alten Dunkelalwen, dem er dabei half, die Fangnetze zu reinigen und zu entknoten.

Manchmal schien also sogar ein Greyan seine hilfsbereiten, zuvorkommenden Momente zu erleben.

Ich erfreute mich noch einige Sekunden an diesem netten Anblick, dann begab ich mich unter Deck, um der Alverliekin von vorhin beim Spülen zur Hand zu gehen. Doch nicht die Alverliekin erwartete mich in der Kombüse, sondern ein gutgelaunter Thyllos.
 

Ich schrak zurück, als ich seine wilde, dunkelrote Mähne erkannte.

„Ich wusste, dass du gleich zu mir herunter kommst, um mir beim Abtrocknen zu helfen, glaubst du mir das?“ fragte er mich vergnügt und blinzelte mir verschwörerisch zu.

Ich dachte ein meinen guten Vorsatz und verzichtete auf eine Antwort.

Stattdessen griff ich nach dem trockenen Handtuch auf dem Korbstuhl und baute mich betont selbstsicher neben meinen neuen Gefährten auf.

„Hast du denn keine Angst, dass ich euch absichtlich zum Kontinent locke, damit meine liebe Verwandtschaft freies Spiel auf der Insel hat?“ raunte er mir ins Ohr.

Ich ignorierte sein Gelaber diszipliniert.

„Dein Malar könnte während eurer Abwesenheit anderen Malaren den Weg ebnen, die Herrschaft über alle Träume zu erlangen, jedes Totemtier zu vernichten und damit auch jedes Talent. Und dann könnte es bald ein ganzes Heer freier Malare geben, die freudig eure Rückkehr erwarten und sich über eure überraschten Gesichter amüsieren.“

„Thyllos, was willst du mir jetzt damit sagen? Dass du mich für paranoid hältst?“ forderte ich zu erfahren.

Ich hatte keine Lust auf seine Spielchen.

„Nur, dass ich dein Vertrauen in mich als ein großes Kompliment betrachte, Liebling. Und als einen Fortschritt, was unsere etwas schwierige Beziehung angeht.“

Nun riss langsam mein Geduldsfaden.

So ließ ich nicht mit mir reden! „Wir haben überhaupt gar keine Beziehung, ich bin auch nicht dein Liebling, und wenn du das, was ich dir entgegenbringe, unbedingt Vertrauen nennen willst, dann arbeite doch zur Abwechslung mal darauf hin, dass du es nicht zu weit treibst und es damit gleich wieder zerstörst, klar?“
 

Thyllos legte langsam den Spüllappen und den Teller, den er gerade mit diesem bearbeitete, aus den Händen und wandte sich zu mir um.

In seinem Blick lag etwas, was mir nicht gefiel.

Ich ahnte Schlimmes.

Da ich es nicht drauf anlegte, in Erfahrung zu bringen, was er gleich sagen oder tun würde, sondern sah zu, dass ich schleunigst Land gewann.

Atemlos pfefferte ich das Handtuch auf Thyllos Rotschopf und ergriff die Flucht. Hinter mir her schallte sein dröhnendes, dunkles Lachen.

Ich brauchte mir nichts vor zu machen.

Ich hatte einfach unheimliche Angst vor diesem Typen.
 

Um mich abzuregen suchte ich Mirliens heilsame Nähe und die vertraute Gegenwart meines Lieblingsalwen Vilthon.

Greyan brauchte ich nicht aus dem Weg zu gehen, denn er war an meiner Gesellschaft ohnehin nicht sonderlich interessiert, wie mir schien.

Das war wahrscheinlich auch besser so, denn er machte mich mindestens genauso nervös wie Thyllos es tat, wenn auch, auf eine völlig andere Art und Weise.
 

Gelenkt durch das Talent der Alwen und gesteuert von einem bärtigen jungen Verlieken schnitt unser Schiff die Meeresoberfläche entlang, wie ein scharfes Messer durch zimmerwarmen Zaronnenrahm.

Wir flogen nur so dahin, der Fahrtwind rauschte in unseren Ohren und übertönte das Schlagen der Wellen an den Bug.
 

Ich würde mich an Thyllos gewöhnen müssen.

Der Gruppe und den gemeinsamen Zielen, die wir verfolgten, zu Liebe.

Es wurde Zeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken und ihn als Teil unseres Teams anzuerkennen.

Doch ich würde ständig auf der Hut bleiben.
 

Am frühen Abend endlich vernahmen wir den ersehnten Ausruf der dunkelhäutigen Alverliekin. „Land in Sicht!“

Sofort stürmte ich zum Geländer des Buges.

Vilthons Hände legten sich von hinten auf meine Schultern. „So, Küken, nun ist es tatsächlich so weit.“

Ich lächelte. „Ja, das ist es. Geht es dir gut, Vilthon?“

„Ja, es geht mir gut. Wir beide sind ja jetzt eigentlich genau da, wo wir immer hinwollten, oder?“

„Könnte man fast so sagen.“ kicherte ich. „Aber für den Fall, dass wir Zhannya auf dem Kontinent über den Weg laufen, rate ich dir, dich mal wieder zu rasieren, Vilthon.“

Der Alwe lachte und wuschelte mir durch die gefiederten Haare. „Kämme dir erst mal deine Federn, bevor du mir solche Ratschläge erteilst, mein lieber Wuschelkopf!“

Mirlien hatte sich zu uns gesellt.

Zuversichtlich hatte sich sein klarer Blick auf den kleinen Landstreifen gerichtet, der rasch immer näher kam.

Ich berührte seine knochige Hand, die weiß und kalt auf dem Geländer ruhte.

Das warme Lächeln, das er uns daraufhin schenkte, tat gut, wie warme Sonnenstrahlen.

Es waren jetzt keine Worte nötig, um zu bestätigen, dass wir füreinander einstehen würden, ganz gleich, was uns nun erwarten würde.

Ich hatte nur wahnsinnige Angst, Mirlien an diesen Ort, den das unergründliche Wesen Mensch bevölkerte, zu verlieren.
 

„Wird das hier jetzt eine fröhliche Kuschelstunde, oder was?“ knurrte Greyan, der plötzlich direkt neben Vilthon aufgetaucht war.

„Da bin ich doch gern mit von der Partie!“ Thyllos, der ebenfalls wie aus dem Nichts erschienen war, hatte sich zwischen Mirlien und mich gedrängt und uns die Arme um die Schultern geschlungen.

Ich ertrug es tapfer und zähneknirschend.

Dieser Schmierfink.

Er sollte bloß gut aufpassen, was er tat, wenn er sich nicht wieder einen elektrischen Schlag holen wollte.
 

Das Schiff ließ seine Anker hinunter.

Bald kamen wir zum Stehen.

Wir schulterten unser Gepäck, verabschiedeten uns von den freundlichen Seefahrern und ließen uns vom alten Dunkelalwen mit dem Beiboot durch das seichtere Gewässer befördern.

„Viel Glück, euch allen! Passt gut auf einander auf!“ rief er uns zu, als er uns auf dem unscheinbaren Landstreifen absetzte, der gar nicht danach aussah, als gehöre er zum riesigen, gefährlichen, wundersamen Kontinent der Menschen.
 

Wir winkten dem Schiff hinterher, als es in den jungen Abend verschwand, heim fuhr, zurück zu unserer Insel.



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Kommentare zu dieser Fanfic (81)
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Von: abgemeldet
2009-10-01T20:10:40+00:00 01.10.2009 22:10
Vilthon füttert die Fische xD
Das ist die Umschreibung des Jahrhunderts! Genial.

Das war es also mit Teil 1?
Teil 2 werde ich wohl nächste Woche anfangen zu lesen.

Weißt du was mich etwas gewundert hat? Die Insel ist vom Festland nur eine Tagesreise entfernt und trotzdem war noch nie ein Mensch auf der Insel? Ich hätte gedacht die Insel wäre daher etwas weiter weg.

Noch einmal ein roßes Lob für 23 spitzenmäßige Kapitel!
Ich hoffe ich kann dich etwas motivieren an Teil 2 weiterzuschreiben ;)
Von: abgemeldet
2009-10-01T19:55:07+00:00 01.10.2009 21:55
Wow. Der Übergang der Landschaft ist wirklich schön beschrieben.

Von: abgemeldet
2009-09-23T18:01:51+00:00 23.09.2009 20:01
Ah, wie witzig! Oh die Vorstellung ist echt göttlich!
Die Elche sind cool. Thymiansüchtig, aber irgendwie liebenswert xD

Kleiner Rechtschreibfehler:
"Nach dem Frühstück und einer dürftigen Morgentoilette verließen wirr (!) unser Lager am Waldsee ..."
Von: abgemeldet
2009-09-23T17:51:34+00:00 23.09.2009 19:51
Und als der Besitzer des wurmstichigen Bootes zurück kam war sein kleiner Kahn verschwunden xD

Suuuuuuuper Kapitel. Diese Szene am Lagerfeuer war absolut fesselnd!
Von: abgemeldet
2009-09-19T18:16:59+00:00 19.09.2009 20:16
nachdem ich alle kapitel hintereinander verschlungen habe, weiß ich gar nicht mehr ganz genau, was ich zu diesem kapitel sagen wollte, ich weiß nur eins: ich weiß jetzt mehr über den malar und schattenstaub-aber ich weiß nicht mehr über mirlien,-und vor allem -wie er nun zu tilya steht, bzw. sie zu ihm. ist ziemlich undurchsichtig... ist das jetzt mehr als eine gaaaaanz tiefe freundschaft, oder nicht? XD
ich fänd die beiden ja süß zusammen...
Von: abgemeldet
2009-09-19T18:14:14+00:00 19.09.2009 20:14
mirlien - greyan - mirlien - greyan...
hmmm... gut, mirlien mag jeder, aber ich glaube zwischen ihm und tilya und vielleicht auch vilthon gibts ein spezielles band. kann das sein?
Von: abgemeldet
2009-09-19T18:12:59+00:00 19.09.2009 20:12
eieiei, ich weiß nicht recht...
knistert es jetzt etwa doch ein wenig zwischen mirlien und tilya? irgendwie ja, aber irgendwie auch nein, jedenfalls nicht so, wie man es sich vorstellt. aber tilya ist definitiv von armors pfeil getroffen, wenn es um greyan geht, das ist ja unübersehbar!

greyans erklärungen waren bombastisch, ich habe deinen sogenannten laberteil verschlungen! ich muss sagen, ich habe manche dinge anscheinend in einem vollkommen falschem licht gesehen, aber ich denke, jetzt habe ich den durchblick! freue mich echt auf die nächste begegnung mit dem malar!
Von: abgemeldet
2009-09-19T18:08:13+00:00 19.09.2009 20:08
hmmm...diese knisternde atmosphäre am lagerfeuer... wie kühl greyan tilya begutachtet, und wie sie so nervös mit ihren augen geborgenheit bei mirlien sucht, und dabei noch einmal deutlich wird, welche wirkung er auf tilya,-na eigentlich auf irgendwie jeden-ausübt...
und dann noch ein blick auf das verhältnis von tilya zu vilthon,- insgesamt eine schöne perspektive auf die beziehungen, die tilya zu ihren 3 gefährten entwickelt hat. also definitiv nur für greyan hat sie so richtig romantische gefühle, nicht?
ich meine, dass die thyllos hasst, ist ja klar. obwohl ich ja dazu tendiere, dass er sie doch mit seiner art reizen könnte...:P
und das resummee über tilyas entwicklung, was ihr talent betrifft fand ich sehr aufschlussreich, es hat meine letzten zweifel aus dem weg geräumt!
Von: abgemeldet
2009-09-19T18:00:43+00:00 19.09.2009 20:00
;D greyan, der alphawolf-passt ja perfekt!
vilthons dezentes schnarchen...*g*
süß...
noch süßer ist aber tilya, die nicht recht so nah neben ihrem verehrten greyan ruhe finden kann---hach, wie romantisch, ich hoffe echt, dass es was wird, mit den beiden!
Von: abgemeldet
2009-09-16T18:29:02+00:00 16.09.2009 20:29
Oh wie schön.
Will auch neben Mirlien Sterne beobachten ^^


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