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Der Malar

Die Jagd nach der Kreatur der Untiefen
von

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Die Reise beginnt - Tag 1

Ich erwachte aus meinem Schlaf und konnte mich zunächst kaum orientieren, bis ich mein altes Gästezimmer um mich herum erkannte, das Vilthon mir gestern Nacht genauso gemütlich hergerichtet hatte wie er es noch vor einigen Jahren gemeinsam mit seiner Frau für mich getan hatte.

Es war noch sehr dunkel an diesem frühen Morgen, doch ein sachtes, aber ungeduldiges Trommeln an der Zimmertür verriet mir, dass Vilthon bereits im Flur stand und mich anscheinend schon seit einiger Zeit diskret zu wecken versuchte.

„Ich mach mich fertig, Vilthon!“ rief ich, und wurde mit einem Schlag putzmunter.

„In Ordnung, lass dir nur Zeit, es ist noch sehr früh!“ kam es dumpf hinter der schweren Holztür hervor.

Ich zog mir blitzschnell einen weiten Kittel über und rannte hinauf in Vilthons Badezimmer, um mich ausgiebig zu duschen.

Dann kämmte ich mir die Federn und putzte mir die Zähne.

Für ein Mädchen hatte ich auffallend große verliekische Eckzähne, wofür ich mich etwas genierte.

Dieser Umstand war jedoch nicht der eigentliche Grund dafür, warum man mich so selten lächeln sah.

Nun aber hatte sich einiges in meinem Leben geändert.

Ich hatte zwar etwas Angst vor dem, was kommen würde, aber ich hatte auch neuen Mut gefasst und war fest entschlossen, alle Hindernisse, die sich mir bieten würden, zu überwinden.
 

Als ich mit frischer Kleidung in die Küche kam, hatte Vilthon schon im warmen Schein einiger Kerzen ein leckeres Frühstück auf den Tisch gezaubert und begrüßte mich mit funkelnden Augen.

„Guten Morgen, Liebes! Weißt du, dass du mit den nassen Federn genauso aussiehst wie früher, als du gerade bei mir zu lernen angefangen hast?“

Ich grinste verschmitzt. „Das fasse ich als Kompliment auf, klar? Vilthon, kann es sein, dass es hier himmlisch nach Salbeitee duftet?“

Der Alwe nickte und drückte mir lächelnd eine warme Tasse mit dem wohlriechenden Gebräu in die Hand.
 

Sein entspanntes, strahlendes Gesicht im flackernden Kerzenschein, der betörende Geruch des Kräutertees und das intensive dunkelblaue Leuchten des neu geborenen Tages, das durch die Fensterscheiben schimmerte, versetzte mich in eine feierliche Stimmung und ich genoss einen kleinen Schluck des dampfenden Aufgusses mit seinem milden, leicht seifigen Geschmack, der meinen trockenen Hals angenehm befeuchtete und meinen Körper mit Wärme erfüllte.
 

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Nach dem Frühstück, das wir in festlicher Stille verzehrt hatten, begannen wir, unser Gepäck in den Rucksäcken zu verstauen.

Vilthon packte in meine Tasche etwas Kleidung für uns beide ein, zwei Handtücher, zwei Xeraatmatten und zwei große, leichte Decken. Dann befestigte er die dünne, Wasser abweisende Zeltplane an dem Rucksack.

Erstaunt stellte ich fest, dass er trotz seines sperrigen Umfangs überraschend leicht zu tragen war.

In Vilthons Rucksack verschwanden zunächst ein kleiner Kessel, sechs ineinander stapelbare Becher mit dazugehörigen Schraubverschlüssen, zwei Feldflaschen, ein dicker Stapel weicher Papiertücher und einige Lappen und Schwämme.

Dazu gesellten sich unsere Zahnbürsten und Kämme, ein paar Funkensteine, Wäscheklammern, Angelhaken, Zange, Schere und Rasierzeug.

Dann stopfte er noch neben einer Dose Schlegelsand und einer Flasche Saponsiskonzentrat das Nähzeug, einige Messer und ein langes Seil hinein.

Den restlichen Platz in seinem Rucksack belegten einige Beutel Nolmengrieß.

Diese getrockneten Schotenfrüchte quollen in heißem Wasser bis zur fünffachen Größe auf, und gaben eine sättigende, nahrhafte, aber leider sehr fade Mahlzeit ab.

Interessiert sah ich an meinem Freund hoch, als auch er guter Dinge seine vollgepackte Tasche schulterte.

„Tragbar.“ stellte er knapp fest und grinste mich verschmitzt an, bevor er mir einen verrosteten Kompass in die Hand drückte.

„Bitte sehr! Ich nehme die Karte. Und jetzt lass uns Schwarzfuß oder Kwantsch aus der Voliere holen, damit die Raben schon mal mitkriegen, in welche Richtung sie uns zukünftig zu folgen haben.“

„Und die wäre?“ fragte ich.

Eine gute Orientierung gehörte nicht zu meinen Stärken.
 

Vilthon klappte die vergilbte Karte vor mir auseinander, und fuhr mit dem Finger die Strecke nach, die wir zurücklegen mussten, um zu Greyan zu gelangen.

„Immer der Küste entlang, siehst du? Dabei können wir fast den ganzen Weg über auf den Hauptstraßen zwischen den Dörfern bleiben und müssen kaum unübersichtliches oder gefährliches Gelände durchqueren, für das wir länger als einige Stunden bräuchten, um es hinter uns zu bringen. Nur vor dem Gebiet, das dem Kontinent unmittelbar gegenüberliegt, gibt es keine Wege zu den nächsten Dörfern und wir müssen einen längeren Abschnitt durch die dichten, kühlen Nadelwälder durchwandern. Wenn wir das Gebirge erreicht haben, ist es nicht mehr weit bis zu dem Dorf, in dessen Nähe Greyan wohnt.“

„Hört sich gut an. Tja, dann lass uns mal aufbrechen, oder?“ schlug ich vor, wobei ich mich bemühte, meine Stimme nicht aufgeregt klingen zu lassen.

Die Tatsache, dass uns unsere Route häufig ans Meer bringen würde, versetzte mich in eine Hochstimmung.

„Na fein, los geht es!“ verkündete Vilthon darauf heiter, und wir beiden verließen frohen Mutes das kleine Fachwerkhäuschen.
 

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Die Morgendämmerung ließ noch auf sich warten, dennoch war es schon hell genug, dass auch der alwische Vilthon genug von seiner Umgebung erkennen konnte, um schnell den Weg zur Voliere der Raben zu finden.

Die Tiere dösten friedlich vor sich hin, als ich den alten Schwarzfuß, der sich durch sein helles Gefieder deutlich von den anderen Vögeln hervorhob, vorsichtig an seiner grauen Brust stupste.

Schlaftrunken öffnete der Rabe erst das eine, dann das andere Auge, schüttelte sich, und hüpfte dann schwerfällig auf meine Hand, die ich zur Faust geballt hatte.

Die scharfen Krallen des Vogels kratzen etwas unangenehm auf meinen Fingerknöcheln, und ich trat schnell aus der Voliere, um Schwarzfuß in die Lüfte zu entlassen, worauf der alte Rabe große, kreisende Bahnen um uns zwei herum zu ziehen begann, während wir nun begannen, die Hauptstraße in Richtung der nördlichen Dorfgrenze entlang zu wandern.

Bald führte der Weg uns zwischen den bunten Feldern der Sonnenbulbenzwiebeln hindurch, die in voller Blüte standen und trotz des spärlichen Dämmerlichtes mit ihren kräftigen Farben bezauberten.

Mir wurde es schwer um mein Herz, als wir die Felder hinter uns ließen und die Honigfruchtterassen erreichten.
 

Vilthon pflückte behutsam zwei reife Exemplare dieses süß schmeckenden Steinobstes, dessen knackiges, orangefarbenes Fruchtfleisch von einer harten, stacheligen Schale geschützt wurde.

Schweigend machten wir uns über die saftige Zwischenmahlzeit her und warfen die großen Kerne einfach wieder auf die Anbaufläche zurück.

Der honigartige Geschmack auf der Zunge wirkte auf mich wie ein süßer Trost.

„Wie viele Tage werden wir wohl unterwegs sein, bis wir bei Greyan ankommen?“ fragte ich Vilthon nach einiger Zeit, als die Sonne schon längst ihre Bahn ein gutes Stück über den wolkenlosen, strahlendblauen Himmel gezogen hatte.

Ich war gespannt auf diesen Mann.

„Nun, ich habe vierzehn Tage eingeplant, wenn wir zügig vorankommen und nicht aufgehalten werden.“ gab mir der Alwe zur Antwort.

Ich nickte zufrieden.

Ich hatte mit Schlimmerem gerechnet.
 

„Weiß dieser Greyan eigentlich Bescheid über die Flucht meines Malars?“

Vilthon schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe ihm gestern nur geschrieben, dass ich ihn zunächst endlich mit dir zu besuchen gedenke. Ich hielt es für zu riskant, ihm eine Schilderung der Tatsachen mit dem Botenraben zu schicken. Gerade jetzt, wo sich die Dörfer gegenseitig mit mehr oder weniger sinnvollen Informationen über unser berühmtes Tier überschütten werden, ist die Gefahr zu groß, dass ein solcher Brief, wenn er in die falschen Hände gerät, eine regelrechte Panikwelle auf der Insel auslöst. Und so etwas würde uns nicht weiterbringen, ganz im Gegenteil. Sobald die Gerüchteküche einmal brodelt, führt das nur noch zu weiteren Missverständnissen und allgemeiner Verwirrung.“

Vilthon war so weitsichtig und vorausschauend! Ich bewunderte ihn dafür.

Doch in einer Sache war ich mir noch nicht schlüssig.

„Und was erzählen wir den Leuten, wenn sie uns fragen, was es mit dem ominösen Tier auf sich hat?“

Darauf wusste Vilthon nicht sofort eine Antwort.

Er überlegte eine Weile.

„Gute Frage. Offiziell wissen wir nur das, was ich in den allgemeinen Schreiben dargestellt habe. Aber ich denke, wir können ruhigen Gewissens vorgeben, den Spuren dieses sagenhaften Tieres zu folgen, um es zu stellen, einzufangen und zum Kontinent zurückzubringen. In diesem Fall können wir uns auch ganz nebenbei nach merkwürdigen Vorfällen erkundigen, ohne zu befürchten, bei den Leuten auf Unverständnis und Misstrauen zu stoßen.“

„In Ordnung. Damit kann ich leben, denke ich.“
 

Mittlerweile hatten wir einen freundlichen, lichten Roonenwald durchkreuzt und gelangten nun zu den ersten Feldern des Nachbardorfes, auf denen schon fleißig gearbeitet wurde.

Vilthon und ich grüßten die jungen Alwen, die emsig den Salnachkohl schnitten und die frischen Strünke pflegten.

Ein von Roonengräbern gezogener Holzkarren holperte unter der Last unzähliger gebündelter Flachsfasern auf uns zu.

„Seid gegrüßt, Nachbarn!“ rief der Fahrer, ein greiser Verliek aus ihrem Heimatdorf, uns schon von Weitem entgegen.

Es war der alte Padhusch, der den lieben langen Tag diverse Tauschmaterialien zwischen den nahen Dorfgemeinschaften der Zaronnenauen hin und her kutschierte.

Er brachte mit einem Schnalzen seiner Zunge die Zugtiere zum Halten, als der Karren sich etwa auf unserer Höhe befand und grinste schelmisch zu mir hinunter.

„Na, Drachenmädchen, dich erkennt man ja schon aus der Ferne an deinem bunten Federschopf! Herr Vilthon, sagen Sie, was treibt euch zwei Hübschen denn weg vom schönen Hügeldorf?“ fragte der alte Verliek, während er neugierig unsere vollgestopften Rucksäcke musterte.

„Wir suchen die Kreatur vom Kontinent und bringen sie zurück zu den Menschen, Herr Padhusch. Aber wir wollen Sie nicht mit Einzelheiten aufhalten, sicher erwartet man Sie schon sehnlichst in unserer Gemeinde.“ antwortete Vilthon ihm freundlich lächelnd, aber in einem unmissverständlichen Tonfall, der keine weiteren Fragen des geschwätzigen Alten zuließ.

Jetzt verkörperte er den Urtyp eines hochmütigen Alwen.

Ich musste mich beherrschen, um nicht laut loszulachen.

Padhusch sperrte den Mund weit auf, als wolle er noch etwas dazu sagen, doch als Vilthon fröhlich winkend zurücktrat, um den Karren vorbei fahren zu lassen, brach der Verliek plötzlich in schallendes Gelächter aus, wünschte uns beiden eiligen Jägern noch viel Glück bei unserem Vorhaben und trieb die Roonengräber zum Weiterkrabbeln an.
 

Grinsend sah ich dem Wagen hinterher, der mit quietschenden Rädern seinem Weg über die unebene Hauptstraße folgte.

Zwar missbilligte ich die Kühnheit des Greises, die Empfehlung der Gemeinden zu ignorieren, und trotzdem ohne Begleitung in der Gegend umher zu ziehen, andererseits durfte ich ein weiteres Mal erfreut feststellen, dass das angebliche Auftauchen eines fremden Tieres bei den Insulanern vielleicht eine gewisse Vorsicht, nicht jedoch die lähmende Furcht auszulösen schien, mit der ich gerechnet hatte.
 

Besonders überrascht aber war ich von dem sonst so zugeknöpften Vilthon, dem ich niemals zugetraut hätte, so unbekümmert den Redefluss eines für seine Schwatzhaftigkeit berüchtigten Senioren unterbrechen zu können, um ihn darauf mit einer derart höflichen Entschiedenheit abzufertigen.

Anerkennend klopfte ich meinem Freund auf die Schulter, als wir wieder nebeneinander die staubige Straße entlang marschierten.
 

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Pünktlich zur Mittagszeit erreichten wir das grüne Dorf, welches seinen Namen den angrenzenden, weiten fruchtbaren Hügellandschaften verdankte, auf denen unzählige wilde Zaronnen grasten.

Auch die dorfeigene Herde zahmer Betoolenspringböcke durfte hier tagsüber weiden, bevor man die Tiere am Abend wieder in die Ställe trieb.

Auf dem Weg durch das grüne Dorf fiel mir auf, wie häufig efeubewachsene Korallensteinbäume an diesem Ort die Behausungen der Bewohner trugen.

Es duftete anheimelnd nach frisch geschnittenen Gräsern und Kamille.

„He, Kleine, bist du nicht Tilya, das Drachenmädchen?“ hörte ich plötzlich eine liebenswerte weibliche Stimme hinter mir herrufen, als wir just die Dorfmitte passieren wollten.

Sie gehörte zu einer kurzhaarigen, mütterlich lächelnden Alwin, die sich aus dem Fenster einer großen Holzhütte lehnte, das offensichtlich das Gästehaus des grünen Dorfes war.

„Äh, ja, die bin ich!“ rief ich perplex zurück. Kannte ich diese Frau? Ich konnte mich nicht entsinnen.

„Und sie müssen Vilthon sein.“ stellte die Alwin erfreut mit einem Blick auf den verdutzten Alwen fest, bevor sie uns beide freundlich in das Gästehaus einlud.

Vilthon und ich betraten etwas verunsichert die Holzhütte, in der es herrlich nach Patuttauflauf duftete, und ließen uns herzlich von Cindya, als welche sich die alwische Dame vorstellte, willkommen heißen.

„Setzt euch doch!“ forderte sie uns auf, und wies uns an, an dem wuchtigen Holztisch des Speisezimmers Platz zu nehmen. Wir kamen dem Angebot dankend nach und entledigten uns ächzend unserer Rucksäcke.

„Ich bin hier unter anderem für die Briefzustellung und die Tafelnachrichten verantwortlich.“ erklärte Cindya fröhlich. „Und deswegen habe ich wohl gerade als Erste von einem allgemeinen Schreiben an sämtliche Gemeinden erfahren dürfen, kleine Tilya, dass du und dein Freund hinter diesem seltsamen Tier her seid, das vor einigen Tagen erstmals in eurem Hügeldorf gesichtet wurde. Deine Eltern haben euch in dem Brief hinreichend gut beschrieben, deshalb habe ich euch gleich erkannt, als ihr hier bei uns eingetroffen seid.“

„Ach so! Meine Eltern stecken also dahinter. Wie interessant.“ Peinlich berührt kratzte ich mich hinter meinem Spitzohr und blickte finster zu Vilthon hinüber, der aber nur gelassen mit den Achseln zuckte.

Cindya grinste verschmitzt. „Natürlich freut man sich zu hören, dass sich jemand um diese unangenehme Angelegenheit kümmern will. Also dachte ich mir, ich revanchiere mich im Namen unseres Dorfes für eure Mühen, indem ich auf eure Ankunft warte, und euch in unserem Gästehaus auf eine warme Mahlzeit einlade! Ein frisch zubereiteter Patuttauflauf erscheint euch doch sicher verlockender als die üblichen kalten Speisen, die immer obligatorisch in die Gästehäuser gestellt werden, oder?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob sich Cindya von ihrem Stuhl, um geschwind aus einem Nebenraum eine große Porzellanschüssel mit dem besagten Gericht herbeizuholen, dessen pikanter Duft uns das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ.

„Das wäre doch nicht nötig gewesen.“ stammelte Vilthon verlegen, doch Cindya ließ keine Widerrede gelten und häufte zwei ordentliche Portionen auf die Teller ihrer beiden Gäste.
 

Mir war ganz unwohl zumute.

Ich hatte das Entkommen eines Ungeheuers zu verantworten, und nun kam es mir vor, als würde ich auch noch indirekt für diese Untat belohnt.

Aufgebracht fragte ich mich, was meine überbesorgten Eltern wohl dazu geritten haben mochte, das Nachbardorf über unsere scheinbaren Absichten zu informieren. Misstrauten sie dem Versprechen ihrer Tochter, sich regelmäßig bei ihnen zu melden und wollten durch diese Aktion ein Stück Kontrolle über den Verbleib ihres Kindes gewinnen?

Was auch immer, sie hätten sich auf jeden Fall mit mir und Vilthon absprechen müssen, bevor einfach irgendwelche Auskünfte in Umlauf gebracht wurden.

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.

Das versprach ja noch heiter zu werden.

„Schmeckt es nicht?“ fragte Cindya enttäuscht, als sie mich lustlos in dem Auflauf herumstochern sah.

„Doch, es ist köstlich!“ rief ich schnell und stopfte mir demonstrativ einen großen Happen des heißen Auflaufs in den Mund, verbrannte mir daran die Zunge, wagte es jedoch nicht, den Bissen unter Cindyas erwartungsvollen Augen wieder zurück auf den Teller zu spucken.

Mit einer sich pelzig anfühlenden Zunge schubste ich den sengenden Brocken in meiner Mundhöhle herum.

Die Alwin nahm besorgt meinen hochroten Kopf zur Kenntnis. „Habe ich doch zu viel Pfeffer in die Sauce gestreut!“ schimpfte sie sich, und verabschiedete sich rasch in die Küche, um für mich armes Mädchen eine Kanne Beerensaft abzuzapfen.

Natürlich ahnte Vilthon bereits, was mir tatsächlich die Petersilie verhagelt hatte.

„Mach dir keinen Kopf um dieses allgemeine Schreiben, Liebes. Und wenn es deine Eltern nun tatsächlich in jede einzelne Gemeinde geschickt haben sollten, können wir das ganze doch auch einmal von der praktischen Seite aus betrachten. Uns werden Erklärungsnöte erspart, was gleichbedeutend ist mit Zeit. Auf diese Idee hätten wir doch eigentlich selber kommen können.“ raunte der Alwe mir leise zu.

Von diesen forschen Worten ziemlich verblüfft bedachte ich meinen Freund mit einem verwirrten Blick von der Seite.

Er mauserte sich wohl noch zum Verlieken!

So unmoralisch kannte ich meinen Vilthon ja gar nicht.

Dieser grinste amüsiert, als er die Überraschung in meinem Gesicht sah und blinzelte mir verschwörerisch über den Tisch hinweg zu.
 

Da kam Cindya schon mit einer überschwappenden Kanne Beerensaft herbeigeeilt.

Vilthons bezauberndes Lächeln gefror langsam, als er mit ansehen musste, wie seine Gefährtin bei dem ungeschickten Versuch, sich möglichst rasch ein Glas des weinroten Trankes einzuschenken, ihr hellblaues Hemd besudelte.

„Und du hast wirklich vier Jahre lang in meinem Labor gelernt?“ knurrte der Alwe mich aufrichtig erschüttert an.

Ich schämte mich in Grund und Boden.

Was für eine Heldin war ich doch…

Als wir endlich zu Ende gespeist hatten, bedankten wir uns noch sehr herzlich für Cindyas aufopferungsvolle Gastfreundschaft, und machten uns dann auf, um unseren Weg fortzusetzen.

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Kaum hatten wir das grüne Dorf verlassen, als schon der freche Kwantsch, ein besonders lebhafter junger Briefrabe aus der Voliere meines Onkels im Sturzflug auf Vilthon zusteuerte, knapp über seinem Kopf nach oben zog und unter lautem Krächzen ein zerknülltes Stück Papier aus seinen Krallen fallen ließ.

Der zutiefst empörte Vilthon verkniff sich einen deftigen Fluch und ich pflückte den verknitterten Zettel von der Erde, während Kwantsch schadenfroh keckernd in Richtung Heimat abdrehte.
 

Ich entfaltete den Brief, der in der Handschrift meiner Mutter verfasst war, und überflog schnell den Text.

„Lieber Vilthon, liebe Tochter…“ las ich dann mit säuerlichem Unterton laut für Vilthon vor.

„Ihr wundert euch sicher, warum wir euch jetzt schon schreiben, kaum dass ihr aufgebrochen seid, aber wir wollen euch hiermit mitteilen, dass wir gerade dabei sind alle Gemeinden der Insel in einem allgemeinen Schreiben auf euer Erscheinen vorzubereiten. Wir informieren sie darüber, dass ihr euch auf die Jagd nach dem Tier gemacht habt, um es in Gewahrsam zu nehmen und zum Kontinent zurück zu treiben. Sicherlich stimmt diese Botschaft die Insulaner ruhiger, und ihr dürftet dadurch in allen Gemeinden mit Freundlichkeit empfangen werden. Wir wünschen euch eine gute Reise, und dass ihr euch ja nicht zu lange aufhalten lasst! Wir vermissen euch nämlich jetzt schon. Passt gut auf euch auf, und macht keinen Unsinn! Chareleo und Auriannah.“

Ich verdrehte die Augen. „Dazu fällt mir jetzt nichts mehr ein.“

„Bestimmt hat Kwantsch getrödelt. Sicher hätte der Brief uns noch vor unserer Ankunft im grünen Dorf erreichen sollen. Dieser nichtsnutzige Rabe! Am Besten, du schreibst direkt einen kurzen Brief zurück an sie und schickst Schwarzfuß damit ins Hügeldorf, sonst musst du ernsthaft damit rechnen, dass deine Eltern uns hinterher reisen.“ bemerkte Vilthon zynisch.

„Zu dumm, dass wir nichts zum Schreiben mitgenommen haben!“ schimpfte ich, die Worte des Alwen für bare Münze nehmend, und kramte aus seiner Tasche flugs das Nähzeug heraus.

Ich pflückte eine überreife Piragie auf dem Gemüsefeld, neben dem wir gerade her schritten, tauchte die stumpfe Seite der Nadel in das rote Fruchtfleisch und kritzelte damit ein „Ja, danke!“ auf die Rückseite des mitgenommenen Stück Papiers, das Kwantsch uns eben gnädiger weise überlassen hatte.

Dann rief ich gebieterisch nach Schwarzfuß, der etwas eingeschüchtert herbei flatterte.

Ich schnappte sich den großen Vogel und drückte ihm den Zettel einfach in die Kralle, die sich sofort reflexartig um ihn schloss.

„Hügeldorf!“ herrschte ich den Raben an, und dieser erhob sich, lautstark protestierend in die Lüfte.
 

Finster blickte ich zu Vilthon hinüber, der nur mit äußerster Mühe ein herzhaftes Gelächter unterdrücken konnte, während sein Blick immer wieder an dem eingetrockneten roten Saftfleck auf meinem Hemd hängen blieb.

Seine Mundwinkel zuckten verräterisch und seine Wangen röteten sich.

„Was ist mit dir los, Vilthon? Was ist denn so witzig? Oder war der Beerensaft vielleicht vergoren?“ pflaumte ich ihn mürrisch an.

„Sachte, Kleine!“ versuchte der prustende Alwe mich zu besänftigen.

„Aber abgesehen davon, dass ich deinen spontanen Einfallsreichtum bewundere, kam mir eben die berechtigte Frage in den Sinn, ob deine Eltern es wohl fertig bringen werden, deine selbst gemachte Piragientinte für Blut zu halten, mit dem du noch schnell deine letzten Dankesworte an sie gerichtet hast, im Eifer irgendeines verhängnisvollen Gefechtes.“

Mein Unterkiefer klappte hinunter.

„Traust du ihnen wirklich eine solch grausame Fantasie zu, Vilthon?“ fragte ich meinen Freund entsetzt.

Der Alwe antwortete nicht, sondern ging schnellen Schrittes und mit einem merkwürdig schiefen Grinsen auf den Lippen weiter.

Ich schüttelte verständnislos den Kopf.

Was war nur mit diesem Mann geschehen?

Er war mit einem Male so verändert, so humorvoll und unbeschwert, so befreit und so locker.

Ob das an der frisch entfachten Abenteuerlust lag, die den sonst so reservierten Alwen gepackt hatte?
 

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Unser Weg führte uns am späten Nachmittag durch einen kleinen Querkenwald.

Dort begegneten wir einigen verliekischen Holzfällern, die sich eben mit ihrem schwer beladenen, von kräftigen Querkenkneifern gezogenen Wagen auf den Heimweg machen wollten.

„Springt auf, wenn ihr ins Glühbeerdorf wollt!“ boten die Verlieken uns wohlwollend an.

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen, denn unsere von dem ungewohnt langen Marsch ziemlich beanspruchten Füße machten sich bereits recht schmerzhaft bemerkbar.

Nach diesem sonnenverwöhnten Tag freuten wir uns beide auf das Badezimmer des Gästehauses, das wir bei unserer Ankunft im nächsten Dorf auf schnellstem Wege aufzusuchen gedachten.

Die Burschen lachten, als ich frei heraus verkündete, wie sehr ich mich nach einer anständigen Toilette sehnte.

„Ihr Jungs könnt das natürlich nicht verstehen, was?“ maulte ich eingeschnappt. Männer hatten ja ohnehin leicht reden!

Die Querkenkneifer kamen unter der gewichtigen Last der gefällten Baumstämme nicht viel schneller voran, als Vilthon und ich es zu Fuß geschafft hätten, aber wir empfanden es als Wohltat, unsere verkrampften Waden nun etwas entspannen zu können.

Es dämmerte bereits, als man das zauberhafte Glühbeerdorf sichten konnte.

Nicht umsonst trug es diesen Namen, denn die vielen glimmenden Früchte der Glühbeersträucher, die an nahezu jeder freien Stelle des Dorfes gepflanzt wurden, tauchten die gesamte Gemeinde in ein überirdisches, mattgrünes Leuchten.

„Meine Güte, ist das herrlich.“ hauchte ich überwältigt und legte meine Arme um Vilthon, der vor mir im schaukelnden Holzkarren saß. „So wundervoll habe ich mir unsere Reise damals immer erträumt!“

Einer der jungen Verlieken pfiff durch die Zähne.

„Wusste ich es doch, dass ihr nicht von hier seid. Hätte man sich ja denken können, bei dem vielen Zeug, was ihr da mit euch herumschleppt. Wollt ihr nun in unser Dorf ziehen, reist vielleicht gar ein frisch getrautes Paar mit uns?“ fragte der Heranwachsende neugierig.

Wir schüttelten grinsend die Köpfe.

„Nein, wir sind nur zwei sehr gute Freunde auf der Durchreise.“ klärte Vilthon die Situation auf.

„Ihr seid doch nicht etwa die beiden Leute, die das Tier vom Kontinent jagen?“ rief der Junge aufgeregt.

„Genau die!“ bestätigte mein sehr guter Freund milde lächelnd.

Der Verliek grinste. „Euch habe ich mir ganz anders vorgestellt!“ platze es aus ihm heraus.

„Wie denn?“ blaffte ich ihn herausfordernd an und erntete dafür einen Stoß von Vilthons Ellenbogen in meine Rippen.

„Äh, na ja…“ druckste der Junge. „Ich nahm an, das Mädchen würde einen relativ imposanten Eindruck erwecken, wenn man es schon Drachenmädchen nennt, aber du wirkst auf mich eher wie ein niedliches buntes Vögelchen.“

„Wie bitte?“ stieß ich empört hervor und handelte mir einen weiteren Stoß in die Rippen ein.

„Und den Alwen hat man uns als einen würdevollen und gesetzten älteren Herren beschrieben.“

Jetzt war es Vilthon, dem die Worte fehlten, denn er konnte sich nicht entscheiden, ob er frustrierter darüber sein sollte, dass meine Eltern ihn als älteren Herren betitelt hatten, als den er sich mit seinen sechsunddreißig Lenzen wahrhaftig noch nicht bezeichnen lassen wollte, oder ob ihn die Tatsache, dass dieser respektlose junge Verliek es gewagt hatte, ihn nicht als würdevoll anzuerkennen, ärger verstimmte.
 

Der Wagen rollte geräuschvoll über eine Holzbrücke, die uns über den Fluss führte, und ich erkannte in der rauschenden Strömung eine große Wasserschlange, die mit grazilen, kraftvollen Bewegungen einem flüchtenden Frostfrosch hinterherjagte.

Wehmütig versank ich in sehnsuchtsvolle Gedanken an mein verlorenes Totem, bis Vilthon mir plötzlich sanft an die Schulter tippte.

Die Burschen hatten den Holzkarren angehalten, damit wir direkt vor dem Gästehaus des Glühbeerdorfes am Gemeindeplatz absteigen konnten, wo man uns als erwartete Gäste herzlich willkommen hieß und uns bereits ein kleines Abendessen, warmes Wasser für ein Bad und frisch bezogene Betten bereitgestellt hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2009-07-20T09:42:40+00:00 20.07.2009 11:42
total genial fand ich hier die stelle mit der blutfarbenen tinte (mein GOTT! :D) und das lustige gespräch mit den jungs, die sie per anhalter auf ihrem karren mitnehmen!
p.s. ich liebe diese glühbeeren, sieht sicher klasse aus!
Von: abgemeldet
2009-07-20T09:25:32+00:00 20.07.2009 11:25
huhu!
das frühstück mit vilthon war absolut romantisch beschrieben, die farben, der warme tee...*seuftz*,- da könnte kein morgenmuffel im bett bleiben wollen...
wenns deine story als buch gäbe, ich würde sie mir sofort kaufen! *träum*
fand das essen bei cindya witzig, wo sich tilya den mund verbrannt hat und sich der anscheinend sonst so korrekte vilthon etwas legerer gibt ;)
und...die blut -tinte!!! *pruuuust*
und finds gut, dass deine helden auch normale bedürfnisse haben (tilyas sehnsucht nach einer anständigen tolette *lololol*)
die szene auf dem karren war auch zum brüllen komisch...armer, alter vilthon... XD

Von: abgemeldet
2009-07-20T09:01:30+00:00 20.07.2009 11:01
hey, das kapitel war wieder mal witzig! 'lol'
das mit der roten tinte war ja mal herrlich!
und wieder so viel neues, fantasievolles über die insel. bin ja gespannt, was wir leser in den 14 tagen noch alles an wundersam-keiten entdecken dürfen XD
ich finds auch gut, wie du diese ganzen erfundenen pflanzen /tiere und so weiter immer wieder in der story auftauchen lässt und sogar sprichwörter/redewendungen mit diesen begriffen verwendest, die MENSCH ja gar nicht kennt ;)
LG
timi
Von: abgemeldet
2009-07-19T09:59:50+00:00 19.07.2009 11:59
Und wieder bin ich die erste, die ein Kommi zu dem Kapite abgibt xD
Es waren wieder ein paar Stellen dabei, bei denen ich schmunzeln musste (das mit der "Blut"-Tinte und dem Gespräch auf dem Karren war urkomisch ^^)

Ich frag mich die ganze Zeit, warum die beiden die ganze (naja, fast die ganze) Strecke zu Fuß zurücklegen. Hätten sie sich nicht auch einen Karren besorgen können und einen der Querkenkneifer davorspannen?
Oder Reiten? Gibt es dort Reittiere?

Ich fiebere schon der Begegnung mit Greyan entgegen, aber ich fürchte das wird noch etwas dauern, bei einer 14tägigen Reise... xD


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