Zum Inhalt der Seite

Die Super Nanny in Japan

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Detektivarbeit

Noch während der Fahrt telefonierte sie mit einem ehemaligen Kollegen und verabredete sich mit ihm in seiner Dienststelle. Ich wartete draußen im Auto. Als sie zurückkehrte, verhieß ihr Gesichtsausdruck nichts Gutes.

Sie setzte sich hinter das Steuer und schloss die Augen. Dann legte sie die Spitzen von Daumen und Zeigefingern zusammen und sagte: „Ich brauche einen Moment Ruhe.“

Ich nickte, obwohl sie das nicht sehen konnte, und wartete und lauschte ihren unruhigen Atemzügen, die sich gar nicht beruhigen wollten.

„Ich brauche wohl eher Bewegung“, gab sie schließlich auf und stieg wieder aus. „Gehen wir ein paar Schritte?“

Sie schlug ein flottes Tempo ein, und ich gab ihr ein paar Minuten, bevor ich das Schweigen brach: „Ich nehme an, es gibt keine Berichte?“

Sie gab ein kleines zorniges Schnaufen von sich. „Alles gelöscht. Anweisung von ganz oben. Der Polizeipräsident persönlich. Hirose muss alle ihm möglichen Hebel in Bewegung versetzt haben.“ Sie vergaß sogar das obligatorische -sama. „Ich verstehe ja, dass er nicht möchte, dass es bekannt wird. Aber ich finde, er übertreibt. Und ich begreife einfach nicht, wie er so streng mit seinem Sohn sein kann, wenn er genau weiß, was ihm geschehen ist! Er hat ihn doch sogar gesehen, wie er da lag…“ Mit dem Zorn kehrten auch die anderen Gefühle zurück, und sie brach hilflos ab.

„Sicher hat er seine Gründe“, sagte ich etwas lahm, weil ich genau darüber auch schon nachdachte.

„Ich hoffe für ihn, seine Gründe sind nicht, dass er selbst irgendwas mit Tatsuomi anstellt.“

„Wie meinen Sie das?“

„Vielleicht will er nicht, dass Tatsuomi darüber redet, weil dann heraus kommen könnte, dass er selbst mit ihm…“ Sie konnte es nicht aussprechen.

Ich dachte wieder an Hiroses Worte, die er im whiskytrunkenen Zustand gesagt hatte, er wüsste sehr gut, was Tatsuomi durchmachte. Und genauso wüsste er, dass Tatsuomi damit fertig werden würde. Erneut fragte ich mich, was er so sehr von sich abschruppen wollte, dass es an Waschzwang grenzte, oder sogar schon einer war. Das deutete eigentlich darauf hin, dass Hirose selbst einmal Opfer von Gewalt gewesen sein könnte. Doch ich wusste natürlich, dass aus Opfern oft Täter wurden. War Missbrauch ein Thema in dieser Familie? Dafür hatte ich eigentlich keine konkreten Hinweise.

Ich schüttelte den Kopf. „Möglich. Aber ich denke eher, dass Hirose das Problem auf die einzige Art angeht, die er gelernt hat: Den Schmerz ignorieren und weiter machen.“

Nami dachte darüber nach und nickte erleichtert: „Und auf keinen Fall Schande über die Familie bringen. Ich hoffe sehr, Sie haben Recht.“

„Oder könnte Hotsuma damit zu tun haben? Er war schließlich auch an dem Nachmittag in der Sporthalle…“ Diese Möglichkeit zur Erklärung dieser perfekten Vertuschung fiel mir noch ein. Hotsuma, der sogar hatte Selbstmord begehen wollen. Vielleicht wollte Hirose ihn schützen?

Nami überlegte immerhin einen Augenblick, bevor sie entschieden verneinte. „Auf keinen Fall. Aber Hotsuma! Natürlich!“ Ihre Miene erhellte sich. „Das ist die Lösung! Hotsuma hat doch den Täter gesehen! Den anderen Jungen, den letzten, der außer Tatsuomi noch in der Umkleide gewesen war! Kommen Sie! Wir holen Hotsuma und dann fahren wir nach Kanagawa. Der Junge kommt doch aus Kanagawa!“

„Aha. Und woher wissen wir das?“ fragte ich ratlos.

„Na, das hatte doch der Aikidolehrer erzählt. Ein Turnier mit Schülern aus Kanagawa! Und wäre es einer aus Tatsuomis Gruppe gewesen, hätte Hotsuma ihn ja gekannt.“

Nun, wo sie erneut in Aktion treten konnte, wo sie erneut einen Fall daraus machen konnte, ging es ihr gleich wieder besser. Zurück zum Auto rannten wir fast. Ich war allerdings weniger enthusiastisch. Mein Hauptproblem sah ich inzwischen darin, wie ich Hirose dazu bringen sollte, endlich einzulenken und einen Kinderpsychologen hinzuzuziehen. Und ich sah nicht, wie mir die Suche nach dem Übeltäter dabei helfen sollte.
 

Ich war trotz der ganzen unschönen Umstände sehr neugierig auf den Sohn von Hiroses Leibwächter, diesem Mann mit der unheimlichen Ausstrahlung.

Wir ließen den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Schulkomplex stehen, ein grauer Betonklotz, und gingen an dem das Gelände umgebenden Zaun entlang bis zum eisernen Eingangstor. Ein kleines Pförtnerhäuschen war an der Seite, und Nami zeigte ihren Ausweis und trug ihr Anliegen vor. Der Torhüter, ein älterer Herr, nickte und nahm den Telefonhörer.

„Hotsuma kommt hoffentlich gleich“, sagte Nami halblaut zu mir. „Der Pförtner kennt mich zum Glück, ich habe Hotsuma oft genug abgeholt.“

„Werden hier alle Schulen so bewacht?“ fragte ich.

„Nein. Dies ist eine sehr teure Privatschule. Kurauchi ist eine gute Ausbildung sehr wichtig. Der richtige Abschluß entscheidet schon über die späteren Aufstiegschancen. Außerdem wird Tatsuomi-sama auch auf diese Schule kommen, und Hotsuma soll dann bestimmt ein Auge auf ihn haben.“

Noch so ein Junge, dessen Zukunft schon vorherbestimmt zu sein schien.

Hotsuma machte auf mich einen etwas schüchternen, aber sehr sympathischen ersten Eindruck, obwohl die äußerliche Ähnlichkeit zu seinem Vater unübersehbar war. Das wurde noch verstärkt durch die dunkle Schuluniform, die er trug. Seine Stimme war angenehm leise, und er antwortete ohne Probleme und in ausgezeichneter Aussprache auf Englisch.

„Du sprichst aber schon gut Englisch“, sagte ich beeindruckt.

„Ich gebe mir Mühe.“ Verlegen wich er meinem Blick aus. „Später werde ich Tatsuomi-sama nach Amerika begleiten, wenn er nach Harvard geht, und da muss ich ja gut sprechen können. Ist etwas mit Tatsuomi-sama?“

„Nein, nein“, versicherte Nami schnell. „Aber du kannst uns helfen. An dem Tag, als Tatsuomi-sama überfallen worden ist – ja, wir wissen das inzwischen, und du weißt es doch auch, dass das kein Sportunfall war, nicht wahr? Erinnerst du dich an diesen Jungen, den du in der Umkleidekabine gesehen hast? Kannst du ihn wieder erkennen? Wir glauben, dass er es gewesen ist.“

Hotsuma ließ sich Zeit mit der Antwort und sagte dann mit Entschlossenheit: „Ja. Ich würde ihn erkennen.“

„Dann komm, dann suchen wir ihn jetzt. Ich befreie dich vom Unterricht.“ Nami lief zum Pförtnerhäuschen zurück und tischte dem alten Herrn eine Geschichte von einem dringenden Arztbesuch auf.

„Ich hab gesagt, du hast Zahnschmerzen, okay?“ erklärte sie, als wir zum Auto zurückgingen.

Hotsuma lieferte während der Fahrt nach und nach eine ziemlich gute Personenbeschreibung ab, und da der andere Junge etwa in seinem Alter gewesen war, begannen wir die Suche an der Mittelschule in Kanagawa.

Wir wussten, dass wir hier richtig waren, denn Hotsuma erkannte sofort die Schuluniform wieder. Wir hatten auf die nächste Pause gewartet, und meine Aufregung wuchs von Minute zu Minute. Was würde uns hier nun wieder erwarten? Hotsuma hibbelte von einem Fuß auf den anderen, und nur Nami sah aus, als wäre sie völlig unbeteiligt. Ich konnte mir allerdings denken, dass es in ihrem Inneren ganz anders aussah. Diese Vermutung würde sich auch später bestätigen. Erstmal jedoch blieb Hotsumas Suche erfolglos; er konnte den Jungen nirgends entdecken, obwohl er die ganze halbe Stunde, die die Pause dauerte, jeden einzelnen Schüler auf dem Schulhof gründlich in Augenschein nahm. Auch Nami und ich beobachteten die Kinder, die zumeist in Grüppchen zusammen standen, sich kichernd unterhielten, in Bücher schauten oder spielend über den Hof rannten. Bis auf die Schuluniform war es ein Anblick, wie ich ihn von jedem beliebigen Schulhof kannte, und der mit seiner fröhlichen Alltäglichkeit dem Grund unseres Hierseins auf groteske Weise widersprach.

Enttäuscht sahen wir uns an, als sich nach dem Läuten zur nächsten Unterrichtsstunde der Platz rasch leerte.

„Wir warten einfach bis Schulschluss. Wenn er hier ist, muss er ja irgendwann heraus kommen“, sagte Nami, nicht gewillt, so schnell aufzugeben. Ich hatte keine bessere Idee und hoffte nur, dass Hotsuma sich nicht geirrt hatte, und wir nicht umsonst warten würden. Ich hatte Hunger, selbst mein Magen knurrte schon unruhig in die durch die Abwesenheit der lärmenden Schüler eingetretene Ruhe hinein.

„Wir können in der Zeit genauso gut etwas essen gehen“, sagte Nami mit Blick auf die Uhr, und ich war dankbar für ihre Umsicht. Das Frühstück lag immerhin schon einige Stunden zurück, und seitdem waren wir unterwegs. Und Schulschluss war erst um siebzehn Uhr, wenn der Junge nicht noch an Zusatzunterricht teilnehmen würde.

Wir gingen in ein nahe gelegenes winziges Nudelsuppenrestaurant. Es war nur ein langer L-förmiger Gang, eigentlich nur eine schmale Arbeitszeile, wo gekocht wurde, und davor eine Reihe Stühle und ein kleiner Absatz zum Abstellen der Schälchen für die Gäste. Hinten in der Ecke war ein Fernseher an der Wand angebracht, wo ein Baseballspiel übertragen wurde. Wir aßen Gemüsesuppe mit Tofu und Buchweizennudeln, es schmeckte hervorragend. Hotsuma und ich hatten Gelegenheit, uns ein wenig kennen zu lernen, und er taute rasch auf und stellte mir Fragen zu meiner Arbeit. Nur essen wollte er erst nichts, aber Nami konnte ihm mit dem Hinweis überreden, dass man im „Dienst“ auch dafür Sorge zu tragen hatte, dass man „dienstfähig“ blieb.

„Sonst fehlt dir die Kraft, wenn es darauf ankommt“, sagte sie ernst, und Hotsuma nickte, ebenso ernst.

Ich wusste, dass so etwas auch für geistige Kraft galt, und gab dem Gespräch einen möglichst scherzhaften Beiklang, um ein wenig der Anspannung zu nehmen. Aber obwohl mein Magen vor Hunger geknurrt hatte, war ich schon nach ein paar Bissen satt. Hotsuma und Nami aßen auch nicht auf, und der Koch war wenig überzeugt von unseren Beteuerungen, dass das Essen trotzdem ganz vorzüglich gewesen war.
 

Ich konnte nicht sagen, wie lange wir danach noch am Treppenabsatz zum Schuleingang gewartet hatten. Aber dann kam endlich ein lang anhaltender Strom von Schülerinnen und Schülern schwatzend an uns vorbei gezogen.

„Da ist er“, sagte Hotsuma und deutete unauffällig mit einer kleinen Kinnbewegung in die Richtung, die er meinte. „Hinter den beiden älteren Jungen, neben der mit dem Zopf.“

Der Junge, den er meinte, war vielleicht einen halben Kopf kleiner als Hotsuma, aber konnte trotzdem gut im selben Alter sein, Hotsumas Vater war schließlich auch ziemlich groß. Neben seinem Schulranzen hatte er eine Sporttasche mit Nike-Aufdruck geschultert. Das glatte Haar war nach vorne gekämmt, und er dichte Pony hing ihm fast bis in die Augen. Er sah abgespannt aus, das fiel mir gleich auf. Und er schien dem Mädchen, das neben ihm herging, nicht wirklich zuzuhören, während sie lebhaft auf ihn einschwatzte. Außer, dass er nicht so ausgelassen wirkte wie die anderen Schüler um ihn herum, sah er aus wie ein ganz normaler, zwölf oder dreizehnjähriger japanischer Junge. Ich hatte auch nichts anderes erwartet.

„Was haben Sie jetzt vor?“ fragte ich Nami.

„Ich will mit ihm reden“, sagte Nami, und ihr Blick, den sie nicht eine Sekunde von dem Gesuchten fort nahm, erinnerte mich an einen Greifvogel, der seine Beute im Visier hat und nur noch auf den rechten Moment zum Zupacken wartete. „Wir folgen ihm erstmal, bis die Gelegenheit günstiger ist.“

„Mit ihm reden können wir doch auch hier“, warf ich ein.

„Nein. Ich möchte dazu Ruhe haben.“ Ihr Tonfall duldete keine Widerworte. „Hotusuma-kun, bist du dir wirklich sicher?“

„Ja.“

Sie nickte grimmig.

Plötzlich war ich mir überhaupt nicht mehr sicher, ob es richtig war, ohne das Wissen seiner Eltern hier zu sein. Er war doch noch ein Kind. Trotz allem. Und Namis Ausdruck in den Augen verursachte mir Unbehagen. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr, das las ich auch in ihren Augen, und ich würde jetzt wenigstens dabei bleiben, damit das Gespräch möglichst fair ablaufen konnte.



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück