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Die Super Nanny in Japan

von

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Neue Antworten und neue Fragen

„Herein?“

Es war Nami.

„Entschuldigen Sie“, sagte sie verlegen. „Ich möchte nicht stören.“

„Sie stören nicht“, sagte ich und ließ sie ein. Sie wirkte ein wenig durcheinander. Sofern ich das bei ihrer Selbstbeherrschung einschätzen konnte.

„Was ist passiert?“ fragte ich und bot ihr von dem allgegenwärtigen Tee an, der auf dem kleinen Tisch für mich bereit gestanden hatte. Der herbe Geruch des grünen Getränks entstieg in kleinen hellen Wölkchen unseren Tassen.

„Ich habe mit Hotsuma-kun gesprochen“, begann sie.

Und ich habe gewusst, dass du dir frei nimmst, um irgendetwas zu unternehmen, dachte ich.

„Es ist schrecklich. Die Protokolle sind gefälscht. Und Shota-san sagt kein Wort. Was sollen wir jetzt machen?“ sprudelte sie hervor.

Ich verstand kein Wort.

„Eins nach dem anderen, bitte“, sagte ich. „Wer ist Shota-san?“

„Ein ehemaliger Kollege von mir. Er hat gekündigt, als ich mit Kaoruko-sama in Amerika war. Er war meist zuständig, Tatsuomi-sama zur Schule und zum Training zu fahren. Jetzt verkauft er Tofu in Kumamoto. Ich habe ihn heute angerufen, nach dem Gespräch mit Hotsuma-kun. Weil ich wissen wollte, was nun eigentlich passiert ist. Aber er hat einfach aufgelegt! Danach war ich am PC im Büro, aber von diesem Tag existiert auch gar kein Bericht! Normalerweise protokollieren wir jeden Arbeitseinsatz. Jemand muss ihn gelöscht haben.“

„Sie meinen den Tag, an dem Tatsuomi den Sportunfall hatte?“

„Genau. Es war kein Sportunfall, aber es war jede Menge los an dem Tag. Ich verstehe das nicht. Selbst an Tagen, wenn gar nichts ist, müssen wir Eintragungen machen.“

„Was hat Hotsuma denn gesagt?“

„Das war schwer, überhaupt was aus ihm heraus zu bekommen! Der Junge ist völlig verstört. Ich begreife nicht, warum mir das bisher nicht aufgefallen ist.“

„Wahrscheinlich waren Sie in Gedanken zu sehr mit Tatsuomi beschäftigt“, versuchte ich, ihre Selbstvorwürfe zu entkräften.

Sie nickte mir dankbar zu. „Wahrscheinlich. Hotsuma-kun möchte Tatsuomi-sama nicht sehen. Er schiebt seinen Vater nur als Grund vor. Er sagt, er kann Tatsuomi-sama nicht gegenüber treten. Er gibt sich die Schuld an dem, was passiert ist. Er sagte sogar, er würde am liebsten Seppuku begehen. Das ist rituelle Selbsttötung. Zum Glück hat Hirose-sama ihm das verboten.“

„Du meine Güte“, sagte ich. Zu mehr war ich nicht in der Lage. Kurz schoss mir durch den Kopf, ob ihr letzter Satz bedeutete, dass sein Vater es ihm erlaubt hätte? Zutrauen würde ich es ihm durchaus, so düster, wie er aussah.

Aber Nami sprach schon weiter: „Also, folgendes hat er mir schließlich erzählt: Er sollte an diesem Dienstag ganz normal mit Tatsuomi-sama nach dem Aikido nach Hause fahren. Er wartete wie immer bei Shota-san am Wagen. Aber Tatsuomi-sama kam nicht. Hotsuma-kun ging in die Sporthalle, um nach ihm zu sehen. In der Umkleidekabine lagen Tatsuomis Sachen, und sein Spind stand offen. Es war noch ein anderer Junge da, der meinte Tatsuomi sei im Waschraum noch nicht fertig. Hotsuma hörte das Wasser laufen und wollte nicht stören. Er ging wieder zurück zum Wagen.

Sie warteten wieder. Tatsuomi-sama kam nicht. Dafür kam schließlich der Aikidolehrer und verschloss hinter sich die Eingangstür. Shota lief zu ihm und sagte, dass noch ein Schüler drin sei. Der Lehrer aber schüttelte den Kopf und versicherte, er sei der letzte, der das Gebäude verließ. Shota bestand darauf, sich selbst zu überzeugen, aber tatsächlich fanden sie Sporthalle, Umkleide und Waschraum leer vor. Von Tatsuomi-sama keine Spur. Sie suchten überall, am Kellerausgang und in der Umgebung – nichts. Shota musste bei Hirose-sama anrufen, und Hotsuma-kun fuhr allein nach Hause. Alle waren natürlich in heller Aufregung, sogar die Polizei wurde eingeschaltet. Mit Hotsuma sprach an dem Tag niemand mehr. Trotzdem bekam er noch mit, dass am Abend ein Anruf kam, woraufhin sein Vater mit Hirose-sama sofort losfuhr, um Tatsuomi zu holen. Aber Tatsuomi kam erst zwei Tage später nach Hause, und da ging es ihm noch sehr schlecht. Mehr weiß Hotsuma nicht, niemand hat ihm erklärt, was eigentlich passiert ist. Er macht sich schreckliche Vorwürfe, weil er nicht in den Waschraum gesehen oder im Umkleideraum gewartet hat. Sein Vater hat ihm gesagt, er soll auf Tatsuomi-sama aufpassen. Er denkt, versagt zu haben, und fühlt sich schuldig an Tatsuomis Zustand.“

Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Armer Hotsuma, der in so jungen Jahren schon solch große Verantwortung trug. Und der jetzt in seinem Kummer scheinbar so allein war.

Und dann Tatsuomi… was war in den Stunden mit ihm geschehen, als er verschwunden war?

Auf der einen Seite spürte ich fast etwas wie Erleichterung und merkte daran, dass ich schon die Befürchtung gehabt hatte, Hirose könnte seinem Sohn selbst etwas angetan haben. Das hätte immerhin seine absolute Abwehrhaltung und Heimlichtuerei diesbezüglich erklärt. Gut, dass der Vater anscheinend nichts mit Tatsuomis Ängsten zu tun hatte!

Andererseits konnte ich wohl auch meine These vergessen, dass im Krankenhaus etwas Traumatisches vorgefallen war. Leider. Mir wäre das noch am liebsten gewesen, weil das dann wenigstens nicht sinnlos gewesen wäre. Das würde er irgendwann verstehen.

Aber was war es dann? Wo war Tatsuomi gewesen? Was hatte er erlebt, dass er immer noch Angst hatte, wenn jemand hinter ihm stand? Und weshalb hatte Hirose so eine Abneigung, darüber zu sprechen?

Ich fuhr mir in einer erschöpften Geste über die Augen.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Nami. Sie wirkte ratlos, und mir wurde plötzlich bewusst, dass sie es ja war, die Unterstützung von mir wollte und nicht umgekehrt. Das konnte man leicht vergessen in ihrer Gegenwart.

„Haben Sie schon mit Kaoruko gesprochen?“ fragte ich.

„Nein. Ich habe Angst, dass Hotsuma-kun Ärger bekommt, falls sie Hirose-sama davon erzählt. Hotsuma kann ja nichts dafür… Ich habe ihn sehr unter Druck gesetzt, damit er redet. Irgendwer hat ihm anscheinend verboten, darüber zu sprechen.“

„Und nicht nur ihm“, seufzte ich. „Wir sollten auf jeden Fall Kaoruko informieren. Ich denke nicht, dass sie ihn verrät. Es ist heute schon sehr deutlich geworden, dass Hirose mehr weiß als er sagt. Er hat ganz offen beim Abendessen Tatsuomi verboten, zu sagen, was ihm Schmerzen macht. Und ich habe ihr schon vorher geraten, von Hirose Antworten zu verlangen. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung. Vielleicht ist Tatsuomi weggelaufen. Und hatte einen Unfall oder so.“

Nami schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Das erklärt nicht, warum Hirose so ein Geheimnis daraus macht. Ich denke eher, Tatsuomi ist entführt worden. Vielleicht wird Hirose erpresst?“

„Mutmaßungen bringen uns nicht weiter“, sagte ich. „Sprechen wir mit Kaoruko. Hat Hotsuma eigentlich etwas dazu gesagt, dass Tatsuomi ihn vermisst? Haben Sie darüber auch gesprochen?“

„Ja. Er überlegt es sich. Ich habe ihm gesagt, dass man Freundschaft nicht einfach hinschmeißt, nur weil es gerade schwierig ist. Dass Freunde gerade dann wichtig sind, wenn es einem schlecht geht. Und ich habe gesagt, dass Tatsuomi ihn jetzt braucht. Ich hoffe, er hört auf mich. Die beiden können sich im Moment gut gegenseitig unterstützen.“

„Das stimmt. Und ich hoffe, Hirose macht die Wirkung Ihrer Worte nicht wieder zunichte. Er hat nämlich auch vor, mit Hotsuma zu sprechen. Und er hat so eine charmante Art manchmal…“

Wir grinsten uns kurz an, auch wenn unsere Augen ernst blieben dabei.



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