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Die Super Nanny in Japan

von

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Unkonventionelle Methoden

„Was ist mit Hotsuma?“ fragte ich, als wir in Namis Wagen saßen. „Kennt er ihn aus der Schule?“

„Nein“, sagte sie, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Wir saßen in ihrem Privatwagen, einem schwarzen, sportlichen Mazda. „Sie sind quasi zusammen aufgewachsen. Hotsuma ist Kurauchis Sohn. Er ist dreizehn.“

„Ah“, machte ich. „Warum verbietet er den beiden, zu spielen?“

„Ich habe keine Ahnung“, sagte Nami mit Nachdruck und kaute an ihrer Unterlippe. „Aber ich werde es in Erfahrung bringen.“

Sie malträtierte die Kupplung und haute die Gänge rein, als könnten die ihr Auskunft geben. Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Ich schaute hinaus in den Tokyoter Straßenverkehr und auf die fremdartigen Beschriftungen. So musste man sich als Analphabetin fühlen.

Der Hausarzt, Dr. Emoto, entpuppte sich als alter Herr, der uns äußerst freundlich in Empfang nahm. Er wirkt, als betreue er die Familie Nanjo bereits seit Gründung des Dôjô, aber ich hätte unmöglich schätzen könne, wie alt er wohl wirklich sein mochte. Nami raunte mir zu, dass Hirose unser Kommen bereits angekündigt habe und machte keinerlei Anstalten, mir und dem Doktor in das Behandlungszimmer zu folgen. Nachdem er die Tür sorgfältig hinter uns geschlossen hatte, überraschte er mich, indem er durchaus passables Deutsch sprach, was er mit einem mehrjährigen Medizinstudium an der Heidelberger Universität erklärte. Ich versuchte behutsam, von ihm Informationen über Tatsuomis Aikidoverletzung zu erlangen, während er mir Akupunkturnadeln ins Ohr stach und einen streng nach Kampfer riechenden Salbenverband gewissenhaft um den Unterarm legte. Doch er lächelte nur liebenswürdig und redete sich geschickt am Thema vorbei.

Meine Vermutung, dass die Fahrt hierher genau den Grund hatte, den Arzt über Tatsuomi auszuhorchen, bestätigte sich, als wir wieder im Wagen saßen.

„Konnten Sie etwas über Tatsuomi-sama erfahren?“ fragte Nami, kaum dass die Türen geschlossen waren.

„Leider nein“, sagte ich bedauernd.

Sie nickte und fuhr los. „Der Alte ist ein harter Brocken.“ Sie wirkte keineswegs enttäuscht. „Ich habe in der Zwischenzeit mit Tatsuomis Aikidotrainer telefoniert. Er weiß nichts von einem Vorfall beim Training. Im Gegenteil: Er empörte sich über die Vorstellung, einer seiner Schüler hätte sich ernsthaft verletzt, und er hätte davon nichts mitbekommen. Er versicherte mir, wenn ein Schüler nach dem Training ins Krankenhaus gekommen wäre, würde er davon wissen. Er erinnerte sich noch sehr genau an Tatsuomis letztes Training, weil sie da ein kleines Turnier mit Schülern aus Kanagawa veranstalteten.“

„Aber warum reden dann alle von einem Unfall beim Training, wenn das nicht stimmt?“ fragte ich.

Ein kleines triumphierendes Lächeln umspielte Namis Lippen. „Vielleicht finden wir hier die Antwort.“ Sie öffnete mit einer Hand ihre Jacke und zog ein Bündel Papiere heraus. „Das hab ich aus Tatsuomis Krankenakte.“

„Sie sind an die Arztunterlagen gegangen?“ Ich starrte fassungslos ihr Profil an, während ich mechanisch die Papiere entgegennahm. Sie ließ einen kleinen Moment den Straßenverkehr aus den Augen, um mir einen Blick zuzuwerfen.

„Unkonventionelle Probleme verlangen unkonventionelle Lösungen“, sagte sie, als würde sie jemanden zitieren, und ich fragte mich, an wen sie wohl gerade dachte. Ihr Finger trommelte auf den schwarzen Kunstlederbezug des Lenkrads. Egal, wie abgebrüht sie tat, sie war eindeutig nervös.

„Nun“, sagte ich unbehaglich und wog die Papiere in meiner Hand. „Wo wir sie schon einmal haben… Aber ich werde mich auf keinerlei Lügengeschichten oder Ähnliches einlassen! Wenn das heraus kommt…“

„So etwas habe ich nicht vor“, unterbrach sie mich mit sanfter Stimme und umfasste das Lenkrad fester. „Ich übernehme die volle Verantwortung.“

Sie parkte den Wagen vor einem riesigen Supermarktkomplex, schnallte sich ab und holte einmal tief Luft. Ich gab ihr die Unterlagen und beobachtete mit Spannung, wie sie die Notizen des Arztes überflog.

„Hier steht das mit dem Sportunfall“, kommentierte sie, was sie las. „Aber Dr. Emoto hat ihn nicht deswegen behandelt…“ Sie schwieg kurz und blätterte eine Seite vor und zurück. „Das Krankenhaus hat auf seine Anfragen nach den Befunden ablehnend reagiert. Kaoruko-sama hat ihn um Rat gefragt wegen der Schlafstörungen… Er schreibt, welche Medikamente Tatsuomi-sama bekommt, und…“ Sie sah überrascht zu mir. „Und rät nachdrücklich von der Verabreichung ab.“ Sie ließ die Unterlagen sinken, und ihre Finger knüllten unbewusst das Papier. „Hirose-sama gibt ihm Beruhigungsmittel? Wussten Sie das?“

„Nein.“ Ich fasste an ihren Arm, um sie zu beruhigen. „Hirose versucht ihm nur zu helfen, auf seine Art. Er hat mir gesagt, dass er Tatsuomi nach diesem Unfall – oder was auch immer – nochmals hat untersuchen lassen. Also geht er zu einem anderen Arzt mit ihm. Manchmal ist es durchaus sinnvoll, für begrenzte Zeit auch mal solche Medikamente einzusetzen…“

Ich glaube, ich wollte auch mich selbst beruhigen. Ich wusste nicht einmal, was ich speziell in diesem Fall davon hielt. Und vor allem, warum hatten die Eltern das verschwiegen? So langsam kam mir das hier eher wie ein Kriminalfall vor und weniger wie eine Beratungsarbeit. Jede Information musste hart erarbeitet werden.

"Hirose ist auch besorgt um seinen Sohn, er will ihm nicht schaden", sagte ich laut, um mich noch einmal zu versichern. Aber der Satz fühlte sich richtig an. Wenigstens darin war ich mir sicher.

Nami glättete die Papiere. Jetzt hatte sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle und neigte ihren Kopf in meine Richtung. "Sie haben Recht." Sie sah mich an und lächelte. „Wenn Sie erlauben, würde ich gern die Unterlagen sofort zurück bringen. Sie warten im Auto. Dr. Emoto wird nichts bemerken.“

„Einverstanden.“

Nami startete den Wagen und legte den Rückwärtsgang ein. Sie drehte sich im Sitz um und setzte den Wagen zurück, dann stoppte sie plötzlich.

„Sehen Sie, wer die ganze Zeit hinter uns war!“ Sie deutete auf eine riesige Plakatwand, die quer zu den parkenden Autos aufgestellt war. „Das ist Nanjo Koji-sama. Der jüngste der Brüder.“

Ich sah mir den jungen Mann auf dem Plakat genauer an. Er sah aus wie ein Model. Ich erinnerte mich, dass er Popsänger war, und konnte mir gut vorstellen, wie junge Mädchen auf diesen Typ flogen, auf diese makellose Schönheit, auf die coolen Klamotten und auf diesen herablassenden Blick. Und er sah aus wie eine jüngere, ausgeflippte Version seines ältesten Bruders. Die Ähnlichkeit zu Hirose war verblüffend, sah man einmal ab von Kojis längeren und gestylten Haaren und von den kajalverdunkelten Augen. Und Koji trug keine Brille. Seine Augen beeindruckten mich am meisten. Er blickte aus dem Bild heraus direkt auf den Betrachter, und sein Blick war mir unbehaglich. Er war kalt und voller Verachtung.

„Was halten Sie von ihm?“ fragte mich Nami neugierig nach einer Weile des Schweigens und fuhr weiter.

„Von Koji?“ Ich suchte nach einer wertfreien Formulierung. „Mir fallen seine Augen auf. Er wirkt so… leblos. Zumindest auf diesem Bild.“

Nami lachte leise. „Diesen Blick hat er schon als Kind gehabt. Eiskalt.“

„Wie alt ist er jetzt?“

„Achtzehn.“

„Wie ist sein Verhältnis zu Tatsuomi?“

„Da gibt es kein Verhältnis. Er hat den Kleinen nie beachtet. Die Familie scheint ihm völlig gleichgültig zu sein.“

„Aber nach dem Tod des Vaters ist er zurück gekehrt.“

„Ja, Hirose-sama hat ihn heim geholt. Er blieb ein paar Wochen, trainierte hart, sprach kein Wort, und dann war er wieder verschwunden. Ehrlich gesagt waren wohl alle erleichtert, dass er wieder weg war. Außer vielleicht Nadeshiko-sama. Sie ist die einzige, die ihn mag – und umgekehrt, glaube ich.“

Das schwarze Schaf der Familie, dachte ich. Und warum war er so geworden? Ich war überzeugt, dass niemand mit einem solchen Blick in den Augen auf die Welt kam. Eine Kindheit im Hause Nanjo zu verleben, schien eine schwierige Aufgabe zu sein. Eine Aufgabe, an der man leicht zerbrechen konnte.

„Warum hat Koji das Erbe ausgeschlagen?“ fragte ich.

„Es hat ihm nie etwas bedeutet. Darum ist er ja damals fortgelaufen. Irgendetwas ist auch mit seinem Arm… Er trägt jetzt eine Prothese. Kendo ist für ihn gestorben.“

„Er hat seinen Arm verloren? Wann denn? Wie ist das passiert?“

„Keine Ahnung. In der Presse steht nichts dazu. Das muss passiert sein, kurz nachdem er zum zweiten Mal gegangen ist. Man munkelt im Haus, Hirose-sama hätte damit zu tun. Aber das glaube ich nicht“, fügte sie hastig hinzu. „Er hätte das Testament auf andere Weise anfechten können. Und er hält sich auch jetzt noch an den Willen seines Vaters.“

Inzwischen waren wir wieder bei Dr. Emotos Haus angekommen. Nami schaffte es, die Unterlagen unbemerkt zurück zu bringen, während ich im Auto wartete.

„War ganz leicht“, antwortete sie auf meinen fragenden Blick als sie zurückkam. „Ich habe so getan, als würden Sie Ihre Uhr vermissen. Als er in den Behandlungsraum ging, um nachzusehen, habe ich die Papiere zurückgelegt.“

„Lernt man so etwas beim Personenschutz?“ fragte ich beeindruckt.

„Nein“, sagte sie lächelnd. „Auf der Polizeischule.“

„Ah.“ Mein Leben kam mir sehr durchschnittlich vor. „Warum sind Sie eigentlich so sicher, dass der Aikidolehrer die Wahrheit sagt?“

„Weil das besser zu Tatsuomi-samas Äußerungen passt.“

Damit sagte sie, dass Hirose log.

Aber ich konnte ihr nicht widersprechen.



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