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Die Super Nanny in Japan

von

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Abendessen mit fliegender Misosuppe

Es war eigentlich unüblich, dass ich mit meinen Klienten an den Mahlzeiten teilnahm, aber hier würde ich gleichzeitig einige Tage zu Gast sein, daher ging es nicht anders diesmal. Ich war sehr gespannt, den Rest der Familie kennen zu lernen.

Midorikawa führte mich durch lange Gänge und schob etliche Türen vor mir auf und hinter mir wieder zu. Die Wände schienen im Inneren des Hauses ohne Ausnahme aus Papier zu bestehen. Und sie schien tatsächlich nicht nur Chauffeurin zu sein. Vielleicht so eine Art Mädchen für alles? Oder eher eine Art Leibdienerin von Frau Nanjo? Gab es so etwas noch?

Beim Esszimmer angekommen verneigte sie sich und ließ mich allein eintreten.

Der Esstisch in der Mitte des Zimmers war niedrig, und statt Stühlen lagen große viereckige Sitzkissen auf den Tatami-Matten. Außer einer Vase mit kunstvoll arrangierten Blumen darin und einem Kalligraphie-Bild darüber waren die Wände leer, und es gab auch keine weiteren Möbel. Es war für fünf Personen gedeckt. Ein Gedeck stand am Kopfende des Tisches, die vier anderen rechts und links auf beiden Seiten, und jedes bestand aus mehreren kleinen Schüsselchen und einem Paar Stäbchen.

Der Platz am Kopfende war unbesetzt. Links davon saß ein junger Mann in einem grauen Anzug. Die Krawatte hatte er abgelegt und die oberen Knöpfe des Hemds geöffnet. Er hätte bestimmt auch als Star auf der Titelseite der Gala eine gute Figur gemacht, so wie er aussah. Er mochte Mitte zwanzig sein und blickte mich überrascht an. Also hatten sie noch nicht von mir gesprochen.

Ihm gegenüber saß der Junge, wegen dem ich hier war. Auch er hatte ein hübsches, ansprechendes Gesicht, obwohl er gerade eine ziemlich finstere Mine machte. Kein Wunder, ich wusste, dass das gemeinsame Essen eines der Dinge war, die er sich weigerte zu tun. Er trug feine Kleidung, Hemd und Hose, keine Jeans. Im Gegensatz dazu waren seine Haare sichtlich ungepflegt und nicht gekämmt. Auch da verweigerte er sich. Aber mir fielen sofort seine schönen Augen auf: mit dichten, langen Wimpern.

Neben dem Jungen saß Frau Nanjo, die bei meinem Eintreten sofort aufstand, um mich willkommen zu heißen und den anderen vorzustellen.

„Saalfrank-san, treten Sie bitte ein! Dies ist mein Schwager Akihito und mein Sohn Tatsuomi. Und dies ist Saalfrank Katharina.“

Wir verneigten uns alle höflich, und ich nahm gegenüber von Frau Nanjo Platz, neben Akihito. Endlich ein Name, den ich mir merken konnte, denn so hieß auch der Kaiser.

Überhaupt nicht kaiserlich war allerdings das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, als Frau Nanjo weiter sprach.

„Saalfrank-san ist Diplom-Pädagogin aus Deutschland. Ich habe einen ihrer Vorträge gehört und sie eingeladen, unser Gast zu sein.“

Akihito beugte sich hinüber zu seinem kleinen Neffen und sagte etwas auf Japanisch in spöttischem Tonfall. Der Junge antwortete mürrisch und Frau Nanjo ging dazwischen und wies beide zurecht. Dann wandte sie sich wieder mir zu: „Entschuldigen Sie. Mein Mann kommt heute später nach Hause, wir brauchen mit dem Essen also nicht zu warten.“

Wie aufs Stichwort erschien eine Dienerin im Kimono und brachte vier Schüsseln mit dampfendem weißen Basmatireis. Bevor sie den Raum wieder verließ, schenkte sie uns noch heißen, grünen Tee ein.

„Guten Appetit“, sagte Frau Nanjo, legte die Handflächen aneinander und verneigte sich leicht. „Itadaki-masu.“

Akihito tat das gleiche, nur der Junge und ich saßen regungslos daneben.

„Kaoruko, wie hast du nur Hirose dazu gebracht, dabei zuzustimmen?“ fragte Akihito, jetzt auf Englisch, und schon wieder mit einem leichten Grinsen im Gesicht. Er nickte kurz in meine Richtung während er sich von Reis und Gemüse nahm.

Ich kostete an der Miso-Suppe und prägte mir die Aussprache der Namen ein.

Kaoruko zuckte nur die Schultern und widmete sich ihrem Sohn. Sie sprach leise zu ihm und deutete auf die duftenden Speisen. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber ich war sicher, es war das, was alle Mütter dieser Welt ihren Kindern sagen, die nicht essen wollen. Er schüttelte jedoch ausdauernd den Kopf und sagte immer wieder ein Wort, das sich wie ja anhörte. Später erfuhr ich, dass es ausgerechnet nein bedeutet.

„Die Mühe kannst du dir auch sparen“, sagte Akihito neben mir leise, aber deutlich hörbar. „Wegen mir kann dieses stinkende Balg verhungern.“

Ich verschüttete beinah meine Suppe. Nur gut, dass der Junge die Englisch gesprochenen Worte nicht verstanden hatte, dachte ich und starrte den Mann verblüfft an. In einer solch vornehmen Umgebung hatte ich eine derartige Bemerkung nicht erwartet.

„Akihito!“ wies Kaoruko ihn auch schon zurecht. Mir kam es fast vor, als hätte sie hier zwei Kinder. Das große benahm sich eher wie ein älterer Bruder und nicht wie ein erwachsener Onkel. War Akihito eifersüchtig?

Jedenfalls klang seine japanische Erwiderung nicht gerade freundlich. Kaoruko ignorierte ihn würdevoll. Ihr Sohn presste die Lippen aufeinander und starrte auf sein Eßschälchen. Akihito lachte ein kleines böses Lachen und wechselte wieder in die englische Sprache, als er zu mir weiter sprach: „Ich hoffe wirklich sehr, dass Sie aus diesem Rotzbengel wieder einen anständigen Menschen machen. Sein Anblick und sein Geruch sind wirklich unerträglich! So ist er ein feiner Familienerbe, den kann man ja nirgendwo vorzeigen, und zu gebrauchen ist er auch nicht…“

Ein Misosuppenschälchen unterbrach ihn und kam quer über den Tisch gesaust, traf ihn zielsicher mitten auf der Brust und ergoss seinen würzigen Inhalt auf den Redner, während Tatsuomi noch ein paar wütende Worte hinterher schleuderte. Akihito sprang auf wie von der Tarantel gestochen, und ich brauchte ihn nicht verstehen, um zu wissen, dass er den Jungen weiter beschimpfte. Tatsuomi war genauso schnell auf den Beinen, und bevor sein Onkel ihn packen konnte, hatte er schon einen Teil der Außenwand mit einem Ruck zur Seite geschoben und war in den Garten hinaus gerannt.

„So geht das wirklich nicht weiter“, regte sich Akihito auf. „Schau dir diese Sauerei an!“

Kaoruko hatte jedoch keinerlei Interesse an seinem ruinierten Anzug und lief ihrem Sohn hinterher. Auch ich stand auf und folgte ihr, ohne Akihito groß zu beachten.
 

„So ist es ständig“, sagte sie, als ich sie eingeholt hatte. Ich sah, dass sie die Tränen zurückhielt. „Und es wird immer schlimmer. Ich weiß einfach nicht, was ich noch machen soll. Früher war er nie so. Er war so ein lieber Junge, bis…“ Sie brach ab, und ging jetzt langsamer weiter.

„Bis was?“ hakte ich nach.

„Bis er diesen Unfall beim Aikido hatte. Seit er aus dem Krankenhaus zurück ist.“

Davon hatten sie mir noch gar nichts erzählt. Es war nur die Rede gewesen von seinem aggressiven Verhalten, von seiner Weigerung zu essen und sich zu waschen und den Problemen in der Schule.

„Wann war das?“

„Vor zwei oder drei Monaten.“

Und davor war alles in Ordnung? Hm. Ich hatte das Gefühl, etwas verschwieg sie.

Wir passierten jetzt das Gebäude, das ich von der anderen Seite schon gesehen hatte als wir angekommen waren, das Dôjô. Ich erinnerte mich an ihre Erklärungen über die hohe Kunst, das Schwert zu führen. Der Garten hinter der Schule lag im Schatten der hohen Steinmauer, und genau von dort hörte ich jetzt ein rhythmisches Geräusch. Es war Tatsuomi, der mit einem dicken Stock auf einen der perfekt geschnittenen Büsche einhieb. Blätter und kleine Äste flogen umher.

Ich hielt mich im Hintergrund und beobachtete, wie sich Kaoruko ihrem Sohn näherte. Er wirbelte herum, und einen schrecklichen Moment dachte ich, er würde den Stock auf ihren Kopf niedersausen lassen. Sie dachte das wohl auch, denn sie erstarrte in der Bewegung und rief irgendetwas. Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen, während der Stock zum Schlag erhoben in der Luft schwebte. Dann ließ der Junge die Arme sinken. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich von meiner Position aus nicht erkennen.

„Du gehst jetzt in dein Zimmer“, sagte Kaoruko barsch, aber ich hörte ihre Fassungslosigkeit.

Er ließ den Stock ins Gras fallen und lief widerspruchslos zum Haus zurück. Erst jetzt fiel mir auf, dass auch ich ihre Worte verstanden hatte. Das hieß, der Junge sprach schon Englisch, dachte ich erstaunt. Kein Wunder, dass die Misosuppe geflogen war!

Kaoruko stand reglos und sah ihm nach. Ich ging zu ihr.

„Wenn sein Vater erfährt, dass er sein Bokken gegen mich erhoben hat, wird er sehr wütend werden. Besser, er erfährt es nicht.“

Ich fragte mich, was ein Bokken ist und hob den Stock auf, um ihn mir genauer anzusehen. Es war kein normaler Stock, sondern ein geschnitztes Stück Holz, das in seiner Form den schlank geschwungenen, japanischen Schwertern ähnelte.

„Das ist das Trainingsschwert der Samurai. Richtig gehandhabt, ist es genauso tödlich wie ein Katana“, erklärte sie mir.

„Hat er noch mehr Waffen?“ fragte ich und wog das Schwert in der Hand. Sicherlich konnte man fast alles als Waffe einsetzen, aber für sie schien das eine spezielle Bedeutung zu haben.

Sie nickte. „Ein Katana natürlich und eine Schleuder für das Bogenschießen.“

„Was macht er denn noch für Sport?“ fragte ich.

„Außer Kendo, Aikido und Kyudo? Judo und Karate. Aber im Karate hat er erst den gelben Gürtel.“

Erst den gelben Gürtel, wiederholte ich in Gedanken. Für mich klang das beeindruckend genug, immerhin ging er erst in die zweite Klasse. Ich korrigierte mein Bild von dem verwöhnten reichen Jungen, der seine Grenzen sucht, zu einem überforderten reichen Jungen, der verzweifelt versucht, sich abzugrenzen. Ich fragte mich, was mir noch alles nicht erzählt worden war.

Jedenfalls schien er Hilfe dringend zu benötigen. Ich war froh, mit her gekommen zu sein.
 

Wir blieben noch eine Weile im Garten stehen, bis sie sich soweit gefasst hatte, um sich an ihre Pflichten als Gastgeberin zu erinnern. Sie drängte mich, das angefangene Abendessen zu vollenden. Ich hatte zwar gar keinen Hunger im Moment, aber fürchtete, dass eine Ablehnung in diesem Haus und diesem Land zu unhöflich wäre.

Also nahmen wir wieder unsere Plätze ein.

Akihito war auch schon da, und schaufelte unbekümmert und in neuem Anzug die eingelegten Köstlichkeiten in sich hinein, während Kaoruko und ich eher so taten als würden wir essen. Ich dachte, was der Junge jetzt wohl machte und hätte mir gewünscht, wir wären zu ihm gegangen statt zum Abendessen.

„Ich habe Hirose angerufen“, verkündete Akihito zwischen zwei Bissen. „Er kommt nach Hause.“

Hirose war ihr Mann, nahm ich an. Kaoruko kniff die Lippen zusammen, enthielt sich jedoch eines Kommentars. Ich hätte gern gewusst, was sie davon hielt. Und über die Rolle, die dieser Onkel hier spielte, war ich mir auch noch nicht ganz klar.

Ich beschloss die Gelegenheit zu einem Gespräch zu nutzen. „Sie verstehen sich wohl nicht besonders gut mit Ihrem Neffen?“ fragte ich und befördere eine nach vorne geratene Strähne meines Haars wieder zurück auf den Rücken.

„Ach, wissen Sie, eigentlich ist er mir egal“, sagte Akihito. „Solange er keine Suppe nach mir wirft…“ Er grinste mich an. Auf eine Art fand ich seine Unverblümtheit sogar erfrischend nach den ganzen Förmlichkeiten und Höflichkeiten der letzten Tage.

„Kaoruko hat mir erzählt, dass er sich erst seit einiger Zeit so auffallend benimmt.“

Er zuckte desinteressiert die Schultern. „Hier läuft in letzter Zeit einiges drunter und drüber.“

Kaoruko warf ihm einen warnenden Blick zu, der mir bestätigte, dass mir hier irgendwas verschwiegen wurde.

„Jedenfalls kann er froh sein, dass Vater nicht mehr lebt“, sagte er in verändertem Tonfall, nicht mehr so gleichgültig. Er hatte den Blick auch bemerkt. „Der hätte ihm schon Manieren beigebracht!“

„Wie meinen Sie das?“ fragte ich.

„Na, ordentlich vermöbelt hätte er ihn.“

„Akihito!“ schaltete sich Kaoruko ein. „So redet man nicht über seine Ahnen!“

„Ist doch wahr! Was anderes konnte der alte Knacker doch gar nicht.“

„Akihito…“

„Hat er Tatsuomi denn geschlagen?“ unterbrach ich sie, denn ich fand das zu wichtig, um auf die Ehre der Ahnen Rücksicht zu nehmen. Und ich war ganz stolz, anscheinend den Namen richtig ausgesprochen zu haben, zumindest berichtigte mich niemand. Vielleicht waren sie auch nur zu höflich dazu.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht. Er hat ja nie Anlass zu Ärger gegeben, damals. Ja, Vater, nein, Vater, aber natürlich, Vater“, äffte er den kleinen Jungen nach. Dazu gehörte nicht viel Können, denn er erinnerte mich sowieso die ganze Zeit selber an einen kleinen Jungen. Und er bestätigte, was Kaoruko mir im Garten erzählt hatte – bis vor kurzem schien Tatsuomi noch ein richtiger Traumsohn gewesen zu sein.

„Tatsuomi wird nicht geschlagen“, bemerkte Kaoruko, fast ein wenig beleidigt.

„Wahrscheinlich fehlt ihm genau das“, ereiferte sich Akihito.

„Wann ist denn sein Großvater gestorben?“ fragte ich dazwischen.

„Vor ungefähr einem dreiviertel Jahr. Seitdem…“

„Meinen Sie, sein Verhalten hat damit zu tun?“ fiel ihm Kaoruko leider ins Wort.

„Das kann ich noch nicht sagen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Woran ist er denn gestorben?“

„Hirnschlag“, sagte Akihito ohne Bedauern. „Oben in seinem Arbeitszimmer.“

„War Tatsuomi zu Hause?“

„Ja, aber da hat er schon geschlafen“, sagte Kaoruko. „Es war mitten in der Nacht.“

„Wenn Sie mich fragen, ist Tatsuomi das herzlich egal. Den Alten vermisst doch keiner. Außer…“ Diesmal unterbrach sich Akihito selber.

„Außer?“ hakte ich nach.

„Außer Hirose. Und wahrscheinlich will Tatsuomi nur seine Aufmerksamkeit, darum spielt er das Theater, ist doch ganz klar. Aber langsam kann er damit wieder aufhören. Aufmerksamkeit hat er jetzt genug, finde ich.“

Ich schaute ihn nachdenklich an. Ging es darum, um Aufmerksamkeit? An der Art, wie Kaoruko den Kopf senkte, während er sprach, merkte ich, dass etwas Wahres an seinen Worten sein musste, etwas, das sie betroffen machte. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Es stimmt“, sagte sie zögernd. „Mein Mann hat sich seit dem Tod seines Vaters schon ein wenig verändert.“

Akihito gab einen verbitterten Ton von sich. „Ein wenig verändert ist die Untertreibung des Jahrhunderts.“ Er schien noch mehr sagen zu wollen, schwieg aber. Ich hatte den Eindruck, er litt selbst an einem Mangel an Aufmerksamkeit. Das bestätigte mein Gefühl von vorhin, dass Akihito eifersüchtig war. Langsam bekam ich ein Bild von dieser Familie. Und ich wurde neugierig auf den Mann, von dem wir hier redeten.

Ich musste mich nicht lange gedulden.



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