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Lost

Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle
von

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Das Mädchen saß auf einem mit dunklem Leder bespannten Holzstuhl in der Eingangshalle und schaukelte mit den Beinen. Sein Blick war auf das gesprenkelte Laminat gerichtet, dessen große und kleine Flecken in ihren Augen zu abenteuerlichen Bildern und Geschichten verschwammen. Susanna sah dort, wo die kleinen Spritzer waren, eine Armee von Rittern, der Größte von ihnen war der König, die länglichen Linien waren Bäume und der besonders große Kaffeefleck war ein Drache, den es zu besiegen galt. Eigentlich war sie das Spiel leid. So oft hatte sie es schon gespielt, so oft hatte sie allein in der Halle gesessen und darauf gewartet, dass die Pärchen, die an ihr interessiert waren, wieder aus dem Büro der Hausleiterin kamen, nur um sie mit einem gespielt wehleidigen Blick zu bedenken und ihr zu versichern, dass sie eines Tages trotzdem ein schönes neues zu Hause finden würde, nur halt nicht bei ihnen. Ganze fünf Mal hatte es nicht geklappt mit ihrem tollen neuen Heim. Die ersten zwei Male, war sie traurig oder besser: Am Boden zerstört gewesen. Aber die folgenden drei Enttäuschungen hatte sie ertragen, im Wissen über ihre hoffnungslose Situation. Denn die kleine Susanna wusste sehr wohl, woran man ihr Debakel festmachen konnte; was ihre Unvermittelbarkeit verursachte.

Es war ihre Akte oder vielmehr, was darin stand. Die Hausleiterin hatte sie mit Hilfe der Betreuerinnen und Betreuer seit Susannas Aufnahme gewissenhaft geführt, genauso wie die Akten aller anderen Kinder. Es wurden solange Dokumente, Verträge, ärztliche Befunde und Notizen eingeheftet, bis man die entsprechende Person adoptiert wurde oder volljährig war und somit in einer eigenen Wohnung oder Wohngemeinschaft leben durfte.

Doch Susanna war weder gemein oder brutal zu ihren Leidensgenossen, noch hatte sie gesundheitliche Beschwerden. Was das Mädchen in den Augen der Interessenten so seltsam erscheinen lies, war eigentlich banal, stellte aber dennoch für die meisten Leute eine schwer zu überwindende Barriere dar:

Susanna war ruhig, unangenehm ruhig. Und in ihren Unterlagen stand leider Gottes auch der Grund dafür. Den Tod und Leidensweg seiner eigenen Mutter aufgrund des gestörten Freundes mit ansehen zu müssen und nichts dagegen unternehmen zu können, hinterließ unter normalen Umständen ein Trümmerfeld menschlicher Gefühle und ein festsitzendes Trauma. Man hatte alles gut korrigieren können. Auch wenn sich das Mädchen immer noch nicht gerne in Kellern aufhielt und ein starkes Misstrauen gegenüber Männern hegte, war Susanna im Grunde wieder genesen. Sie spielte gerne allein, aber auch mit den anderen Kindern. Sie aß regelmäßig und genug, machte keine größeren Probleme und hatte ihre anfänglichen Panikanfälle längst unter Kontrolle gebracht, nur war sie immer noch sehr ruhig, was aber weniger daran lag, was sie erlebte hatte, sondern vielmehr daran, dass sie die Ruhe mochte. Alle, die das Kind zum ersten Mal sahen, empfanden sie als süß, lieb, angenehm still und interessiert, doch sobald die Leiterin sie über die Vergangenheit des Mädchens aufklärte, sahen sie nur noch eine kleine angsterfüllte, unberechenbare, in sich gekehrte Psychotikerin, die ihnen noch eine Menge Probleme bereiten könnte. Natürlich fragt man sich, warum solche Paare ihre Kinder auch unbedingt aus Waisenhäusern holen mussten. Dort gab es wenige glückliche Kinder mit unspektakulär neutraler Vergangenheit. Immerhin waren es alles Kinder, denen etwas Wichtiges bisher fehlte: Ein stabiles Zuhause. Und sie alle hatten Tag für Tag Hoffnung darauf, eines zu bekommen.

Susannas kläglicher Rest an Hoffnung würde wohl auch dieses Mal an dem ausführlichen Gespräch mit der Hausleiterin scheitern. Dabei hatte die Frau, die sich nach ihr erkundigt hatte, ganz nett ausgesehen. Sie war allein gekommen. Vielleicht war ihr Mann zu Hause oder sie hatte keinen, immerhin war sie schon ein wenig älter, als der Durchschnitt der Besucher. Sie mochte bereits an die sechzig Jahre alt sein. Die auffallend bunt gewählte Kleidung versteckte faltige, weiche Haut, so dünn, dass man jede einzelne Ader darunter erkennen konnte und ihre grauen, zu einem Dutt zusammen genommenen Haare, bildeten den kunstvollen Rahmen eines Gesichts, dessen mütterliche Züge Gutmütigkeit, Offenherzigkeit und beständige Lebensfreude ausstrahlten. Ein viel versprechendes Äußeres und höchst wahrscheinlich ein noch reizvolleres Inneres, aber im Angesicht dessen, was sie hinter der dunklen Holztür des Leitungsbüros erwartete, vielleicht doch nur eine gut angefertigte Fassade?

Mit einem leisen Geräusch der sich öffnenden Tür wurde der Moment der Wahrheit eingeläutet. Susanna hob den Kopf und konnte ein leichtes Kribbeln der Zuversicht in diesem Moment nicht leugnen.

Die stämmige Hausleitung betrat als erstes den warm beleuchteten Gang.

„Okay, ich verstehe Sie. Tut mir leid, aber ich musste Sie über die Umstände informieren. Das ist meine Pflicht als leitende Aufsichtsperson. Ich frage Sie nur zur Sicherheit noch einmal: Sind Sie sich sicher, dass Sie es sich nicht doch noch einmal überlegen wollen? Sie wohnen doch ganz alleine und--“, versuchte sie es mit unsicherer Stimme.

Die ältere Dame stöckelte aufgebracht aus dem Zimmer. Ihrem Gesicht waren sämtliche Gelassenheit und Freundlichkeit gewichen. Entrüstung und Zorn waren an ihre Stelle getreten, als sie die Leiterin anherrschte:

„Nein und nochmals nein, ich schaffe das auch alleine. Mein Entschluss steht fest und Sie können endlich aufhören mich umstimmen zu wollen. Ich habe heute weiß Gott schon genug von Ihnen zu hören bekommen, Mrs. Wiggenstein!“

Das Mädchen auf dem Gang lies den Kopf wieder hängen. Wie sie es vermutet hatte, hatte sich das Gemüt der alten Frau völlig in sich umgekehrt. Sie reagierte sogar noch bösartiger als alle Anderen auf die Akte. So leicht wurde aus einem scheinbaren Engel ein giftiger Dämon.

Susanna war enttäuscht. Selbst jemand, der ansonsten niemanden hatte, wollte lieber weiterhin in Einsamkeit leben, als über ihre kleinen Mängel hinweg zu blicken und sie zu adoptieren. Doch wäre das Leben bei einem solchen Drachen angenehmer gewesen, als hier im Heim?

„Wenn Sie meinen Mrs. Steathham …“, gab die Leiterin klein bei.

Die Alte stopfte einen Stapel Papiere energisch in ihre Handtasche und sagte in einem bestimmenden, lauten Ton:

„Und ob ich das meine! Nun sagen Sie es doch endlich der Kleinen! Sagen Sie ihr, dass ich sie jetzt mitnehme oder soll ich es tun?“

Susanna fuhr zusammen und starrte ungläubig hinüber zu den zwei Frauen.

Dort stand sie, die heroische, starke Mrs. Steathham und bot der Leiterin entschlossen die Stirn. Sie hatte sich nicht von den unheilvollen Anmerkungen und Notizen beirren lassen und auch nicht von den eventuellen Bedenken der Hausherrin. Auf einmal wirkte sie so erhaben, beschützend, so engelsgleich. Ein Idealbild einer Frau, einer Mutter, gewachsen aus Verantwortung und Erfahrung.

Susanna rutschte vom Stuhl und versuchte gerade und ruhig zu stehen. Ihr Herz flatterte, in ihrem Bauch fühlte es sich an, als würden hunderte von kleinen Glasmurmeln durch die Gedärme rollen und aneinander stoßen. Da war es wieder, dieses Gefühl, was sie schon lange nicht mehr befallen hatte, welches sie aber stets vermisst hatte.

Sie erkannte es, an seinem Klang, als die Dame mit klackernden Schritten auf sie zu ging; an seinem Geruch, als sie die sanfte Note von Erdbeeren und Minze roch; an seiner Farbe, als sie in das helle Grau zweier Augen blickte; und an seinem Geschmack, als sie das Salz ihrer eigenen Tränen schmeckte.

Es war ein Wind aus purem Glück, der Susanna Hayden umgab, als Caroline Steathham ihre Hand nahm; und der ihr zuflüsterte, dass sie endlich wieder zu Hause war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-07T19:40:18+00:00 07.01.2011 20:40
*.*
Wie süß *schon fast Karies bekomm*
Aber echt schlimm was die kleine Sue alles mitmachen musste T_T

LG Amalia
Von:  Chosei
2009-07-27T15:54:18+00:00 27.07.2009 17:54
awww~
wie süß!
>____<
ich hab mir gedacht das die ältere dame die da reingekommen is, sie mit nimmt. :D
war wieder angenehm geschrieben. ich freu mich für Su.
aber wegen ihrer vergangenheit kann sie einem echt leid tun. aber nuja, wer quält seine eigenen charas nicht gerne? xDD
*pattet Su*
ich glaub, ich hätte sie als kind gemocht....ich mag ruhige kinder... .___.


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