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Nichts

Nichts

 

Es war still geworden. Dumpf und tonnenschwer bedeckte die unausgesprochene Kapitulation den Leib des besiegten Gottes und drückte ihn nieder auf den Grund der Menschenwelt. Der Gefechtslärm war verhallt, doch in seinem Inneren fühlte Light noch immer das Toben des Krieges. Er vernahm sein eigenes Atmen, das aus nächster Nähe von den Fliesen zurückgeworfen wurde. Mehrmals schluckte er hart und allmählich ließen das Stechen in seinen Lungen sowie das Pulsieren seiner Schläfen nach. In der Mitte des Raumes liegend, unangenehm ins Zentrum gerückt und mit dem Schweigen der Umstehenden konfrontiert, kam sich Light entsetzlich bloßgestellt vor.

Er bewegte seine Beine, zog sie mühsam, durch die Fesselung seiner Hände eingeschränkt und auf frustrierende Weise unbeholfen, unter seinen Körper, um sich aufzurichten, blieb danach jedoch weiterhin auf seinen Knien. Den Kopf gesenkt blickte er zu Boden, wo sich in der spiegelglatten Oberfläche schattenhaft die Silhouetten der Todesgötter abzeichneten. Aus dem Augenwinkel sah er die reglosen Gestalten der restlichen Anwesenden; auf der einen Seite Watari, neben ihm Misa, deren Weinen verstummt war, und auf der anderen Seite, dem Fenster zugewandt, der Meisterdetektiv L.

Dieser drehte sich nun herum, zögerte kurz und ging dann mit langsamen Schritten durch den Raum auf seinen einstigen Ermittlungspartner zu. Ohne den Kopf zu heben beobachtete Light die nackten Füße auf den kalten Fliesen, hörte das Geräusch des über den Boden schleifenden Hosensaums, bis L schließlich bei ihm angelangt war und direkt vor ihm stehen blieb. Light kniete mit geneigtem Haupt auf der rechteckigen Untergrundplatte wie ein Angeklagter auf dem Shirasu, dem weißen Sand der Wahrheit, vor dem Podest des richterlichen Magistraten. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so entwürdigt gefühlt.

Von einem leisen Rascheln der weiten Kleidung begleitet ging L in die Hocke. Light kam nicht umhin, für einen Moment erbittert die Augen zu schließen. Sein Herz hämmerte unangenehm gegen die Innenwände seiner Rippen. Er wollte jetzt nicht hier sein. Er wollte einfach nur verschwinden.

Eine Hand erfasste seine Wange, ließ Light wegen der unerwarteten Geste überrascht die Lider öffnen, Finger legten sich unter sein Kinn und hoben es an. Lights Gemüt verdüsterte sich erneut, obwohl er fortwährend mit seiner Wahrnehmung haderte. Konnte es denn ein Trugbild sein, wenn sich Ls Berührung so erbarmungslos echt anfühlte?

Aus nächster Nähe schaute Light geradewegs in jene durchdringend schwarzen Augen.

Und ganz leise, fast flüsternd, sagte L daraufhin in die Stille:

„Diesen Blick wollte ich schon immer bei dir sehen.“

„Wenn Blicke töten könnten“, raunte Ryuk bösartig kichernd hinter ihm, „dann wären seine Augen effektiver als das Death Note.“ Etwas brüskiert begutachtete L den Todesgott flüchtig von der Seite. Kira hatte mit seinem Shinigami tatsächlich keinen allzu günstigen Fang gemacht. Dessen taktloses Benehmen ignorierend wandte sich L wieder seinem Partner zu.

„Das war ziemlich hart, was du deinem Vater eben gesagt hast, Light-kun.“

„So ist es leichter für ihn“, antwortete dieser emotionslos. „Ich hoffe nur, dass er sich das alles aus Scham nicht zu sehr vorwirft. Er trägt keine Schuld.“

„Ich kann es nicht“, mischte sich jetzt Rem aus dem Zusammenhang gerissen ein. „Vorhin habe ich mich zwar nicht dagegen geäußert, aber Misa muss das Besitzrecht von sich aus aufgeben. Ich kann sie nicht dazu zwingen, wenn sie nicht will.“

„Das musst du auch nicht“, richtete sich L teilnahmslos an die Todesgöttin. „Wir werden das zweite Death Note finden und verbrennen.“ Der Detektiv bemerkte die ungläubig starre Musterung seines Delinquenten und reagierte darauf arglos mit einer selbstverständlich erscheinenden Erläuterung. „Warum so erstaunt, Light-kun? Diesmal war es keiner der Shinigami. Diese zwei letzten Regeln betreffen im Gegensatz zu denen auf der vorderen Umschlaginnenseite, von deren Echtheit ich wiederum überzeugt bin, nicht die Handhabung des Notizbuchs, sondern dessen Konsequenzen. Sie unterscheiden sich daher inhaltlich von den ersten Regeln und passen zudem überraschend vorteilhaft in dein Konzept. Die eine diente dazu, euch von jeglichem Verdacht reinzuwaschen, darum gehe ich davon aus, dass du selbst sie von dem Shinigami in das Heft schreiben ließest. Da ihr beide, sowohl du als auch Misa-san, trotz eurer eindeutigen Schuldigkeit am Leben seid, muss die 13-Tage-Regel falsch sein. Ihre nachträgliche Hinzufügung bedeutet außerdem, dass die darauffolgende Regel höchstwahrscheinlich ebenfalls erfunden ist. Wieso sollte über einer echten Vorschrift ausreichend Platz für eine eventuelle Fälschung sein? Diese zwei Beschränkungen mussten also zur gleichen Zeit eingetragen worden sein. Stünde das Verbot zur Vernichtung des Notizbuchs nicht unter einer Attrappe, hätte ich weniger an dessen Authentizität gezweifelt. Aber du brauchtest eine Sicherheit, damit niemand das Death Note zerstörte. Logische Konsequenz war die allerletzte Regel.“ L stand auf und wandte sich in gekrümmter Haltung dem blonden Mädchen zu. „Wedy konnte sich in der bewaldeten Gegend, wo das Heft offensichtlich versteckt war, nicht genügend nähern, ohne dass sie aufgeflogen wäre. Bisher war es uns leider nicht vergönnt, dort etwas zu entdecken. Also, Misa-san, wenn du möchtest, dass Light-kun nichts geschieht, dann verrat uns, wo sich dein Death Note befindet.“

Die junge Frau, die mit ihrem jugendlichen Kleidungsstil und kindlichem Verhalten häufig darüber hinwegtäuschte, wie erwachsen sie de facto war, verzog das Gesicht zu einem störrisch abweisenden Ausdruck. Sie wirkte unsicher und verletzlich, hatte darüber hinaus jedoch nichts von ihrer Entschlossenheit eingebüßt. Wie hätte ihr Ryuzaki auch drohen können, wenn er ohnehin vorhatte, ihren Freund verurteilen und hinrichten zu lassen?

„Misa“, sprach Light seine Komplizin gefasst an, „du weißt, was zu tun ist.“

Ein winziges Grübchen vertiefte kaum sichtbar ihren Mundwinkel, als Misa mit einem leichten Nicken sagte:

„Ryuk, hiermit gebe ich das Besitzrecht an dem Death Note auf.“

„Nein!“, fuhr L verärgert dazwischen. Allerdings zuckte der Todesgott bereits, nachdem er seine erste Irritation überwunden hatte, gelassen mit den Schultern und erwiderte mit einem Grinsen:

„Wie du willst.“

Die Anspannung löste sich vom Körper der jungen Frau. Ihre Mimik wandelte sich von selbstbewusster Willensstärke zu ängstlicher Verwirrung, als sie sich in einer Situation wiederfand, die ihr nicht begreiflich erschien, gefesselt und ihres Augenlichtes durch ein dunkles Stoffband beraubt.

„Was ist los?“ Ihre dünne Stimme war erfüllt von Furcht. „Mister Stalker, sind Sie das wieder? Light, was passiert hier?“

„Keine Angst, Misa. Ich bin hier. Es ist alles in Ordnung.“

Glucksend verdrehte Ryuk seine Gliedmaßen und raunte dem Meisterdetektiv amüsiert zu:

„Scheint, als würde dir hier einiges aus dem Ruder laufen, kann das sein?“

„Watari.“ Genervt setzte L eine finstere Miene auf. „Bringen Sie Misa-san bitte fort und lassen Sie uns allein.“

„Ryuzaki.“ Der ergraute Herr runzelte voller Bedenken die Stirn.

„Ich bin sicher“, beruhigte L seinen Gehilfen mit Nachdruck, „keine Sorge.“

Zögerlich nickend erfasste Watari den Oberarm Misas, um sie aus dem Raum zu führen.

„Ich will nicht“, wehrte diese verständnislos ab. „Bitte, ich möchte bei Light bleiben!“

„Geh mit ihm, Misa.“ Die Worte klangen sanft, doch dahinter vibrierte Lights Stimme von einem nur schwerlich unterbundenen Lachen. „Mach dir meinetwegen keine Gedanken.“

Widerwillig fügte sich Misa. Trotz der Augenbinde offenbarte ihr Gesicht zahlreiche Zweifel und eine unterschwellige Konfusion. Ihr Verstand schien benebelt, als hätte sie wissen müssen, wie sie in diese Situation geraten war, aber nichts ergab mehr einen Sinn. Eben noch war alles logisch und nachvollziehbar und auf einmal kam sich Misa vor wie in einem Traum, welcher sie plötzlich mit der Aufforderung konfrontierte, den eigenen Rückweg zu schildern. Konnte man sich an den Anfang eines Traumes erinnern? Misa glaubte, etwas vergessen zu haben, einen wichtigen Sachverhalt oder eine Erkenntnis über... Ryuzaki? Ryuzaki, der ihr stets merkwürdig vorkam, der manchmal allerdings cool und lustig war. Ryuzaki, Lights Ermittlungspartner und bester Freund. Oder etwa nicht? Wenn das stimmte, warum verhielt sich Ryuzaki dann so? Misa hatte etwas in Erfahrung gebracht, eine Mitteilung von diesem gruseligen Geschöpf mit den grauweißen Klauen. Nein, solch eine Chimäre konnte nicht der Realität entspringen. Es musste das Produkt eines irrtümlichen Glaubens sein. Hatte sie nur geträumt, dass Light in Wirklichkeit Kira war?

„Ich bin jederzeit abrufbereit“, sagte Watari mit einer angedeuteten Verbeugung, bevor er sich gemeinsam mit Misa zurückzog. Kaum waren die Türen hinter ihnen zugefallen, drehte sich L eilends um.

„Wo ist es, Shinigami?“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Ryuk in einem Tonfall, der verdeutlichte, dass ihm absolut nichts leidtat. Er legte den Kopf schief und grinste. „Wie gesagt, ich stehe weder auf Lights noch auf deiner Seite. Eigentlich müsste ich längst zurück in die Welt der Todesgötter, nun da mein schönes Death Note keinen Besitzer mehr hat.“

„Selbst wenn er wollte“, fügte Light im Widerspruch zu seiner momentanen Position hochmütig lächelnd hinzu, „er kann es dir nicht sagen, Ryuzaki. Auch ich kann es nicht sagen. Ich weiß nicht, wo es ist. Aber ich habe Vorkehrungen getroffen. Wenn du mich tötest, wirst du früher oder später sterben. Dafür habe ich gesorgt.“

Missgestimmt kniff L zur Hälfte seine Lider zusammen und starrte Light prüfend an.

„Das ist doch nur ein armseliger Bluff.“

„Wer weiß?“

„Womit du mich auch überzeugen willst und wie sehr ich es persönlich auch bedauere“, entgegnete L so schmerzlich wie entschieden, „Yagami Light wird ausgelöscht. Seine Existenz wird eliminiert.“

„Ryuk.“ Zwanghaft überging Light das beißende Stechen und Drücken seines Brustkorbs, den Schwindel im Kopf und den Schauer der Hysterie, der ihm über den Nacken jagte und seine Atmung erzittern ließ, während er sich schwankend erhob. „L wird das Death Note nicht benutzen. Er wird mit Sicherheit beide vernichten, falls er das andere überhaupt findet. Du wirst die Menschenwelt verlassen müssen und dich wieder langweilen. Willst du das? Wenn du das verhindern willst, dann schreib seinen wahren Namen auf. Ich habe dir noch so viel mehr zu bieten.“ Neben sich stehend, seine Emotionen und jede humane Regung niederringend, fixierte Light den Gott des Todes. „Schreib, Ryuk. Schreib nur diesen einen Namen für Kira in dein Death Note.“

„Nur einen einzigen Namen?“

Weiß glühend stachen die pupillenlosen Augäpfel des Todesgottes aus den Konturen seines dämonischen Antlitzes hervor. Seine Pranke langte nach dem Notizbuch, das sich in einer Halterung an seiner Hüfte befand. Gleichzeitig zückte er eine organisch geformte, mit Totenschädeln besetzte Schreibfeder.

All das nahm Light nicht mehr wahr. Er hielt dem Blick seines feindlich gesinnten Freundes stand und kämpfte innerlich gegen Überschwang und Panik. Was sich zwischen den beiden Männern abspielte, glich einer unbewegten Scharade. L sah ihn mit einer furchtlosen Gewissheit an, die er Light nun beschwörend zu vermitteln schien: Verlass dich nicht auf ihn, er wird dir nicht helfen.

„Nein, warte“, wies Light den Todesgott schneidend an, ohne L aus den Augen zu lassen.

„Skrupel, Light?“, fragte Ryuk in amüsiertem Erstaunen und hielt inne. „Das wäre neu bei dir.“

„Nein“, wiederholte dieser resolut, obgleich seine Worte tonlos und leer klangen, „in der jetzigen Situation würdest du niemals Ls Namen aufschreiben. Im Gegensatz zu Misa glaube ich nicht, dass es notwendigerweise Liebe ist, die einen Todesgott vernichtet. Ich glaube, dass er nicht gegen seine Natur handeln darf. Wenn er das Leben eines Menschen wissentlich verlängert, wofür starke Zuneigung sicher ein Auslöser sein kann, damit er etwas Derartiges überhaupt in Betracht zieht, so führt er damit seine eigene Existenz ad absurdum. Rem hätte damals, als ich ihr zu warten befahl, für mich Ls Namen aufgeschrieben, weil kein erkenntlicher Zusammenhang zu meinem Ableben bestand.“ Light bemerkte, wie sich im Zuge dieser neuen Informationen auf dem Gesicht des Detektivs eine Spur Neugier abzeichnete. Es spielte keine Rolle mehr, wie viel er jetzt noch preisgab. Er konnte die Karten offen auf den Tisch legen. Schlimmer hätte es ohnehin nicht mehr kommen können. „Falls du ihn jetzt aufschreibst, Ryuk, könnte das deinen Tod bedeuten. Das würdest du niemals riskieren. Du hast mir kein einziges Mal geholfen, sobald ich in die Enge getrieben war. Darum ist der Name, den du eigentlich aufschreiben willst...“

„...dein eigener, Yagami Light.“

Endlich wandte der junge Mörder seine Aufmerksamkeit dem geflügelten Verhängnisbringer zu, der sardonisch auf ihn herabgrinste und dessen Federspitze bereits das tödliche Papier berührte.

„Ich sagte doch, bevor du stirbst, werde ich es sein, der deinen Namen in das Death Note einträgt. Wenn du dich Hilfe suchend an mich klammerst, weiß ich, dass du am Ende bist. Und jetzt sieht es so aus, als hättest du verloren.“

„Light-kun.“ Zurückgezogen, den Kopf gesenkt, die müden Augen versteckt hinter seinen schwarzen Haarsträhnen, schien sich L zu scheuen, seinem einstigen Freund weiterhin ins Gesicht zu schauen. „Ich muss gestehen, dass ich dir die Auslieferung an die Justiz lieber ersparen möchte. Vermutlich... ist es deshalb besser so.“ Light spürte, wie seine Beine schwach wurden. „Es brennt dir doch auf der Zunge, dich zu rechtfertigen, nicht wahr? Dann ist das hier wohl deine letzte Gelegenheit... Kira.“

Indem L diesen Namen aussprach, legte er die Identität von Yagami Light fest, als wäre jener längst gestorben. Vielleicht war er das ja wirklich. Nein, natürlich war er das. Krampfhaft schluckend versuchte sich Light einzureden, dass er tatsächlich nichts mehr empfand, weil Kira ihn umhüllte, ihn bis ins Mark ausgehöhlt hatte. Es existierte keine Menschlichkeit mehr in diesem leeren Gott. Er konnte gar nichts mehr empfinden. Light verschloss die Augen vor der Realität und lächelte bitter, doch seine Lippen zitterten dabei.

„Das Einzige, was ich wollte“, begann er nüchtern, „war die Verbesserung der Welt in einer Gegenwart und nahen Zukunft, die ich mit ausgestrecktem Arm erreichen kann, sofern man mich nicht aufhält. Du hattest ganz Recht, L. Meine Persönlichkeit, meine Anlagen, ich war schon immer, wie du es vorhin nanntest, soziopathisch gestrickt. Es kann so nicht weitergehen, das dachte ich bereits als Schüler, bevor ich das Death Note fand. Soll ich mich etwa der Masse ergeben, meine Hände in den Schoß legen und wie alle anderen ignorieren, was um uns herum falsch läuft, obwohl ich daran etwas ändern könnte?“ Nach wie vor ein Lächeln zeigend drehte Light den Kopf in Richtung des Shinigami, sein Blick jedoch glitt durch diesen hindurch, verlor sich geradeaus im Nirgendwo. „Warum ich den Tod fürchte, liegt nicht daran, dass ich Angst vor einer Bestrafung hätte. Ich wusste, dass mein Werk mir entgleitet, sobald ich es als Wegweiser nicht mehr anleite. Dennoch ist die Revolution bereits in Gang gesetzt und lässt sich nicht mehr stoppen. Was ich angefangen habe, wird vorerst nicht untergehen. Nichts ist so stark wie eine Idee, ein eingepflanzter Gedanke. Kira ist in den Köpfen der Menschen verankert. Sie werden diese Idee nicht vergessen, auch wenn bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes von Welt und Menschheit nichts mehr eine Rolle spielt. Das ist es, was ich gern verhindern würde, nämlich dass mein Kampf am Ende sinnlos gewesen sein wird.“ Seine Stimme vibrierte vor unterdrückter Erheiterung und Selbstironie. „Dass es keine Bedeutung hatte.“

Zwischen hilflos zuckenden Lidern suchte die schmale Iris seiner rotbraunen Augen vergeblich nach Blickkontakt. Warum verbarg sich L vor ihm, anstatt ihn wie sonst intensiv zu mustern? Ein knappes Lachen stahl sich aus Lights schmerzender Kehle. Danach fuhr er umso kälter fort.

„Im Grunde hat nichts eine Bedeutung. Nichts bedeutet irgendetwas. In einigen Jahrtausenden wird es die Menschheit wahrscheinlich nicht mehr geben, wenn wir es nicht sogar in nächster Zeit schaffen, uns in die Luft zu sprengen. Die Existenz von Kira kann eine Regression verhindern. Wenigstens ein paar Menschen, die es schon lange verdient haben, können sich beschützt und glücklich fühlen. Was bedeutet es, zu gehen? Sollen wir etwas hinterlassen? Für die Nachwelt? Wie diese... Inzeption eines Gedankens, die Eingebung zu einer perfekten Welt, nur ein erster, kleiner Anstoß? Etwas Größeres als das kann man den Menschen gar nicht zum Geschenk machen. Doch selbst in diesem Fall, wenn sich jemand an uns erinnert, wenn wir ein Zeichen gesetzt oder eine bahnbrechende Entdeckung gemacht haben, wird irgendwann, sobald die Menschheit ausgelöscht ist, nicht einmal ein Bruchteil dieser Vergangenheit überdauern. Nach dem Tod zerfällt der Rest unseres Körpers in irgendeinem Grab zu Erde, zu Asche, zu Staub. Es gibt keine unsterbliche Seele oder etwas Ähnliches, das dann noch von uns übrig bleibt. Wir verschwinden im Nichts und keine einzige Handlung, kein einziges Wort von uns hatte irgendeine Bedeutung. Jetzt ist es noch groß und wichtig, es schmerzt oder erfüllt uns mit Freude. Aber zum Schluss verschwindet das alles und zurück bleibt absolute Leere. Warum also sollte ich überhaupt jemals glücklich sein wollen? Stattdessen möchte ich so lange wie möglich für mein Ideal überleben, weil nur die Gegenwart zählt. Ist es denn falsch, alles aufs Spiel zu setzen, um meinem Dasein endlich einen Sinn zu geben, auch wenn ich dabei eine Eskalation herbeiführe? Da ich schon so viel Macht besitze und jede Veränderung etwas Gutes ist, kann ich für dieses Gut auch Böses tun. Die Welt gehört denen, die lieber zu weit gehen als zurück.“

Ohne sich Einhalt zu gebieten kam jeder neue Satz von ganz allein. Light wollte sich nicht rechtfertigen. Er wollte nichts hinauszögern. Im Durcheinander seines Geistes war ihm selbst nicht klar, was er eigentlich wollte. Abwesend betrachtete er die gebeugte Gestalt seines Freundes. Vielleicht hatte er es bisher einfach nicht aufgegeben, Ls Verständnis zu gewinnen.

„Es ist nicht alles verloren“, erklärte Light gezwungen optimistisch. „Manchmal gibt es Schönheit in dieser Welt, die bereits an allen Ecken und Enden zu verrotten droht. Moral oder Mitgefühl kann man den Menschen nicht beibringen, aber man kann ihnen antrainieren, sich gut und richtig zu verhalten. Je mehr Schuld ich auf mich lade, desto sicherer und reiner können die Gutmütigen und Schwachen sein, ohne sich dafür zu schämen, was sie sind. Sie müssen nicht stark sein, solange ein Einzelner das für sie übernimmt. Für das Allgemeinwohl ist nichts weiter als dieses geringe Opfer vonnöten. Ich handle nicht anders als unser Staatssystem, nur weitaus effektiver. Damit die Welt gut und schön, damit sie perfekt wird, muss alles Hässliche und Schlechte getilgt werden. Um die getöteten Verbrecher ist es doch nicht schade, die haben es verdient, zu sterben. Sie haben ihr Recht auf Leben verspielt, weil sie die Guten unterdrücken und ihnen suggerieren, man solle Böses tun, sonst müsse man in dieser auf Leistung basierenden Gesellschaft untergehen. Man solle nach oben buckeln und nach unten treten, um nicht in dieser stinkenden Kloake an Verdorbenheit zu ersaufen. Schlechte Menschen sind wie eine Seuche, die sich ausbreitet, wenn man sie nicht entsprechend behandelt. Sie sind wie ein Krebsgeschwür, das gesundes Gewebe befällt. Mit dem Death Note als Waffe habe ich meinen Füller wie ein Skalpell angesetzt, um das kranke Gewebe herauszuschneiden.“

Kaum vernehmlich seufzte Light. Er merkte, wie seine Vernunft verworrener wurde, je weniger der Meisterdetektiv ihn beachtete.

„Siehst du das nicht, L?“, fragte er verzagt. „Ich heile die Welt. Ich schütze ihre schlummernde Perfektion und säubere sie von dem Dreck, der ihre Reinheit nur beschmutzt.“

„Jetzt“, reagierte L endlich leise, „klingst du zum ersten Mal wirklich wie ein Monster.“

„Ryuzaki?“ Einen kurzen Moment hörte sich Lights Stimme zerbrechlich und jung an, sein Blick bat um Hilfe, während seine Beine das eigene Gewicht nicht mehr trugen, sodass er verwirrt in die Knie ging. Er versuchte den Schmerz in seinem Inneren zu betäuben, den Ls Aussage ihm zufügte. Hinter seinem Rücken bohrte er sich in plötzlicher Wut die Fingernägel in seine gefesselten Handgelenke. Ein gehässiges Grinsen aufsetzend und um Kaltblütigkeit bemüht sah er zu seinem Gegenspieler empor.

„Überrascht? Bin ich also doch nicht so, wie du mich eingeschätzt hast? Sogar der großartige L durchschaut offenbar nicht alles, wenn er sich in die Abgründe der menschlichen Seele begeben muss. Du willst dir ein Urteil erlauben, obwohl du keine Ahnung hast, wie es da draußen abläuft. Du verlässt ja nicht einmal dein Zimmer. Lieber verbirgst du dich vor den Menschen, observierst sie über Monitore, kommunizierst mit ihnen über Mikrofone, eingeigelt zwischen deinen Süßigkeiten und angeekelt von jeder menschlichen Berührung.“ An diesem Punkt wandelte sich Lights Boshaftigkeit in nachdenkliche Resignation. „Fast jeder. Wahrscheinlich bin ich der Einzige, den du je so nah an dich herangelassen hast. Ist das nicht traurig? Gerade ich, den du so sehr verachten müsstest.“

Langsam regte sich L. Verschlossen und in sich gekehrt lugte er unter seinem pechschwarzen Haarschopf hervor zu Light. Dieser lächelte humorlos, wobei er mit dem Kopf eine auffordernde Geste machte.

„Komm her.“

Misstrauisch trat L einen Schritt näher. Durch seine hochgezogenen Schultern und die krumme Körperhaltung wirkte er beinahe verschreckt.

„Ryuzaki, ich werde dir schon nicht dein Ohr abbeißen.“

„Ich bin mir da nicht so sicher, Light-kun.“ Dennoch ging der Detektiv erneut vor seinem Delinquenten in die Hocke. Light spähte abwechselnd zu den Todesgöttern hinüber, die als stumme Beobachter der Szenerie beiwohnten. Den Seitenblick bemerkend beugte sich L äußerst zaghaft, die Hände umsichtig an die Oberarme des Anderen legend, zu ihm nach vorn.

„Wenn du begreifen könntest“, flüsterte Light daraufhin sanft in sein Ohr, „würde ich dich verschonen. Ich würde dich vor jeder Unbill und jedem Leid bewahren, das dir diese grausame Welt zufügen will, vor der du dich so verzweifelt versteckst, L. Wenn du dich mir hingibst, werde ich dich für immer beschützen.“

„Light.“ Sich erhebend wich L vor ihm zurück, die Augen in Zweifel und Unglauben geweitet. Es war keine Abscheu, die sich in seinem Gesicht widerspiegelte. Light schaute ihm irritiert hinterher. Er verstand nicht, weshalb jener vor ihm zurückschreckte. Etwa weil Yagami Light ein Monster war? Offenbar jagte er L nur noch Angst ein. Bitter und abfällig ließ ihn diese Einsicht schmunzeln.

„Gut so, L. Fürchte und verachte mich für das, was ich bin. Was die Welt aus sich hervorgebracht und aus mir gemacht hat, um sich selbst zu retten. Es wundert mich nicht, dass du in Wahrheit gar nicht sehen willst, was sich hinter der Maske verbirgt, die du mir herunterzureißen versuchtest, obwohl du das so felsenfest behauptet hast.“

Keine Antwort. Nur ein weiterer Schritt, den L scheu vor ihm zurückwich. Mit Unbehagen sah Light die Distanz zwischen ihnen wachsen. Eine unsichtbare Kluft schien den Raum in der Mitte zu spalten und die beiden Partner unwiderruflich voneinander zu trennen. Light wunderte sich, ob sein Feind denn nicht gleichzeitig sein Freund gewesen war. Warum fiel ihm erst jetzt auf, wie absurd diese Hoffnung sein musste? Hatte ihn seine Einsamkeit unvernünftig und schwach werden lassen? Schlussendlich wurde Light bewusst, dass er sich bloß etwas vorgemacht hatte. Bis zuletzt hatte er geglaubt, jemanden gefunden zu haben, der ihn verstand und ihn wirklich so sehen wollte, wie er war. Er hätte es wissen müssen. Wie hatte er glauben können, dass L ihn gleichfalls...

Lights Denken blockierte. Der Druck in seinem Hals, den Schläfen und hinter den Augen verwirrte seinen Verstand. Rasch senkte er den Kopf, damit man ihm seine Emotionen nicht vom Gesicht ablesen konnte. Doch für den Bruchteil einer Sekunde sah er in den tiefgründigen Pupillen, dass L es bereits bemerkt hatte: seine eben gewonnene Erkenntnis. War er wirklich so blind gewesen? Plötzlich meinte Light, alles deutlich erkennen zu können. Es hätte ihm klar sein müssen, dass L ihm alles, was zwischen ihnen geschehen war, nur vorspielte, um ihn angreifbarer zu machen. Und er war wie ein Idiot darauf hereingefallen! Unmöglich, das konnte nicht, das durfte einfach nicht sein. War das alles nur Lüge? War nichts davon echt? Das Relikt dessen, was ihm am wertvollsten geworden und was er zu opfern bereit gewesen war, entpuppte sich als Verrat und betrügerisches Nichts. Irgendetwas schien Lights Herz zu zerreißen. Ungezügelt breiteten sich Zorn, Hass, Verzweiflung und Ohnmacht in ihm aus. Er wollte schreien, weinen, wüten oder irgendein anderes Ventil finden, damit dieser unerträgliche Gedanke nicht seine heftig schmerzende Brust zersprengte.

Stattdessen brach aus dem Tumult in seinem Inneren ein Lachen hervor.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das Wort „Inzeption“ ist ein Neologismus, der auf dem Film „Inception“ basiert. Komplett anzeigen

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