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Patient X

von

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Katerstimmung

Kapitel 15: Katerstimmung
 

Nein, Hermine wollte Helen wirklich nicht zumuten, sich auch nur vorübergehend um Voldemort kümmern zu müssen. Nicht eine Sekunde länger als unbedingt nötig sollte sie an ihn denken müssen. Vielleicht hätten sie ja irgendwann einen anderen „Dummen“ gefunden, der sich freiwillig mit dem Lord befasste, aber das könnte Wochen oder Monate dauern. Bis dahin würde Helen das miterledigen müssen. Das restliche Personal hatte nämlich erklärt, dass sie lieber kündigen würden, statt Voldemort so nahe zu kommen. Und ob man, aus Gründen der Verschwiegenheit, überhaupt noch einmal eine neue Person zu seiner Pflege einstellen würde? Wohl eher nicht, es würde an seinen Opfern hängen bleiben.
 

Der Versuch, den Zauberstab an sich zu reißen, hatte sich als Unmöglichkeit erwiesen. Die Banne, die darauf lagen, würde er wohl ohne weitere, mächtige Gegenflüche nicht lösen können. Dafür bräuchte er aber wiederum auch einen Zauberstab. Da er aber, ohne Hermines Zauberstab, nicht aus dem Zimmer hinauskäme …
 

Sicher, er hatte ihr eindeutig gezeigt, dass er ihr körperlich überlegen war. Aber trotzdem war er durch die Monotonie und den damit verbunden Bewegungsmangel des Kellerlebens nicht soweit bei Kräften, dass er auch die Auroren vor der Tür überwältigen könnte. Hermine dazu zu zwingen, die Tür für ihn zu öffnen, würde ihm ja nur dann etwas nützen, wenn er dann durch diese Tür auch durchgehen konnte, also dort nicht von den Auroren aufgehalten werden würde. Kurzum … die Sache schien für ihn unmöglich.
 

Warum hatte sie es nicht gemeldet? Waren nicht genau dafür die Berichte da? Aber dann hätte sie ja auch schreiben müssen, dass er schon seit Wochen oft ohne Banne war. Dass sie ihn zu „gut“ gepflegt hatte und er deswegen so kräftig geworden war. Und dann? Man würde sie auf der Stelle entlassen, das war sicher. Man würde ihr ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Man würde ihren Namen eventuell auf schwarze Listen im Ministerium setzen und vor allem … vielleicht würde man sie nach Askaban schicken.

Hermine hatte noch einen anderen Verdacht, warum Lord Voldemort nicht in Askaban war. Es gab dort wenige Sicherheitsmaßnahmen, außer den Dementoren. Die reichten bei normalen Menschen vollkommen. Aber was könnten die Seelenfresser bei jemandem ausrichten, der seine Seele so dermaßen verstümmelt hatte?
 

Aber bei ihr, Hermine, da könnten sie Schaden anrichten. Nein, sie wollte nur dann um Hilfe rufen, wenn er sie irgendwann wieder angreifen würde. Aber nicht ohne direkte Gefahr.

Augen zu und durch, nicht wahr? So würde sie weiterhin ihre abscheuliche Pflicht erfüllen um die zu schützen, die das nicht ertragen könnten.
 

Der Vorfall war grauenhaft gewesen, doch Hermine fühlte trotz allem eine gewisse Erleichterung. Dieser Gedanke, ob er den Zauberstab nicht doch benützen könnte, war all die Wochen als unausgesprochener Gedanke zwischen ihnen gestanden. Sie hatte gehofft, er hatte gezweifelt. Nun hatten sie beide die Antwort auf ihre Frage erhalten. Hermine hatte diese Schlacht um den Stab bis auf weiteres gewonnen.
 

Den anderen Kampf jedoch, den schien sie verloren zu haben. Hermine war nach seinem Angriff unendlich enttäuscht und gedemütigt nach Hause gegangen. Ein Tier war nun mal ein Tier … was hatte sie sich den dabei gedacht, dort etwas Menschliches finden zu wollen? Da war nichts. Egal, wie viel Mühe sie sich gäbe, egal, was sie sich alles einfallen lassen würde, egal, wie viel Zeit sie mit ihm verbrachte, er war und blieb weniger als das geringste Tier, denn Tiere sind keine Sadisten.
 

Die junge Gryffindor erfüllte ihre Pflicht, aber mehr auch nicht. Sie ging zu ihm, brachte ihm frische Wäsche, Essen und Getränke. Und das war es. Wozu auch mehr? Sie legte noch nicht einmal die Banne auf ihn. Sollte er sich doch selbst versorgen.

Hatte sie vorher immer wieder das Gespräch über Bücher und Unterricht mit ihm gesucht oder sich Beschäftigungen für ihn einfallen lassen, so tat sie dies jetzt nicht mehr. Sie kam rein, stellte ihm alles, was sie mitbrachte auf den Nachtisch neben sein Bett und setzte sich die vollen zwei Stunden am anderen Ende des Raumes auf den Stuhl, neben der Badewanne. Dort las sie Bücher oder Zeitungen und beachtete ihn nicht. Die Zeitung legte sie ihm beim Hinausgehen auf den Nachttisch. Sie hatte den Tagespropheten ohnehin abonniert, ob er nun, nachdem sie ihn gelesen hatte, sofort auf dem Müll landete oder erst einen Tag später, wenn er auch hineingeschaut hatte, das war egal.
 

Natürlich hatte er in den ersten Tagen danach versucht sie anzusprechen. Meist waren es Befehle gewesen, die er ihr auftragen wollte, doch diese wurden von ihr konsequent ignoriert. Die wesentliche Grundversorgung hatte er, dementsprechend gab es eigentlich keinen weiteren Grund für ihn, sich mit ihr abzugeben. Und die in der Luft hängende Drohung, ihn Helen zu überlassen, wirkte wohl abschreckend genug, als dass er versucht hätte, durch Zauberei mehr zu beanspruchen.
 

Da Hermine ja verraten hatte, was es mit der Sondennahrung auf sich hatte, konnte sie ihn auch nicht mehr heimlich ruhig stellen. Dennoch musste sie die Flaschen auf den Schiebewagen stellen. Es wäre den Auroren doch aufgefallen, wenn sie das einzige Nahrungsmittel, das er offiziell bekommen durfte, nicht mitbrachte.
 

Allerdings fielen Hermine, am vierten Tage ihres Schweigens, die glasigen Augen und der leicht entrückte Gesichtsausdruck in Voldemorts Gesicht auf. Als sie daraufhin die Sondenflaschen auf dem Schiebewagen nachzählte stellte sie fest, dass etwas fehlte. Während des täglichen Betten Machens spähte sie verstohlen unter sein Bett und fand immerhin eine gänzlich geleerte, sowie eine halb leere Flasche.
 

Während der nächsten Tage verbrachte er ihre gemeinsamen Tage damit bewegungslos im Bett zu liegen oder von einem Stuhl aus abwesend auf die Wand zu starren. Doch was ging das Hermine an? Im Grunde erleichterte er ihr die Arbeit sogar, da es nun noch leichter war ihn zu ignorieren.
 

Als er dann aber eines Tages einfach aus dem Bett fiel, nicht einmal aufwachte und auch noch am nächsten Tag dort lag, wo er zuvor heruntergefallen war, beschloss Hermine, dass sie dem ganzen nun eine Ende bereiten musste. Nachdem mehrere Versuche scheiterten, ihn mit Fußtritten zu wecken, schaffte sie es am Ende doch mit einem „Enervate“ kombiniert mit einem großen Eimer eiskaltem Wasser. Während er sich vollkommen orientierungslos versuchte aufzurichten, kippte sie den Inhalt sämtlicher Sondenflaschen in den Ausguss und füllte stattdessen im Supermarkt nebenan erstandene Kuhmilch ein. Es nutzte niemanden wenn er Morphium abhängig wäre. Am Ende würde das nur die Verhandlungsfähigkeit gefährden. Davon abgesehen gönnte Hermine ihm auch einfach nicht sich die Zeit bis, sowie Gedanken an, seinen Tod mit solch feigen Mitteln zu erleichtern.
 

Die Tage darauf war er motorisch sehr unruhig. Lief endlos unruhig im Zimmer umher, während er leise vor sich hin brabbelte. Ein paar Mal erbrach er sich und klagte über Schmerzen … was Hermine entweder dazu veranlasste sofort nach Hause zu gehen oder sich noch tiefer in ihrem jeweiligen Buch zu vergraben. Aber untereinander wurde nichts mehr gesprochen. Was kümmerte sie seine Entzugserscheinungen?
 

Seit drei Wochen, seit seiner Attacke auf sie, hatte sie kein Wort mehr mit ihm geredet und ihn nicht mehr angesehen. Er war Luft. Sie kam her, legte Dinge auf ein Bett, nahm beim Hinausgehen Dinge mit, das war es. Sie beaufsichtigte eher den Raum als ihn.

Doch das Schweigen war nicht leicht. Auf Dauer gewöhnt man sich an alles, sagte sich Hermine. Auch wenn es unangenehm ist.
 

Heute konnte sie sich nicht auf ihr Buch konzentrieren. Lehrbuch der Zaubersprüche, Band 7. Fast war sie damit fertig. Vor ein paar Wochen waren sie einige Kapitel gemeinsam durchgegangen. Sie hatte sich einige Schliffe erklären lassen, wie sie Feinheiten verbessern konnte, aber jetzt war ja Funkstille. Ihre Gedanken glitten ab.
 

Gestern war sie mit Mrs Weasley zu einer Selbsthilfegruppe gegangen. Menschen, die während Voldemorts zweiter Herrschaft Angehörige verloren hatten. Das war schlimm. Helen war auch da gewesen. Mrs Weasley weinte von rechts, Helen weinte von links, während alle zusammen Andromeda Tonks zuhörten, die vor der Gruppe ihren Verlust betrauerte und ebenfalls weinte. Am liebsten wäre sie schreiend davon gerannt, aber das hätte zu herzlos ausgesehen. Aber so war es nicht.
 

Nur, es war so furchtbar all diese Menschen zu hören, die sich alle gegenseitig an schrecklichen Geschichten übertrumpfen konnten, alle weinten, waren verzweifelt, aber man konnte ihnen nicht helfen. Und das was sie jetzt tat, den Urheber all des Übels mit Nichtachtung zu strafen, das besserte doch auch nichts an der Situation.
 

Zögerlich hatte sie gewagt, eine Frage an die versammelte Menge zu stellen, ob es denn irgendetwas gäbe, das ihnen helfen könnte? Und dann, nachdem sie tief Luft geholt hatte, fragte sie die Versammelten auch, ob es denn etwas gäbe, was sie Voldemort gerne fragen oder sagen würden.
 

Zuerst waren die Leute bestürzt über diese Idee, doch dann wurden recht schnell zahlreiche Fragen und Stellungnahmen gesammelt, die sie zumindest untereinander besprechen wollten. Hermine hatte alles mitgeschrieben. Auch wenn sie nicht wusste wieso. Den Zettel hatte sie in ihre kleine Perlentasche gepackt, die nun wieder schwer ihren Umhang nach unten zog.
 

Einen kurzen Moment wandte sie die Augen von ihrem Buch, das sie dennoch schützend vor ihrem Gesicht hochhielt, zum anderen Ende des Raumes hinüber. Voldemort stand mit dem Rücken zur Wand gelehnt dort und zupfte mit spitzen Fingern an den aromatisch nach Lavendel duftenden Blütenblättern, in einem Aromaschälchen herum, während er scheinbar irgendetwas, das draußen vor dem Fenster passierte, beobachtete.
 

Viel dürfte er dort nicht sehen. Die Fenster waren klein, sie waren im Keller. Außerhalb des Kellers war ja schon die Straße, in der das St. Mungo's Hospital, vor den Augen der Muggel verborgen, stand. Was konnte er da sehen? Eine Ansammlung von Füßen, Müll, der unachtsam auf die Straße geworfen worden war, vorbeirollende Autoreifen und Tiere. Manche der Muggel gingen hier mit ihren Hunden spazieren und Tauben landeten hier und da auf dem Boden und pickten Krümel auf. Als sie kam, war er dort auch schon gestanden. Vor dem Fenster saß eine kohlrabenschwarze Katze mit leuchtenden, smaragdgrünen Augen. Die Katze hatte sich durch die Gitterstäbe gezwängt und versuchte, an der gekippten Fensterscheibe vorbei in das Zimmer zu gelangen. Aussichtslos, der offene Spalt war zu eng. Die Katze versuchte dann, mit ihren Pfötchen an der gekippten Glasscheibe vorbei in das Zimmer zu krallen. Dort krabbelte eine Fliege, auf die hatte es die Katze wohl abgesehen. Vielleicht beobachtete er die Katze immer noch?
 

Ihre Augen fanden zurück auf die Seiten ihres Buches, doch erneut ohne Erfolg. Sie konnte die Worte zwar lesen, doch am Ende der Seite wusste sie nicht mehr, was am Anfang gestanden hatte. Wie vorbeifließendes Wasser waren die Zaubersprüche durch sie hindurchgespült worden, ohne Spuren zu unterlassen. Nein sie konnte sich nicht konzentrieren. Wieder dachte sie an den gestrigen Abend.
 

Ron war auch dabei gewesen. Ganz stumm hatte er sich in eine Ecke gestellt und mit verkreuzten Armen seine weinende Mutter beobachtet. Normalerweise war er ja recht gesprächig, aber gestern wollte er nach dem Treffen in Ruhe gelassen werden. George war ebenfalls dabei gewesen, und Percy. Immer noch konnte sie sich nicht an Georges Anblick ohne Fred gewöhnen. Das Bild war falsch, es fehlte etwas. Als ob er auf einmal keinen Arm mehr hätte oder keine Beine. Etwas, das immer zu dem vollständigen Bild gehört hatte, war weg. Fred und George waren immer so lustig gewesen. Doch seit dem Tod seines Zwillingsbruders, war George sehr ernst, älter, uralt geworden. Das Lachen in ihm war mit seinem Zwillingsbruder gestorben.
 

Helen hatte sie sehr misstrauisch beobachtet, als Hermine die Fragen, die die anderen Leute Voldemort vielleicht stellen wollten, aufgeschrieben hatte. Hermine hatte ihr leise zugeflüstert, dass das nur für sie selbst war. Sie würde mit ihrem Patienten keine Gespräche führen. Danach war Helen etwas beruhigt. Der Gedanke, dass Hermine mit ihm reden könnte, wie sie mit ihr sprach, der hatte sie wohl sehr belastet.
 

Wie es wohl gewesen sein musste? Den Tod der eigenen Kinder zu beobachten und nichts machen zu können? Und warum? Dass Voldemort Dumbledore hatte töten wollen, das machte auf grausame Art Sinn. Sogar seinen Hass auf Harry, den konnte sie verstehen. Nicht gut heißen, aber verstehen. Harry war eine Bedrohung für ihn. Und da fiel ihm eben nichts Besseres ein. Aber das, was er mit Helen gemacht hatte? In der Zeitung war einmal ein Bericht gestanden, über ein Kind, das unter dem Imperius seine Großeltern getötet hatte.
 

WARUM? Wozu um alles in der Welt war das nütze? Genau diese Dinge ließen ihn zu etwas werden, das weniger war als jedes Tier, denn Tiere töteten mit Zweck und Ziel. Er nicht.
 

Ein Tier … nicht einmal das. Und er sah ja auch nicht aus wie ein normaler Mensch. Während Hermine den Kopf leicht nach hinten lehnte, um die Buchseiten umzublättern, äugte sie verstohlen in seine Richtung. Wenn er schlief, manchmal schlief er, wenn sie kam, vor allem, als er die Sondenflaschen vom Wagen genommen hatte, dann war sie zu ihm gegangen und hatte ihn angesehen. Natürlich sah sie ihren Gefangenen jeden Tag. Doch selten hatte sie sich getraut, seinen ganzen Körper eingehend zu studieren. Aber wenn sie jetzt, ab und zu, ihre Augen zu ihm hinüberschweifen ließ, dann fiel ihr wieder auf, wie seltsam dieser Mann ausgesehen hatte, als sie ihm so nahe gewesen war.
 

Erneut wanderten ihre Augen, einen winzigen Moment nur, zu dem großen Mann in der Zimmerecke. Es musste doch einen Beweis geben, einen äußerlich sichtbaren Beweis dafür, dass das, was da stand, kein normaler Mann war. Es musste doch nachweisbare, erkennbare Dinge an ihm geben, Sicherheiten, die ihn als Nichtmenschen identifizierten. Es wäre unerträglich schmerzhaft, wenn das, was da stand, ebenso ein Mensch, wie sie, wie Helen, wie Dumbledore wäre … wie könnte man je wieder glücklich und zufrieden durch die Welt laufen, wenn man damit rechnen müsste, dass es so etwas noch einmal geben könnte? Aber wenn sie ihn jetzt aus den Augenwinkeln beobachtete … ja sicherlich, sein Aussehen war schon auffallend.
 

Er war recht groß, 1,92m … etwa. Und schrecklich dünn. In den ersten Wochen hatte sie ihn regelmäßig mit der magischen Waage gewogen. Knapp 50 Kilo hatte er damals. Mittlerweile durften es 12-15 Kilo mehr sein. Immer noch sehr dünn, so wirkte er wie ein überdimensional großer Knochen. Und er war ja auch so entsetzlich blass. Kalkweiß, von den Füßen bis hinauf zum Kopf. Seine Füße waren recht groß, dadurch, dass er so dünn war, wirkten sie sogar noch unverhältnismäßig größer, die Beine dementsprechend lang. Die Hosen, die sie ihm gekauft hatte, waren fast alle zu kurz. Man musste schon recht lange suchen, um Hosen zu finden, die schmal und trotzdem so lang waren. Die Beine unbehaart, als würde er sich jeden Tag frisch rasieren. Der ganze Körper war haarlos, selbst im Intimbereich. Die Haut war so ebenmäßig und glatt, dass sie fast wie Seide schimmerte. Nicht einmal Hornhaut hatte er an den Füssen.
 

An den Hüften stachen die Knochen heraus. Auch oben, auf dem Brustkorb, konnte man, wenn er die Arme anspannte, die Rippen zählen. Die Haut war, zumindest in Anbetracht seines Alters, noch relativ straff. Und er war schneeweiß. Selbst die Brustwarzen wirkten farblos und bleich. Er war ein Gespenst …
 

Die Arme waren recht lange, vor allem seine Finger waren auffallend langgliedrig. Da sie auch noch so dünn waren, wirkten seine Hände wie weiße Spinnen. Der Hals ebenfalls relativ lang, und das Gesicht ... Ja das Gesicht, er sah eigentlich nicht aus wie um die siebzig. Aber Zauberer hatten wohl Wege, um langsamer zu altern. Vielleicht hätte sie ihn auf Mitte vierzig geschätzt. Wie ihr Vater … sie mochten, wenn man sie nebeneinander stellen würde, gleich alt sein.

Aber natürlich war ihr Vater anders. Seine Haut war rauer, grobporig, haariger, faltiger … menschlicher.
 

Voldemorts Gesicht, immer noch ein wenig hohlwangig, wurde nur von feinen Fältchen durchzogen, vor allem um die Augen herum. Auch im Gesicht nicht das kleinste Härchen. Nicht einmal Augenbrauen oder Wimpern hatte er. Glatt und eben war die Haut. Wenn man ihn sich genau besah, dann waren seine Züge noch nicht einmal unangenehm. Unheimlich, unnatürlich. Aber nicht unbedingt hässlich. Früher, sie wusste es ja, war er wirklich hübsch gewesen. Aber heute störte vor allem die fehlende Nase.
 

Eigentlich würde sie ihn gerne einmal fragen, ob die Nase von alleine geschrumpft, oder eines Tages, wie bei der Sphinx in Ägypten, einfach abgefallen war. Jedenfalls fehlte sie komplett, nur zwei Schlitze blieben zurück. Das Gesicht wirkte dadurch unnatürlich platt, schlangenartig. Als er vor ein paar Wochen, vor lauter Schreck über die offenbarte Hinrichtung, Darmgrippe bekam und dauernd erbrechen musste, war die Nase ständig verstopft. Ob er das einkalkuliert hatte? Was er machen würde, wenn die Nase verstopft war oder wenn er Schnupfen hatte? Richtig putzen konnte er sie jedenfalls nicht … Alltagsprobleme eines Massenmörders.
 

Da auch oben auf dem Kopf keine Haare wuchsen, wirkte sein Kopf, vor allem im Dunkeln, wie ein Totenschädel. Und die Augen … diese Augen. Ihr Anblick war auf grausame Art faszinierend. Wenn er ein anderer gewesen wäre, dann wäre sie diesen Augen gerne näher gekommen, um sie zu erforschen. Aber er war nun mal er selbst, und nie durfte sie vergessen, dass er alles, was interessant und faszinierend schien, in Bosheit, Tücke und Schlechtigkeit verwandelte.
 

Rot waren diese Augen, durch und durch Rot wie lebende Rubine. Nur die geschlitzten Pupillen waren schwarz. Vor allem durch diese Augen zeichnete er sich wohl als Nichtmensch aus. Sagte man nicht, dass die Augen der Spiegel der Seele sind? In Voldemorts Augen spiegelte sich nichts. Manchmal, wenn es sich nicht vermeiden ließ und sie ihm in die Augen sehen musste, dann hatte sie es bemerkt. Seine Augen mochten manchmal glasig oder feucht sein, aber sie spiegelten nichts. War es nicht normal, dass man sich selbst in den Augen des Gegenübers sehen konnte, wenn man nur nahe genug war? Aber in seinen nicht, selbst seine Augen wollten nichts als sich selbst wahrnehmen. Sah so ein Mensch aus, der keine Seele hatte? Konnte man daran die Seelenlosigkeit erkennen, an den nicht spiegelnden Augen?
 

Er musste Seelenlos sein. Wenn sie an all die Dinge dachte, die sie gestern Abend erfahren hatte. So viel Leid an einem Platz versammelt. Askaban könnte nicht schrecklicher sein. Ja, was hätten die Leute Voldemort gerne gefragt? Natürlich oft dasselbe.

WARUM? Wozu war es nütze? Tut es dir Leid? Hast du keine Skrupel? Und Helen hatte ihr zugemurmelt: „Schämst du dich denn gar nicht, von UNS Hilfe anzunehmen?“ Hermine hatte ihm diese Fragen ja auch gestellt, und die Antworten waren eindeutig gewesen.

Was würden ihre Freunde sagen, wenn sie alles wüssten? Wenn sie wüssten, was sie hier tat? Was würden ihre Eltern wohl sagen, wenn sie erführen, dass der Mann, um den sie sich kümmerte, ihren Tod geplant hatte?
 

Helen machte ihr stumme Vorwürfe, weil sie noch nicht gekündigt hatte. Natürlich war sie auch froh, dass Hermine ihr ein Problem abnahm, über das sie nicht nachdenken wollte. Aber sie nahm ihr auch übel, dass sie seine Gegenwart aushalten konnte. Aber wie würde sie erst reagieren, wenn sie erfuhr, dass sie die Banne von ihm gelöst hatte, ihm Essen brachte, dass sie die Kleider, die er trug, nicht auf dem Müll gefunden, sondern von ihrem eigenen Geld bezahlt hatte? Das sie mit ihm geredet hatte, Unterricht bei ihm genommen hatte und ihm einmal, als er unter Drogen stand, die Wange gestreichelt hatte?
 

Was würde Mrs Weasley sagen? Nichts auf der Welt ist schlimmer als das eigene Kind zu verlieren. Und wenn Hermine, ausgerechnet ihre „Schwiegertochter“, sich mit diesem Monster befasste, dann war das ein Verrat, der weit schwerer wog, als Helen enttäuscht sein könnte. Mrs Weasley weinte so oft. Immer wünschte sie sich, dass der Dunkle Lord noch leben würde, damit sie ihn eigenhändig in Stücke reißen könnte. Nichts Menschliches sollte man ihm noch lassen … nur Qualen sollte man ihm bereiten. Und Hermine hatte mit diesem Mann Händchen gehalten, als sie mit ihm über das Zwischenreich gesprochen hatte …
 

Mr Weasley wusste es wohl. Gestern Abend, sie saß gerade mit Ginny und Fleur in der Küche des Fuchsbaus, um gemeinsam einen Katalog mit niedlicher Babykleidung durchzublättern, da kam Mr Weasley ins Zimmer. Er war zur Selbsthilfegruppe nicht mitgekommen, weil eine Sondersitzung im Ministerium einberufen worden war. Als er spät abends dann heimkam, da war er ebenso stumm wie Ron gewesen. Wie die einer Schaufensterpuppe, so leblos, hatten seine Züge gewirkt. Und er sah krank aus … eine Weile stand er stumm in der Tür und hatte Hermine beobachtet, die unter diesen Blicken fast zerbrochen wäre. Dann, als Ginny und Fleur gemeinsam aufstanden, um etwas auf dem Speicher zu suchen, da war er zu ihr gekommen, hatte sie so traurig wie noch nie im Leben angesehen und ihr die Hand auf die Schulter gelegt. Er hatte nichts gesagt, aber sie hatte es gespürt.
 

Er wusste es, das Ministerium hatte wohl einige, leitende Mitarbeiter über die Lage informiert. Und Mr Weasley war intelligent genug, eins und eins zusammenzählen … und bedauerte sie. Bedauerte sie dafür, dass sie diesem Monster die Wange gestreichelt hatte. Das war das bisher Schlimmste gewesen, dass Mr Weasley SIE bedauert hatte.

Weil er glaubte, dass sie jeden Tag Höllenqualen durchlitt. Ekelerregende Arbeit verrichten musste und dabei fast umkam vor Angst. Er wusste ja nicht, würde es auch hoffentlich nie, dass das nicht immer so war. Gewesen war … nicht mehr.
 

Erneut suchten ihre Augen nach ihm. Kurze Zeit hatte er sich vom Fenster entfernt, war an seinem Nachttisch gewesen und war danach, wieder zum Fenster gegangen. Er hielt eines der Sandwiches in seinen Fingern und riss es in winzig kleine Fetzen. Selbstversunken in dieses Spiel, wirkte er beinahe friedlich. Ein Windhauch wehte ins Zimmer, warf Wellen auf seinem weiten T-Shirt. Er lehnte den Kopf leicht nach hinten, schloss die Augen und schien diesen kurzen Moment von Bewegung und Wärme um ihn herum zu genießen.
 

Zu ihrem größten Erstaunen, bemerkte Hermine nun, dass er sich die winzigen Sandwichkrümel nicht in den Mund steckte und aß. Stattdessen klemmte er sie zwischen Daumen und Zeigefinger, streckte seinen dünnen Arm zum Fenster hin, hob sich etwas in die Höhe und, wenn sich Hermine nicht täuschte, warf er die Sandwichbrocken über die gekippte Fensterscheibe hinaus ins Freie.
 

Also das war wirklich beunruhigend. Seit sie nicht mehr miteinander sprachen, brachte sie ihm ein Sandwich weniger mit. Ein subtiles Zeichen, um ihre Verachtung auszudrücken. Warum schmiss er das wenige, das er nun hatte, aus dem Fenster, statt es zu essen?
 

Das Buch wurde so leise wie möglich zugeklappt und auf den Boden gelegt. Das musste sie sich nun genauer ansehen. Sie hatte doch seit einigen Tagen nur leere Sondenflaschen mitgenommen. Hatte auch darauf geachtet, dass er nirgendwo heimlich eine volle versteckt haben könnte. Trotzdem war dieses Verhalten doch zu abstrus, um einem nüchternen Gehirn zu entspringen.

Hermine rutschte von dem, nach wie vor zu hohen Stuhl und marschierte hoch erhobenen Hauptes, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, zum Schiebewagen, der neben seinem Bett stand. Dort blieb sie kurz stehen und angelte eine der Mineralwasserflaschen herunter, die dort standen. Zumindest Mineralwasser durfte sie ihm ja geben, soviel sie wollte.

Und heute war es recht warm. Ein ungewöhnlich heißer Junitag, draußen bestimmt 30° und hier drinnen war es auch noch warm. Die Fenster ließen sich ja nur minimal nach oben kippen. Mit Zauberei, nicht mit den Händen natürlich. Der kleine Spalt, durch den nur Hier und Da, ein Lufthauch eindringen konnte, reichte nicht aus, um für wirkliche Erfrischung zu sorgen. Man musste schon direkt am Fenster stehen, um überhaupt frische Luft abzubekommen. Dort, wo er jetzt stand. Das warme Wetter und das stickige Zimmer hatten sie durstig gemacht. Sie hatte sich nicht genug Getränke mitgenommen, dann trank sie eben von seinem Wasser.
 

So sollte es zumindest aussehen, denn in so kurzer Zeit wie möglich, flogen ihre Augen über die Ablagen des Wagens und suchten nach weiteren, vielleicht aus Unachtsamkeit doch daraufgestellten, vollen Sondenflaschen. Nein, die beiden Sondenflaschen, die dort standen, waren eindeutig leer.

Hermine hob die Mineralwasserflasche vor ihre Augen und begutachtete diese äusserst misstrauisch. Dann huschte ihr Blick kurze Zeit hinüber zu ihrem Gefangenen.
 

Ein bisschen high, sah er ja schon aus. Immer noch das gleiche, seltsame Treiben. Ab und zu biss er selbst etwas von seiner spärlichen Mahlzeit ab, doch schienen das nur winzige Fetzchen zu sein, die er sich selbst gönnte. Dann krümelte er, ohne seinen eigenen langen Finger dabei zu beobachten, an den Sandwichscheiben herum, riss einzelne Stücke aus, drückte sie zusammen und warf sie mit ausgestrecktem Arm nach draußen. Fast unheimlich war dies anzusehen, denn jedes Mal wenn er warf, umspielte ein leises Lächeln seinen sonst so ernsten Mund. Er beachtete sie gar nicht, schien vollkommen gefangen von dem, was er tat.
 

Ob Helen nun auch die Mineralwasserflaschen mit Drogen versetzt hatte? Zuzutrauen wäre es ihr ja. Mit einem Anflug von Unbehagen stellte Hermine die Flasche wieder auf den Schiebewagen zurück. So schlimm war ihr Durst nun wirklich nicht.
 

Um nicht den Anschein zu erwecken, dass sie planlos das Zimmer durchkreuzt hatte, ging sie hinüber zum Waschbecken, drehte den Wasserhahn mit einem entsetzlich schrillen Quietschen auf und spritzt sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Ihre Hände wusch sie auch, formte Mulden, ließ sie umspülen und trank daraus. Zumindest das Leitungswasser war doch hoffentlich unbedenklich. Dummerweise stand sie ja nun direkt neben ihm. Naja, fast neben ihm, das Bett trennte Waschbecken von dem etwa drei Meter entfernten Fenster. Wenn sie einen kurzen Blick riskieren würde …
 

Eigentlich wollte sie ihre Augen ja nur kurz im Zurückgehen zu ihm hinüberhuschen lassen, doch das was sie nun sah, lies sie verweilen.
 

Nein, er schmiss das Sandwich nicht einfach in einem Anfall von Wahnsinn oder Drogenrausch aus dem Fenster. Vor dem Fenster stand tatsächlich die kleine, schwarze Katze. Sie hatte ihren dünnen Körper etwa bis zur Mitte durch die Gitterstäbe hindurchgezwängt und beschnüffelte den Boden vor dem Kellerfenster. Dann hob sie ihr kleines Schnäuzchen in die Luft und schien zu maunzen. Daraufhin krümelte Hermines Gefangener erneut einen kleinen, zur Kugel gedrehten, Sandwichballen und hob ihn oben, an das gekippte Fenster.
 

Der kleine Streuner reckte sich in die Höhe und hangelte mit spitzen Krallen nach dem Leckerbissen. Sobald er ihn mit den Pfötchen berührt hatte, lies Voldemort das Krümelchen fallen und die Katze hatte die Beute für sich gewonnen. Sie zog sie zu sich auf den Boden und versenkte ihr Maul in dem Hühnchensandwich.
 

Hermine war von dem, was sie sah so überrascht, dass sie ein leises „Oh“ nicht zurückhalten konnte. Voldemorts Kopf drehte sich in ihre Richtung, für einen kurzen Moment begegneten die roten Augen den Braunen. Dann stürmte Hermine entschlossen an ihm vorbei und gab sich Mühe, erneut Desinteresse zu versprühen. Wild entschlossen, ihn nicht noch einmal direkt anzusehen, hob sie ihr Buch auf und verbarg ihr Gesicht im Kapitel über Verschwindezauber.
 

Doch er hatte ihre Aufmerksamkeit bemerkt. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass auch er ihr kurze, scheue Blicke, zuwarf.

„Diese Katze kommt jeden Tag“, hörte sie Voldemorts Stimme, ungewohnt sanft klingend, sagen. „Es muss wohl ein Streuner sein, er hat Hunger. Ich füttere ihn immer mit etwas von deinen Sandwiches. Thunfisch mag er besonders, aber das Hühnchen, das du heute drauf hast, das mag er auch.“ Hermine versteifte sich und presste die Lippen zusammen. So leise, wie es nun im Zimmer war, konnte sie sogar das bettelnde Maunzen der kleinen Katze hören, die draußen vor dem Fenster wieder beachtet werden wollte. Ein leises, dumpfes Klopfen sagte Hermine, dass ihr Gefangener mit einem seiner langen, dünnen Finger, zur Beruhigung der Katze, gegen die Fensterscheibe geklopft hatte. „Ich mag Tiere. Mehr als die meisten Menschen.“
 

Hermine hob das Buch noch etwas höher und noch näher an ihr Gesicht heran. Eigentlich konnte sie so gar nicht wirklich lesen, ihre Nase berührte ja schon fast die Seiten. Umblättern konnte sie nicht mehr. Aber sie wollte sich verstecken, er sollte merken, dass sie ihn nicht beachtete. Dennoch konnte sie seine Blicke fühlen. Wobei … fühlen? Es lag wohl doch eher daran, dass sich ihre braunen Augen dann doch immer wieder in seine Richtung schlichen. Nun lächelte er nicht mehr der Katze zu, sondern hatte mit der Fütterung aufgehört. Er war einen Schritt nach vorn getreten, hatte den Arm immer noch auf dem Fenstersims aufgelehnt und beobachtete sie aufmerksam. Schien auf eine Reaktion auf seine Worte zu warten. Sollte er ruhig weiterwarten, sie hatte keine Lust sich mit ihm abzugeben.
 

„Ich wollte dich nicht töten. Ich wollte dich eigentlich noch nicht einmal verletzen“, begann er nach einer Weile zu erklären. Nun schien er gar nicht mehr zu Lächeln. Das eben noch fast freundlich wirkende Gesicht, wirkte, so weit sie es erkennen konnte, betrübt. Auch seine Stimme hatte einen schweren, eindringlichen Ton angenommen, der Wichtigkeit vermittelte. Der Gefangene wollte sich mit ihr aussprechen. „Ich würde alles tun um hier rauszukommen, das weißt du. Ich musste es einfach versuchen. Ich musste versuchen, ob ich hier rauskommen könnte. Ich kann nicht einfach monatelang in diesem Raum eingesperrt sein und nichts anderes tun, als auf den Tod zu warten.“
 

Hermines Buch sank etwas nach vorne, brachte etwas mehr Abstand zwischen ihre Nase und die nur noch verschwommen wahrzunehmenden Buchstaben. Sollte sie ihm wirklich zuhören? Aber er war dennoch ein Tier … oder?
 

„Und wenn du mich fragst, ja, ich würde es noch einmal tun, wenn ich dadurch die Möglichkeit hätte, nicht sterben zu müssen. Dafür würde ich alles tun. Jedoch würde ich es bedauern, wenn ich dir deswegen etwas antun müsste. Allerdings scheinen die Sicherheitsmaßnahmen ja recht gut, es wird wohl nicht mehr dazu kommen.“
 

Hermine ließ vor Überraschung das Buch fallen. Leid tun? „Lüg nicht, du hast gesagt, dass dir nie etwas Leid tut“, brach der Vorwurf aus Hermine heraus. Das erste Wort seit zwei Wochen. So etwas Dummes, aber es verwirrte sie zu sehr, dass er bei seiner Rede ausgesehen hatte, als würde er es ernst meinen. Nun konnte sie nicht mehr anders, sie musste ihn ansehen.
 

Voldemort zuckte ratlos mit den Achseln, zog die Stirn in Falten und wandte sich wieder der Katze zu, der er nun wieder Krümel entgegenwarf „Ja, das hab ich gesagt. Dennoch …“.
 

Hermine seufzte tief und verdrehte die Augen, dann verstaute sie ihr Buch endgültig in der Perlentasche. Er verstand es nicht. Er dachte, sie wäre nur wegen seiner Attacke verstummt. Merkwürdigerweise war es aber nicht das, was Hermine am Meisten zu schaffen machte. Viel schlimmer waren seine Worte gewesen, dass er selbst zugegeben hatte, nie Reue zu fühlen, seine Opfer mit Ungeziefer verglich und das er nicht mal ansatzweise auf die Idee kam, dass man dieses Ungeziefer mit Respekt behandeln sollte.
 

Andererseits teilte er sein Essen mit dieser streunenden Katze und schien sich über deren Besuche zu freuen. Das war eigentlich wesentlich mehr, als der grenzenlose Egoismus, den er sonst an den Tag legte. Das hätte sie ihm nicht zugetraut.
 

Ach was soll´s, dachte sich Hermine. Auch noch soviel Anschweigen und noch soviel Verachtung, wird nichts ungeschehen machen.
 

Was hatte sie den erwartet? Dass ihr gruseliger Freund, ihr zuliebe, keine Vergangenheit mehr hatte? Sie hatte es gewusst, sie hatte immer gewusst, was für ein „Mensch“ er war.

Ja, Helen hatte Recht. Sie durfte es nicht vergessen. Ihn zu verharmlosen war gefährlich. Aber sie konnte auch nichts mehr ändern. Und wenn sie wirklich mit, oder an „ihm“, arbeiten wollte, dann musste sie sich auf das JETZT, und nicht auf das Gestern konzentrieren. Das würde nur verzagte Bitterkeit heraufbeschwören, die unendlich wäre, weil die Vergangenheit ewig gleich blieb.

Aber wenn sie es fertig brachte, im HIER und JETZT zu bleiben, dann könnte sie vielleicht die Zukunft verändern. Und wem wäre mit noch mehr Hass geholfen? Vergeltung mag befriedigend sein, aber sie zerstört am Ende nur noch mehr, als dass sie Neues, Gesundes schafft.
 

Immerhin konnte er einer Katze zuliebe auf etwas verzichten, von dem er selbst nicht im Übermaß hatte. Das war doch schon ein Anfang. Man sollte keine Wunder erwarten. Er würde nicht über Nacht „geheilt“ werden. Aber vielleicht war noch nicht alles verloren?
 

Hermine erhob sich von ihrem Stuhl und ging zum ersten Mal seit vierzehn Tagen, zu ihm. Lehnte sich lässig auf der anderen Seite des Fensters, ihm gegenüber, an die Wand und wagte, ihn anzusehen.
 

Einen kurzen Moment lang, schlich sich so etwas wie Erleichterung oder Freude in sein Gesicht. Dann nickte er ihr, wieder ernster geworden, zu, und hob ihr den Rest des Sandwiches unter die Nase „Willst du ihn auch mal füttern? Er hat noch Hunger.“
 

Hermine senkte kurz den Blick um ihr Lächeln zu verbergen, doch sie nickte zustimmend und ging, um einen Stuhl zu holen. Sonst käme sie ja nicht hoch genug an das Fenster heran. Doch während sie mit dem Stuhl in der Hand zur Fensteröffnung hochstieg, musste sie noch etwas klären. Es war leichter so etwas anzusprechen, wenn sie sich dabei mit einer Tätigkeit ablenken konnte. „Ich habe große Angst davor, dass du wirklich einmal die Chance haben könntest hier heraus zukommen und ich wieder alleine zwischen dir und deinem Weg nach draußen stehen könnte.“
 

Die dunkelhaarige Frau hob die Augen und betrachtete ihr Gegenüber. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, sah er zur Katze hinaus, wiegte den Kopf kaum merkbar hin und her und wirkte dabei, ihr fiel kein besseres Wort dafür ein, traurig.

Er hatte wohl schlucken müssen, denn als er ihr antwortete, klang seine Stimme dünn und mutlos. „Ich verstehe dich. Aber es wird wohl keinen Weg nach draußen für mich geben. Ich bleibe hier drinnen, bis ich sterbe.“
 

Hermine, nun auf den Stuhl geklettert und der Katze zugewand, klang mütterlich wie seit langem nicht mehr, als sie versuchte, ihr Kind auf andere Gedanken zu bringen. „Weißt du was, Tom? Ich bring dir morgen ein paar extra Sandwiches mit. So viele hast du ja nicht. Dann können wir die Katze noch mal gemeinsam füttern.“
 

Das war das wirklich Bizarre an diesem Job. Das es Menschen gab, die wie Monster aussehen und das es Monster gibt, die sich, zumindest manchmal, wie Menschen benehmen konnten.



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