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Ta Sho

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getting back - a new start?

sodala... von mir gibt's auch wieder ein Kapitel zu lesen. Viel Spaß beim Lesen. ^_^
 

*Im Jahr 2086*
 

Verschwunden? Einfach weg und nicht mehr auffindbar. Charles starrte auf den letzten Bericht der Staffel, die mit der Suche nach Ramrod beauftragt worden war. Mitten im Gefecht war der Kontakt zu den vier Star Sheriffs abgebrochen, plötzlich kein Signal mehr von ihnen auf den Schirm zu bekommen gewesen. Niemand wusste, was geschehen war, doch der Commander musste das Schlimmste befürchten. Ramrod war von den Outridern zerstört worden.

Er wischte sich verstohlen über die Augen. Nicht nur das beste Team im Oberkommando war gestorben, es waren auch seine Tochter und deren Freunde gewesen. Commander Eagle hatte eine ganz besondere Beziehung zu den vieren gehabt, nicht zuletzt, weil er sie als seine Schützlinge eingestuft hatte und immer dafür gesorgt hatte, dass im Rahmen seiner Möglichkeiten den Freunden kein Haar gekrümmt wurde.

Nunmehr seit über zwei Monaten gab es kein Lebenszeichen von ihnen. Eagle hatte sie gleich nach Bekanntwerden als vermisst melden lassen. Lange genug hatte er das Unvermeidliche aufgeschoben, hatte dafür gesorgt, dass es weder in der Presse propagiert wurde, noch dass die Angehörigen von Saber, Colt und Fireball darüber informiert wurden. Aber nun, nach dem abschließenden Bericht der Staffel, die wieder nur negative Ergebnisse vorweisen konnte, mussten sie der Wahrheit ins Auge sehen. Und das ausgerechnet in diesem besonderen Jahr. Ausgerechnet so knapp, bevor sich der erste Outriderangriff zum zwanzigsten Mal jährte, verlor die Hoffnung des Neuen Grenzlandes im Kampf für Frieden ihr Leben. Und ausgerechnet der Sohn des Helden, der vor zwanzig Jahren bereits sein Leben für den Frieden geopfert hatte, starb dabei. Charles holten grausame Erinnerungen daran ein. Er hatte noch genau vor Augen, wie er Shinjis Frau damals die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht hatte…
 

…Ein Krisenstab war wegen der jüngsten Ereignisse einberufen worden und Charles hatte keinen Augenblick mehr für sich. Stündlich mehrten sich die Berichte aus dem Königreich Jarr, stündlich stiegen die Opferzahlen des Angriffs. Der Major bekam zu den Zahlen immer wieder Namen und damit auch die Gesichter der Toten. Und zu allem Überfluss glaubte König Jarred auch noch, dass das Oberkommando keine Hilfe geschickt hatte. Denn nicht nur die halbe Air Strike Base 1, die im Königreich ein Manöver ausgeführt hatten, sondern auch viele Zivilisten und Soldaten des Königreiches hatten durch diesen Angriff ihr Leben verloren. Charles saß mit anderen ranghohen Offizieren im Büro, ließ Pressemeldungen verfassen und kommandierte immer mehr ihrer Stützpunktseelsorger dazu ab, den Angehörigen die Nachricht über den Tod ihrer geliebten Partner mitzuteilen. Bis die Welt stillzustehen schien. Charles bekam einen weiteren Namen eines Toten auf den Tisch. Dieses Gesicht hatte er jeden Tag auf dem Stützpunkt gesehen. Captain Shinji Hikari.

Einer der vielen Seelsorger griff nach der Meldung und wandte sich um: „Ich werde das übernehmen, Major.“

Hektisch nahm Charles dem Pfarrer das Papier wieder aus der Hand: „Nein. Nicht. Ich möchte nicht, dass ein Fremder zu Ai geht.“

Ohnmächtig war er seit der Meldung gewesen, aber dann doch so reaktionsschnell, dass er niemanden zu Ai gehen lassen wollte. Niemand sollte es der Freundin sagen, der ihr nicht vertraut war. Nein, die zierliche Japanerin hatte genug durchmachen müssen in jüngster Zeit. Ihre Ehe hatte unter den gegebenen Umständen gelitten und nun verlor sie ihren Mann. Charles fühlte sich dazu verpflichtet, es Ai so schonend wie möglich beizubringen. Der Major kümmerte sich noch um die restlichen Aufgaben und gab seinen Kollegen noch den ausdrücklichen Auftrag, nichts nach draußen dringen zu lassen. Die meisten Angehörigen dürften ohnehin schon genug aus den Berichten gehört haben. Dann aber rief er seine Frau an und holte sie ab. Sie sollte mit ihm zu Ai gehen und ihm helfen.

Doch alles verlief ganz anders als Charles gedacht hatte. Ai öffnete den beiden überrascht die Tür. Nichts hatte sie von den Angriffen mitbekommen und dann stand Shinjis bester Freund vor ihrer Tür. Sie entschuldigte sich bei ihren Freunden: „Shinji ist nicht da, Charles. Er ist doch noch im Königreich Jarr.“

„Ai“, Charles standen die Tränen in den Augen. Er würde seiner Freundin den Verlust ihrer besseren Hälfte beibringen müssen. Der Vater strich Ai behutsam über die Schulter: „Hör mir bitte kurz zu. Es gab einen Angriff auf das Königreich. Die Air Strike Base 1 hat versucht, sie zu verteidigen. …Es tut mir so leid, Ai.“

Er konnte nichts weiter sagen. Charles hatte einen dicken Kloß im Hals sitzen und realisierte erst jetzt, was es wirklich bedeutete. Der Tod hatte Einzug gehalten. Zusammen mit dem Krieg. Er hatte seinen besten Freund verloren und Ai ihren Mann. Der Krieg war in aller Grausamkeit in ihrer schönen Galaxie zu Tage getreten.

Ai schob Charles und May sofort aus der Tür. Nein, niemals! Niemals war ihr Shinji gestorben. Die schwarzhaarige Frau sank auf die Knie…
 

Shinji war für immer gegangen, hatte sie mutterseelenalleine hier zurück gelassen. Sie wünschte sich an seine Stelle. Ai verkroch sich die nächsten Tage in der Wohnung, wollte niemanden sehen und sprechen. Sie war für immer von ihrem Seelenverwandten getrennt. Ai verschloss sich vor allem, was auf sie zukam. Ruhig und stoisch ließ sie alles über sich ergehen, schwieg ihre engsten Freunde an und kam über den Verlust nicht hinweg. Erst am Tag von Shinjis Beerdigung erfuhr Ai von dem Wesen in ihrem Bauch. Sie trug die Wiedergeburt ihres Mannes in sich, das spürte Ai von dem Augenblick an, an dem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Das Schicksal hatte es nicht anders gewollt. Niemals hatte es ihr und Shinji ein Kind geschenkt, doch mit seinem Tod war auch neues Leben entstanden.
 

Charles senkte den Kopf auf die Tischplatte. Dieses Mal würde es keinen Strohhalm für Ai geben, an den sie sich klammern konnte. Ai hatte durch den Outriderkrieg nicht nur ihren Mann verloren, sondern auch ihren Sohn überlebt. So, wie Charles seine Tochter überlebt hatte. Es gab nichts schlimmeres, als seine Kinder sterben zu sehen. So war nicht der Lauf der Zeit, so sollte das nicht sein. Und wieder würde Charles die Aufgabe übernehmen, es Sabers Eltern, Colts Verlobter und Fireballs Mutter mitzuteilen. Doch erst musste er mit dem Verlust seiner geliebten Tochter zurechtkommen.
 

*Im Jahr 2066*
 

Er wollte nur noch nachhause, doch er konnte nicht. Shinji musste vorher noch im Büro vorbei, schließlich hatte er Charles vor seiner ungeheuerlichen Entdeckung eine Nachricht zukommen lassen. Da musste er ihm jetzt auch Bericht erstatten. Der Pilot hasste es, seinem besten Freund ins Gesicht zu lügen und bisher hatte er das auch noch nicht getan, aber er wusste, heute war es soweit. Heute würde er Charles etwas vorlügen müssen.

Der Nachmittag war schon fast zum Abend geworden und im Oberkommando war nicht mehr allzu viel los. Der Captain stieß die Tür auf. Bei Charles war bestimmt niemand mehr im Büro, den er im Gespräch stören konnte. Mit einem aufgesetzten Lächeln steckte er den Kopf zur Tür hinein und machte auf sich aufmerksam: „Hey, Charles! Bist schon auf dem Nachhauseweg oder hast noch schnell fünf Minuten?“

Der Major sah von seinem Chaos am Schreibtisch auf. Kein ‚Stör ich?‘ und kein ‚Entschuldigung, Sir.‘, das konnte doch nur Shinji sein. Niemand im ganzen Oberkommando konnte so derart unhöflich sein wie der Japaner. Charles schüttelte nur schmunzelnd den Kopf und winkte ihn zu sich an den Schreibtisch. Was sollte er machen? Shinji war sein bester Freund, die beiden hielten den Laden hier schon gemeinsam am Laufen, seit der Pilot mit seiner Frau nach Yuma gekommen war. Sie waren nicht nur Arbeitskollegen, sondern, wie gesagt, beste Freunde. Sogar ihre Frauen verstanden sich, wofür die beiden Männer dankbar waren. Das ermöglichte ihnen so manch heiteren gemeinsamen Abend.

Als Shinji Platz genommen hatte, ließ Charles endlich von seinen Unterlagen ab. Den Papierkram nahm ihm ohnehin keiner ab, wenn er bis morgen liegen blieb, dann war das wohl schade, aber ändern würde das auch nichts. Der dunkelhaarige Major widmete seine gesamte Aufmerksamkeit seinem Freund. Der hatte ihn am frühen Nachmittag angefunkt, ihm gesagt, er hätte etwas Interessantes gefunden und seither war von ihm weder etwas zu hören noch zu sehen gewesen. Charles war gespannt auf die Neuigkeiten, die Shinji bestimmt im Gepäck hatte. Er sah aus, als hätte er wichtige Informationen sammeln können, die ihnen weiterhelfen würden.

Charles wartete darauf, dass Shinji ohne Aufforderung zu reden begann, aber da kam nichts. Der Japaner hatte sich einfach nur gesetzt und starrte vor sich hin. Der Blick war leer, und dennoch loderte dort etwas, das Charles häufig in Shinjis Gesicht ablesen konnte. Nur was hatte das alles mit seiner Entdeckung zu tun? Immer noch kam kein Mucks vom Piloten. Da musste Charles nachhelfen: „Also, was hast du heute gefunden?“

„War ein Satz mit X, Charles.“, lächelte Shinji matt und fuhr sich durch die Haare. Dann senkte er den Blick und gab nähere Auskunft: „Das war nix. Aber absolut nichts. Ich dachte, ich würde schlauer wieder kommen, was den Angriff betrifft. Aber naja…“

Da passte das eine gerade nicht zum anderen, wie Eagle gedanklich feststellte. Vorhin war Shinji schon aufgeregt gewesen, er hätte alles darauf verwettet, dass sein bester Freund etwas wirklich Wichtiges entdeckt hatte und nun kam da ein ‚nichts‘? War da etwas schief gelaufen? Wieder musterte der Major seinen Freund von oben bis unten. Da war was faul an der Geschichte, nur konnte Charles das nicht mit hundert prozentiger Sicherheit behaupten. Skeptisch allerdings hakte er nach: „Wirklich nichts? Du hast am Funk vorhin aber geklungen, als hättest du eine entscheidende Entdeckung gemacht.“

„Hab ich das?“, Shinji verzog das Gesicht zu einer fragenden wie überraschten Grimasse. Oh Mann, seinem Freund was vorzugaukeln war nicht unbedingt eine leichte Aufgabe. Der Pilot ertappte sich dabei, wie er vermutlich den selben Gesichtsausdruck zur Schau trug, wie Fireball, wenn er diesen etwas gefragt hatte, was eindeutig in Richtung Wahrheit gegangen war. Sofort kniff er die Augen zusammen. Das war grade nicht das Thema! Der Kurze, sein – so merkwürdig das auch klang – sein Sohn, war gerade nebensächlich. Shinji fischte aus seinem Fundus eine durchaus plausible Erklärung hervor: „Ich bin überspannt, ganz ehrlich. Der letzte Urlaub ist schon ewig her und seit dem Angriff hab ich keinen Augenblick mehr Ruhe.“

Um seinen Worten geschickt Nachdruck zu verleihen, wischte er sich mit dem Handrücken über die Stirn und senkte abgekämpft den Kopf. Schwäche zu zeigen war einem Japaner an und für sich fremd, vor allem Shinji, der sich lieber etwas abgehackt hätte, als Schwäche zuzugeben, aber um ein kleines Ablenkungsmanöver zu inszenieren, kam ihm dieser Grund gerade recht. Das würde Charles vielleicht auch die Situation verdeutlichen und ihn davon abhalten, weiter nach dem Funkspruch zu fragen. Hoffentlich ging seine Taktik auf. Im Lügen war der ältere Hikari nämlich auch nicht grade gesegnet gut.

Verständnisvoll nickte Charles daraufhin. Seit dem Angriff hier war die Hölle los, alle rannten wie aufgescheuchte Hühner durch die Gänge, völlig angespannt und nervös. Er lächelte Shinji deswegen an: „Ja, kann ich verstehen. Dein letzter Urlaub war voriges Jahr im August, oder?“

Er nickte ergeben. Shinji hatte nie viel darum gegeben, Urlaub zu machen. Aber nun, da er wusste, was auf ihn zukam, wünschte er sich, er hätte seine Zeit mit Ai intensiver genutzt. Man lebte manchmal wirklich nur noch nebeneinander her, sah es als selbstverständlich an, dass der andere da war. Shinji musste die Augen schließen und hoffen, dass mit dem Licht auch der Gedanke daran wieder verging.

Das war es auch nicht. Charles hatte zwar keine Ahnung, woran es lag, aber er merkte deutlich, dass weder die angebliche Entdeckung noch der Stress, dem Shinji in Zeiten wie diesen ohne Zweifel ausgesetzt war, der Grund für dessen betrübtes Gesicht waren. Der Major und der Captain waren nun schon lange genug Freunde, Charles wusste alles von dem verheirateten Paar. Auch das, was die beiden niemanden anvertrauen wollten. Zufällig waren May und er darauf gestoßen, hatten niemals damit gerechnet. Doch sie wussten, wie lange Ai und Shinji schon versuchten, Eltern zu werden, und sie wollten dem Paar helfen. Während May oft und viel mit Ai sprach und versuchte, ihr den Kummer so zu nehmen, beschränkte sich Charles darauf, einmal im Monat einen Tag auf Shinji Acht zu geben. Der Pilot war immer besonders niedergeschlagen, wenn es wieder einmal nicht geklappt hatte.

Genau ein solcher Tag schien auch heute zu sein. Nur schlimmer irgendwie. Charles konnte es sich nicht erklären, aber er glaubte, in Shinjis Gesicht auch Verzweiflung lesen zu können. Enttäuschung ja, die war jeden Monat wieder da und es setzte dem Piloten zu, aber so wie an diesem Nachmittag hatte er selten aus der Wäsche geguckt.

Charles hakte deshalb den dienstlichen Teil sofort ab und unterhielt sich mit Shinji als Freund: „Sag mal“, begann er einfühlsam: „Ist mit dir und Ai irgendwas?“

„Was soll sein?“, dabei zog Shinji eine Augenbraue nach oben. Beinahe hätte er seine Chance, das Gespräch damit noch plausibler und für Charles nachvollziehbarer zu machen, vertan. Er hätte fast abgewunken und gesagt, es sei alles in bester Ordnung, was für die zwischenmenschlichen Belange zwischen ihm und Ai auch stimmen würde. So aber machte er ein halbverschlossenes Gesicht und ließ seinem Freund ein oder zwei bemitleidenswerte Blicke zukommen, damit dieser Lunte roch und Shinji ihn möglichst weit weg vom eigentlichen Thema bringen konnte.

Die traurigen Blicke musste der Captain nicht einmal besonders aufsetzen oder spielen, er brauchte dabei nur an die blonde junge Frau zu denken, die Charles‘ Tochter war und um ihren Freund geweint hatte. Shinji spürte ihre Verzweiflung noch deutlich, wenn er kurz die Augen schloss. Nach diesem Nachmittag war es für den Piloten wahrlich keine Kunst mehr, ein betretenes Gesicht zu machen.

Charles deutete den Blick richtig. Es war wieder einmal einer dieser Tage an dem die Welt für Shinji und Ai nicht hätte schwärzer und schlechter sein können. Wieder einmal waren die Hoffnungen des Paares wie Seifenblasen zerplatzt. Der Major empfand tiefes Mitgefühl für die beiden, hegte aber nach all den Jahren langsam Zweifel, ob ihnen dieser Wunsch jemals erfüllt werden würde. Vielleicht sollten sie sich endlich damit abfinden, so der Gedanke des nicht mehr ganz so frisch gebackenen Vaters. Shinji schien mit diesem Schicksal schwer zu hadern, es nicht akzeptieren zu wollen. Charles wusste nicht, wie es ihm in dieser Situation gehen würde, aber er glaubte doch, dass er in dem Fall rational genug sein würde, um sich eine Alternative zu überlegen und vielleicht ein Kind zu adoptieren, wenn man keine eigenen bekommen konnte. In dieser Hinsicht verstand er das Paar eher weniger. Aber er war auch in einer denkbar schlechten Position dafür, verteidigte er sich gedanklich selbst, denn er war Vater einer kleinen Prinzessin. Charles lehnte die Ellbogen auf den Tisch und musterte Shinji noch einmal eingehend. Dieses Mal schien es mehr als sonst zu sein. Irgendwie schien sein Freund darüber noch trauriger zu sein, als sonst. Nur weshalb? Nach dessen halblustiger Gegenfrage, hatte der Vater durchaus das Gefühl, dass es auch etwas mit Ai zu tun hatte. Etwas mit ihrer Beziehung. Der dunkelhaarige, bärtige Mann legte den Kopf schief: „Das frag ich dich ja grade, Shinji. Was ist bei euch beiden los?“

Betrübt gab Shinji an: „Es ist immer das Gleiche, Charles. Jedes Mal wieder. Und langsam wird es unerträglich. Unsere Ehe leidet bereits darunter.“

Naja, dass das nun eindeutig gelogen war, fiel Charles zum Glück nicht auf. In Wahrheit hatten Shinji und Ai eine Bilderbuchehe, nur mit dem kleinen Makel eben, dass sie keine Kinder bekommen konnten. Das Paar stand die schweren Zeiten gemeinsam durch, wurde mit jedem Mal eigentlich stärker. Den einzigen Knick, den diese Ehe jemals sehen würde, war der, der bald auf sie zukommen würde. Nein, Shinji war sich sicher, seine Frau liebte ihn so abgöttisch wie er sie. Niemals hatte er auch nur einen Gedanken an eine andere Frau verschwendet, seit er sich in Ai verguckt hatte. Mit jedem Tag war diese Liebe stärker geworden, jeden Tag reifte sie etwas mehr, auch nach bereits mehr als zehn Jahren Ehe. Seine Ai würde bei ihm bleiben, bis dass der Tod, dem Shinji nicht mehr allzu weit entfernt war, sie schied.

Nun reagierte Charles mit völligem Unverständnis. Wenn bereits ihre Ehe darunter litt, weshalb gaben sie diese Hoffnungen nicht endlich auf? Es war extrem schwer für den Major zu begreifen, dass ein unerfüllter Wunsch eine Beziehung wie die von Ai und Shinji schwächen konnte. Natürlich war es schwer, über ein solches Thema als Außenstehender zu urteilen und sich hineinzuversetzen, aber der gesunde Menschenverstand sagte doch eindeutig, dass manche Dinge einfach nicht sein sollten. Für die Hikaris bedeutete das, dass sie vielleicht einfach keine Kinder haben sollten. Eine Laune der Natur. Eine gemeine Laune zwar, wenn man bedachte, wie viele Eltern Kinder bekamen, obwohl sie niemals welche haben wollten und ein Paar wie seine Freunde niemals welche bekommen würden, obwohl sie bestimmt ganz fabelhafte Eltern wurden, aber mehr war es nicht.

Charles verzog den Mund leicht nach unten. Was sollte er Shinji nur darauf erwidern? Das Gesprächsthema war außerordentlich heikel und der Captain der Air Strike Base 1 bereits stark angeschlagen deswegen. Ein falsches Wort und der Japaner würde aufstehen und gehen, das wusste Charles. Etliche Male zuvor war ihm das schon passiert. In der Hinsicht war Shinji etwas zu sensibel, aber zumindest, auch das hatte seine Vorteile, ging er schweigend und begann nicht zu schreien. Denn auch das konnte der Japaner. Manchmal fuhr er aus der Haut, meistens dann, wenn viel auf einmal war und wenn man ihn persönlich angriff. Nur was konnte persönlicher sein, als ein Gespräch wie dieses? Charles konnte eigentlich nur das Falsche sagen, wie er sich selbst eingestand. Er war Vater, hatte eine liebreizende Tochter, Shinji nicht.

Eigentlich konnte das alles grad nur schief gehen. Charles atmete tief durch und senkte betreten den Blick. Er nahm Anteil am Schicksal seiner Freunde. Und eben weil er ein Freund war, legte er Shinji den folgenden Rat ans Herz: „Shinji, vielleicht hat es einen Grund, weshalb es bei Ai und dir nicht klappen will. Mittlerweile beginnt sogar schon eure Ehe darunter zu leiden. Es ist zu viel Druck für euch. Vielleicht, um eure Beziehung zu retten, solltet ihr beginnen, über Alternativen nachzudenken. Du und Ai, ihr seid beide meine Freunde, und um Gottes Willen, ich möchte wirklich nicht, dass ihr deswegen noch unglücklicher werdet, als ihr schon seid.“

Wie befürchtet, stand Shinji im Anschluss an Charles‘ gut gemeinte Worte auf. Aber entgegen jeglicher Befürchtung polterte er weder los, noch verließ er schnurstracks das Büro. Der Japaner senkte bekümmert den Blick und murmelte: „Vielleicht. Es muss vielleicht Schicksal sein, dass es so kommt, wie es kommt.“

Der Pilot wünschte seinem Freund noch eine gute Nacht und verließ dessen Büro. Mit seinen letzten Worten hatte er sowohl die Familienproblematik als auch seine Zukunft gemeint. Der Captain wollte sich eigentlich nicht damit abfinden, dass er niemals Vater werden würde. Denn nun, da er wusste, dass der Kurze sein eigen Fleisch und Blut war und wusste, dass es diesen Monat eigentlich geklappt hätte, wenn der Angriff nicht dazwischen gekommen wäre, da wollte er nicht glauben, dass sie diese veränderte Zeit so hinnehmen sollten.

Charles sah seinem Freund traurig nach. Er wusste nicht, wie schwer ihm die letzten Worte von Shinji später wieder aus dem Kopf gehen würden. Nach dem Tod seines besten Freundes allerdings würde er sie nie wieder vergessen können, noch dazu, wenn er von Ai noch erfahren würde, in welchen Umständen sie sich befand. Es war gut, dass Charles das alles nicht wusste, sonst würde er sich sein restliches Leben schwere Vorwürfe machen, Shinji und die Air Strike Base 1 ins Königreich Jarr zu einem Manöver geschickt zu haben.
 

Shinji verbannte in den nächsten beiden Tagen alles aus dem Oberkommando, was verdächtig wirken konnte. Dazu zählte vor allem die Akte von Shinichi Hikaro, die geradezu bedächtig im Reißwolf verschwand. Der Pilot räumte seinen Schreibtisch gewissenhaft auf, sortierte alles Mögliche aus und verteilte manche Dinge zur Bearbeitung an seine Sekretärin. Shinji wollte nicht, dass jemand nach ihrem Manöver diese Aufgabe übernehmen musste. Den Schreibtisch eines gefallenen Kameraden aufräumen und ausräumen zu müssen, war schwierig. Manche konnten das gar nicht. Deshalb arbeitete Shinji vor. Nichts desto trotz kreisten auch in der Arbeit seine Gedanken um seine Familie, die noch immer keine war. Er musste bald weg, hatte es jeden Abend wieder versucht und noch immer gab es keine positiven Nachrichten zu verzeichnen. Shinjis Hoffnung schwand immer mehr. Bald war es zu spät.

An diesem Abend kam er pünktlich nachhause. Er würde am nächsten Morgen aufbrechen, zu einem Manöver, aus dem er nicht wieder heimkommen sollte. Shinji bekümmerte dieser Umstand, weil er Ai niemals alleine lassen wollte. Doch er wusste von Saber, dass es dem Neuen Grenzland fünfzehn wertvolle Jahre schenken würde, die es brauchte, um den Technologienachteil aufzuholen. Shinji tat es für den Frieden. Und deswegen wollte er den letzten Abend und die letzte Nacht mit seiner Frau für immer unvergesslich machen.

Er entführte seine Frau an einen ganz besonderen Ort. Nur sie beide und die Sterne über Yuma. Sonst würde niemand bei ihrem Abendessen dabei sein. Mit Champagner, einem Picknickkorb und einer großen, blauen Decke bewaffnet, stieg das Paar aus dem Auto aus. Shinji stellte die Utensilien auf die Wiese und breitete die Decke aus. Er strich sie mit der untergehenden Sonne im Rücken glatt und forderte seine Gefährtin auf, sich zu setzen. Er selbst nahm nach ihr Platz, rutschte zu ihr und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf den Scheitel: „Ich hoffe, dir gefällt es, fernab von Yumacity und dem Lärm. Heute Abend soll es nur dich und mich geben, mein Engel.“

Ai war beeindruckt von dem Aufgebot, das Shinji aufgefahren hatte um ihr den Abschied zu versüßen. Sie war von Anfang an nicht übertrieben glücklich darüber gewesen, dass er zu Jarred flog, und das gleich für mehrere Wochen. Aber es gehörte zur Arbeit eines Captains und er musste beim Team bleiben. Ai akzeptierte es, doch dieses Mal fiel ihr der Abschied besonders schwer. Weshalb, das wusste sie nicht. Wahrscheinlich aber lag es einfach nur daran, dass Shinji sich in letzter Zeit sehr verändert hatte. Es war ihr immer mehr aufgefallen. Seit Shinji die Patenschaft für den neuen Piloten übernommen hatte, war ihr Mann ein anderer geworden. In den letzten Tagen war er zunehmend ruhig geworden, starrte manchmal nachts versonnen aus dem Wohnzimmerfenster. Es war ihr nicht entgangen. Und nun wartete er mit einem solchen Dinner auf.

Sie ließ sich in seine Arme sinken, die beiden blickten direkt in die untergehende Sonne, die gerade vom Vollmond abgelöst wurde. Der Abendhimmel färbte sich schon mehr lila bis blau, bald würde es Nacht über Yuma sein. Schweigend genoss sie die Liebkosungen ihres Mannes. Er strich ihr die Haare über die Schulter, streifte dabei wie zufällig mit seinen Fingerspitzen ihre Rundungen. Seine Lippen tasteten sich an ihre.

Shinji schmiegte sich an Ai. Sie war nach all den Jahren immer noch die Frau seiner schlaflosen Nächte, er begehrte sie jede Minute seines Lebens. Als der Captain bemerkte, wie angetan Ai von seiner Geste und seiner Überraschung war, ließ er den Korb mit all seinen Leckereien links liegen. Es zählte im Augenblick nur Ai. Zärtlich bat seine Zunge um Einlass und seine Hände hielten ihren Kopf. Diese Frau war das wundervollste, was ihm jemals widerfahren war. Sie stand zu ihm, in jeder erdenklichen Situation. Kein Mann hätte größeres Glück mit seiner Frau haben können. Das war in Shinjis Augen unmöglich. Keiner hatte eine so liebevolle, zärtliche und verständnisvolle Frau. Ai war alles, was er je gebraucht hatte. Von Anfang an. Sie war seine Frau, seine Geliebte, seine beste Freundin und die Erfüllung aller Fantasien.

Es war unmöglich, diesen Mann nicht zu lieben. Zumindest für Ai. Sie schlang die Arme um ihren Wuschelkopf und drückte sich an ihn. Gerade, weil er am nächsten Morgen für längere Zeit aufbrechen musste, wollte sie ihn spüren. So intensiv wie nur irgend möglich. Sie öffnete ihren Mund. Ihre Zunge gab sich mit seiner einem zärtlichen, berauschenden Spiel hin. Beide ließen keinen Zweifel an ihren Absichten. Die Umgebung war geradezu wie geschaffen für die Romantik eines unausweichlichen Abschieds. Ai wagte es. Sie setzte sich auf seinen Schoß, fuhr ihm durch die Haare und ging in diesem Kuss vollends auf. Ein frisch verliebtes Pärchen hätte sich nicht anders benommen als die beiden gerade.
 

Ai legte den Kopf auf Shinjis Brust. Gemeinsam sahen sie in den Nachthimmel. Sternenklar und funkelnd war er. Die Japanerin schmiegte sich an ihn, sie liebte seine Wärme. Das würde sie vermissen, solange er bei Jarred war.

Shinji hatte einen Arm um seine Frau gelegt, den anderen hinter seinen Kopf. Auch er sah zu den Sternen auf. Sie alle strahlten hell am Firmament und verliehen diesem Abend noch zusätzlich Charme.

„Shinji, ich war letzte Woche beim Arzt und…“, die beiden zarten Hände hielten sich an ihrem Mann fest, als ihr Redefluss wieder erstarb. Sie hatte so sehr darauf gehofft, dass es endlich geklappt hatte, doch sie war enttäuscht worden. Ai schluchzte verzweifelt. Sie hatte es ihm nicht sagen wollen, da er mit den Vorbereitungen für das Manöver so viel zu tun gehabt hatte, aber es ihm länger zu verschweigen hätte sie nicht fertig gebracht. Dann wäre sie ganz alleine mit ihrem Kummer geblieben. So tropften ihre heißen Tränen unaufhaltsam auf seine nackte Haut.

Er zog sie sofort so nahe wie möglich zu sich. Das wusste er doch. Shinji wusste doch, dass es nicht geklappt hatte! Der Pilot hob ihren Kopf sachte an und wischte ihre Tränen fort. Allerdings schimmerten auch in seinen braunen Augen welche, als er auf seine Frau hinab sah. Sie litt so sehr darunter. Hilflos begann er, sie zu streicheln und mit ihr zu reden. Shinji wollte nicht wahrhaben, dass es nicht funktioniert hatte. Er glaubte aber auch nicht mehr daran, dass es jemals klappen könnte. Ai würde kinderlos zurückbleiben.
 

Shinji verabschiedete sich am nächsten Morgen mit einem Kuss von seiner Frau. Er hauchte ihr ins Ohr: „Vergiss mich nicht, Ai.“

Dann ging er zur Arbeit. Sie mussten an diesem Morgen pünktlich wegkommen, König Jarred freute sich zwar auf den Besuch der Air Strike Base 1, doch sie sollten zur genannten Uhrzeit landen. Der König mochte Unpünktlichkeit nicht. Ein letzter Blick zu seiner Ai. Sein tapferes Mädchen. Sie weinte nicht und winkte sogar mit einem kleinen Lächeln. So würde er seine Frau in Erinnerung behalten.

Nachdem sie Shinji nicht mehr sehen konnte, schloss die Japanerin die Wohnungstür. Sie vermisste diesen Chaoten jetzt schon, wie sollte sie es zwei Monate ohne ihn nur aushalten? Ai straffte die Schultern und lenkte sich mit Aufräumen ab. Sonst würde sie früher wahnsinnig werden, als der hübschen Frau lieb war. Ai staubsaugte, wischte die Böden, hütete sich aber davor, die Betten frisch zu überziehen. Nein, so lange wie nur möglich wollte sie den Duft ihres Mannes zumindest im Bett neben sich wahrnehmen, wenn er schon nicht wirklich bei ihr sein konnte. Ganz wohl war ihr an diesem Tag nicht, immer wieder spürte sie ein leichtes Ziehen in ihrem Bauch. Der Ausflug hatte ihr vielleicht nicht gut getan und sie hatte sich erkältet. Aber Ai bereute nichts an dem gestrigen Abend. Er war trotzdem wunderschön und romantisch gewesen.
 

Für einen kurzen Besuch bei der Crew von Ramrod hatte er allerdings noch Zeit. Er wollte sich von den Kindern verabschieden und ging insgeheim auch mit der Hoffnung hin, seinen Sohn dort vielleicht wieder vorzufinden. Shinji wünschte es sich von ganzem Herzen.

„Also wirklich. Euer Sicherheitssystem auf dem Schiff hier ist lausig.“, mit einem aufgesetzten Lachen stand Shinji in der Küche. Wie schon bei seinem ersten, zufälligen Besuch war es für den Captain kein Problem gewesen, an Bord zu gelangen. Die Rampe war wieder herunter gekommen und er hatte die Einladung nur annehmen zu brauchen. Nur, so schien es, platzte er mit einem unpassenden Spruch in eine bedrückte Stimmung. Die jungen Helden saßen nur zu dritt am Frühstückstisch.

Sabers Miene war verschlossen, von dem blonden Highlander konnte man niemals erkennen, wie er sich fühlte. Er hatte etliche ausgedruckte Berichte neben seiner Kaffeetasse liegen und durchforstete diese, während er immer wieder mal vom schwarzen Getränk einen Schluck nahm. Der Anführer dieser interessanten Truppe war immer ruhig und besonnen. Doch Shinji war sich nicht sicher, in wie weit dieses Bild der Wahrheit entsprach. Etwas sagte ihm, dass es einer Maskerade ähnelte.

Der Lockenkopf, der auf den Namen Colt hörte, hatte den Kopf auf seine Hand gestützt und brummte vor sich hin. Der war ganz offenbar ein unglaublicher Morgenmuffel. Er starrte auf seine Tasse, die er mit der anderen Hand von einer Ecke in die andere schob und der Inhalt dabei immer wieder bedächtig ins Schwanken geriet. Der Hut, den er sonst immer getragen hatte, wenn Shinji ihnen begegnet war, lag achtlos neben ihm auf der Bank. Lustlos wirkte der Cowboy.

Anschließend musterte er Charles‘ Tochter. April hatte Augenringe unten den Lidern, sie schien nächtelang nicht geschlafen zu haben. Neben ihrer Kaffeetasse lagen ebenfalls lose Blätter, ein Kugelschreiber und ein Taschenrechner daneben. Kein Zweifel, die drei arbeiteten immer noch an einer Lösung für ihr kleines Zeitproblem. Und doch war April an diesem Morgen genauso traurig, wie an dem Tag, an dem Shinji auf Ramrod gelandet war.

Sein Blick blieb allerdings an der vierten – noch leeren – Kaffeetasse hängen. War sein Sohn wieder da?

Saber sah von seinen Unterlagen auf, als Shinji eingetreten war. Er wünschte dem Captain einen guten Morgen, bot ihm einen Platz an und erklärte ihm dann verhalten: „Unser Sicherheitssystem ist gut, Sir. Es reagiert nur auf fremde Biosignaturen, die nicht verankert sind. Nun, Sie und Fireball, sie haben identische Biosignaturen, deswegen reagiert Ramrod nicht.“

Der Schotte hatte das nach dem ersten Besuch von Captain Hikari schon weitgehend überprüft, denn ein Sicherheitsleck von Ramrod hätte für sie alle große Gefahr bedeutet. Immer und immer wieder hatte er den Check durchlaufen lassen, jedes Mal wieder mit dem Ergebnis, dass Fireballs und Captain Hikaris Biosignatur die gleiche waren. Saber hatte dabei äußerst besonnen geklungen, er wollte sich nicht von Shinji in die Karten schauen lassen. Dem Vater mehr als unbedingt nötig zu erzählen, hielt Saber nicht für angebracht. Er wusste, dass der Captain hier nach dem Rechten sehen wollte, bevor er ins Königreich Jarr aufbrach und wahrscheinlich hoffte er auf gute Nachrichten. Saber zog sich alles zusammen, denn sie hatten keinerlei gute Nachrichten. Er lugte zuerst auf seine Zettelwirtschaft, noch wussten sie nicht, wie sie wieder nachhause kommen sollten, dann glitt sein Blick auf die leere Kaffeetasse. April deckte jeden Morgen für vier Personen, wohl in der Hoffnung, ihr Pilot möge zu ihnen zurückgekommen sein. Nur blieb die Tasse jeden Morgen unbenützt, genauso wie der Teller zu Mittag und der beim Abendessen. Es gab keinen vierten Mann mehr an Bord von Ramrod. Und das tat weh. Noch war alles in Ramrod auf ein viertes Besatzungsmitglied ausgelegt, doch Saber merkte mit jedem Tag ein bisschen mehr, dass sich seine Erinnerung bezüglich Fireball veränderte. Sie wurde dunkler, wie von Nebel verhüllt und ehrlich gestanden hatte Saber ungeheure Angst, sich bald überhaupt nicht mehr an den Hitzkopf zu erinnern.

Der Captain nahm Platz, setzte sich auf den Platz, den sonst der junge Pilot in Beschlag nahm. Shinji hielt die Tasse mit beiden Händen umklammert und lugte auf das weiße Porzellan. Sein Sohn war wohl ein starker Kaffeetrinker. Wenn er so in die Runde sah, überall standen kleine Kaffeetassen, er hielt eine große in Händen. Ob Fireball morgens auch nicht ansprechbar war, so wie er? Nie hatte sich Shinji Gedanken darüber gemacht, welche Eigenschaften seinem Kind zuteil werden würden, doch nun fragte er sich dauernd. Das hatte schon angefangen, als er noch nicht gewusst hatte, dass der Kurze sein Junge war. Während er mit ihm in der Staffel geflogen war, hatte er sich manchmal gefragt, ob sein Sohn, wenn er dann einen hätte, irgendwann auch so gut fliegen würde wie der Kurze. Seine Augen wanderten wieder zu Saber: „Ist er… hier?“

Er wollte ihn sehen, bevor er wirklich losmusste, doch irgendwie hatte er auch Angst. Shinji wusste nicht, ob Fireball wieder da war. Und er hatte keinen blassen Schimmer, wie er dem Kurzen gegenüber treten sollte. Mit dem Wissen über seine Zukunft und dass er ihn niemals im Arm halten würde? Shinji glaubte, er würde daran eher zerbrechen, als im Kampf zu sterben.

Saber und April stockte der Atem. Während April verbittert darum kämpfte, nicht beim Frühstückstisch schon wieder zu weinen, rang Saber nach den richtigen Worten. Da waren keine. Man konnte dem Captain zwar mit vielen nichtssagenden und schönen Floskeln erklären, dass Fireball eben nicht da war, aber im Endeffekt blieb es eine herbe Enttäuschung. Und zwar für alle. Saber stellte sich gerade die Frage, wie verhalten er reagieren sollte, als ihm jemand mit einer Antwort und einer Reaktion zuvor kam.

Ausgerechnet Colt schoss in die Höhe und keifte sich den Frust von der Seele. Er knetete seinen Hut ungestüm an der Krempe, er musste sich einfach irgendwo festhalten, um seine Fäuste nicht auf den Tisch zu hauen. Dass seine geliebte Kopfbedeckung nicht minder darunter zu leiden hatte, als es der Tisch hätte, fiel dem Kuhhirten nicht auf. Zuerst funkelten seine Augen den Captain an, der hatte doch nichts zustande gebracht. Dann aber stachen die blauen Guckerchen zu Saber hinüber: „Deine Nichts-erzählt-ist-schon-zu-viel-gesagt-Taktik ist ja bestens aufgegangen. Super, Saber! Hättest du unserem Kamimiezepiloten nicht einfach klipp und klar sagen können, dass er sich ranhalten soll, wenn da mal ein kleiner Matchbox draus werden soll?“

Aus dem Kamikazepiloten war im Eifer eine Kamimieze geworden und wieder einmal standen dem Captain deswegen die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Egal, welche Wortmeldung er von Colt bisher miterlebt hatte, bei jeder war er sich sicher, dass er die Sprache des Vollbluttexaners nicht beherrschte. Klar war Shinji im Augenblick nur, dass Colt stinksauer auf die Informationspolitik des Highlanders war und demnach ganz offenbar immer noch kein Fireball wieder an Bord war. Der Japaner senkte bekümmert den Kopf und stand wieder auf. Er verneigte sich tief vor den zukünftigen Freunden seines niemals entstandenen Sohnes und entschuldigte sich. Im Hinausgehen warf er April noch einen traurigen Blick zu. Kein Zweifel, seit er das Mädchen kennengelernt hatte und er mit dem Kurzen über nächtliche Verweise auf die Couch gesprochen hatte, glaubte er zu wissen, dass sie, die Tochter von Commander Eagle, diejenige war, für die Fireball seine Mauern einreißen würde. Aber das würde ja niemals passieren, denn Rennfahrer war keiner da.

Saber sparte sich Maßregelungen und Zurechtweisungen, das hätte bei Colt die Wirkung von genau gar nichts im Augenblick gehabt. Aber er warf ein Auge auf den Captain. Als dieser gehen wollte, sprang auch Saber von seinem Platz hoch: „Warten Sie noch einen Moment, Captain. Ich möchte mich noch kurz mit Ihnen unterhalten.“

Während sich der Schotte aus seinem Platz ganz hinten herausschälte und an Colt vorbeidrängelte, neigte er den Kopf leicht zu ihrer Blondine hinüber. Saber wollte, dass sich der Cowboy in der Zwischenzeit gut um sie kümmerte. Er begleitete den Captain zur Rampe.
 

Am Fuße der Rampe fuhr sich Saber verschämt über die Augen. Es machte ihm enorm zu schaffen, was seit ihrer Ankunft hier alles geschehen war. Für einen nicht unbeträchtlichen Teil am Ausgang der Geschichte fühlte sich Saber direkt verantwortlich. Er sah zu Captain Hikari hinüber, der im Begriff war, zum Oberkommando aufzubrechen. Der erfahrende Pilot erinnerte Saber am stärksten an Fireball. Der kleine Rennfahrer, der bis vor kurzem noch auf Ramrod ein- und ausgegangen war, sah dem Captain wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Sogar ihr Gemüt und ihre Bewegungen ähnelten sich stark. Saber biss sich auf die Lippen. Immer wieder sagte er sich im Gedanken, dass das alles nicht stimmte. Ihm würden diese Ähnlichkeiten nur deswegen auffallen, weil er sich das so einbildete und er die beiden Hikari miteinander nicht objektiv genug verglich.

Endlich fand er seine Sprache wieder: „Colt hatte Recht. Ich habe Ihnen vielleicht nicht genug gesagt. Das möchte ich bitte noch nachholen.“

Shinji horchte unweigerlich auf. Ja, er musste los, aber die paar Minuten hatte er immer noch, um mit Saber zu Ende zu sprechen. Ungeduldig und neugierig hörte er sich an, was der noch junge Captain dieser besonderen Einheit zu erzählen hatte.

Der Schotte indes handelte entgegen seiner Natur. Aber er hielt es für angebracht. Ihre Zukunft hatte sich bereits maßgeblich verändert, sonst wäre Fireball immer noch bei ihnen. Egal, wie er nun noch eingreifen würde, recht viel drastischer konnte sich nichts mehr in ihrer Zeit ändern. Saber war sich dessen völlig bewusst und er tat es mit einer Ruhe, von der er selbst nicht gedacht hatte, diese aufzubringen. Der Schotte erzählte Shinji von den Outridern, gab Auskunft darüber, wie sie in ihre Dimension gekommen waren und weshalb sie ausgerechnet im Königreich Jarr angreifen würden. Saber erzählte ihm von seinem Sohn. Er hoffte, dass seine Erinnerung dadurch lebendiger blieb. Aber tatsächlich wusste Saber viele Dinge nur noch verschwommen, so als waren sie ein Traum und gar nicht wirklich passiert. Er konnte schon nicht mehr genau sagen, wie Fireball zu seinem Spitznamen gekommen war oder wie er Pilot von Ramrod geworden war. Aber Saber konnte viel über den Charakter des ehemaligen Rennfahrers Preis geben.

Der Captain fühlte, wie ihm immer elender zumute wurde. Nicht nur wegen der Outrider und der Tatsache, dass er bald sterben würde, viel eher deswegen, weil er gerne mehr Zeit mit dem Kurzen, seinem Jungen, verbracht hätte. Er würde dem Kind nie ein Vater sein, vorausgesetzt, er würde vielleicht irgendwann noch entstehen.

Zum Abschied umarmte Shinji den blonden Highlander noch kurz aber herzlich. Er sprach ihn von seinem Kummer und den offensichtlichen Gewissensbissen los. Aufmunternd klopfte er dem Schotten auf den Rücken: „Ihr habt euer bestes getan, Saber. Und dafür bin ich euch sehr dankbar. Das Neue Grenzland wird es auch sein. Ich hoffe, ihr findet einen Weg nachhause.“

Als er Saber los ließ und einen letzten Blick auf die offene Rampe warf, erblickte Shinji den Hauch eines Rennfahrers. Im nächsten Augenblick war diese Ahnung auch schon wieder verschwunden. Nachdem Shinji geblinzelt hatte, war dort an der Rampe nichts mehr. Er musste sich getäuscht haben. Sein Sohn war nicht wieder hier. Sein Verstand spielte ihm einen Streich, weil er sich nichts sehnlicher gewünscht hätte, als Fireball noch einmal zu sehen. Mit hängendem Kopf drehte sich Shinji schließlich von Ramrod weg und verließ die Lichtung, auf der das große Schlachtschiff noch immer versteckt war. Wolkenlos strahlte der Tag vom Himmel und ließ eigentlich auf einen wunderschönen Tag hoffen, doch Shinji wusste es besser. Er hatte seine Frau an diesem Morgen zum letzten Mal in seinem Leben gesehen, er würde sie alleine hier zurücklassen. Und im Oberkommando würde er Charles über den Weg laufen, vielleicht hatte er May und April bei sich. Dann würde er auch diese Freunde zum letzten Mal begrüßen und ihnen einen schönen Tag wünschen. Dieser Tag mochte mit einem wunderbaren Frühsommertag locken, doch das konnte den Abschiedsschmerz nicht lindern.
 

In der Küche war Colt zu April aufgerückt und hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt. Traurig sah sie aus, ihre Prinzessin. Auf der einen Seite konnte es der Lockenkopf gut verstehen, denn auch er wollte Fireball wieder bei ihnen wissen, doch noch immer war von ihm keine Spur. Auf der anderen allerdings konnte es Colt auch wieder nicht verstehen, immerhin war zwischen April und Fireball in den letzten Wochen einiges schief gegangen. Er wusste zwar nicht was, aber das war im Augenblick auch nicht wichtig. Ihr vierter Mann war nicht mehr da, hatte niemals existiert und der Schmerz überwog eindeutig.

Colt seufzte leise und strich April die Haare hinter die Schultern. Er wusste mittlerweile nicht mehr, was er ihr nur sagen könnte. Nichts würde Fireball zurückbringen, wirklich nichts. Der Cowboy machte eine sorgenvolle Miene, konnte er sich doch kaum noch an den asiatischen Wirbelwind erinnern. Noch einmal versuchte er, der Blondine Mut und Hoffnung zu machen: „Ach, Prinzessin. Es wird alles gut. Du wirst schon sehen.“

Die Blondine starrte mit leerem Blick auf ihre eigene Kaffeetasse. Sie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, dass sie noch die meiste Erinnerung an Fireball hatte. Es musste fast so sein, denn ihr Herz war seinetwegen in tausende, kleiner Stücke gesplittert und tat ihr höllisch weh. Sie vermisste Fireball und mit jedem Tag schwand die Hoffnung, ihn jemals wieder zu sehen. An diesem Tag starb ihre Hoffnung.

„Er kommt nicht wieder zu uns zurück.“, gebrochen und todunglücklich hatte sie dabei geklungen. Wie zum Beweis wand sich die blonde Navigatorin aus Colts Umarmung und stand auf. Sie nahm das ungebrauchte Frühstücksgeschirr des vierten Teammitglieds und räumte es an die entsprechenden Plätze zurück. Jemand anderes würde Fireballs Platz einnehmen, sobald sie endlich wieder zuhause waren. Als April die Tür des Küchenschranks schloss, und damit den Blick auf Fireballs große Kaffeetasse verwehrte, stahl sich eine einzelne Träne über ihre Wange davon. Für April fühlte sich das an, wie ein Abschied für immer. Sie hatte ihn verloren.

Mit reichlich Unbehagen hatte Colt dieses seltsam anmutende Schauspiel verfolgt. Und dann noch Aprils Worte. Sie gab auf! Der Cowboy fand sofort von seinem Platz hoch und kam auf die Blondine zu. Er packte April bei den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. Fireball war erst verloren, wenn sie ihn aufgaben. Und das durften sie nicht. Er fixierte das glanzlose Augenpaar und meinte mit dem Brustton der Überzeugung: „Wir kriegen unseren kleinen Überflieger wieder. Ganz bestimmt, April. Er wird zu uns zurückkommen, der verdammte Sturschädel.“

Wortlos schlang April die Arme um Colt und legte den Kopf an seine Brust. Sie wusste nicht, woher Colt diese Kraft nahm, sie hatte jedenfalls keine mehr. Es war für sie so schwer wie noch nie. Ihre Gefühle für den Rennfahrer, der Streit, den sie mit ihm noch kurz vor seinem Verschwinden hatte und dann noch die unsägliche Tatsache, dass sie sich nicht von ihm hatte verabschieden können. All das nagte an der Blondine wie saurer Regen an Eisen. Nicht mehr lange, und sie würde deswegen zerbröseln. Nachdem Fireballs Vater ebenfalls keine guten Nachrichten mitgebracht hatte, blieb April nur noch die Hoffnung, dass mit der Erinnerung an den Piloten auch der Schmerz stillschweigend verschwand und sie sich nicht ihr ganzes Leben lang fühlen würde, als fehle ein entscheidender Teil in ihrem Leben.
 

Saber hatte dem Captain noch nachgesehen, bis dieser im Dickicht des Waldes verschwunden war, dann war er die Rampe hinauf getrottet. Und nun stand er im Gang, ganz unschlüssig. Saber war selten in seinem Leben ratlos gewesen und er musste sich eingestehen, dass er diesen Zustand auch lieber nicht kennen gelernt hätte. Aber nun war es so. Der Schotte hatte nicht das Bedürfnis, dieses trübsinnige Frühstück mit seinen Freunden fort zu setzen. Auch sie litten unter der Situation, wie sie im Augenblick war und manchmal glaubte er, in Aprils Blicken einen stummen Vorwurf zu sehen.

Letztlich entschied sich der rat- aber auch rastlose Highlander, in den Kontrollraum zu gehen und nachzudenken. Flüchtig war ihm der Gedanke durch den Kopf geschossen, das Leben von Captain Hikari zu retten und somit der Familie eine zweite Chance zu geben. Er hatte dabei Colts Worte in den Ohren gehabt, dass sich manche Dinge durchaus auch zum Guten verändern konnten. Sicher war er sich jedoch nicht. Das Eingreifen in diese Familiengeschichte hätte weitreichende Auswirkungen, die niemand kontrollieren konnte. Aber hatte nicht Jesse schon tiefgehende Veränderungen hervorgerufen? War es da nicht nur gerecht, wieder Chancengleichheit herzustellen, egal mit welchen Tricks? Saber spielte mit dem Gedanken, der Staffel ins Königreich Jarr zu folgen, ihnen beim Angriff der Outrider mit tatkräftiger Unterstützung zur Seite zu stehen. Der Säbelschwinger hatte die Vermutung, dass auch Jesse Blue ähnliches tun könnte. Oder hatte er sein Ziel bereits erreicht, indem er seinen privaten Konkurrenten aus dem Weg geschafft hatte? Dabei lief Saber ein eiskalter Schauer über den Rücken. Was, wenn Jesse Blue der neue Pilot von Ramrod wurde? Denn eines war klar. Wenn April keinen Grund gehabt hätte, dem blauhaarigen Kadetten eine Abfuhr zu erteilen, dann wäre dieser in der Akademie geblieben. Aber nur, weil ein Kollege und guter Freund nicht mehr an Aprils Seite war, garantierte das noch lange nicht, dass sich Jesses Charakter änderte.

So in Gedanken versunken, brütend über seltsamen „Was-wäre-wenn“-Fragen, ging Saber zu seiner Satteleinheit und setzte sich. Automatisch fuhr er den Computer und die Systeme hoch und starrte auf den dunklen Bildschirm. Saber hatte immer geahnt, dass eine kleine Veränderung in der Vergangenheit Folgen haben könnte, aber die Ausmaße, denen sie sich zuhause stellen mussten, würden unwahrscheinlich gigantisch sein. Würde es überhaupt ein Team Ramrod geben? War der Krieg längst verloren und herrschten gar die Outrider über die Menschen? Saber musste bei diesem Gedanken direkt schlucken und ihn abschütteln. Das war ganz einfach eine Horrorvorstellung.

„Wieso ignorierst du mich jetzt auch noch, Säbelschwinger?“

Der Schotte schoss in die Höhe, als er die Stimme gehört hatte. Einzig und allein die Seitenverstrebung seiner Satteleinheit beendete sein Aufspringen. Saber stieß mit voller Wucht mit dem Kopf dagegen und zuckte unweigerlich zusammen. Au, verdammt, tat das weh! Hatte er sich das eingebildet? Noch während er sich den Kopf rieb und um einiges vorsichtiger aufstand, sah er sich suchend um. War das wirklich…?

„Shinji?“, er traute seinen Augen nicht mehr über den Weg. Der Schotte musste sich das alles nur eingebildet haben. Er sah Gespenster und hörte Stimmen. Jetzt war es amtlich, Saber drehte langsam aber sicher durch. Saber ging auf die durchsichtige Gestalt zu und streckte die Hand aus. Die Berührung war genauso unwirklich, wie die, als er bei Fireballs Verschwinden noch versucht hatte, seine Hand zu nehmen. Wieder bekam er nichts zu fassen. Mit stockendem Atem murmelte Saber: „Bist du wirklich da, Fireball?“

„Ich find das nicht komisch, Saber!“, zuerst ignorierte ihn Saber schamlos und nun stellte er ihm auch noch eine solche Frage. Fireball spürte immer noch eine panische Angst in sich und sein Freund fragte, ob er wirklich da sei. Der Pilot wich einen Schritt zurück und beäugte Saber argwöhnisch. Ja, sie hatten sich etwas in die Wolle bekommen, aber das war noch lange kein Grund ihn wie Luft zu behandeln. Das vertrug Fireball in seiner Lage überhaupt nicht: „Kannst du mir bitte helfen, Saber. Ich weiß, du würdest dich grad freuen, wenn ich mich auflöse, aber so prickelnd ist das für mich nicht.“

Er musste Herr der Lage werden, doch so einfach war das in dem Moment nicht. Saber war hin und her gerissen. Er freute sich wie ein kleines Kind am Weihnachtsmorgen, aber andererseits behagte ihm Fireballs Tonfall absolut nicht. Saber sah sich um, er hatte ihn nicht zu fassen bekommen, weil Fireball immer noch mehr Luft als Mensch aus Fleisch und Blut war, beinahe wie ein Geist. Er hatte durch ihn hindurch greifen können, hatte den Hitzkopf nicht zu fassen bekommen. Deswegen schied ihn in seine Satteleinheit zu schieben auch zwangsläufig aus. Dann erst bemerkte Saber den ängstlichen Gesichtsausdruck des Japaners und verstand die Bedeutung dieser Worte. Hastig schüttelte er den Kopf und versicherte: „Nein, nein, Fireball. Du löst dich nicht auf! Im Gegenteil. Du kommst gerade wieder, Hauch für Hauch.“

Der klein gewachsene Pilot war mit der Situation vollkommen überfordert. Wollte Saber ihn für unzurechnungsfähig erklären? Ihm steckten die Worte von vorhin noch in den Knochen, die Saber so ungehalten wie selten ausposaunt hatte. ‚Benimm dich endlich wieder wie man es von dir erwartet!‘ Gerade eben war Saber doch noch stocksauer gewesen, wieso machte er nur jetzt ein so erleichtertes Gesicht? Fireball ging zu seiner Satteleinheit, blieb dort aber stehen und spähte aus dem Panoramafenster. Unten an der Rampe hatte er seinen Vater gesehen, der hatte ihn aber nicht wahrgenommen. Aber wie konnte das sein? Der war doch zu einem Einsatz gerufen worden. Leise wollte er wissen: „Was ist los, Saber? Was geht hier nur vor?“

Seine Stimme hatte wie das Flüstern eines Geistes geklungen. Saber lief eine Gänsehaut über den Rücken. Mit jedem Moment allerdings wurde er sich bewusst, dass es geklappt hatte. Ai und Shinji wurden Eltern, die Frau des Captains trug das Leben ihres ungeborenen Sohnes in sich. Nachdem der quirlige Pilot noch nicht wirklich zu sehen war, konnte dieser Zustand noch nicht lange so sein, vielleicht erst seit wenigen Stunden. Hoffentlich geschah nun nichts mehr. Saber schloss zu Fireball auf, berühren konnte er ihn immer noch nicht, aber versuchen, ihn zu beruhigen. Deswegen begann der Highlander ihm zu erzählen, was genau passiert war. Sie standen im Kontrollraum und Saber hatte die größte Mühe, Fireball verständlich zu erklären und vor Augen zu führen, was passiert war. Dass das dem Japaner nicht nur eine Nummer zu hoch war, konnte Saber an der immer noch durchscheinenden Mimik des Piloten erkennen. Er selbst glaubte den Großteil der Geschichte ja selbst noch nicht richtig. Schlussendlich schlug er dem wiedergewonnenen Freund vor: „Lass uns in die Küche gehen, Colt und April werden sich freuen, dich wieder zu sehen.“

Doch Fireball schüttelte den Kopf. Er sah Saber verständnislos an: „Das glaubst du dir doch selber nicht, Saber. Suchst du einen Grund, mich komplett vom Schiff zu verbannen, sobald wir wieder zuhause sind?“

Anders konnte es sich der Hitzkopf nicht erklären. Saber und er waren in letzter Zeit so oft wegen der Kompetenzsache aneinander geraten, dass sich nur das als plausible Erklärung für Fireball anbot. Saber wollte ihn nach ihrer Rückkehr zuhause nicht mehr im Team wissen. Nicht nur, dass er kläglich als Captain versagt hatte, offenbar hatte er es auch als Freund und Teamkamerad. Er war wohl besser dran, wenn er zuhause offiziell zurücktrat und endlich seine vorzeitig abgeschlossene Ausbildung in Ruhe und ordnungsgemäß nachholte. Es wäre das Beste für alle.

„Das hab ich mit keinem Wort gesagt.“, Saber biss sich auf die Lippe. Verzagte Geschichte war das. Wie sollte er Fireball nur erklären, dass sie für den Blödsinn gerade keine Zeit hatten? Etwas unwillig stieß Saber die Luft zwischen den Zähnen aus und ging einige Schritte Richtung Ausgang. Da er den Japaner immer noch nicht physisch fassen konnte, musste er ihm so bedeuten, ihm endlich zu folgen. Jede Minute, die sie hier vergeudeten, schwanden ihre Chancen, etwas an ihrer Lage zu ändern. Mittlerweile hatten April und der Highlander herausgefunden, dass sie eine kleine Chance hatten, wieder nachhause zu kommen. Ramrods Energiereserven würden dabei fast komplett aufgebraucht werden und es war nicht gewiss, ob es sie tatsächlich wieder nachhause bringen würde, aber es war besser, als es unversucht zu lassen. Saber wollte allerdings den Blauhaarigen dabei wissen, nicht, dass dieser noch auf ganz andere Ideen kam, was er in der Vergangenheit alles verändern konnte.

Fireball jedoch folgte ihm nicht. Schwer enttäuscht sah er dem Schotten hinterher und murmelte: „Aber gedacht.“

Saber fuhr herum. Wie sollte er den sturen Bock da coachen und ihm helfen, sich weiter zu entwickeln, wenn der nicht wollte? Saber erschrak dabei über seine Gedanken. Was hatte er gerade gedacht? Passte das zu seinen Erinnerungen? Verschwommen wusste Saber noch, dass Fireball bis zu Ramrod keinerlei Kampferfahrung hatte, weil er… Der Schotte legte die Stirn in Falten. Ja, was eigentlich? Er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab, sie hatten keine Zeit, um in Erinnerungen zu kramen, die alles andere als klar gerade waren. Er konzentrierte sich wieder auf den Japaner und funkelte ihn an: „Jetzt halt aber mal die Luft an, Shinji!“

„Geht grad schwer.“, kam der Konter vom Wuschelkopf. Er war immer noch mehr durchscheinend und somit noch lange nicht wieder da. Zudem fühlte er sich von Saber auch ein Stück weit angegriffen und in eine Ecke gedrängt. Die Geschichte, die ihm der Freund aufgetischt hatte, sie war einfach viel zu unglaublich. Aber andererseits, wenn er an sich hinabsah und es recht überdachte, vielleicht gar nicht unwahrscheinlich. Fehlte ihm tatsächlich ein ganzes Monat? Der Pilot sackte auf seinen Platz und keuchte: „Ich… Du und die anderen beiden…“

Saber kam wieder auf ihn zu. Okay, vielleicht musste er doch noch mal fünf Minuten investieren, sonst würde der Sturkopf es niemals begreifen. Der Schotte ging neben Fireball in die Hocke und bedachte ihn mit erforschenden Blicken, zumindest, soweit der Hitzkopf sichtbar war. Es war immer noch schwer, mehr als einen Verdacht seiner Gestalt auszumachen, was Saber allerdings doch wunderte. Verschwunden war Fireball innerhalb weniger Minuten, wieder sichtbar wurde er nur schleppend. Er atmete einmal tief durch und versuchte es erneut. Nur, wo sollte er ansetzen?

„Wir sind alle vier hier und es geht uns gut. Nur du scheinst dich grad nicht wohl zu fühlen. Fehlt dir was? Hast du Schmerzen?“

Unbeholfen war Saber nun daran gegangen, aber vielleicht lenkte es Fireball noch am ehesten davon ab, was sie vor einem Monat besprochen hatten. Obwohl ihr Streit nun schon einige Wochen zurücklag, auch Saber dachte nachts oft daran. Er hatte sich oft dafür geschämt, dem Freund solche Worte an den Kopf geworfen zu haben. Auch, wenn es ihm im ersten Augenblick unglaublich gut getan hatte, im Endeffekt hatte es nichts geholfen. Das merkte Saber spätestens jetzt, da der Pilot vor ihm saß und gerade aussah, als würde er das Handtuch werfen.

„Nein, die Wunde“, zögerlich antwortete Fireball. An die Stichwunde hatte er gar nicht mehr gedacht. Hatten ihm die Schmerzmittel des Stützpunktarztes geholfen? Er fuhr sich mit der rechten Hand unter das Shirt und tastete vorsichtig über die Stelle, an der ihn Jesse Blue verwundet hatte. Aber da war nichts mehr. Verdattert sah Fireball zu Saber auf und beendete schließlich seinen Satz: „ist weg.“

Sabers Taktik war schließlich aufgegangen. Fireball dachte nicht mehr an die Schwierigkeiten zwischen ihnen. Auch, wenn er nun etwas verwundert war, dass seine Stichwunde überhaupt nicht mehr vorhanden war, es war doch ein kleiner Beweis für den Wahrheitsgehalt von Sabers Worten.

Wieder stand Saber auf. Dieses Mal wies er aber zur Tür: „Komm, lass uns endlich in die Küche zu den anderen gehen, Fireball. Wir müssen zusehen, dass wir endlich von hier wegkommen, bevor uns noch ein anderes Teammitglied abhanden kommt.“

Verwirrt und überfahren erhob sich auch Fireball. Schweigend folgte er dem Recken. Er verstand im Augenblick nur Bahnhof, Saber hatte ihm zu viel auf einmal erzählt. Aber wahrscheinlich hatte er das müssen, weil ihnen die Zeit fehlte. Flüchtig drehte sich der junge Spund noch einmal zum Fenster und sah in die Richtung, wo sein Vater in den Wald verschwunden war. Verhalten fragte er nach: „Wohin geht mein Vater?“

Saber blieb stehen und senkte den Blick. Ehrlich bestürzt über den Fakt, gab er Auskunft: „Zum Manöver ins Königreich, Fireball. Er hat sich von uns verabschiedet.“

In den letzten Wochen hatten auch Saber, Colt und April den Captain besser kennen gelernt, er war manchmal am Abend noch einen Sprung zu ihnen gekommen um nach dem Rechten zu sehen. Saber hätte ihn als eine Bereicherung für das Oberkommando ihrer Zeit gesehen. Er hätte ihnen viel beibringen können. Der Schotte sah zu Fireball. Er glaubte, ihr Pilot, ihr Anführer, hatte einiges von seinem Dienst im Oberkommando hier mitgenommen. Saber war sich sicher, Fireball hatte in den wenigen Monaten hier mehr fürs Leben gelernt, als in den letzten Jahren zuhause. Das hatte er nicht zuletzt deshalb, weil er etwas vom Leben seines Vaters kennen gelernt hatte und über seine Familie erfahren hatte, sondern auch, weil er gesehen hatte, was einen guten Captain ausmachte. Nur umsetzen konnte er es noch nicht recht. Saber glaubte zu wissen, wenn Fireball erst einmal begriffen hatte, dass er auch trotz seines Alters ein umsichtiger Captain war, dann würde er aufhören, seine Position mit Nachdruck zu unterstreichen. Er musste niemanden hier beweisen, dass er es konnte.

Was waren das nur für Gedanken? Saber fuhr sich zerstreut durch die Haare. Wieso dachte er plötzlich so über Fireball? Das waren doch alles Dinge, die so gar nicht waren. Der Kurze von Captain Hikari war hier nicht der Captain. Oder etwa doch? Verwirrt zog es Saber vor, Fireball nicht mehr anzusehen und in die Küche vorauszugehen.
 

„Saber, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, witzelte Colt, als Saber wieder in die Küche kam. Dem Schotten stand der Schrecken noch ins Gesicht geschrieben, das hatte der Scharfschütze schnell gesehen. Nur, was ihn erschrocken hatte, das hatte er nicht wissen können. Wieder mal landete Colt mit seinen dummen Sprüchen einen Volltreffer erster Güte.

Der blonde Recke trat durch die Tür und gab den Blick darauf frei, was ihm die noble Blässe ins Gesicht getrieben hatte. Ein durchsichtiger Pilot und Freund.

Colt ließ die Blondine ruckartig los, stupste sie an und deutete mit einem ausgestreckten Arm auf die Erscheinung hinter Saber. Er brachte nur eins hervor: „Himmel. Wir arbeiten in einer Geisterbahn! Oder ich hab endgültig einen an der Waffel.“

„Wenn das mit dem Piloten nichts mehr werden sollte, kann ich ja auf Geist umsatteln“, gequält lächelte Fireball seine Freunde an. Colt trug’s mit verbaler Fassung. Wie ihm tatsächlich zumute war, konnte er gerade nicht sagen. Aber auch er schien überrascht zu sein, so wie Saber kurz zu vor.

April war in diesem Augenblick ganz froh, nichts in der Hand gehabt zu haben, sonst wär das nächste Porzellan auf dem Boden gelandet. Sie kam aus der Kochnische hervor und trat auf die beiden Neuankömmlinge zu. Täuschte sie sich? War das wirklich Fireball? Mit zittrigen Fingern streckte sie die Hand nach seinem Gesicht aus. Sie spürte nichts außer einem Hauch. April konnte ihn nicht fassen. War er am Ende nur ihre Einbildung?

Fireball hatte instinktiv den Kopf zu ihrer Handfläche geneigt, aber ihre Berührung konnte er nicht wahrnehmen. Dabei hatte er sich nach ihr gesehnt. Seit der Geschichte eines Nachts in der Küche hatten sie sich kaum gesehen und überhaupt nicht berührt. April hatte ihn lediglich genäht, dabei war sie stocksauer gewesen und wenig zärtlich. Er hatte sich nach ihr gesehnt und ihre Berührung nun nicht fühlen zu können, war eine herbe Enttäuschung.

Colt war April zum Tisch gefolgt und zog die Blondine nun von Fireball weg. Er drückte sie und sich auf die Bank. Der Cowboy hatte bemerkt, wie seltsam das Wiedersehen zwischen den beiden Freunden gerade gewesen war. Deswegen hielt er es für besser, mal dezent für Ablenkung zu sorgen. Er deutete auf Saber und Fireball, die beiden sollten sich ebenfalls setzen, bevor er brummend den Beleidigten mimte: „Ich glaub ja langsam, du und dein alter Herr habt Saber bei einem Streich geholfen. Dein Dad verschwindet, du tauchst auf und vor einem Monat das ganze umverkehrt. Ich fühl mich total veräppelt von euch Kommissionären.“

Colt hatte Komiker gemeint, aber wieder mal war da sein kleines Leck mit den Fremdwörtern gewesen. Egal, seine Freunde würden ihn auch so verstehen. Mit aufmerksamen Augen eines Fährtenlesers musterte der Cowboy nun seine Freunde. Der eine blass, der andere ein bisschen durchsichtiger als gesund war und die Blondine extrem schweigsam. Colt stieß sich seufzend den Hut aus der Stirn. So ganz schien niemand hier zu glauben, dass der Windbeutel von Rennfahrer tatsächlich wieder da war. Saber sah wirklich aus, als hätte er einen Geist gesehen. So konnte man den Freund ja fast in die Klapsmühle einweisen lassen. Der Schotte wirkte, als wäre er vollkommen durch den Wind, total verwirrt und ausnahmsweise mal ohne Plan. Colt musste bei der Erkenntnis beinahe hart schlucken. Es musste einen Grund geben, wieso Saber gar so seltsam drein blickte. Das konnte nur wieder nichts Gutes sein. Die blauen Augen wanderten weiter zu ihrer Prinzessin. Deren Blick hing an dem geisterhaften Erscheinungsbild des Rennfahrers, wie gebannt starrte sie ihn an. Colt brauchte sich da nicht großartig anzustrengen, das musste doch sogar ein unsensibler Klotz wie Fireball merken, wie sich April gerade fühlte. Die war einfach nur heillos mit der Situation überfordert und innerlich momentan mehr als nur zerrissen.

Nachdem sich alle seltsam anschwiegen, entschloss sich der Kuhhirte, mal das Wort an sich zu reißen und wieder für Stimmung zu sorgen. Denn immerhin war von Fireball schon wieder mehr zu sehen, als es die letzten Wochen der Fall gewesen war, so schlecht stand es für die Guten nun also nicht mehr. Colt stieß den rechten Zeigefinger in Fireballs Richtung und klopfte einen jovialen Spruch raus: „So, du zum Keks mutierter Krümel. Ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt und lässt in Zukunft wieder Saber denken. Das kann der nämlich erstens besser als du und zweitens wird er sogar noch dafür bezahlt.“

Im selben Augenblick allerdings ließ Colt die Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger auch schon wieder sinken und runzelte verdattert die Stirn. Er war gerade über seine eigenen Gedanken gestolpert. Plötzlich war er sich gar nicht mehr so sicher, ob Saber wirklich nur fürs Denken an Bord von Ramrod bezahlt wurde. Unwirklich schien dieser Gedanke, und dennoch biss er sich in Colts Hirnwindungen fest.

Fireball, noch immer mehr Schein als Sein, blinzelte um Bestätigung suchend zu Saber, ehe er den Kopf betreten senkte. Wie viel eindeutiger konnte es noch werden, dass hier längst entschieden worden war, wer Ramrod als Captain nachhause bringen würde? Der junge Pilot ergab sich in der Hinsicht still in sein Schicksal und stimmte Colt kopfnickend zu. Es sollte nach Möglichkeit zu keinen weiteren Reibereien mehr unter ihnen kommen. Fireball hatte genug davon. Er würde alles akzeptieren, was die Freunde um ihn herum entschieden und er würde diese Entscheidungen mittragen, so wie es sich gehörte.

Saber hatte den Mund schon offen gehabt, nachdem Colt losgelegt hatte, doch Fireballs Blick hatte ihn ruckartig wieder zum Schweigen gebracht. Es war vorerst besser, keine weiteren Diskussionen diesbezüglich mehr heraufzubeschwören. Sie hatten ohnehin Wichtigeres zu tun. Der Schotte bedeutete Colt und April, dass sie noch mal Kaffee für die Belegschaft an den Tisch bringen sollten, während er selbst auch wieder aufstand und sich entschuldigte: „Ich komme gleich wieder. Muss nur schnell was holen.“

„So schnell wird man hier zum Dienstboten degradiert“, regte sich Colt lachend auf. Also, das war ja wieder mal typisch für Saber. Der schickte andere nach Kaffee und Brötchen während sich der halbadlige Schwertschwinger um die netteren Dinge des Lebens kümmerte. Aber Colt konnte sich schon vorstellen, wonach der Schotte sich selbst schickte. Es ging um ihre Heimreise.

Nicht die erste Heimreise, auf die sich Colt freute, aber eine, die er kaum mehr abwarten konnte. Gott, er vermisste seine Robin. Er wollte sie endlich heiraten. Seine Robin. Colt verlor sich in dem Gedanken, seine Verlobte endlich wieder im Arm zu halten. Sie und… Wieder hing Colt in seinen Gedanken und Erinnerungen fest. Und wem? Er glaubte gerade zu wissen, dass seine süße Lehrerin nicht alleine auf ihn wartete.

Weiter denken konnte Colt den wirren und absurden Gedanken nicht, denn da kam Saber schon wieder hereingeschneit und setzte sich an den Küchentisch. Der blonde Highlander breitete allerhand Unterlagen aus und trommelte somit alle wieder an den Tisch zurück. Noch einmal wurde durch besprochen, was sie unternehmen würden und wie sie wieder nachhause kommen würden. Saber war die ganze Zeit über darauf bedacht, keine allzu klaren Vorgaben zu machen. Immer wieder warf er bei seinen Worten und Vorschlägen auch einen Blick auf Fireball, so als würde er darauf warten, was der Hitzkopf dazu zu sagen hatte. Aber der Pilot hielt den Mund und hörte aufmerksam zu.

Auch die Blondine schwieg immer noch. Sie saß dem Wuschelkopf gegenüber, ihre Hände um ein Glas Wasser gelegt. Mit nur einem Ohr war sie bei Sabers Ausführungen, immerhin kannte sie die Details schon. Sie hatte sie schließlich in den letzten Wochen zusammen mit Saber ausgetüftelt. Hoffentlich funktionierte auch alles so, wie sie es durch gerechnet hatten. Dessen war sich April nicht mehr so sicher, seit sie in der Vergangenheit fest saßen. Wie oft hatte sie zuvor irgendwelchen Wissenschaftlern bei Vorträgen zugehört, die allesamt rigoros behauptet hatten, dass Zeitreisen absolut nicht machbar waren? Jeder, der im Neuen Grenzland einen klingenden Namen in Sachen Forschung hatte, hatte diese Meinung vertreten. Auch die Blondine selbst hatte zu den absoluten Skeptikern gehört. Sie war eines Besseren belehrt worden. Ihre Augen hingen auf der Tischplatte, über all den Plänen und Zeichnungen. Aus eigener Kraft würden sie nicht zurück in ihre Zeit kommen.

Saber schloss mit den Worten: „…Der Plan hat sich allerdings nun geringfügig geändert. Wir werden nach Jarr fliegen und versuchen, Jesse dort zu erwischen. Wir brauchen ihn.“

„Falsch. Wir brauchen sein Schiff, den Überläufer können wir gerne hier lassen“, darüber könnte sich Colt maßlos aufregen. Sie, die Guten, brauchten den Verräter, um wieder nachhause zu kommen. Das war doch ein Witz!

Sogleich versuchte Saber, dem Scharfschützen wieder ins Gewissen zu reden und ihn von seiner Palme runter zu holen. Das Raufkraxeln der selbigen war in den letzten Wochen so etwas wie die Lieblingsbeschäftigung von Colt geworden. Der Schotte schob ein Papier zu Colt hinüber und unterrichtete ihn noch mal: „Er wird nicht hier gelassen, hast du mich verstanden, Colt? Willst du, dass er unsere ganze Zukunft verändern kann? Genau das wird er nämlich tun, wenn er nicht mehr in unsere Zeit kann. Jesse wird irgendwo anders eingreifen, etwas anderes verändern und so versuchen, unsere Welt aus den Angeln zu heben.“

Auch April nickte dem Schotten unterstützend zu: „Willst du das, Colt? Also, ich möchte nicht riskieren, dass Jesse Blue hier mein Babysitter wird.“

Bei diesem Gedanken schüttelte sich die Blondine und ihr lief eine Gänsehaut über den Rücken. Also, bei allem, was ihr lieb und teuer war, das wollte sie sich nicht vorstellen oder sogar noch erleben müssen. Es waren ihre ersten Worte seit geraumer Zeit gewesen, endlich schien sie ihre Sprache wieder gefunden zu haben. Sie nahm einen Schluck von ihrem Wasser und blickte ihre drei Jungs an. Sie würden Jesse Blue mit an Bord nehmen. Das konnte ein Spaß werden. Aber ihnen blieb nichts anderes übrig, wenn sie unbeschadet wieder nachhause kommen wollten. Und mittlerweile waren alle reif für ihre eigenen vier Wände, für ihre Zeit.

Doch dieses Mal ließ sich Colt nicht so schnell den Wind aus den Segeln nehmen. Er war da anderer Meinung. Der Cowboy hatte kaum an dem Plan mithelfen können, war in den letzten Wochen eher zum Hausmann umfunktioniert worden, der gekocht und die Wäsche gemacht hatte, während die anderen beiden sich stundenlang den Kopf zerbrochen hatten. Und da hatten sich Saber und April ganz offensichtlich eine kleine Verschnaufpause im logisch Denken gegönnt. Er schüttelte den Kopf und murrte: „Dann setzen wir ihn doch einfach irgendwo im Weltall aus! Was soll daran so schwer sein?“

„Moralisch und ethisch nicht vertretbar. Schlag dir das aus dem Kopf!“, Saber verdrehte die Augen. Einer schoss bei der Bande doch wirklich immer quer. Er hoffte inständig, dass Colt das nur aus Trotz zu ihnen gesagt hatte, aber richtig wissen konnte man es bei ihrem Scharfschützen nie. Ein Blick in das zornige Gesicht des Cowboys genügte Saber allerdings um zu wissen, dass er sich mit diesen Vorschlägen gerade nur Luft verschaffte, weil er nichts tun konnte. Irgendwo musste die überschüssige Energie entladen werden.

Auch April hatte das bemerkt, weshalb sie sich alle weiteren Widerworte verkniff. Colt würde sich schon wieder beruhigen, wenn er alles ausgelassen hatte, was ihn nervte. Nur Fireball hatte das nicht bemerkt. Der Japaner war noch mehr oder weniger dabei, die Informationen zu verarbeiten und Colts Gemurre war da nicht hilfreich. Etwas unbedacht bat er ihn deswegen: „Kannst du einen Moment lang mal den Mund halten? Danke.“

Das hatte in Colts Ohren wieder zu sehr nach Befehl geklungen. Und das vertrug er von Fireball nicht, egal, wie viel von ihm gerade zu sehen war. Ohne Rücksicht auf Verluste verbot er nun seinerseits Fireball den Mund: „Ich halte meinen Schnabel wann’s mir passt und nicht, wenn du grad meinst, meine Stimme würde dich stören. Also ehrlich, Kurzer! Kusch in deine Ecke und spuk dort weiter, Kinderschreck.“

Schon fast ungeduldig wartete Colt nun auf Widerworte von Fireball. Er traktierte ihn mit seinen Blicken, wartete darauf, dass endlich ein Fluch über die durchscheinenden Lippen des Piloten kam. Aber da kam nichts. Colt konnte zusehen, wie Fireball aufstand. Ebenso April und auch Saber.

Fireball stand auf, senkte kurz den Blick und bat um Verzeihung. Danach verließ er die Küche.

„Au!“, Colt fuhr zusammen und rieb sich die getroffene Schulter. Nicht April, wie er erwartet hatte, sondern Saber, hatte ihm einen Fausthieb genau dorthin verpasst, wo es immer besonders weh tat. Düster funkelte er den Schwertschwinger an.

Der ließ nicht lange mit einer Rechtfertigung für den Schlag auf sich warten. Saber setzte sich wieder hin, nachdem er Fireball hinterher gesehen hatte. Übertrieben feinfühlig war Colt nie gewesen, aber das war unterste Schublade gewesen. Saber tadelte den Scharfschützen: „Das war absolut unnötig, Colt. So übertrieben lustig ist es nicht, nur halb da zu sein. Meinst du, ihm macht es Spaß, nichts anfassen zu können und dass jeder durch ihn durchsehen kann?“
 

April hatte nach diesem verwirrenden und anstrengenden Tag bald ins Bett gefunden. Ihre Knochen waren schwer gewesen, doch nun lag sie im Bett und konnte wieder nicht einschlafen. Die Blondine war unglaublich froh darüber gewesen, dass Fireball nach einem schweren Monat endlich wieder sichtbar geworden war. Sie hatten noch einmal Glück gehabt und Fireball nicht für immer verloren. Doch das hatte auch einen schalen Beigeschmack gehabt. Das Kompetenzthema war wieder aktuell geworden und das auch noch nicht reibungslos. Fireball, noch gar nicht wieder ganz sichtbar, hatte es nach zwei Sätzen von Colt bereits wieder vorgezogen, die Wogen zu glätten und erst mal ein bisschen frische Luft zu schnappen. April war aufgefallen, dass der Rennfahrer die Konfrontation mied. Er mied sie nicht nur mit Colt, sondern mit allen.

April kuschelte sich in ihre Bettdecke. Sie versuchte diesen Tag zu verarbeiten, allerdings fiel es ihr nicht leicht. Die Blondine konnte so vieles nicht einordnen. Immer wieder glaubte sie, wieder diesen Hauch auf ihrer Haut zu spüren, als er sie berührt hatte. Eine Gänsehaut fuhr ihr über den Rücken, sobald sie nur daran dachte. Mit Angst hatte er, bis er endlich wieder ganz sichtbar war, immer wieder versucht, ihre Hand zu nehmen. Er hatte sie gebraucht. Doch auch April hätte jemanden gebraucht. Sie hatte ihn nicht halten können. Es schien ewig zu dauern, bis Fireball endlich wieder greifbar und sichtbarer wurde. So hatte sich April an die Kontrollen des Friedenswächters setzen müssen und hatte ihren großen Cowboy sicher in das Königreich Jarr geflogen.

Hier lauerte Ramrod nun seit einigen Tagen in der Umlaufbahn des Planeten, immer darauf bedacht, außerhalb der Sensorenreichweite zu bleiben. Noch war alles ruhig, zumindest im All. Auf dem Schiff war ziemlich alles aus dem Gleichgewicht geraten. Colt zum Beispiel bildete eine unüberwindbare Mauer für alles, was Fireball zu sagen hatte. Es machte keinen Unterschied, ob es ein Vorschlag von dem Piloten war oder eine simple Bitte. Der Cowboy schmetterte alles ab, ließ es einfach abprallen und strafte Fireball somit für die letzten Wochen, in denen Befehle wie selbstverständlich vom Asiaten gekommen waren. Er war fast schon feindselig. Deswegen hatte es Fireball vorgezogen, nur noch das Nötigste zu sprechen. Konsequenz von Colts Taktik war, dass sich der junge Japaner mehr und mehr zurückzog.

Aber das war nicht das Einzige, was sich auf Ramrod geändert hatte. Saber, Colt und April kämpften mit unterschiedlichen, wie auch widersprüchlichen Erinnerungen. Sie waren verschwommen, unwirklich und nicht sonderlich hilfreich, wie besonders Saber immer wieder selbst merkte. Der Schotte war in den nächsten Tagen aufmerksam wie selten, wunderte sich immer wieder über seine eigenen Gedanken und Bilder, die sich in seinem Kopf zu wandeln begannen.
 

Colt stolperte gähnend in den Kontrollraum. Der Tag war anstrengend gewesen, weil wieder nur mit Warten verplempert. Der Cowboy hasste es, wenn er warten musste und ihm die Hände gebunden waren. Das war für ihn schlimmer als ein Tag voll mit Outriderkämpfen und Schlafmangel. Es machte ihm weniger aus als dieses verdammte Däumchen drehen. Und mit genau dieser Ungeduld trat er momentan Fireball gegenüber. Colt setzte sich in seine Satteleinheit, außer ihm war nur Saber im Raum. Das ließ für den spitzfindigen Fährtenleser nur einen Schluss zu, nachdem April schon ins Bett geschlichen war: „Hast du Hui Buh ins Bett gebracht?“

„Nenn ihn nicht so“, genervt verdrehte Saber die Augen. Er sah von seiner Arbeit noch nicht einmal auf. Mittlerweile hatte Saber schon beinahe das Gefühl, Colt würde das sogar Spaß machen. Die kleinen Gemeinheiten, die immer wieder und wie selbstverständlich aus Colts Mund kamen, waren nicht mehr nur ein Denkzettel, sondern vor allem für Colt schon ein kleines Ritual geworden, das ihm Spaß machte.

Nur irgendwann musste auch mal Schluss mit Lustig sein und Saber, der immer noch in der Nacht manchmal von seinen Träumen hochfuhr, wollte endlich wieder Frieden auf dem Schiff haben. Sie waren immerhin alle Freunde. Colt und Fireball waren die besten Freunde gewesen, wenn er sich noch recht daran erinnerte.

Der Cowboy holte seinen Blaster aus dem Holster und fummelte an der Waffe herum. Mit einer Hand fuhr er sich über die Nase, als würde sie ihn jucken, dann gab er Saber schließlich eine Antwort. Aber nur, weil er andere Worte benützte, hieß das noch lange nicht, dass sich seine Meinung deswegen geändert hatte: „Sam kann ich ihn ja schlecht nennen. Nachricht hat er uns schließlich keine da gelassen.“

Saber seufzte tief. Nahm das mit Colt denn gar kein Ende mehr? Als ob er sich fest vorgenommen hätte, den Geisterscherz bis zur Eskalation weiter zu treiben. Nur hatte der Cowboy dabei nicht bedacht, dass die Eskalation, auf die sie dann zusteuerten, eine Versetzung von Fireball sein würde. Der Schotte hatte zu gut im Kopf, wie Fireball auf ihn reagiert hatte, nachdem er wieder aufgetaucht war. Seitdem waren kaum drei Tage vergangen, der junge Hikari war immer noch ein wenig durchsichtig, aber zumindest war er soweit wieder hergestellt, dass er endlich Dinge fassen konnte. Saber hatte oft beobachtet, wie es Fireball zu schaffen gemacht hatte, nichts und niemanden berühren zu können. Niemanden hieß in diesem Fall April und auch der Blondine hatte es zu schaffen gemacht, dass sie den kleinen Wirbelwind nicht spüren konnte. Der Schotte hoffte, dass sich das in den nächsten beiden Tagen noch geben würde und Fireball dann wieder den großen Cowboy steuern konnte. Denn spätestens dann würden sie den Piloten mit vollem Einsatz brauchen. Naja, außer es ginge im Moment nach Colt. Saber blickte zum Scharfschützen auf. Es schien, als hätte der auf Fireball verzichten können. Und das war schlicht und ergreifend völliger Schwachsinn. Es war an der Zeit, dem Freund mit den üblen Umgangsformen ins Gewissen zu reden und endlich das Thema anzuschneiden, das alle hier aus dem Gleichgewicht brachte.

„Ist ja auch so irrsinnig einfach. Colt, hör doch bitte auf, ihn zu ärgern. Das hilft uns nicht im Geringsten weiter.“

„Ich soll aufhören?“, ja war er denn hier im Zirkus gelandet? Er reckte den Kopf zu Saber hinüber und bedachte den mit einem tödlichen Blick. Angegriffen verteidigte er sich. Energisch fuhr er Saber schließlich an: „Ich?! Dann sag du unserem Slimer, er soll sich seine Sprüche verkneifen. Erst, wenn er nicht mehr von mir verlangt, irgendwas zu tun, dann bin ich wieder lieb zu ihm.“

Da musste er wohl oder übel die Arbeit für heute liegen lassen. Saber schloss alle Ordner und Dateien auf dem PC, fuhr diesen herunter und versuchte nebenbei die Zettelwirtschaft von Berechnungen, die in den letzten Tagen ungeahnte Ausmaße angenommen hatte, zu sortieren und auf dem Boden abzulegen. Dann widmete Saber seine ganze Aufmerksamkeit einem weiteren sturen Esel. Ramrod schien von dieser Sorte ja wirklich mehr als einen an Bord zu haben. Der Schotte beobachtete Colt geraume Zeit, ließ sich noch einmal durch den Kopf gehen, was ihm dieser gerade gesagt hatte. Stur und verbohrt, das war ihr Colt. Langsam strich sich Saber mit dem Finger über den Nasenrücken, er musste es einfach tun. Er musste zumindest mit Colt jetzt darüber reden, ansonsten würde er bald dem Wahnsinn verfallen.

Deswegen stand Saber nun auch auf. Er kam auf Colt zu, sah auf den Freund hinab und begann schließlich: „Was nervt dich daran so sehr?“

Zuerst wollte der Schotte herausfinden, was Colt denn wirklich im Augenblick an der Art des Japaners störte. Seit dieser wieder aufgetaucht war, hatte Saber immer wieder Momente, in denen ihm schwindlig wurde und er glaubte, eine ganz andere Welt zische an ihm vorbei. In solchen Augenblicken starrte er den Piloten oft minutenlang an, unfähig, zu begreifen, was los war. Vielleicht ging es auch Colt so. Immerhin war es möglich, dass auch er solche Momente hatte, vielleicht sogar immer dann, wenn Fireball mit ihm sprach. Das würde zumindest Colts übersensible Reaktion auf den Tonfall erklären.

„Ganz einfach“, Colt holte aus dem schmalen Spalt zwischen seinem Sitz und dem Rahmen seiner Satteleinheit ein Samttuch hervor und begann seinen Blaster damit penibel zu polieren. Seine Augen hafteten auf der Waffe, aber seine Haltung und der Gesichtsausdruck waren die Selbstverständlichkeit in Person, als er Saber erklärte: „Er ist der Krümel hier. War er schon immer und wird er auch immer bleiben, wenn’s nach mir geht. Der Geist der vergangenen Weihnacht hat nichts zu melden.“

Irritiert zog Saber daraufhin eine Augenbraue nach oben. Woher nahm Colt nur diese Sicherheit? Saber hatte sie diesbezüglich schon lange nicht mehr. Immer wieder ertappte er sich bei den Besprechungen dabei, wie er Blicke auf Fireball warf und insgeheim sogar darauf wartete, was der zu sagen hatte. Das letzte Wort hatte schließlich immer schon der Captain gehabt, egal, wie einstimmig die Entscheidungen auf Ramrod auch getroffen wurden. Nur wer war der Captain?

Saber verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust und überlegte. Er ging in sich, fand aber keine eindeutige Antwort. Deswegen schielte er zu Colt hinab: „Shinji hat aber Recht mit dem, was er sagt. Teilweise nimmt er mir sogar das Wort aus dem Mund.“

Colt verzog seine Lippen zu einer abfälligen Schnute und gab Saber zu verstehen: „Selbst, wenn er dir Wort für Wort nachplappern würde. Unser leibeigener Geisterfahrer hat nichts zu melden.“

Uneinsichtig war Colts zweiter Vorname. Stur gesellte sich auf Rang drei gleich dahinter. Nein, der Lockenkopf weigerte sich in dem Punkt einfach, etwas anderes als Wahrheit zu akzeptieren. Da war es ihm gleichgültig, ob die Bedenken von Saber oder von ihm kamen. Es war ja nicht so, dass er diese Bedenken nicht wirklich selbst schon gehabt hätte. Überhaupt, nachdem ihm das Kleinbeigeben von Fireball im Grunde genommen nicht gefallen hatte. Er hatte es zeitweise darauf angelegt, dass der Japaner endlich mal explodierte und die Fassung verlor, doch seit er wieder sichtbar war, war nichts dergleichen passiert. Colt verstand das nicht. Er konnte den frechen Piloten momentan so viel ärgern, wie er wollte, alles, was er dafür erntete, waren Abmahnungen von Saber, die ihm eigentlich hinten rum gingen und böse Blicke von April, die ihm da schon mehr Angst machte. Wenn Fireball nicht mitspielte, machte das ganze Piesacken keinen Spaß und Colt wusste nicht, weshalb es sich so seltsam anfühlte. Manchmal glaubte er, eigentlich darauf zu warten, dass Fireball ihm seine Grenzen aufzeigte.

Immer noch streichelte er beinahe über das kalte Metall des Blasters, aber aus seinem Gesicht wich die Selbstverständlichkeit. Saber hatte den Cowboy soweit gebracht, dass er sich nun ernsthafte Gedanken darüber machte, weshalb sich die Situation an Bord manchmal so seltsam und falsch anfühlte. Aber er hatte auf die Schnelle dafür keine Antwort parat.

Die Veränderung in Colts Gesichtszügen war Saber als guten Beobachter nicht verborgen geblieben. Er musste Colt also einen Denkanstoß geliefert haben. Einige Momente wartete er geduldig ab, ob dem Scharfschützen nicht doch von selbst ein paar Dinge einfielen, die hier in den letzten Tagen zwar Routine, aber irgendwie nicht richtig gewesen waren. Aber der Lockenkopf schwieg sich diesbezüglich aus. Deswegen setzte Saber zu einem erneuten Versuch an: „Kommt dir das nicht auch unwirklich vor, was mit uns gerade los ist? Es kann sein, dass ich mich irre, aber ich werde das Gefühl seit Tagen schon nicht mehr los, dass wir hier mitten in einer veränderten Welt leben.“

Da war der Blaster zur Nebensache verkommen. Colt steckte ihn wieder in den Holster und verschränkte nun ebenfalls die Arme vor der Brust. Mit Saber konnte man gut reden, das hatte man immer können, nicht umsonst hatte der Schotte etwas Mentorhaftes an sich. Er schien seine Freunde immer ein Stück des Weges zu begleiten, wie eine unsichtbare Hand, die einen in die richtige Richtung schob. Colt kniff die Augen zusammen und blickte in das leere All hinaus. Er dachte angestrengt nach, versuchte eine Antwort auf Sabers Frage zu finden. Unschlüssig brummte er, als ihm keine brauchbare einfiel: „Der Krümel kann nicht zum Keks mutieren, auch wenn er das möchte.“

Wenn gar nichts mehr ging und Colt keine Antworten oder plausible Erklärungen für manche Dinge hatte, dann musste man sich an etwas halten, von dem man überzeugt war. In dem Fall war es die Überzeugung, dass der Captain der Einheit Ramrod bereits neben ihm stand. Egal, wie erschüttert diese Wahrheit auch gerade war. Es war immer noch besser, als sich irgendwelchen Zweifeln hinzugeben und ratlos in einer Ecke zu sitzen.

Nun lehnte sich Saber mit einem Arm gegen Colts Satteleinheit und stützte den Kopf auf der Hand ab. Wie sollte er ihm das nur wieder erklären, der sture Esel hielt doch tatsächlich an der Meinung fest. Aber was, wenn sie falsch war? So falsch, wie das Gefüge der Mannschaft in den letzten Tagen? Saber wollte es so schnell wie möglich herausfinden, ihm behagte die Situation nicht, weil er langsam aber sicher wirklich zu glauben begann, den Verstand zu verlieren. Er hatte jedes Mal, wenn er etwas anordnete, ein furchtbar schlechtes Gefühl in der Magengegend und ertappte sich dabei, wie er sich als Betrüger fühlte. Als ob er dabei jemanden hintergehen würde. Und das war doch sicherlich nicht richtig. Auch Saber richtete sein Augenpaar nach draußen. Alles war ruhig in den unendlichen Weiten vor dem Königreich Jarr. Zumindest noch bis übermorgen. Man konnte sich nicht vorstellen, wie erbittert die Kämpfe sein würden, auch nicht, wenn man selbst so kampferprobt und erfahren war, wie die Star Sheriffs. Geschick, ein gutes Gespür und die richtigen Befehle zu gegebenen Zeit hatten sie bisher immer vor dem Schlimmsten bewahrt. Aber auch der umsichtigste Captain würde einen Angriff niemals verhindern können oder irgendwann sogar im Kampf sterben. Captain Hikari stand dieses Schicksal bevor. Er wusste es sogar. Saber hegte tiefste Bewunderung für den Piloten.

Schließlich kam Saber von seinen abgedrifteten Gedanken wieder auf das eigentliche Thema zurück. Ihm schwirrte in der letzten Zeit einfach zu viel durch den Kopf, vor allem: „Komm schon, Colt. Willst du mir erzählen, dass es dir etwa nicht so geht? Ich für meinen Teil glaube manchmal, mich an etwas ganz anderes zu erinnern, weiß aber nicht was. Und manche Dinge, die wir mit einer Selbstverständlichkeit sagen und tun, die passen überhaupt nicht dazu. So, als hätte sich unsere Zukunft verändert.“

Immer noch blieb Colt stur, allerdings brauchte er für seine Antworten schon um Hausecken länger als noch zuvor. Colt dachte angestrengt nach. Saber hatte mit seinen Worten durchaus Recht, auch ihm kam alles hier in der letzten Zeit furchtbar falsch vor. Und es war mittlerweile nicht mehr nur die Tatsache, dass ihm der Ton von Fireball gegen den Strich ging, sondern auch diese seltsame Sehnsucht nach Robin, die immer stärker wurde. Sie mischte sich mit Sorge und Angst vor etwas Unbekanntem. Der Cowboy wusste, sie würde zuhause auf ihn warten, dennoch machte er sich Sorgen um die ehemalige Lehrerin aus Tranquility. Dabei war er sich sicher, dass sie gesund war und es ihr gut ging.

Colt eiste seine Gedanken von Robin los und kam wieder auf das eigentliche Thema zurück. Er schüttelte langsam den Kopf, aber nicht, weil er Saber nicht glaubte, sondern weil er es sich selbst kaum glaubte. Stumm stimmte er Saber zu. Eben hatte er sich gefühlt, als wäre die Welt, wie er sie kannte, nicht mehr existent.

„Weißt du noch, was wir alle gemacht haben, bevor wir zu Ramrod gekommen sind?“, der Schotte wusste es leider nicht mehr so genau. Das verunsicherte Saber bis zu einem gewissen Grad.

Scherzend, und wie aus der Pistole geschossen, bekam Saber darauf eine Antwort. Colt grinste ihn nonchalant an: „Dich musste ich ja nicht aus der Pampa herholen…“

Noch während Colt sprach, erstarb sein Lächeln. Was hatte er getan? Der Cowboy zog die Augenbrauen zusammen. Was geschah hier nur? Er wunderte sich über seine Antwort, vor allem über diese Sicherheit und Schnelligkeit, die er dabei an den Tag gelegt hatte. Das war nicht normal, denn im gleichen Augenblick wusste Colt, dass er keinen Schimmer hatte, was wahr und was falsch war. Er konnte sich an ihre eigene Geschichte nicht mehr richtig erinnern. Details verschmolzen zu einem undurchsichtigen, verschleierten Klumpen und offenbar neigten sie dazu, unbewusst andere Dinge zu sagen, als das, was sie wirklich erlebt hatten. Aber hatten sie wirklich erlebt, was sie im Gedächtnis gespeichert hatten?

Saber schmunzelte leicht. Endlich war Colt auf den richtigen Weg gekommen und hatte endlich nachzudenken angefangen. Er lehnte den Kopf noch etwas mehr auf seine Faust und lugte zu Colt hinab. Mit einem gnädigen Lächeln fuhr Saber fort: „Das weiß ich, dass du mich nicht aus der Pampa geholt hast. Aber was hast du wirklich gemacht, Colt? Was habe ich vor Ramrod gemacht?“

„Öh…“, Colt kratzte sich ratlos am Kopf. Wie waren sie überhaupt zu Ramrod gekommen? Wenn der Cowboy jemals daran geglaubt hätte, dass sie wirklich was in ihrer Zeit veränderten, dann hätte er sich so ziemlich alles verkniffen, was er getan hatte. Ihm kam es vor, wie ein totales Blackout. Alles, was vor ihrem Ausflug gewesen war, war weg. Colt wusste es nicht mehr.

Mit einem unsicheren Räuspern machte sich Fireball bemerkbar, als er in den Kontrollraum trat. Er hatte nicht direkt nach den beiden gesucht, hatte sie aber dennoch wie vermutet im Kontrollraum gefunden. Sie standen zusammen und unterhielten sich. Unbehaglich wollte er wissen, als die beiden ihn verdattert ansahen: „Stör ich gerade?“

„Ja! Siehst du doch!“, fuhr Colt den Japaner ungehalten an.

Zur selben Zeit antwortete auch Saber: „Öhm… Nein.“

Die beiden Männer warfen sich jeweils einen verärgerten Blick zu, weil sie beide unterschiedlich geantwortet hatten. Was sollte Fireball jetzt bloß davon halten?

Der Wuschelkopf zuckte kurz zusammen, Colts feindselige Antwort hatte ihn beinahe verschreckt. Er zog den Kopf ein und stolperte sofort wieder Richtung Tür: „Oh… Tut mir leid… Ich geh dann…“

Fireballs Selbstbewusstsein hatte in der letzten Zeit massiv unter Colts Anfeindungen gelitten. Er hatte aufgegeben, noch irgendwas sagen zu wollen. Denn wenn er es tat, so wie eben, wo er nur eine höfliche Frage gestellt hatte, erntete er von Colt böses Blut. Fireball wollte keinen Streit mehr heraufbeschwören, aber anscheinend tat er es, sobald er den Raum betrat.

Saber schnellte in die Höhe und streckte die Hand nach dem jungen Hikari aus: „Warte mal noch einen Moment, Fireball!“

Saber war gerade eingefallen, dass er Colt nun beweisen konnte, dass er mit seiner Theorie nicht so falsch lag. Derjenige, der ihre Welt ins Taumeln gebracht hatte, musste doch die Antwort auf Sabers Fragen alle kennen. Saber wartete ab, bis sich Fireball wieder zu ihnen gedreht hatte. Dann hob er eine Augenbraue nach oben. Aufmerksam musterte er den jungen Spund, als er ihm die Frage stellte: „Sag mal, was hab ich eigentlich gemacht, bevor ich zu Ramrod versetzt worden bin?“

Fireball fuhr sich durch die Haare, dabei kratzte er sich kurz die Kopfhaut. Selbstverständlich und ehrlich gab er den beiden eine Antwort auf die Frage: „Du warst vorher ein Geheimagent bei der königlichen Leibgarde Englands. Frag mich nicht, was du da genau gemacht hast, das war Top Secret und durfte bis dato noch nicht mal Commander Eagle erfahren.“

Etwas verständnislos sah er in die staunenden Gesichter seiner beiden Freunde. Wollten sie ihn jetzt prüfen? Aber weshalb nur? Fireball war an seiner bisher größten Prüfung doch schon gescheitert, weshalb sollte das jetzt noch sein?

Die Information war mit einer Selbstverständlichkeit gekommen, die Saber beinahe die Sprache verschlagen hätte. Er selbst hatte so etwas vom Geheimdienst auch im Kopf gehabt, aber er hatte es für Einbildung gehalten. Nun war er in seiner Annahme bestätigt worden, Saber war sich sicher, dass sie in eine andere Zukunft zurückkehren würden und ihm war auch klar, wer dieses Schiff hier befehligte. Schon beinahe dankbar nickte der Schotte dem Piloten mit dem Bleifuß zu und versprach ihm: „Ich klär nur noch was kurz mit Colt, dann holen wir dich.“

Colt sah dem Krümel staunend hinterher, als dieser nur nickte und den Kontrollraum tatsächlich wieder verließ. Schließlich widmete er seine Aufmerksamkeit wieder Saber. Das eben war total schräg gewesen und Colt wollte nicht so recht glauben, was er gerade gehört hatte. Der Kleine musste sich den Kopf gestoßen haben.

Und auch Saber widmete sich wieder ganz dem Sturkopf in der Satteleinheit neben sich. Der Schotte klang schon beinahe triumphierend: „Glaubst du mir jetzt, dass wir nicht mehr die sind, die wir vor dem Unfall waren?“

„Ja, aber wie…?“, Colt konnte seine Bedenken gerade gar nicht mehr in Worte fassen. Hieß das etwa, der kleine Wuschelkopf war wirklich der Captain? Hatte er Fireball Unrecht getan? Oh Mann, da hatte sich Colt verdammt hart in die Nesseln gesetzt und sich ganz schön was geleistet. Das war genau das gewesen, was Saber ihm hatte sagen wollen. Der Scharfschütze sollte sich entschuldigen.

Saber klopfte Colt aufmunternd auf die Schulter. Auch ihm war endlich ein Licht aufgegangen und alles ergab einen Sinn für Saber. Es gab andere Strukturen auf Ramrod, offenbar hatte es diese in Fireballs Erinnerung schon länger gegeben, vermutlich war es für ihn schleichender gegangen, als für alle anderen. Immerhin betraf es den Japaner direkt, dadurch, dass er zwischendurch nicht einmal existiert hatte, war er wahrscheinlich mit einer völlig neuen Erinnerung wieder zu ihnen zurückgekommen. Saber wusste nun, was er zu tun hatte. Er wies Colt noch einmal an: „Entschuldige dich, Colt.“

Der Cowboy schlug die Hand von seiner Schulter und maulte: „Ja ja ja! Mach ich ja! Ich will ja nicht, dass er heute Nacht mit den Kerkerketten rasselt.“

„Und du machst es jetzt“, Saber beschloss das einfach und stellte Colt diesbezüglich vor vollendete Tatsachen. Er holte Fireball wieder herein und lotste den vor Colts Satteleinheit. Saber zwinkerte Colt zu und sprach mit Fireball: „Colt hat dir was zu sagen.“

Unbehaglich blickte Fireball auf Colt hinab. Der guckte immer noch grimmig aus der Wäsche. Er schluckte: „Was ist los?“

Colt senkte den Blick, kratzte sich am Hinterkopf und nuschelte so unverständlich er nur konnte: „Tutmirleidkommtnichtwiedervor.“

„Was ist?“, Fireball sah zuerst skeptisch zu Colt hinunter. Er hatte kein Wort von dem Scharfschützen verstanden. Dann hob er den Blick zu Saber. Ihm war nicht wohl. Fireball fühlte sich eher, als hätte man ihn gerade wie ein Tier zur Schlachtbank geführt, das konnte nichts Gutes zu bedeuten haben.

„Colt!“, Saber rollte genervt die Augen und forderte ihn mit einem düsteren Blick noch einmal unmissverständlich auf, es ordentlich zu machen.

„Ja, also hör mal“, druckste Colt herum. Immer noch hielt er eine Hand im Nacken. Oh, wie er es hasste, sich entschuldigen zu müssen. Und dann auch noch förmlich. Überhaupt hatte er doch schon ‚Entschuldigung‘ gesagt, noch mehr auf Knien sollte er eigentlich nicht herumrutschen müssen. Colt wählte deswegen einen Weg, den er in solchen Situationen immer wählte. Den indirekten nämlich: „Ich bin satt. Heute wird kein Keks mehr zerkrümelt.“

Dass mit dem Keks zum ersten Mal überhaupt Fireball gemeint war, war dem nicht bewusst. Er hatte sich inzwischen schon an den Krümel gewöhnt und eigentlich auch mit der Tatsache, dass er nicht mehr das Sagen auf Ramrod hatte, abgefunden. Der Japaner hatte den Faden verloren und verstand im Augenblick gar nichts mehr.

Saber bemerkte die vielen Fragezeichen, die Fireball ins Gesicht geschrieben standen. So entschloss er sich, dem Cowboy noch einmal mit Nachdruck Gas zu geben. Er verpasste ihm kurzerhand einen leichten Schlag auf den Hinterkopf: „Hilft dir das auf die Sprünge, Colt?“

Grimmig streckte Colt dem Säbelschwinger die Zunge raus und wandte sich dann an Fireball. Wieder leise, aber dieses Mal verständlich, entschuldigte er sich: „Sorry, Kurzer.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Sannyerd
2009-08-01T21:49:01+00:00 01.08.2009 23:49
muhhhhaaa @colli HIbbel
Von:  collie
2009-07-30T07:47:24+00:00 30.07.2009 09:47
oh Sister - immer wieder genial, das zu lesen. ^^

Aber weißt du was das Beste ist? (an alle anderen: JA, ES KOMMT NOCH BESSER ^^) Das was noch kommt. Ich freu mich schon tierisch drauf. Beide Daumen hoch - einfach nur großes Kino.

*Sister knuddel, weil stolz bin*
Von: abgemeldet
2009-07-16T10:59:21+00:00 16.07.2009 12:59
Ja, ja, hab ich lang nix mehr hören / sehen / lesen lassen! ABER: Ich lese fleißig mit. Nu wollt ich auch mal wieder die Klappe aufreißen.

Also Turbo; großartige Story bis hierher und auch toll geschrieben. Bin richtig gespannt, wie's weiter geht.

LG, Flora
Von:  Misano
2009-07-10T15:40:29+00:00 10.07.2009 17:40
Ein tolles Kapitel und es war auch nur ein Fehler drin, den du vll schon entdeckt hast, denn ich hab dir die Betafassung ja leider nicht mehr rechtzeitig zugeschickt.

Aber die Entschuldigungsaktion war grandios, Schwägerin!!!
Von:  Sannyerd
2009-07-05T23:09:24+00:00 06.07.2009 01:09
nochmal nachgedacht, würd es schade finden wenn die Freundschaft zwischen Colt & Fire daran scheitern würde...die beiden sind halt zu süß zusammen, aber kann colt auch verstehen würde mir auch nix vom krümel sagen lassen ^^

die packen das schon...


knuddel
Von:  Sannyerd
2009-07-05T21:45:33+00:00 05.07.2009 23:45
oh mein gott das ist ja der helle Wahnsinn...
Ich kann das gar nicht in worte fasen, ich bin mal wieder nein mehr noch als davor begeistert!!!!

Nun halte ich es kaum noch aus vor spannung...hoffe es geht schnell 'hm bald weiter...

wow wow wow 1 mit sternchen

knuddel


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