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Every day is writing day
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Grünes Wasser (30.04.10)

Die Stadt schwamm in diesen Tagen in einem weichen Sprühregen, der die Straßen in ein unendliches Goldfischglas verwandelte. Patrick kam zehn Minuten zu früh bei Sørens und Noras Wohnung an. Er stromerte eine Weile auf den wenigen Metern vor ihrer Haustür herum als würde er gleich anfangen die Müllsäcke neben der Tür zu durchwühlen. Von einem unbewussten Gesetz geleitet, streifte er mehrmals an der Tür vorbei und blieb manchmal für kurze Zeit davor stehen, ging dann aber doch weiter. Er erkundete den Inhalt seiner Jackeninnentaschen, warf alte Zettelchen in einen Mülleimer und zählte mit den Fingern die Münzen in den Taschen, ohne diese herauszunehmen und zu kontrollieren. Nach wenigen Minuten war das Ritual vorbei und ein langer Finger mit zu langem glattem Fingernagel durchkämmte die Namen auf dem Klingelbrett.

Seine Fingerspitze war haarbreit entfernt vom eckigen Knopf neben N. Winters / S.O. Crate / P. Salinger, als er nachdenklich verharrte. P. Salinger. Er las seinen eigenen Namen ein zweites Mal; dieses Mal bewusst und nicht nur im Überfliegen. Er schüttelte nicht den Kopf und würde sich nie daran gewöhnen irgendwo zu wohnen. Er kramte nach seinem Schlüssel.

Das Treppenhaus war ein Flickenteppich aus widernatürlich sauberen Böden, Rostflecken und dem Geruch von Chlor, der in den Wänden wohnen musste. Soweit das möglich war. Patrick war sich nicht sicher. Er glaubte irgendwo Ginseng zu riechen, der erdig am Gaumen kratzte. Irden? Erdig.

Patrick war der festen Überzeugung, dass es von elementarer Bedeutung war wie ein Mensch eine Treppe hinaufging. Für andere mochte der Gang oder die Körpersprache Bände sprechen, doch für ihn sagte das Treppensteigen alles über einen Menschen. Viele tippelten eilig die Stufen hinauf und auch hinunter, als liefen sie auf einem gigantischen mongolischen Grill in Staffelungsoptik. Andere erklommen zwei oder drei Stufen gleichzeitig, bis ihre Schultern beinahe die höheren Stufen berührten, und wirkten dabei wie ein städtischer Berggorilla. Patrick hatte schon Bananen auf die letzten Stufen mancher Treppen gelegt. In Gedanken zumindest.

Søren fuhr eher über Treppen, statt zu gehen. Die Sohle seiner Schuhe verschmolzen mit dem Untergrund. Sein Körper schien in Berührung mit zu meisternden Stufen eine unmenschliche Gleitkraft zu entwickeln, die ihn schlurfend dahinschweben ließ wie eine Schnecke auf Speed. Nora tänzelte über Treppenstufen als seien verborgene Tanzschritte in den gesprenkelten Stein oder die Masterungen des Holzes gebannt, die nur sie sehen und befolgen konnte.

Er hatte sie einmal nach dem Abzählreim gefragt, der währenddessen in ihrem Kopf ablief. Sie hatte gelächelt und etwas in sein Ohr geflüstert, das von weißen Füchsen und Brombeerbüschen handelte und in dem Moment aus seinem Gedächtnis verschwunden war, als sie geendet hatte. Doch es war mit relativer Sicherheit wunderschön gewesen.
 

Patrick hörte Nora aus dem Wohnzimmer kichern, als er die Wohnungstür aufschloss.

«Hee, Salinger.» Noras Grinsen strahlte wie überdrehte Straßenlaterne. Sie galt eindeutig als sekundäre Lichtquelle. «Wir haben schon gedacht, du kommst nicht mehr.»

'Ich bin pünktlich' wollte Salinger beinahe sagen, doch es klang schrecklich spießig in seinem Kopf. Er hasste es verklemmt oder übertrieben ordentlich und vor allem berechenbar zu erscheinen. Fast so sehr wie den Umstand, dass Nora ihn dazu brachte als Salinger über sich selbst zu denken.

Noras zu langes Pony graste mit einer Seelenruhe auf ihrer Nasenspitze. Sie lag in das Sofa geschlungen da wie es ein Mensch nur schafft, indem er sehr lange dort liegt und beschließt nicht viel mehr zu tun als sich herumzuräkeln. Søren tat in etwa dasselbe – nur mit ihren nackten Beinen. Die Gesichtshälfte, die Patrick sehen konnte, trug ein bis an die Ohrläppchen durchtriebenes seeliges Grinsen.

«Wann genau habt ihr währenddessen entschieden, dass Hosen überflüssig sind?», erkundigte er sich in einem Tonfall, den er selbst nicht deuten konnte. Er streifte Tasche und Jacke von den Schultern und ließ sie achtlos zu Boden fallen wie alte Schuppen.

«Es erschien adäquat», murmelte Søren in Noras Oberschenkel. Dann verließ ihn seine Aufmerksamkeitsspanne. Er lachte leise durch die Nase als habe er etwas Komisches gesagt. «Irgendwann. Vorhin. Glaube ich.»

«Dass er nicht mehr kommt», kicherte eine Stimme, so leise und schal wie der mögliche Wind in rein theoretischem Laub. Emerson lag ausgestreckt auf dem Esstisch und betrachtete die getäfelte Zimmerdecke als sei sie der Sternenhimmel in einer Sommernacht. Er war im Vergleich zu Patricks bisherigen Begegnungen mit dem seltsamen Nachbarsjunge erstaunlich bekleidet. Die ebene Silhouette seines Körper gegen das regenbestäubte Fenster wellte sich vor innerem Lachen als woge gerade die unglaublichste Pointe des Kosmos hindurch.

«Wer hat Shyguy eingeladen und was hat er und/oder sie ihm und/oder euch gegeben?» Patrick zog einen Stuhl vom Tisch zur Couch hin und ließ sich darauf nieder wie weiches Karamell. Nora wälzte sich mit einer anmutigen Langsamkeit vom Sofa in eine aufrechte Position herauf, während Søren dabei in den Kissen versank ohne sich zu rühren. Patrick fragte sich, ob ihn zuerst die existenzielle Problematik der Notwendigkeit von Sauerstoff, oder aber atmen zu müssen wieder ans Tageslicht befördern würde. Nun ja, Abendlicht. Nachmittagslicht? Spielte es eine Rolle im maßlosen Grau dieser Tage?

«Grünes Wasser», sagte Nora eindrücklich. Es schien in diesem Moment alles in der Welt zu erklären. Sie blies gegen eine dunkle Strähne, die sogleich wieder an Ort und Stelle landete. Ihre Hand mit den knubbeligen Fingern deutete zum kleinen Couchtisch. Eine flache Tonkanne stand auf ihrem passenden Teeofen. Das Teelicht war die einzige Lichtquelle im Raum, realisierte Salinger erst jetzt.

Ehe ihm eine intelligente Antwort einfiel, griff Nora nach einer Tasse und füllte sie. Als seine Gedanken bei 'Ach ja, du bist..' angekommen waren, streckte sie ihm bereits die Tasse mit beiden Händen entgegen wie den heiligen Gral oder.. nun ja, eine Tasse ohne Henkel eben. Ein Becher. Genau. Er schüttelte den Kopf. War es geistig inkonsistent hier drin oder war das nur er?

«Grünes Wasser», wiederholte Nora, als habe er sie beim ersten Mal nicht richtig verstanden.

«Was auch immer», brummte Salinger. Unbedarft gegenüber den Konsequenzen und Gefahren seiner Handlungen (bis diese in Form von verfilzten abgeklärten Endzeitbiestern Türen eintraten, um auf seinem Fußboden zu kampieren), nahm er Nora den Keramikbecher aus der Hand. Ihre Finger waren wärmer als der Becherrand.

Der Geschmack in seinem Mund war in seiner Bitterkeit über jede Genießbarkeit erhaben, jedoch davon abgesehen durch und durch grüner Tee, der zwei bis vierzig Minuten zu lange gezogen hatte. Weiter nichts.

«Das Zeug ist ja abartig.» Grässlich? Fürchterlich? Ungeheuer? Räudig? Eine dieser semantischen Situationen mit zu vielen Optionen. Er ließ theatralisch die Zunge aus dem Mund hängen, obwohl er es gar nicht mal so schlimm fand.

Søren und Nora kicherten nur und verzweigten die Finger miteinander zu einem schrägen Geflecht. Emerson summte, gleichsam wie sich Patrick den Gesang eines Leguans vorstellte. Er überlegte sich, einfach in sein Zimmer zu gehen und den Rest zu belassen wie vorgefunden. Seine klare Sicht schwamm für eine Sekunde und plötzlich stand er zehn Fuß hoch über den Dingen und sah aus der Stratosphäre auf den dämmernden Wohnraum hinab.

Er setzte sich vorsichtshalber wieder hin. Auf einmal vermisste er jeden.

Ein Goldfisch schwamm an der Lampe vorbei durch die Punktstruktur der Decke.

«Dass wir uns getroffen haben», legte Søren einen Arm um ihn, «ist eine ziemlich metaphorische Angelegenheit.»

«Tatsächlich», murmelte Patrick aus dem Augenwinkel heraus glaubte er zu sehen wie sich Emerson vom Tisch aufbäumte.

«Dasselbe Leid mit drei Blickwinkeln vollkommen anders ergriffen und gelöst und zum selben Ziel gekommen, aber mit anderem Ergebnis.» Søren grinste das fiese Grinsen, welches unter keinen Umständen nicht zu mögen war. Er tauchte ab in die Wellen des Couchbezugs. Emersons Gesicht war zu einer Hundsmaske aufgetürmt, die bis an die Decke reichte und glimmende Feuerfäden hinterließ, als er sich langsam im Tanz zu wiegen begann.

«Keinen Schimmer, was das bedeutet», kommentierte Patrick die Schattengestalt auf dem Ikeawohnzimmertisch und Sørens Gefasel. «Aber mit Metaphorik hat das nichts zu tun.»

«Søren will sagen, dass er uns alle sehr gern hat und froh ist uns getroffen zu haben.» Noras wie Espenlaub flüsternde Stimme knusperte sehr nah an seinem Ohr entlang. «Außerdem traumatisiert es ihn vermutlich, dass er nie ganz erklären kann, was eine Metapher ist.»

Der Hundekopf tanzte Emerson wild auf der Nase herum und sein Körper zappelte gezielt umher, während er johlte und Nora ihn zustimmend anheulte wie den Mond und die Sterne und eine gemeinsame Nacht in einer Hängematte. Wundervoll unerreichbar weit entfernt.

«Es sind mehr die Allegorien und Allegoresen und Vergleiche und Symbole und dass ich in einem übereiferten Moment deine Brüste anfassen würde, Nora; wenn es nicht das ausgelassene, aber schmalspurige Vertrauensverhältnis zwischen dir, mir und Sal ruinieren würde.» Søren war aus den Kissen zurückgeflutet und seine Arme lagen um Nora wie ein Halsband.

«Du bist irre und du hast Recht und heb' dir solche Aussagen für Nächte auf, in denen mehr als grünes Wasser im Spiel ist», räkelte sich Nora ungelenk unter seinen Handgelenken.

«Der skeptische Mann spielt gute Karten schlecht aus», grinste Salinger. Er lehnte sich auf die Couch irgendwo zwischen den beiden und nippte an seiner zweiten oder dritten Tasse. Becher. Emerson war ein Himmelskörper des weiten Wohnraums und wälzte sich kichernd auf dem Boden umher.

«Der nachdenkliche Mann fragt sich, ob es überhaupt Karten gibt, auch wenn sie nur Metaphern sind, und ob wir sie – wenn ja – spielen können oder von ihnen gespielt werden.» Es wirkte als wispere Søren weitere Worte in Noras Ohr, während seine Stimme mit Salinger sprach.

«Ich würde euch jetzt bei den großen Geistern schwören lassen, dass wir nichts getrunken haben als grünen Tee», versuchte Patrick sich klar über das Meer in seinem Kopf hinweg zu äußern. «Aber die Unterhaltungen sind gewöhnlich so, dass es auf der anderen Seite überflüssig ist.»

«Selber überflüssig», murmelte Søren.

«Du bist überflüssig», antwortete Nora.

«Ich bin überfluid!», raunte eine bellende Stimme unter dem Wohnzimmertisch hervor.

«Wir sind hypofluid!» Die Stimmen im Raum überschlugen sich und brachen in Gelächter übereinander zusammen.
 

Mit einem Mal ergriff eine Melodie Patrick bei den Gehirnwindungen und zog seine Aufmerksamkeit zu sich wie man Menschen am Kinn ergreift, um sie dazu zu zwingen einen anzusehen. Seine Fantasie sah der Melodie in die Augen und war bereits verloren, nicht mehr imstande sich aus eigener Kraft zu lösen. Der Text des Lieds brach zwischen seinen Lippen hervor als wäre er unter Wasser und müsse Luft ausstoßen, die in zitternden Blasen zur Oberfläche schoss.

«Father can you hear me / this is not how it was meant to be / I am safe and so are you / as for the other's destiny»

Und mit leicht falschem Einsatz fiel Søren ein, um das Lied zum Kanon zu machen, der es war:

«I believe that situations / all depend on circumstance»

«Look away / Look away», sang Nora zwischen beiden hindurch in das Lied hinein und Emerson erhob sich wie ein erwachter Dämon vom Fußboden und verkündete:

«Pictures at an exhibition / played as he stood / in his trance / staring at his inhibitions / all the time believing / that it now came down to nothing but this chance»

Das Gewebe ihrer Stimmen schwang vom Rhythmus des Kanons angetrieben durch den Raum und als es eine weitere Runde vollführt hatte ohne zu zerreißen, mischte sich aus den Tiefen die Schamanin in ihren Gesang und begleitete alle vier Stimmen zugleich; jede einzelne mit einem anderen Ton.

Sie kollabierten gemeinsam und ineinander und einstimmig, um verflochten und atmend zurückzubleiben, wo das Lied endete.

«Wer war die Stimme?», fragte Salinger ohne das Verlangen sich näher zu spezifizieren.

«Die Schamanin in meinem Keller.», antwortete Nora.

«Oh», murmelte Søren. «Du erwähntest da was.»

«Du hast mich eine neopseudopaganische Wunschirre auf Halluzinationsentzug genannt.»

«Sagte ja, du erwähntest da was», gab Søren zurück, bevor er von der Couch hinab auf den Fußboden versank.
 

«Wirst du mir gleich sagen, dass ich in dich verliebt bin», sagte Nora mit demselben vagen Grinsen, das sie seit Stunden nicht abgelegt hatte.

«Vielleicht, weiß nicht. Ich würde gerne», setzte Salinger an, bevor er sich und einem monumentalen Seufzer um Nora auf die Couch vergoss. «Aber selbst in den augenblicklichen Wachzuständen, in denen du mit deiner Liebe über mich herfallen willst, um das zweifelhafte Vergnügen auf den Boden der Tatsachen zu ziehen und endgültig zu begraben, das dir dieser Schwebezustand bereitet. Selbst in diesen Momenten gestehst du dir ein, dass du nur für den mentalen Komfort nicht allein zu sein, in mich verliebt sein könntest.»

«Da habe ich wohl Recht.» Nora verschlängelte sich in ihn und legte ihre Lippen auf seine. Patrick war nun wie am nächsten Morgen zu verquer und aufgekratzt, um festzustellen, wie lange es andauerte, sich anfühlte oder existierte. Er war sich nur sicher währenddessen oder kurz danach eingeschlafen zu sein und am nächsten Morgen nachmittags in seinem eigenen Bett erwacht.

Von Nora, Søren und Emerson war nur das Chaos zurückgeblieben und eine höfliche Notiz, sie seien in der Stadt unterwegs. Seufzend stolperte Patrick über Kissen und Kekspackungen zurück in sein Zimmer und zur unteren Schublade, in der ein Waffenschrank von Putzutensilien aufgereiht lag. Es würde eine herausgeputztes Massaker werden.
 

In seinem Traum war er eine hohe Straße direkt in Luft hinaufgeschritten. Nora war ein grünes Fohlen. Sie stand hoch am Himmel zwischen den Wolken und fragte: «War das über meinen Schwebezustand eigentlich von dir?»

«Weiß nicht.»

«Ja oder Nein?»

«Ich glaube von irgendsoeinem Berliner Geniekind geklaut oder ihren oszillierenden Luftschnapp-Exzessen nachempfunden.»

«Scheiße. Selbst dein Traum ist Plagiat, Salinger.»

«Du bist Plagiat.»

Nora wiehert kichernd, als Patrick aufwachte.



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