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Jack

von

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Jack

Jack
 

„Du lügst, Grosspapa. Ein Rentier kann man doch gar nicht reiten.“

„Wer sagt das?“

„Ich.“

Jack war versucht zu lächeln. Solveig war unverbesserlich. Erst fünf, und schon wiedersprach sie allem und jedem.

Jack wusste, Jon würde nun den Kopf schütteln und mit einfach weitererzählen. Und Solveig würde aufmerksam zuhören, sich bald langweilen und Grossvater dann wiedersprechen.

Es war seltsam, den beiden zuzuhören. Jons Stimme klang rau, aber war dennoch ruhig und sanft. Und Solveigs Stimme war laut, selbstsicher und ein bisschen zu hoch, um überzeugend zu wirken. Und Jack hörte ihr nicht halb so gerne zu, wie Jon. Solveig redete, bevor sie dachte. Sie verstand nicht, wie verletzend sie manchmal war.

„Nun, Peers Mutter dachte gleich wie du. Und obwohl ihr Sohn nicht viel tat und konnte, ausser Lügengeschichten zu erfinden, liebte sie ihn.“

„So wie wir Jackie lieben?“

Jack hörte ein leises Rascheln und fühlte dann die raue Hand des Grossvaters, die nach der seinen tastete. „Sie meint es nicht so. Sie ist dir nicht böse.“ Jon wandte sich wieder an Solveig.

„Nein. Jack ist klug. Peer war es nicht. Denn als seine Mutter ihn auslachte, ging er weg, zur Hochzeit von Ingrid, einer reichen Farmerstochter. Er wollte sie auch heiraten. Und seine Mutter folgte ihm, weil er sich nur blamiert hätte.“

„Aber wenn Jack klug ist, warum sitzt er dann immer nur hier bei dir, anstatt zu arbeiten, wie alle anderen es tun?“

„Weil er nicht arbeiten darf. Genau wie ich. Und bei mir beschwerst du dich auch nicht.“

„Aber du bist schliesslich mein Grossvater.“

Jack hörte wieder ein leises Rascheln, vermutlich neigte Jon den Kopf, um Solveig einen dieser Blicke aus seinen hellen Augen zu schenken. Und schliesslich redete er weiter.

„Auf der Hochzeit wurde Peer ausgelacht, weil alle wussten, dass er bloss ein Nichtsnutz war. Und als er Solveig, die Tochter einer Familie, die erst seit kurzem hier in der Nähe wohnte, zum Tanz aufforderte, lachte sie auch. Schliesslich wusste sie, wer er war.“

„So wie Johanna, als Jackie sie fragte, ob sie ihn zum Johannisfest ins Dorf mitnehmen würde? Und sie gesagt hat, es würde ihrem Ruf schaden?“

Die grosse Standuhr läutete neun, und Jack erhob sich hastig von seinem Stuhl.

„Es ist schon spät, ich gehe schlafen.“

Vorsichtig, den Boden nach herumliegendem Spielzeug abtastend, bevor er den Fuss aufsetzte, suchte er sich seinen Weg durch das hell erleuchtete Wohnzimmer.

Er wusste, er hätte Solveig bitten können, ihn zu führen, aber es war im peinlich. Schliesslich verstand sie nicht, was mit ihm los war. Sie sah nur, dass er nie arbeiten musste, während sie, schon seit sie hier war, immer wieder mithelfen musste.

Und auf dem Weg zur Treppe konnte er hören, wie Jon nun auch Solveig zu Bett schickte. Er würde morgen Abend weiter erzählen. Es würde lange dauern, bis die Geschichte fertig war. Zum einen, weil nie viel Zeit blieb, um Geschichten zu hören, zum anderen, weil Solveig immer wieder unterbrach.
 

***

„Eben, Solveig hat abgelehnt mit Peer zu tanzen. Und Peer ist dann gegangen, um sich zu betrinken.“

„Warum? Jackie ist doch im Zimmer geblieben und hat geweint. Er hat nicht getrunken.“

„Jack ist auch klüger als Peer. Er denkt nach, bevor er etwas tut.“

Jon hielt inne, tastete nach den Händen der beiden Kinder. Jack konnte hören, wie Solveig die Hand immer wieder verschob, um Jon zu ärgern. Jack verstand sie nicht. Jons Hände boten so viel Halt in seiner schwarzen Welt. Aber vermutlich war es für Solveig anders, sie konnte sich auf sich selbst verlassen.

„Und als Peer, betrunken, wie er war, hörte, dass Ingrid sich eingeschlossen hatte, entführte er sie in die Berge, wo er die Nacht mit ihr verbrachte.“

„Das kann doch gar nicht sein, Grosspapa. Wenn sie doch eingeschlossen ist, wie kann er sie dann entführen?“

Jack konnte Jons Schulterzucken spüren, da dessen Hand immer noch in der seinen lag.

„Er konnte es einfach. Peer war zu dumm, um zu merken, dass es gar nicht funktionieren konnte. Aber das nützte ihm nichts, denn als die anderen die Entführung bemerkten, verbannten sie ihn.“

„So wie Jackie?“

„Jack wurde nie verbannt. Er ist freiwillig zu uns gekommen.“

„Aber niemand kommt freiwillig hierher. Niemand.“

„Peer irrte so lange in den Bergen herum, bis er auf drei Milchmädchen traf, die auf einen Troll warteten, den sie heiraten wollten. Er betrank sich mit den dreien und hatte darum am nächsten Tag grauenhafte Kopfschmerzen.“

„Warum wollen die einen Troll heiraten?“

„Weil sie es wollen.“

„Aber warum trinken sie dann mit Peer? Er ist doch für nichts gut?“

„Vielleicht weil ihnen langweilig ist.“

„Aber Johanna hat sich am Johannisabend auch geärgert und gelangweilt, aber sie hat nicht mit Jack getanzt.“

„Was allerdings eher daran liegt, dass ich gar nicht tanzen wollte und schon gar nicht mit ihr. Wir müssen zu Bett, es ist bereits nach neun Uhr Abends. Gute Nacht Jon.“

Jack stand auf, warf dabei beinahe den Stuhl um und verliess nachher hastig den Raum, wobei er sicher zwei oder drei Mal über eines von Solveigs Spielzeugen stolperte.
 

***

„Peer irrte nun weiter durch die Berge, aber weil er immer noch betrunken war und Kopfschmerzen hatte, lief er immer wieder in Felsen hinein.“

„Warum läuft er dann überhaupt herum?“

„Weil er nicht den ganzen Tag sitzenbleiben kann.“

„Aber Jackie sitzt doch auch immer nur hier.“

„Jack ist nicht Peer. Er ist etwas besonderes, genau wie wir alle hier.“

„Bin ich auch etwas Besonderes?“

„Ja, bist du.“ Jons Hände fuhren wieder über den Tisch, griffen nach denen Jacks und Solveig atmete schnaubend aus.

„Warum muss sich Jackie immer an dir festhalten?“

„Weil ich gerne seine Hände halte. Ich merke dann besser, was er macht.“

Kurz schwieg Jon, um dann die Geschichte fortzusetzen.

„Irgendwann schlief er ein, und begann zu träumen. Er träumte von einer schönen Prinzessin, mit prächtigen grünen Kleidern. Sie war die Tochter des Trollkönigs und brachte Peer zu dessen Hallen.“

„Aber das darf sie doch nicht. Peer muss sie doch zuerst seinen Eltern vorstellen?“

„Wer sagt das?“

„Das ist doch logisch. Er ist doch der Mann.“

„Und wenn du zwei Frauen oder zwei Männer hast, die zusammen sind?“

Verblüfft drehte sich Solveig zu ihm um. Jack hatte in der ganzen Zeit, in der Grossvater Geschichten erzählte noch kaum etwas gesagt. Er war jeweils nur derjenige, der die Erzählung durch einen Gute-Nacht-Wunsch beendete.

„Das geht doch gar nicht.“

„Aber Ronja hat gesagt…“

„Nein, hat sie nicht. Sie redet nicht mit dir. Sie mag dich nicht.“

„Sie hat es auch nicht zu mir gesagt. Sie hat es Jill gesagt, in der Küche.“

„Du darfst nicht in die Küche.“

„Also, Peer kam nun in die Halle des Bergkönigs, wo er die Tochter des Trollkönigs heiraten sollte. Peer stimmte zuerst zu, aber nach einiger Zeit entschied er sich anders.“

Jon unterbrach sich, um Solveig die Zeit zu geben, zu wiedersprechen.

„Das kann nicht sein. Jackie hält immer sein Wort. Und er würde keinen Troll heiraten.“

„Ja. Aber Jack ist nicht wie Peer. Peer weigerte sich, aber die Prinzessin war schon schwanger, weil Peer an sie gedacht hatte und Trollfrauen auf diese Art schwanger werden.“

„Und wie werden Menschenfrauen schwanger? Und Jackie würde sicher nicht an eine Trollfrau denken.“

„Ich denke sehr wohl, dass ich eine Trollfrau gewissen anderen Personen hier vorziehen würde.“

„Und wie werden Menschenfrauen schwanger?“

„Menschenfrauen werden schwanger, wenn man sie berührt.“ Jons Stimme war ruhig, aber Jack konnte dennoch hören, wie unbehaglich er sich fühlte, Solveig aufzuklären.

„Aber wie kann Johanna Matthias dann umarmen? Wird sie dann nicht schwanger?“

„Man muss Frauen auf die richtige Art und Weise an den richtigen Stellen berühren, dass sie schwanger werden. Und jetzt geht zu Bett, es ist schon spät.“

Diesmal stand Solveig vor Jack auf und zog ihren grossen Bruder am T-Shirt hinter sich her aus der Küche. Offenbar hatte sie gemerkt, dass Jon die letzten Fragen nur ungern beantwortete hatte.
 

***

„Ich will eine andere Geschichte, Grosspapa. Die hier passt nicht mehr zu Jackie.“

„Warum nicht? Du hast doch gesagt, Jack sei nutzlos?“

„Aber Jackie lügt nicht. Und er trinkt nicht. Und er heiratet ganz sicher keinen Troll.“

Jon, der schon seit sie hier waren, Jacks Hand festhielt, zuckte nur mit den Schultern.

„In Ordnung. Ich werde eine andere Geschichte erzählen. Aber hier wirst du am Anfang aufmerksam zuhören müssen, sonst verstehst du sie nicht.“

„Ich versteh alles.“

„Als Harrys Eltern in der Nacht des 31. Oktobers getötet wurden, brachte Rubeus Hagrid ihn zu Harrys Tante Petunia, seinem Onkel Vernon und deren Sohn, Dudley. Harry war damals erst fünfzehn Monate alt, aber seine Verwandten liessen ihn dennoch immer im Schrank unter der Treppe schlafen und ignorierten ihn fast immer, ausser, wenn er etwas helfen musste, oder eine Dummheit angestellt hatte. Harry stellte viele Dummheiten an, aber er konnte nichts dafür. Er wusste nie, was passierte. Aber immer, wenn seine Tante ihm seine unordentlichen Haare schnitt, wuchsen sie beinahe sofort wieder nach und wenn Dudley ihn verprügeln wollte, konnte er immer fliehen, obwohl Dudley grösser, stärker und schneller war.“

„Dann kann Harry zaubern? Wenn er doch unmögliche Dinge tut?“

„Oder er ist einfach klüger, als Dudley und Petunia.“ Schlug Jack vor.

„Ja, vielleicht. Aber wenn Harry mit Petunia und Dudley einkaufen gehen musste, kamen fremde Leute in komischen Kleidern zu Harry, und gratulierten ihm. Er verstand es nicht, aber Petunia regte sich darüber auf.“

„Warum denn? Er tut doch nichts?“

Jack hörte, wie die Wohnzimmertür geöffnet wurde und zwei Leute den Raum betraten.

„Dürfen wir zuhören? Solveig hat gesagt, du würdest heute eine neue Geschichte anfangen.“

„Selbstverständlich, setzt euch doch. Ronja, kannst du Tee machen?“

„Kann das nicht Jill? Ich trinke ja doch nichts.“

Jack hörte ein entnervtes ‚Meinetwegen‘ und jemand griff nach seiner Hand.

„Komm mit, Kleiner. Du kannst mir helfen.“

„Aber Jackie darf nichts tun. Der weissen Mann hat heute Morgen gesagt, es sei gefährlich.“

„Sei still, Solveig. Jack darf sehr wohl helfen, er ist schliesslich schon gross genug.“

„Aber…“

„Ich sagte, sei still!“

Und Solveig schwieg. Jack konnte nicht umhin, Ronja dafür zu bewundern. Aber viel Zeit dafür hatte er nicht, Jill hatte ihn schon in die Küche gezogen und liess ihn jetzt mitten im Raum stehen, während er in den Kästen etwas zu suchen schien.

„Hier, bring das ins Wohnzimmer, zusammen mit den Löffeln hier. Und dann kommst du zurück und holst die Tassen.“

Jack gehorchte, so gut es ging. Er war noch nie in der Küche gewesen, seit er hier war, und nun hatte er beide Hände voll und sollte so ins Wohnzimmer zurück?

„Geh ein bisschen nach links, dreh dich etwa neunzig Grad und geh dann geradeaus, dort ist die Türe.“

Mit einem Schulterzucken änderte er die Richtung, und kam tatsächlich zur Tür. Vorsichtig suchte er sich einen Weg an Solveigs Spielzeugen vorbei an den Tisch, wo er die Dose und die Löffel, die Jill ihm gegeben hatte, abstellte. Vorsichtig drehte er sich um, suchte einen Weg zurück in die Küche. Es war schwerer als gedacht, vor allem weil er kaum Anhaltspunkte hatte.

„Hey, Kleiner, ich hab gesagt, du sollst wieder zurückkommen, nicht irgendwo herumtrödeln, in Wände laufen und über Spielzeuge stolpern. Eigentlich dachte ich, du seist alt genug, um das zu begreifen. Und ich hoffte, du bist fähig, einen Raum zu finden, der…“

Jill unterbrach sich, als Jack wieder in der Küche stand. „Geht doch. Also, hier, nimm die Tassen und stell sie auf den Tisch. Tee kommt gleich.“

Als nun alle mit einer Tasse Tee am Tisch sassen, sprach Jon weiter.

„Also, Harry Potter war ein Waise, seine Eltern wurden ermordet und er musste zu seiner Tante, wo er unter der Treppe wohnte. Er konnte Dinge tun, die eigentlich unmöglich waren, und auf der Strasse redeten merkwürdige Leute mit ihm. Einige Zeit vor seinem elften Geburtstag fand er einen Brief, der an ihn gerichtet war, aber Vernon, sein Onkel, nahm ihm den Brief weg. Am nächsten Tag kamen noch mehr Briefe für Harry, und Vernon nahm sie ihm wieder weg und nagelte dann den Briefkasten zu. Doch die Briefe kamen trotzdem, durchs Fenster, durch den Türspalt, mit der Morgenmilch und, als Vernon alles vernagelt hatte, schliesslich durch den Kamin.

Vernon beschloss, mit seiner Familie weit weg zu fahren, um so zu verhindern, dass Harry weiter Briefe bekam. Aber in dem Hotel, in dem sie übernachteten, kamen hunderte von Briefen für Harry an, und einen Tag vor Harrys elftem Geburtstag fuhr Vernon ans Meer und von dort mit einem Ruderboot zu einer kleinen Insel, auf der eine windschiefe Hütte stand. Vernon dachte, wegen dem Sturm, der herrschte, würden sie sicher keine Briefe bekommen.

In der Hütte war es sehr kalt und nass, und alle fühlten sich unwohl, aber Vernon war das egal. Genau um Mitternacht, als Harry schon dachte, er würde einen weiteren Geburtstag alleine verbringen müssen, klopfte es an der Tür, und als niemand öffnete, wurde die Tür eingeschlagen, und Hagrid, der Mann, der Harry zu seiner Tante gebracht hatte, trat ein.“

„Und was hat das mit Jackie zu tun?“

„Jon hat doch ganz am Anfang gesagt, du sollst zuhören, sonst verstehst du es nicht. Also hör auf, Fragen zu stellen. Und übrigens ist es schon spät, wir müssen zu Bett.“

Jack hörte, wie jemand, vermutlich Ronja, die eben gesprochen hatte, den Stuhl zurückschob und Solveig mit sich aus dem Raum zog.

Jill sass immer noch da, unbeweglich und ruhig. Jack konnte seine Blicke fühlen.

„Ich versteh‘s doch auch nicht. Solveig wollte die Geschichte, nicht ich. Gute Nacht.“

Jill reagierte nicht, aber seine Blicke blieben an Jack hängen, als dieser den Raum verlies.
 

***

„Hagrid erzählte Harry er sei ein Zauberer und müssen an eine spezielle Zauberschule. Vernon wurde wütend und sagte, dass stimme nicht. Aber Hagrid blieb ruhig und entgegnete, ein solcher Muggel wie Vernon könne Harry nichts verbieten, weil Harry schliesslich einer der besten Zauberer sei, weil er einen Todesfluch überlebt habe, der seine Eltern getötet hatte.“

Jill griff hastig nach Jacks Hand. „Komm, wir machen Tee, dann kann Solveig Fragen stellen, ohne dass sie dich verletzt.“

Aber Jack konnte Solveigs Frage auch in der Küche hören.

„Hat denn Jackie auch einen Todesfluch überlebt? Ist er darum hier?“

Jons Antwort musste er nicht hören. Er kannte sie doch schon.

„Ja, Jack hat auch einen solchen Fluch überlebt. Darum darf er nicht viel helfen, weil sein Körper noch zu schwach ist, wegen den Fluchfolgen.“

Jack zuckte zusammen. Ihn war klar, dass Solveig es so besser verstehen würde, aber es tat trotzdem weh. Jill unterbrach seine Suche in den Küchenschränken kurz und wandte sich Jack zu.

„Hör nicht hin, Kleiner. Sie denkt nie, bevor sie redet. Ich kenn das, ich war am Anfang auch immer nur im Wohnzimmer. Die Ärzte trauen uns einfach nichts zu.“

„Ärzte? Diese komischen Männer, die immer an mir herumtasten und mir mit komischen Lampen ins Gesicht leuchten?“

Jill lachte. „Du weiss nicht, was Ärzte sind? Echt nicht?“ Er drückte Jack wieder eine Dose und fünf Löffel in die Hand, wies ihn an, die Dinge ins Wohnzimmer zu bringen und kochte dann Tee.

„Hey, Kleiner, komm schon, du kennst doch den Weg in die Küche. Ich weiss, dass… Hier, bring die Tassen ins Wohnzimmer.“

Jack grinste leicht, griff nach den Tassen und trug sie zum Tisch. An der Tür hielt er inne, drehte sich zu Jill um, der inzwischen mit möglichst viel Lärm Tee kochte, und flüsterte ganz leise ein ‚Danke‘.

Als Jill endlich allen Tee eingeschenkt hatte, setzte er sich vorsichtig neben Jack, auf den einzigen Platz, der immer leer blieb, egal wie viele Leute um den kleinen Tisch herum sassen.

„Also, Hagrid erzählte Harry, er können Zaubern und müsse darum mit ihm mitkommen, um die nötigen Schulsachen für an die Zauberschule zu kaufen. Vernon meinte, er würde die Sachen nicht zahlen, und Hagrid wurde wütend und hexte Dudley einen Schweineschwanz an.“

„Warum den das? Er hätte doch Vernon verzaubern müssen, nicht dessen Sohn. Das ist doch unfair, Dudley hat doch nichts gemacht.“

„Die Welt ist nicht fair, Solveig. Weder für Dudley, noch für Harry und erst recht nicht für uns. Wir alle wurden für etwas bestraft, dass nicht unsere Schuld war. Und jetzt komm, wir müssen schlafen gehen.“

Ronja erhob sich und zog eine lauthals protestierende Solveig hinter sich her aus dem Raum. Jill lachte leise.

„Es ist immer wieder verblüffend, wie normal wir sind. Ich hätte nie gedacht, in einer solchen Familie zu landen. Trotz Johanna und Matthias, mir gefällt es hier.“

„Warum trotz den beiden? Sie sind zwar nervig, aber sie lassen uns in Ruhe.“

„Aber du tust auch nichts. Du sitzt nur hier. Aber wenn wir draussen helfen, behandeln sie uns wie rohe Eier, sie schimpfen nie und reden immer ganz leise, langsam und vorsichtig mit uns, als ob sie Angst vor uns hätten.“

Jack grinste. Angst vor drei Kindern, die über zehn Jahre jünger waren?

„Hey, Kleiner, ich finde das nicht lustig. Komm jetzt, wir müssen zu Bett, es ist schon halb zehn.“

Und als er sich drehte, um nach Jacks Hand zu greifen, wurde diesem klar, warum Jill so lange brauchte, um Tee zu kochen. Behutsam tastete er sich von Jills linker Hand zu seiner Schulter hinauf, über dessen Hals, und zu seiner rechten Schulter, wo statt einem Arm nur ein leerer Ärmel hing. Jill wartete geduldig, bis Jack wieder nach seiner Hand greifen würde. Er dachte, nun würde Jack sich entschuldigen, dass er es nicht gewusst hätte, und dann wie Matthias lachen und irgendetwas Dummes sagen.

Er riss sich los, packte Jacks Hand und zog ihn hinter sich her zur Treppe. Er hatte keine Lust auf Mitleid.
 

***

„Hagrid ging nun mit Harry nach London, wo er ihn in eine Kneipe, in den Tropfenden Kessel brachte. Die Leute dort waren begeistert, Harry zu sehen und wollten ihm alle die Hand schütteln. Schliesslich wurde es Hagrid zu viel, und er brachte ihn in den Hinterhof der Kneipe, wo er einen geheimen Durchgang zu einer geheimen Strasse, der Winkelgasse, öffnete. Die Winkelgasse war voller interessanter Läden, und Harry wusste gar nicht, welchen er zuerst ansehen sollte.“

Ruckartig erhob sich Jill. „Komm, Kleiner, wir gehen Tee kochen.“

Und Jack wusste, dass die nächste Frage, die Solveig stellen würde, ihm nicht gefallen würde.

„Aber warum kann Harry die Läden sehen, wenn er den Todesfluch überlebt hat? Jackie kann es nicht, das hat der weisse Mann ganz am Anfang gesagt, nachdem er ganz lange an seinen Augen herumgefuchtelt hat.“

„Weil der Fluch, der Jack getroffen hat, anders ist als der, den Harry überlebt hat. Der Fluch, der Harry getroffen hat, war Magie, aber Jacks Fluch nicht.“

Solveig sah Ronja aus grossen Augen an. „Aber was war das dann für ein Fluch, den Jackie überlebt hat?“

„Dein weisser Mann hat gesagt, es sei eine Splittergranate gewesen. Darum hat er auch überall Narben an den Armen.“

In der Küche zuckte Jack zusammen. Er hatte nicht gewusst, dass es einen Namen für dieses Ding gab, das sein Augenlicht geraubt hatte. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn er es nicht erfahren hätte. Denn selbst der grausamste Name könnte die Schmerzen, die Angst und die Ungewissheit nicht in Worte fassen.

„Was ist das, eine Splittergranate? Was hat dieses Ding Jackie getan?“

Solveigs Stimme klang laut und falsch in Jacks Ohren. Er wusste, die Antwort zu hören, würde noch falscher klingen.

„Hör nicht hin, Kleiner. Ignorier sie einfach. Es ist nicht wichtig.“

„Nicht wichtig? Was ist dann wichtig?“

Jill zögerte kurz, als ob er nach Worten suchen müsste. Und während in der Küche Stille herrschte, hörte Jack Jons Stimme weiterreden.

„… und dann gibt es einen ganz lauten Knall, und alles fliegt weg und…“

„Ich sagte, du sollst nicht hinhören, du Idiot.“

„Und wie soll ich weghören? Die Ohren zuhalten? Du weisst doch ganz genau, dass das nicht hilft.“

„Ach, sei still. Dann hör ihnen doch zu. Du weiss es ja besser. Verdammt, Kleiner, vergiss es einfach. Es ist nicht wichtig. Es war nie wichtig. Du musst nicht zuhören. Weder jetzt noch später.“

„Und was muss ich dann? Was könnte wichtig sein, wenn nicht das?“

„… Metallstücke, die herumschwirren und alle Menschen, die in der Nähe stehen…“

„Was wichtig ist? Das hier. Das wir hier sind. Das du hier bist, das wir alle hier sind. Wir haben überlebt, das zählt. Nicht das wie und auch nicht, wie hoch der Preis ist, den wir zahlen mussten.“

„…Jackie hatte einfach das Pech…“

„Verdammt, ich sagte hör weg. Kannst du das nicht?“

„Meinst du, ich will das hören? Es ist verdammt schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, wenn nichts anderes da ist.“

„… aber er weil er weit genug weg stand, hat…“

Jack zuckte erschrocken zurück, als Jill plötzlich viel zu nahe bei ihm war. Er konnte seinen hastigen Atem hören, das Rascheln seiner Kleider, als er noch näher kam, und schliesslich seinen Herzschlag, als er Jack mit seinem verbliebenen Arm umschlang und Jacks Kopf ein bisschen zu fest an seinen Hals drückte.

„Besser so?“

Jack nickte nur leicht, atmete Jills Geruch nach Tee und Seife ein, konzentrierte sich auf seine langsamer werdenden Atemzüge und erwiderte schliesslich die Umarmung.

Jons Stimme drang immer noch aus dem Wohnzimmer zu ihm, aber es war ihm egal. Jill war bei ihm und hatte gesagt, es sei nicht wichtig.

Und Jack wusste, dass er recht hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Kilala-
2008-12-20T13:39:13+00:00 20.12.2008 14:39
Hey ^___^~
Hab deine FF mit einem Mal verschlungen... Die ist echt toll. Am Anfang etwas ungewohnt zu lesen, aber sobald man sich an den Aufbau gewöhnt hat, ist man wie gefesselt.
lg ~Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ~


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