Der Anfang vom Ende
Es war so weit ... Die Kreuzigung Jesu würde in Kürze stattfinden.
Ich konnte es immer noch nicht richtig glauben, oder besser gesagt wollte ich es einfach nicht wahrhaben!
Heute würde er alles hinter sich lassen ... Heute würde er uns alle verlassen ... Heute würde er mich verlassen ... für immer ...
Aber warum? Warum wollten sie ihn mir wegnehmen? Was hatte er so Schlimmes verbrochen? Er hatte doch niemandem Leid zugefügt! Er wollte nur den Frieden; das Beste für die Menschen. Er war stets unbeirrt seinen Weg gegangen. Was war denn daran falsch? War dieses Verhalten so ein schwerwiegender Fehler, dass man dafür sogar mit dem Leben bezahlen musste? Das Gesetz arbeitete also für das Wohlergehen der Menschheit. Ach, welch Ironie!
Wieder mitten im Geschehen, blickte ich in die Richtung, in die plötzlich alle Köpfe sich richteten.
Jesus stand dort, im Zentralpunkt der Aufmerksamkeit, mit leerem Blick in die Ferne, dabei das schwere Kreuz haltend. Schritt für Schritt ging er vor, unzählige folgten ihm. Man sah, wie schwach er schon war durch das Tragen des riesigen Holzkreuzes, denn er musste wiederholt kurz stoppen, um sich zu regenerieren. Schwerfällig schritt er weiter, bis er bei mir ankam und unsere Blicke sich trafen. Er sah mich mit erschöpften, aber aufmunternden Augen an, bevor er zu Boden sah und sich wieder auf den Weg machte ... auf den Weg zu seinem Ende.
Voller Melancholie sah ich ihm hinterher, und meine Beine folgten ihm wie von selbst. Mein Blick starr geradeaus zu ihm, sah ich paralysiert, wie Simon ihn von seinem voluminösen Kreuz entlastete.
Mein Blickfeld schattete sich enorm ab - um uns herum wurde alles schwarz.
Er ging weiter, und ich folgte ihm, egal wohin er mich führte ... Ich würde ihm bis zum Ende folgen ...
Kein Gesichtsmuskel zuckte, als man ihm die Nageln in seine Handgelenke schlug. Ich kniff meine Augen fest zusammen, konnte das nicht mehr mit ansehen. Auch so spürte ich bei jedem Schlag den stechenden Schmerz am eigenen Leib. Ich litt mit ihm, jede Sekunde. Aber ich dachte nicht daran, vor den Schmerzen zu fliehen; dachte nicht daran, ihn mit seinen Qualen und seiner Pein allein zu lassen. Ich würde alles ertragen ... einzig und allein für ihn ...
Die Menschenmenge nahm ab, nachdem alles vorbei war. Alle verließen den Ort, nur ich blieb stehen, rührte mich keinen Millimeter und starrte wie gelähmt mit leeren Augen zu ihm. Das Blut rann immer noch über seinen starren Körper herab. Sein Blut. Leblos hing er nun dort, alles Leben war aus seinem Körper gewichen, er war tot. Doch wenn man ganz genau hinsah, konnte man auf seinem Gesicht etwas merkwürdig Befreiendes erkennen ...
„Maria, kommt Ihr?“, fragte mich eine weitere Jüngerin Jesu, die in der ganzen Zeit neben mir gestanden und versucht hatte, mir beizustehen. Vergeblich.
Minuten verstrichen, bis ich ihre Worte vernahm, dabei immer noch den am Kreuz hängenden Mann fixierend. Ich schüttelte geistesabwesend meinen Kopf. „Geht ruhig vor! Ich möchte noch kurz alleine sein ...“, ich hörte, wie auch ihre Schritte sich stumm von mir entfernten.
Stille. Stille, die mich von innen zerfraß. Stille, die mich sowohl seelisch als auch physisch zerstörte. Meine Knie gaben nach, ich sank auf den kalten Boden. Tränen des Schmerzes, der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit stiegen in meine Augen, die ich kaum bemerkte. Nachdem die erste Träne sich den Weg über meine Wangen herunter bahnte, folgten mehr und mehr ... Ich schmeckte das Salz dieser Flüssigkeit, ließ diesen vertrauten Geschmack, der seit Tagen mein treuer Begleiter war, auf meiner Zunge zergehen.
Die Frage, die mich währenddessen immer wieder einholte, war dieses „Warum?“. Warum musste er so hart bestraft werden? Wo war denn nun der liebe Gott, von dem Jesu immer sprach? Warum half der Herr seinem eigenen Sohn nicht und schaute einfach nur von der Ferne seelenruhig zu?
„Warum?“, ein niederschmetternder Schrei entwich meiner trockenen Kehle. Mutlos ließ ich mich bäuchlings zu Boden fallen, lag zusammengekauert auf dem Boden, direkt unter seinem Kreuz. Meine Finger krallte ich in die inzwischen feuchte Erde hinein. Erst in diesen Moment bemerkte ich, dass es angefangen hatte zu regnen. Ich wälzte mich auf den Rücken und blickte starr zum düsteren Himmel empor.
Weinte der Herr etwa? Ich lachte voller Verbitterung. „Es ist zu spät ... viel zu spät, um noch Reue zu zeigen ... Ich werde dir niemals verzeihen ... niemals, dass du ihm nicht geholfen hast ...“, flüsterte ich lautlos und schloss meine Augen. Der Regen, der immer stärker wurde, prasselte auf meinen Körper herab ...
Nun gab es keine Hoffnung mehr. Jeder Sinn, jeder Zweck, jedes Ziel, jeder Wille, jegliche Bedeutung dieses nun wertlosen Lebens sind mit ihm gestorben. Ich dachte nicht daran, wieder aufzustehen. Was brachte das auch? Wenn ich wieder aufstehen würde, hieße das, dass ich wieder anfangen würde zu leben. Wozu denn, nachdem er nun nicht mehr bei mir war? Es war vorbei ...
Ungewiss darüber, wie lange ich im unruhigen Schlaf gelegen hatte, wurde ich von einer sehr vertrauten Stimme aufgeweckt, die ich auch aus einer vielköpfigen Menschenmenge erkannt hätte. „Maria Magdalena!“ Ich öffnete meine Augen etwas schwerfällig. Aus den Augenwinkeln vernahm ich, dass das große Kreuz in der Mitte in goldenes leuchtendes Licht getaucht war. Sofort verschwand die Mattigkeit und Gleichgültigkeit; ich setzte mich zeitgleich auf und sah hoffnungsvoll zu seinem Kreuz. Meine Augen weiteten sich überrascht, fingen an, nach langer Zeit wieder lebendig zu glänzen.
Jesus hing immer noch am Kreuz, doch er glühte hell, war von seinen Wunden geheilt und scheinbar wieder ins Leben zurückgekehrt! Er schenkte mir ein sanftes Lächeln, bevor er sich leicht vom Kreuz befreite und auf mich zuschwebte.
Ich fragte mich ernsthaft, ob ich nun an Halluzinationen litt. Das konnte doch nicht wahr sein, was sich gerade vor meinen Augen abspielte! Jesus war gestorben! Ich hatte es doch mit eigenen Augen mit angesehen, dass das Leben endgültig aus seinem Körper gewichen war! Nein, meine Sinne spielten mir gerade einen gewaltigen Streich!
Sein gesamter Körper glühte golden, verlieh ihm gottgleiche, unmenschliche Züge. Nun stand er vor mir, kniete sich zu mir herunter und strich sanft über meine Wange. Ich spürte seine warme Hand wirklich, so unmöglich es auch schien! Seine Berührung war göttlich, und zugleich menschlich. Ein warmes, beruhigendes Gefühl durchströmte jede kleinste Faser meines Körpers. Es war wie immer, wenn er mich berührte. In diesen Moment wusste ich, dass dies kein Traum war, kein Trugbild und auch keine Halluzination. Alles geschah in unser realen Welt! Vielleicht war ich auch verrückt, dies wirklich so wahrzunehmen, doch das war mir in diesem Augenblick gleichgültig. Ich spürte ihn und war selbst der Überzeugung, dass er wirklich vor mir stand. Alles andere zählte nicht ... Glücklich schloss ich meine Augen und gab mich seiner Berührung einfach nur hin, dachte nicht mehr länger, sondern ließ mich nur noch von meinen Gefühlen, meinen Emotionen und Empfindungen leiten.
„Bitte sei nicht traurig. Es geht mir gut, nun bin ich glücklich ... Ich bin für euch gestorben und bereue nichts! Ich würde es jedes Mal wieder tun, also bitte mach dir keine weiteren Gedanken darüber.
Nun bin ich endlich dort, wo ich hingehöre, nämlich an der Seite meines Vaters, und zugleich wache ich über euch allen. Du darfst den Herren nicht verachten, denn er ist immer bei mir gewesen ...
Behaltet bitte immer in eurer Erinnerung, was ich euch gelehrt habe, und vergiss niemals: Ich bin immer bei euch und werde euch beschützen, für alle Zeiten ...“
Als ich meine Augen wieder öffnete und ihn ansehen wollte, war er plötzlich spurlos verschwunden!
„Jesus?“, rief ich unsicher und linste zum Kreuz. Er hing leblos dort, nichts hatte sich verändert.
Ich lächelte zuversichtlich. Die Zweifel waren nun resolut beseitigt. Nein, das war keine Einbildung gewesen. Er hatte mir neuen frischen Lebenswillen eingehaucht. Optimistisch blickte ich zum Himmel. Es hatte aufgehört zu regnen, und hinter den Wolken erschien die warme, lachende Sonne und spendete mir neue Energie für ein neues Leben. Lächelnd sah ich zu der gestorbenen Hülle Jesu, bevor ich umkehrte und meinen Weg entschlossen weiter beschritt.
Er war wieder da, oder treffender ausgedrückt: Er war nie weg gewesen. Ich wusste es, ich spürte es ... Er hatte uns nie verlassen. Er hatte mich nie verlassen und würde bei mir bleiben ... bis in alle Ewigkeit ...