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One-Shot Sammlung

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Grau

Autor: fruitdrop

Disclaimer: Diesmal gehörts sogar mir!
 

Datum: 14. Juli 2004

Ort: Ein kleines Städtchen an der Schweizer Grenze
 

Grau
 

Der Himmel über mir ist grau. Die Pflastersteine unter meinen nackten Füßen sind grau. Die Häuser links und rechts von mir haben diesen Grauton. Alles scheint irgendwie grau zu sein, selbst die Menschen. Es ist, als würde ich in einer Stadt aus gestorbenen Träumen umherwandeln. Wie unter Toten. Grau. Die meisten Menschen laufen schnell, haben es eilig. Sie tragen schwarze Aktentaschen unter den Armen, ihre grauen Anzüge sind glatt gebügelt, die Bügelfalte ist penibel gerade. Oder es sind Mütter mit kleinen Kindern, denen sie immer wieder das Röckchen zu Recht zupfen und die nicht zum Brunnen dürfen, weil sie dreckig werden könnten. Gestorbene Träume.
 

Was sie wohl gerade denken? Der Bettler, vorhin auf der Brücke, hat etwas in einer fremden Sprache zu mir gesagt. Ich hab es nicht verstanden, aber es hat sich freundlich angehört. Ich habe ihm nicht geantwortet. Was er wohl denkt?
 

Die junge Mutter, die mir mit einem Kind auf dem Arm und zwei vollen Einkaufstaschen im anderen entgegenkam. Sie hat mich nicht bemerkt, sie wirkte gestresst, das Kind quengelte. Ob sie daran dachte, was sie ihrem Mann zu Abend kochen sollte? Oder ob sie sich über die Steuererklärung Gedanken gemacht hat? Was hatte sie in ihrer Jugend für Träume? Ist es das, genau das, was sie schon immer wollte?
 

Dann waren da diese Inder. Hier in der Stadt gibt es eine Menge Inder. Sie pfeifen und gaffen immer den Mädchen hinterher. So auch jetzt. Ich fühle mich unwohl unter ihrem Blick. Was sie wohl denken? Sehen sie in einem deutschen Mädchen den Schlüssel zu Freiheit und Wohlstand? Ich laufe schnell weiter.
 

Der graue Boden unter meinen nackten Füßen ist noch warm. Die Gitarre liegt schwer auf meinen Schultern. Heute Nachmittag hat es gewittert. Sehr heftig. Der Donner knallte wie Bombeneinschläge. Krieg. Gestorbene Träume. Tod.

Und alles ist grau.
 

Auf einer Bank sitzt ein Mädchen. Ein bisschen älter als ich selbst. Sie blickt hinauf in die grauen Wolken. Ihr Gesicht ist traurig. Alles an ihrer Haltung drückt Trauer aus. An was denkt sie?

Sie seufzt, wendet ihren Blick auf die Pflastersteine. Starrt durch sie hindurch zum Mittelpunkt der Welt. Ihr Fuß scharrt nervös über den Boden, sie beißt sich auf die Unterlippe. An was denkt sie? Wartet sie auf jemanden? Gibt es überhaupt noch etwas, auf dass es sich lohnt zu warten? Das Mädchen wendet ihren Blick wieder in die grauen Wolken.
 

Graue Tauben fliegen über graue Schornsteine. Ein Kind weint; sein Eis ist auf die grauen Pflastersteine gefallen. Es rennt zu seiner Mutter, sie tadelt den kleinen Jungen. Warum er so schusselig sei und so weiter. Das kleine Kind weint noch mehr. Noch ein gestorbener Traum mehr.
 

Ich gehe weiter.
 

Eine alte Frau füttert Tauben mit Brotkrumen. Ein kleines Stückchen entfernt von ihr steht ein alter Mann und lächelt abwesend die Tauben an. Sie sind wohl verheiratet. Er stützt sich auf einen kunstvoll geschnitzten Gehstock. Die alte Frau wirft weiter Brotkrumen. Graue Tauben picken sie auf.
 

Alte Träume, ausgeträumt.
 

Dem alten Ehepaar gegenüber stehen ein paar Jugendliche und unterhalten sich. Fast alle haben dunkle Augenringe, sie wirken müde. Ihre Unterhaltung scheint nicht lustig zu sein. Keiner scheint glücklich zu sein. Ein ganz in schwarz gekleideter Junge tippelt unruhig hin und her. Ihre Gesichter sind blass, ungesund. Keiner Lacht.
 

Junge Träume, gestorben.
 

Meine nackten Füße machen kaum ein Geräusch auf dem warmen Boden. Es ist Sommer, Schwimmbadzeit. Es sind viele Menschen hier, in der Stadt. Laufen gehetzt von einem Termin zum anderen. Bummeln durch die Straßen von Geschäft zu Geschäft, immer darauf bedacht, die Oma, das 5-jährige mit der Puppe im Kinderwagen und den eigenen Kinderwagen mit dem ganz kleinen nicht aus den Augen zu verlieren. Alles wirkt gehetzt.
 

Eine junge Frau in teuer aussehendem grauen Hosenanzug, Einkaufstasche in der einen und Handy in der anderen Hand läuft in schnellem Tempo zum Parkplatz auf dem ihr Auto steht. Ein kleines, graues Auto. Sie läuft schneller als alle anderen. Schiebt sich durch das Gewühl aus Kindern, Omas, Opas, Eltern. Entschuldigt sich nicht, wenn sie jemanden anrempelt oder zur Seite schiebt.
 

Träume, die noch in Erfüllung gehen können.
 

Immer noch machen meine Füße kein Geräusch. Es ist laut und doch merkwürdig still. Denn jeder lebt in seiner eigenen Welt, am anderen vorbei. Allein. Und doch unter Menschen. So nah und doch so weit entfernt.
 

Zwei junge Banker laufen im Gleichschritt nebeneinander her. Ihre Hosen sind penibel gebügelt, ihre Hemdärmel hochgekrempelt, die Krawatte gelockert. Einer gestikuliert wild mit den Händen, versucht dem anderen etwas zu erklären. Er scheint es aber nicht zu verstehen. Sie laufen weiter, schnell.
 

Es ist warm. Der Boden ist warm, die Luft ist warm. Und doch scheint eine Eiseskälte über der Stadt zu hängen. Die Luft wirkt drückend. Wahrscheinlich wird es heute noch einmal gewittern. Von Osten her schieben sich wieder dicke, schwarze Wolken über die grauen Dächer der grauen Stadt.
 

Ich passiere eine Brücke. Am Rand sind Kerzen aufgestellt. Rote. Die stundenlang brennen. Friedhofskerzen. Unter mir rauscht ein kleiner Bach. Schaulustige stützen sich am Geländer auf und gaffen. Es gibt nichts mehr dort zu sehen, die Kerzen brennen schon drei volle Tage. Aber sie glotzen trotzdem. Die Perversität des menschlichen Gehirns.
 

Zerstörte Träume, geflohen aus zerstörten Seelen.
 

Ich laufe weiter. Es ist nicht mehr weit.
 

Ein Bus hält an der Straße. Menschen steigen aus, immer mehr, immer mehr. Sie füllen die Straßen mit ihrem Gelächter. Es ist ein ausländischer Bus, der Touristen in unser graues Städtchen bringt. Sie strecken sich, müde von der langen Fahrt.

Die meisten sind alt, haben wahrscheinlich schon Enkelkinder. Sie bringen noch mehr grau in die Stadt. Graue Straßen, graue Häuser, graue Tauben und graue Menschen.

Doch ein paar junge sind auch dabei. Sie lachen, erzählen Witze in einer fremden Sprache. Ich kann sie nicht verstehen, aber ich sehe, dass sie glücklich sind.
 

Der Boden vor meinen Füßen wird nass. Große, nasse Flecken. Schwer landen die Tropfen auf meinen Schultern, meinen Haaren. Es riecht nach nassem Teer, nach Sommer. Und dennoch ist es dunkler geworden. Die Straßenlaternen gehen an. Die dürften sich wenigstens freuen, haben sie doch jetzt ein bisschen mehr zu tun.
 

Ich erreiche mein Ziel, kurz bevor es richtig anfängt zu regnen. Ein Donnerschlag knallt durch die Straßen. Einige bleiben erschrocken stehen, schütteln kurz den Kopf und laufen mit hochgeschlagenem Kragen weiter.
 

Ich bin im Trockenen. Hier ist der Boden kalt. Keine Sonne hat ihn erwärmt. Ich laufe schnell die Treppen hoch. Dann bin ich zu Hause.
 

„Bin daheim!“
 

Keiner antwortet.
 

Denn die Wohnzimmer dieser Stadt sid genauso grau wie ihre Dächer und Tauben.
 

~*~
 

vielleicht hats jemandem gefallen, der darf mir dann gerne ein kommentar hinterlassen. ist aber kein muss. hauptsache, es wurde gelesen.
 

fruit



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Rhoca
2009-05-11T19:43:02+00:00 11.05.2009 21:43
Die Geschichte ist genial!! du hast echt Talent und jetzt nachdem ich eine doch eher traurige Geschichte (auch wenn sie doch ein hoffnungsvolles ende hatte) von dir lese muss ich sagen das mich dein schreibstil irgendwie an Dirk Bernemann erinnert wenn auch nicht so krass!^^ der schreibt auch so etwas in der Art.

Ich fand an der Story vor allem dieses immer wieder kehrende Gefühl in Form der Farbe grau sehr schön dargestellt und die Worte "gestorbene Träume" die sich auch immer wiederholten haben das noch sehr schön untermalt! die Geschichte hat mich sehr zum nachdenken gebracht und ich werde die anderen auf jeden Fall noch lesen!^^

glg die Rhoca
Von: abgemeldet
2008-11-05T16:36:38+00:00 05.11.2008 17:36
Mir hat besonders das ganze grau gefallen, also dieses wiederspiegeln der gefühle in der farbe grau - ich bin sehr beeindruckt, es ist so wahr, was sehr traurig ist, aber da am ende ein lichtblick kam musste ich nicht traurig aus der geschichte gehen - danke dafür!

werde auch gleich weiterlesen ;)

lg, susu
Von: abgemeldet
2008-05-21T14:51:38+00:00 21.05.2008 16:51
Es ist wirklich beeindruckend, wie du diese ganze Geschichte schreibst. Diese ganzenEindrücke, die du genannt hast, diese Gleichgültigkeit der Personen kam wirklich richtig gut durch und na ja es lief mir teilweise kalt den Rücken runter, oh man...
Na ja aber du hast an sich schon Recht mit dieser Sicht, die ganze Welt ist kalt und eigentlich lebt jeder für sich, das ist wirklich schrecklich -.-
Und, dass auch letztendlich niemand Menschliches im Haus war, oh man, schrecklich, diese Ruhe T.T
All diese verlorenen Träume, es ist schrecklich seinen Traum zu verlieren...
Die Szene dann mit dem Hund, >.< total niedlich! Und das hat dann das leere Haus auch noch ausgefüllt, ach ja, das brachte zum schluss echt noch mal ein Glücksgefühl!!!

Ja zu dem Schreibstil brauche ich ja nichts sagen, ich liebe den ja sooooooooooooo xDDD
*knuddel*
mach weiter so, du schriebst echt toll^^

lg deine Uchi


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