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Swan

von

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Freunde bleiben?

Ich warte noch eine ganze Weile, bis ich wieder bei Hector anrufe. Einerseits, weil nach meinem Telefonat mit Sammy noch nicht einmal eine Stunde seit meinem vorigen Telefonat mit ihm vergangen ist und ich mich ihm nicht aufdrängen möchte, wo er doch so freundlich ist. Und zweitens, weil ich mich wohl auch nicht so richtig traue. Ich muss erst einmal die Worte finden. Dass ich dachte, ich wäre in Nathan verliebt, aber gemerkt habe, dass ich es doch nicht bin, und vor allem, dass ich ihn aus diesem Grund geküsst habe, nicht aus Versuchsgründen oder zum bloßen Herumspielen. Mir ist wichtig, dass Hector als ein Freund von Nathan das weiß, da man sonst sehr schnell dazu neigt, in Verteidigungsposition zu gehen und den anderen zu verurteilen, auch wenn man ihn noch nicht besonders gut kennt oder eben gerade deswegen.
 

Abends habe ich mich soweit gesammelt, dass ich erneut zum Telefon greife. Ich rufe wieder bei Hector an.
 

„Hector Turner.“, sagt er. „Bist du das, Olivia?“ Er hat sich offensichtlich meine Nummer gemerkt, gutes Gedächtnis.
 

„Genau. Hallo.“, sage ich etwas dümmlich. „Ich rufe... ich rufe natürlich wegen Nathan an.“
 

„Wegen Nathan? Hat sich denn in den letzten Stunden etwas geändert?“, fragt Hector leicht verwundert.
 

„Nicht direkt. Mir ist nur etwas klar geworden.“, sage ich langsam. Ich hole tief Luft und weiß nicht, wie ich den Satz beginnen soll. „Ich dachte... ich war mir eigentlich sicher... ich dachte, ich hätte mich in ihn verliebt. Wieder. Wie damals.“ Es ist seltsam und ungemein schwierig, das einem Fremden zu sagen. Und gleichzeitig ist es auf gewisse Weise auch leichter, als es einer Freundin zu sagen. Man fürchtet nicht, beurteilt zu werden, mit Ratschlägen überhäuft zu werden oder neugierig ausgefragt zu werden. Es wird einfach nur angenommen. „Nur... ich war so fest darauf eingestellt, ich habe das Gefühl eher aus Gewohnheit angenommen. Ich wollte früher so gerne einmal mit Nathan reden, das hätte mir damals schon gereicht, und nicht einmal das habe ich geschafft. Und jetzt, wo ich wieder mehr Selbstbewusstsein habe, dachte ich einfach: jetzt kann ich es. Ich kann auf ihn zugehen, ich habe den Mut dazu, und ... entschuldige, dass es abschätzig klingt... ich dachte mir, ich kann mir jetzt nehmen, was ich will. Ich habe einfach einmal auf mich geachtet, und auch wenn du mich nicht gut kennst, früher habe ich das selten getan.“
 

„Ich verstehe es gut, Olivia.“, unterbricht Hector. Dass er meinen vollen Namen ausspricht, löst ein seltsames Gefühl in mir aus. Kein Negatives, auch wenn es mich an früher erinnert, an die schlechte Zeit. Es gibt mir eher das Gefühl, dass ich noch Fehler machen darf, einmal unsicher sein darf. „Es klingt nicht egoistisch. Aber das hast du mir doch alles schon gesagt, in anderen Worten.“
 

„Du hast Recht, ja. Ich wollte es nur noch einmal klarstellen. Was ich eigentlich sagen wollte, ist... ich habe mich nicht in ihn verliebt. Ich habe Nathan gern, ich schätze ihn absolut. Er ist einer der Menschen, die es einem besonders leicht machen, sie zu würdigen und ihnen Respekt entgegenzubringen.“
 

„Ich weiß, ich kenne ihn.“, sagt Hector und lacht ein bisschen. „Olivia, du brauchst keine Schuldgefühle zu haben, weil du dich nicht verliebt hast. Und auch nicht, weil du das fälschlich angenommen hast. Wo Nathan sich vor Gefühlen fürchtet, nimmst du sie vielleicht zu freudig an. Du greifst nach der Chance, weil du es inzwischen gelernt hast, und er versteckt sich vor ihr, weil er von einem Mädchen erfahren hat, dass es angenehmer gewesen wäre, eine Beziehung gar nie zuzulassen, als dass sie auf diese Weise endet.“
 

„Danke, dass du mir keinen Vorwurf machst.“, sage ich ehrlich. „Obwohl du ein guter Freund von ihm bist, bleibst du objektiv.“
 

„Weil ich mir durch das, was du mir von dir erzählt hast, ein Bild von dir machen konnte. Aber warum hältst du es überhaupt für schlimm? Weil du ihn trotzdem geküsst hast?“, möchte er wissen.
 

„Ja. Wenn er nichts von mir will, ist es nicht so schlimm, aber falls doch und ich ihm falsche Hoffnungen gemacht habe... dann habe ich ihn auch verletzt. Auch wenn es keine Absicht war. Wenn er noch tiefer fällt, vielleicht kann er sich nicht mehr aufrichten...“
 

„Olivia... ich glaube, ich kann es dir sagen, ohne dass du verletzt bist. Nathan ist auch nicht in dich verliebt.“, sagt Hector ruhig.
 

Ich hätte erwartet, dass so eine Information, auch wenn ich selbst für Nathan doch außer freundschaftlichen Gefühlen nichts empfinde, mich trotzdem berühren müsste. Aber ich fühle nichts als Erleichterung. „Oh, Gott sei Dank.“, stoße ich hervor. „Ich weiß nicht, wie ich das sonst wieder in Ordnung gebracht hätte.“ Dann halte ich kurz inne. „Warum meldet er sich dann eigentlich nicht mehr?“
 

„Er...“ Hector scheint kurz zu überlegen, was mich beunruhigt. „Ich glaube, er denkt noch darüber nach. Vielleicht solltest du wissen, dass er mir nicht gesagt hat, dass er nicht in dich verliebt ist. Aber ich erkenne es. Ich habe ihn schon damals gekannt, als er diese schrecklichste aller Beziehungen erleben musste, und da war er ganz anders. Er hat sie verträumt angesehen, war charmant zu ihr, hat auf eine ganz andere Weise mit ihr geredet. Dich sieht er beim Reden nicht so an, sondern er fixiert dich, wie er es mit einem ernst zu nehmenden Gesprächspartner tut. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich weiß es einfach.“
 

Ich glaube es ihm. Ich weiß, dass man mit der Zeit lernt, Freunde zu durchschauen. „Dann waren vielleicht seine Bedenken eher, dass er sich nicht auf etwas einlassen will, wenn er sich nicht sicher ist.“, überlege ich.
 

„Genau... und wenn ich mit ihm rede und klarstelle, dass du dich in gewisser Weise nur geirrt hast, dann wird er vielleicht auch wieder gerne bereit zu sein, Kontakt zu dir aufzunehmen.“, bietet er an.
 

„Würdest du das tun? Das ist wirklich total lieb von dir.“
 

„Natürlich.“, versichert Hector. „Nicht nur für dich, sondern auch für ihn.“
 

„Es ist mir wichtig, dass wir Freunde bleiben. Wenn ich mit ihm rede, habe ich das Gefühl, dass er mich wirklich versteht. Ich liebe ihn nicht auf diese Weise, aber ich denke, er ist irgendwie... seelenverwandt mit mir.“, erkläre ich.
 

„Das glaube ich schon. Du klingst in gewisser Weise sogar ein bisschen wie er.“ Ich kann mir gut vorstellen, dass Hector jetzt lächelt. „Ich rede mit ihm.“
 

„Vielen Dank, Hector. Für deine ganze Hilfe und fürs Reden.“
 

Nachdem wir das Gespräch beendet haben, fühle ich mich wieder wohler. Es wird sich wieder einrenken, ich werde wieder mit Nathan befreundet sein und ihm, auch ohne Beziehung, einfach als gute Freundin, helfen, sich selbst wiederzufinden. Durch die ganze Begegnung habe ich einen Freund und Erfahrungen gewonnen. Ich habe gelernt, einmal selbst zu handeln, auch wenn ich bemerkt habe, dass ich das oder in dem Fall den, den ich zu erreichen versucht habe, eigentlich gar nicht so wirklich wollte. Irgendwie bin ich froh um das Ganze, und ich hoffe von ganzem Herzen, dass Hector Recht hat.
 

*
 

Ich bin nicht überrascht, als ich am folgenden Tag, einem Donnerstag, eine Nachricht von Nathan erhalte. Ich wusste doch, dass er sich wieder melden würde. Auf jeden Fall bin ich darüber ziemlich erleichtert.
 

*
 

Liebe Liv,
 

Es tut mir echt Leid, dass ich die letzten Tage so ... ähm, ruhig war. Du hast ja schon von Hector erfahren, was los war. Vielleicht hätte ich es dir selbst nicht berichtet, aber ich bin ihm nicht böse, weil ich weiß, dass er sich nur Gedanken gemacht hat. Ich bin mir sicher, er war nett zu dir. Auf jeden Fall war er uns in dem Sinn eine Hilfe, dass er Einiges klargestellt hat.
 

Ich glaube, es ist vielleicht doch angebracht, dass ich das Ganze noch einmal aus meiner Sicht erkläre, anstatt es nun totzuschweigen. So schlimm war es nun ja auch gar nicht. Ich hatte letzte Woche tatsächlich selbst einen Moment lang vor, dich zu küssen. Ich dachte mir: du magst sie doch wirklich, und es ist langsam nach den zwei Jahren Zeit, aus diesem Tief auszubrechen. An irgendwas hat es dann doch gefehlt, und mittlerweile weiß ich, wie du wohl auch, was das höchst wahrscheinlich war. Und, ja, auch wenn es blöd klingt, als du mir dann die Entscheidung abgenommen hast, die ich eigentlich selbst schon negativ ausgehen lassen hatte, habe ich mich irgendwie eingeengt gefühlt und dachte mir, ich müsste irgendwie reagieren – was ich nicht getan habe, okay – und dass sich dann zwangsläufig etwas entwickeln müsste, was über Freundschaft hinausgeht, und schon hatte ich wieder die ganzen Ereignisse von vor zwei Jahren im Kopf. Und schwupps, schon hatte ich Panik und habe lieber den Kopf in den Sand gesteckt. Das tut mir jetzt ehrlich Leid. Hätte ich beziehungsweise wir nicht Hector, dann hätte ich wahrscheinlich mit diesem blöden Davonlaufen eine echt tolle Freundschaft kaputt gemacht. Denn als wir angefangen haben, uns zu schreiben, war ich begeistert von dem, was du schreibst, von dir, von deiner Veränderung (vielleicht war ich auch ein kleines bisschen neidisch, dass du dich positiv verändert hast und aus mir nur ein zurückhaltender, schüchternder Kerl geworden ist). Du hast meine ganzen Ansichten geteilt, es war sehr aufregend, auf einmal eine Person kennen zu lernen, von der ich bisher noch nie ein Wort gehört habe, sondern sie nur herumstehen und beobachten sah. Wir haben uns, wie du es wahrscheinlich auch empfunden hast, einfach gut unterhalten, sagen wir, wir sind auf einer Wellenlänge oder, ich hoffe der Ausdruck stört dich nicht, vielleicht sogar ein bisschen seelenverwandt. Aber, und das kann ich dir nun auch sagen, wobei ich mich ganz auf das verlasse, was Hector wiedergegeben hat, und deshalb stark hoffe, dass es nichts Neues oder Verletzendes für dich ist: ich habe mich trotz allem nicht in dich verliebt. Vielleicht stellt sich die Frage, welche Faktoren dafür notwendig sind, ich habe keine Ahnung – es ist weder das Gesamtbild noch Einzelheiten, die es offensichtlich ausmachen, sondern eine besondere Art von Chemie. Ist es schlimm, dass diese fehlt? Oder ist es vielleicht sogar gut? Freundschaften halten doch manchmal sogar länger als die Liebe.
 

Hector hat mir also gestern mitgeteilt, dass du auch nicht in mich verliebt bist. Ehrlich gesagt fiel mir ein Stein vom Herzen wie wahrscheinlich auch dir, denn so fällt diese Verpflichtung ab, das Gefühl, den anderen zwangsläufig verletzen zu müssen, auch wenn man im Grunde nichts dafür kann. (Weil ich ja letztens die Philosophen ziemlich herumtergemacht habe, zur Versöhnung ein Zitat von Schopenhauer: „Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“) Ich habe mich daraufhin über den Kuss gewundert und er hat mir gesagt, dass du sozusagen einmal deinen Mut zusammengenommen hast und es bei der Sache eher darum ging, dir dein neu gewonnenes Selbstbewusstsein zu beweisen als tatsächlich um irgendeine Art von Anziehung. Ich glaube, die Erfahrung war auch für dich wichtig, denn auch wenn du wahrscheinlich das meiste von früher aufgearbeitet hast, wirst du immer noch von Tag zu Tag stärker. Deshalb bin ich – als ein guter Freund – stolz auf dich. :)
 

Liebe Grüße und noch einmal eine große Entschuldigung für mein Straußensyndrom, ich hoffe du verzeihst diese Feigheit.
 

Nathan
 

*
 

Die Mail bringt mich zum Lächeln, und ich bin sehr froh über alles, was er geschrieben hat. Mit einer neuen Freundschaft bin ich jetzt einfach absolut glücklich und zufrieden. Die nächste Beziehung kann warten. Ich weiß ja jetzt, dass ich Mut aufbringen kann, wenn ich es wirklich will.
 

Was mir übrigens noch aufgefallen ist, ist, dass er zum ersten Mal, seit ich mit ihm wieder im Kontakt bin, mit „Nathan“ unterschrieben hat. Und ich bin zuversichtlich, dass das bedeutet, dass er dabei ist, sich wieder zurückzuverwandeln, sozusagen.
 

*
 

Zwei Wochen später finde ich in einem Telefongespräch heraus, das Meredith noch immer mit Immanuel zusammen ist. Das ist ihre längste Beziehung, seit... nun, seit ich sie kenne. Und da ich bezweifle, dass sie vor ihrem vierzehnten Lebensjahr bereits eine fast monatslange Beziehung hatte, ist es wahrscheinlich überhaupt ihr Rekord, auf die Gefahr hin, dass das nun ein bisschen unromantisch klingt. Aber das macht nichts, denn als wir am Wochenende darauf wieder alle zu siebt ausgehen – das heißt, Nathan, Sammy, Meredith und Gemma, Hector und Immanuel und natürlich ich, stellt sich heraus, dass „romantisch“ ohnehin nicht das richtige Wort für ihre Beziehung ist. Sie flirten heftig, knutschen in Gesprächspausen immer wieder mal, und wenn sie reden, tauschen sie sicher keine Zärtlichkeiten aus, sondern ziehen sich eher gegenseitig auf. Im Grunde schon das, was ich von einer Beziehung von Meredith erwartet hätte, hätte ich es mir denn vorstellen können. Der Unterschied zu den anderen Kerlen ist: Immanuel lässt Merediths harte Kritik und Skepsis nicht einfach über sich ergehen, sondern kontert entsprechend. So jemanden braucht sie eben.
 

Nathan wird tatsächlich wieder er selbst. Er klebt nicht steif an der Gruppe, sondern bewegt sich durchs Lokal, redet Leute an und darunter auch Mädchen. Schmunzelnd beobachte ich, wie mit einem Mädel mit blonden Locken und hübschem rotem Top – hübsch, aber nicht zu modelmäßig oder tussig, ich bin ziemlich sicher, dass das nicht Nathans Geschmack wäre – ins Gespräch kommt.
 

Neben mir erzählt Hector wieder einmal etwas, was ihn nicht in den Mittelpunkt zieht, sondern vielmehr Diskussionsstoff bietet. Gemma ist im Moment nicht auffindbar, höchst wahrscheinlich sucht sie nach Partystimmung, denn sie hat in letzter Zeit die momentan gebundene Merry damit abgelöst. Auch unsere Liebesvögel Meredith und Immanuel (es klingt noch immer verrückt!) haben sich irgendwohin verzogen, also können sich momentan nur Sammy und ich an dem Gespräch beteiligen, was ich auch eifrig mache. Es macht großen Spaß, Hector zuzuhören. Ehrlich, er ist auf irgend eine Weise besonders. Dieser ernste, fast weise Gesichtsausdruck, die überzeugte, aber gleichzeitig nicht überhebliche Art zu sprechen, die anschauliche Gestik, die Intelligenz, die er ständig beweist, ohne ein Klugscheißer zu sein. Und nebenbei ist er absolut zuvorkommend, wo er kann, setzt er sich für etwas ein, er ist nicht der Typ, der aufgibt. Auf jeden Fall bin ich Hector natürlich auch immer noch dankbar dafür, wie er das mit Nathan und mir geregelt hat.
 

Einen Moment lang habe ich nicht zugehört, und Hector macht gerade eine interessante Geste mit der rechten Hand, eine leichte Kreisbewegung. Ich habe zwar absolut keinen Schimmer, worum es gerade geht, aber ich bemerke, dass ich ihn gebannt anstarre. Als er mich fragend ansieht, fühlt sich mein Herz auf einmal an wie ein Gummiball.
 

Hey, was ist los?, frage ich mich, und habe gleichzeitig so eine Ahnung. Sammy wirft mir einen Seitenblick zu. „Ich muss mal aufs Klo.“, sagt sie, und auch wenn sie nicht zwinkert, sondern mich nur anstrahlt, weiß ich genau, dass das kein Zufall ist.
 

Und diesmal verunsichert mich die Situation nicht. Immerhin weiß ich, dass ich längst kein hässliches oder schüchternes Entlein mehr bin, sondern damit umgehen kann. Auf einen neuen Versuch.



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