Die Stille nach dem Schuss
Jo schluckte und musste den Blick abwenden, als Orpheus leblos zu Boden sank und mit einem dumpfen Laut auf dem magentafarbenen Teppich aufschlug, der die Blutlache, die sich wie ein grotesker Heiligenschein um seinen Kopf ausbreitete, zur Gänze verschluckte. Die himmelblaue Wand rechts vom Schreibtisch war ausgiebig mit Blut und Hirnmasse bespritzt und es wunderte sie nicht, als Nigel die rauchende Smith & Wesson fallen ließ und sich übergab.
Bobby rief den noch immer knurrenden McClane, den der abgefeuerte Schuss nicht im Geringsten eingeschüchtert hatte, an seine Seite, dann ging er auf den am Boden neben dem toten Orpheus kauernden Nigel zu und legte ihm die Hand auf die Schulter: „Das Buch!“
Nigel ächzte gequält, vermied es, sowohl Orpheus’ Leiche als auch Bobby anzusehen, kam auf die Füße und wankte zu einem expressionistischen Gemälde – pink, giftgrün, orange – hinter seinem Schreibtisch, hing es ab und öffnete den Safe, der dahinter verborgen gewesen war, mit wenigen geübten Drehungen des Schlosses.
Jo sah, wie seine Hand zitterte, als er das Buch heraus nahm und Bobby reichte und während Bobby es ihm ungeduldig entriss, sich umdrehte und aus dem Büro eilte, um seinen Reservebeutel Kräuter aus dem Ford zu holen, fühlte Jo sich verpflichtet, bei Nigel zu bleiben und ihn so gut es ging, zu beruhigen.
Sie tat ihr Bestes, sagte ihm, dass er richtig gehandelt habe, dass Orpheus sie vermutlich alle umgebracht hätte, wenn er nicht gewesen wäre – nahm unauffällig die Ruger und die Smith & Wesson an sich – und Nigel schüttelte nur den Kopf und wiederholte immer wieder die gleichen Worte: „Das habe ich nicht gewollt…“
Er zog sich neben die Tür zurück, so weit wie möglich von Orpheus’ Leiche entfernt, verbarg sein Gesicht in seinen Händen und Jo war sehr erleichtert, dass er nicht in Tränen ausbrach – das hätte ihre Geduld bei Weitem überstrapaziert.
Bobby kam zurück, lenkte Jos Aufmerksamkeit von Nigel ab, als er den mit Kräutern gefüllten Beutel auf Nigels Schreibtisch entleerte und als sie ihn seine Hosentaschen mit erfolgloser Hast nach Streichhölzern durchsuchen sah, verließ sie Nigels Seite, trat an den Schreibtisch heran und entzündete die Kräuter mit ihrem Feuerzeug.
Bobby wartete kaum, bis der entstandene Rauch dicht genug war, bevor er mit dem Ritual begann und es war nicht allein der besagte Rauch, der Jo die Luft abschnürte.
Dean und Sam konnten sich wahrhaft glücklich schätzen, jemanden wie Bobby zu haben, der sich um sie sorgte und sein Möglichstes tat, ihnen wann immer es nötig war, aus der Klemme zu helfen.
Sie hörte Bobby die letzten Worte des Ritus sprechen, wartete sehnsüchtig auf das vertraute ‚Plopp’ und schrie vor Entsetzen auf, als endlich, endlich Dean und Sam durch das entstandene Portal das Buch, in dem sie gefangen gewesen waren, verließen und sich vor ihren Augen materialisierten.
Das erste, was sie sah, waren Sams blutgetränkte Verbände, sein bleiches bewusstloses Gesicht, seine von Schweiß bedeckte Stirn, dann wandte ihre Aufmerksamkeit sich Dean zu, der nicht minder bleich war, seine Augen waren verdächtig gerötet und erfüllt von einer Verzweiflung, die ihr die Luft abschnürte.
Er schien im ersten Augenblick gar nicht zu realisieren, was um ihn herum geschah, hatte Sams Hände in seine Linke genommen und hielt sie gedrückt, während er mit der Rechten ein Messer, dessen Klinge blutbeschmiert war, eisern umklammert hielt.
„Dean?“, sprach sie ihn sanft an, ging neben ihm in die Hocke und er blinzelte, drehte den Kopf und einen schrecklichen Augenblick lang wusste sie, dass er sie nicht erkannte.
„Jo?“, murmelte er dann undeutlich und ihr schossen die Tränen in die Augen.
„Ja, ich bin’s…“, erwiderte sie sanft und er blickte zu Bobby auf, der herangetreten war und ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte.
„Sam… ich…“
Dean ließ das Messer fallen und wischte sich mit der blutverkrusteten Hand über das schmutzige, müde Gesicht.
„Wir bringen ihn sofort ins Krankenhaus…“, ließ Bobby sich leise vernehmen und Jo bekam eine Gänsehaut, weil all die Kälte, all der Zorn, mit dem er Orpheus gegenübergetreten war, zur Gänze verschwunden war, um den Gefühlen Platz zu machen, die er für Sam und Dean aufbrachte.
Bobby ging neben Sam in die Hocke, hievte ihn mit verbissenem Gesichtsausdruck auf seine Arme und stand wieder auf, während Jo Dean auf die Beine half, der zwar unverletzt schien, aber dennoch unsagbar schwach wirkte.
Jo hatte ihn noch nie in so einem Zustand erleben müssen.
Sie hörte Nigel in ihrem Rücken entsetzt die Luft anhalten, als er jetzt einen Blick auf Sams katastrophalen Zustand erhaschen konnte, ignorierte ihn jedoch und führte Dean in Bobbys Windschatten sanft aber bestimmt aus dem Zimmer.
„Wir konnten den Zustand Ihres Bruders soweit stabilisieren… er hat eine Bluttransfusion erhalten, was das Gift in seinem Körper soweit abgeschwächt hat, dass wir sein Fieber in den Griff bekommen haben. Haben Sie inzwischen eine Idee, um welche Art von Gift es sich handeln könnte?“
Jo hatte nicht übel Lust, dem jungen blonden Arzt, der Dean so gleichgültig befragte, eine zu verpassen, stand von ihrem Stuhl im Wartezimmer auf und baute sich drohend vor ihm auf: „Jetzt hören Sie mir mal zu, Dr.“, sie warf einen flüchtigen Blick auf sein Namensschild, „Chase! Er hat vor drei Stunden nicht gewusst, was für Gift es war, er weiß es auch jetzt nicht, und Sie sollten lieber aufhören, hier Ihre Zeit zu verschwenden und sich stattdessen um Ihren Patienten kümmern!“
Dr. Chase zuckte nichtmal mit der Wimper, als sie ihn so anfuhr, augenscheinlich war er noch ganz andere Kaliber gewöhnt.
„Glauben Sie mir, der Patient ist in den besten Händen…“, versicherte er ihr ruhig, warf einen kurzen Blick auf Dean und schien zu entscheiden, dass der ein wenig Ruhe verdient habe, „Ich komme später noch mal wieder…“
Mit diesen Worten zog er sich zurück und Jo ließ sich schnaubend zurück auf ihren Stuhl fallen und legte in einer schützenden Geste den Arm um Dean.
„Er macht nur seinen Job…“, meinte der leise und erschöpft und sie kniff kurz die Augen zusammen und konnte nicht begreifen, was geschehen war, ihn so wenig nach sich selbst klingen zu lassen.
Alles, was er auf der Fahrt zum Krankenhaus getan hatte, war, sich bei Bobby und ihr für die Rettung zu bedanken und unablässig dem bewusstlosen Sam durchs Haar zu streichen.
So eifersüchtig Jo auch gewesen war, als sie von Sam und Deans Beziehung erfahren hatte, das hier war mehr, als selbst sie ertragen konnte und es brach ihr beinahe das Herz, Dean so voller Sorge um Sam erleben zu müssen.
Sie hätte von vornherein wissen sollen, dass sie gegen das, was diese Beiden verband, nie auch nur die geringste Chance gehabt hatte.
„Du solltest dich für ein paar Stunden hinlegen…“, richtete nun Bobby das Wort an Dean und der hob den Kopf und sah ihm in die Augen: „Ich gehe hier nicht weg.“
Bobby lächelte geduldig und schüttelte ein ganz klein wenig den Kopf.
„Ich will nicht sagen, dass ich dich nicht verstehe, aber wenn Sam aufwacht, solltest du ausgeschlafen und ausgeruht sein und ihm keinen Grund zur Sorge geben – das würde seine Genesung sicherlich beeinträchtigen.“
Dean blinzelte über dieses so ruhig vorgebrachte Argument und Bobby wandte sich Jo zu: „Fährst du ihn zu unserem Motel?“
Sie nickte, stand auf und Dean fügte sich Bobbys stärkerem Willen, erhob sich ebenfalls von seinem Stuhl und machte ein paar Schritte in Richtung Ausgang, bevor er sich noch einmal umdrehte: „Du-“ – „Ich rufe an, sobald sich etwas ergibt…“, unterbrach Bobby ihn ruhig und Dean nickte und verließ mit Jo an seiner Seite das Krankenhaus – etwas, das er noch nie getan hatte, wenn Sam verletzt gewesen war.
Er mochte wie ein Wahnsinniger im Wartebereich auf und ab gelaufen sein, mochte sich mit sämtlichen Ärzten und Krankenschwestern angelegt haben, die ihm nur ausweichende Informationen über Sams Zustand hatten zukommen lassen, bis sie ihm gedroht hatten, ihn des Gebäudes zu verweisen, aber er war niemals von sich aus gegangen.
Dean fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, ignorierte den Blick, den Jo ihm aus dem Augenwinkel zuwarf und seufzte leise.
Ein einziges Mal konnte er es wohl mit seinem Gewissen vereinbaren, die Verantwortung zumindest für ein paar Stunden abzugeben und Sams Wohlergehen Bobby zu überlassen.
Dean ging mit Jo zu ihrem Buick, wartete, bis sie den Wagen aufgeschlossen hatte und ließ sich schließlich mit einem leisen Seufzen auf den ledernen Beifahrersitz sinken.
Sie warf ihm vom Fahrersitz aus einen kurzen Seitenblick zu, bevor sie den Motor startete und vom Parkplatz des Krankenhauses fuhr und erwartete nicht, dass er ihr erzählen würde, was passiert war und das tat er auch nicht.
Stattdessen starrte er erschöpft aus dem Fenster, die Augen halb geschlossen und als sie auf dem Parkplatz des Motels angekommen waren und Jo den Motor ausstellte, war er eingeschlafen.
Jo zögerte einen Moment, ihn zu wecken, dann beschloss sie, dass der Schlaf in einem richtigen Bett ihm bei Weitem besser bekommen würde, legte ihm die Hand auf die Schulter und rüttelte ihn sanft.
Dean erwachte mit einem erstickten Laut, brauchte ein paar Sekunden, bevor er sich zurechtgefunden hatte und Jo bat ihn sanft, auszusteigen, da sie angekommen seien.
Er nickte, stieg aus dem Auto aus und Jo fragte sich, warum sie jemals Mitleid mit Nigel gehabt hatte.
Möglich, dass er nichts von dem, was geschehen war, gewollt hatte, die Gedankenlosigkeit seiner Handlungen war dennoch in keinster Weise zu entschuldigen.
Da war es durchaus gerechtfertigt von ihr gewesen, ihn mit der anrückenden Polizei allein gelassen zu haben.
Bobby blickte auf, als Dean durch den Krankenhausflur auf ihn zu kam und war erleichtert, wie viel besser er im Vergleich zu ihrer letzten Begegnung aussah.
Jo schien Dean nicht nur dazu gebracht zu haben, sich auszuschlafen, sie hatte ihn scheinbar auch gleich noch gefüttert und gebadet.
„Ich wollte dich gerade anrufen…“, informierte er Dean mit einem leisen Lächeln und als er die Hoffnung wie zwei Signalfackeln in Deans Augen aufleuchten sah, wusste Bobby, dass es absolut richtig gewesen war, alles daran zu setzen, ihm und Sam zu helfen.
„Ist er aufgewacht?“, entfuhr es Dean hastig und als Bobby nickte, wollte Dean sofort losstürmen, wurde jedoch von Bobbys unnachgiebiger Hand an seinem Arm daran gehindert.
„Sie haben ihn verlegt – er liegt nicht mehr auf der Intensivstation…“, erklärte Bobby gelassen und begegnete Deans ungeduldigem Blick mit einer lässig hochgezogenen Augenbraue, „Ich zeig dir, wo sie ihn hingesteckt haben…“
Jo schmunzelte, als Bobby sich mit seiner üblichen Gelassenheit gemächlich in Bewegung setzte und Dean ihm ergeben folgte.
Sie schloss sich den Beiden an und die kleine Karawane zog durch die endlosen weiß getünchten, in Neonlicht getauchten Krankenhausflure, bis Bobby schließlich vor einer der unzähligen nummerierten Türen stehen blieb und nachdrücklich anklopfte.
Dean wartete nicht, bis Sam sie möglicherweise herein bat oder auch nicht, riss die Tür auf und steuerte zielsicher das Bett an, in dem Sam offenbar bis eben geschlafen hatte.
Sam wurde geküsst, gestreichelt und abgeschmusert, bevor er noch ganz begriffen hatte, wie ihm geschah, dann setzte Dean sich zu ihm ans Bett, nahm seine Hand und sah so aus, als habe er nicht vor, diese Stellung in allzu naher Zukunft wieder aufzugeben.
„Wo warst du denn so lange?“, fragte Sam Dean leise und Bobby stellte klar, dass allerhöchstens eine Viertelstunde vergangen sei, seit Sam zum ersten Mal das Bewusstsein wiedererlangt hatte, dann legte er Jo die Hand auf die Schulter und zog sie mit sich aus dem Zimmer.
Dean wartete kaum, bis die Beiden die Tür hinter sich geschlossen hatten, um sich über Sam zu beugen und ihm einen sanften Kuss aufzudrücken.
„Du siehst furchtbar aus…“, informierte er Sam liebevoll und der schnaubte empört, schloss die Augen und seufzte leise: „Bobby und Jo haben uns das Leben gerettet…“
Dean betrachtete einen Moment lang Sams regloses Gesicht, dann legte er ihm die Hand an die Wange und streichelte ihm mit dem Daumen über die Lippen.
„Ich hatte verdammte Angst um dich, Sammy…“
Sam hielt die Augen weiter geschlossen, genoss die beruhigende Wirkung, die Deans Präsenz auf ihn ausübte und seine Mundwinkel hoben sich ein winziges Bisschen – es war noch kein Lächeln, aber doch genug, um Deans Herz höher schlagen zu lassen.
„Was glaubst du, was für Angst ich hatte, als ich hier aufgewacht bin und du nicht da warst?“, murmelte Sam schwach gegen seinen Daumen und Dean zog seine Hand zurück und ersetzte ihn durch seine Lippen.
„Tut mir leid, Sammy…“, flüsterte er schuldbewusst, richtete sich wieder auf und war verdutzt, Sam lächeln zu sehen.
„Schon gut – Bobby war ja da, um es mir zu erklären. Ich hoffe mal, Jo hat sich gut um dich gekümmert?“
Dean vernahm sehr wohl den bitteren Unterton, der unter dieser für seinen Geschmack ohnehin etwas zu sarkastischen Bemerkung lag, streckte die Hand aus und kniff Sam in die Nase.
„Jetzt sei doch kein Idiot!“, wies er ihn energisch zurecht und zwang Sam einen weiteren Kuss auf, „Du bist der Einzige, der sich um mich kümmern darf, mein Bester – also beeil dich gefälligst mit dem Gesundwerden, damit ich nicht länger den starken Mann spielen muss!“
Sam blinzelte verdutzt, nahm erst jetzt die dunklen Schatten unter Deans Augen wahr und bereute seine gedankenlosen Worte über Jos Absichten zutiefst.
Er hätte sich wirklich denken können, dass Dean seinem Krankenbett nur deshalb fern geblieben war, weil er selbst völlig am Ende gewesen war.
„Tut mir leid…“, nuschelte er prompt zerknirscht, was Dean erneut ein strafendes Nasekneifen ausführen ließ.
„Spar dir das schlechte Gewissen und schlaf…“, wies er Sam liebevoll an und Sam schloss folgsam die Augen.
Diesmal würde Dean ganz sicher an seinem Bett sitzen, wenn er wieder aufwachte.