Famoser Familienzuwachs
„Wie ist es passiert?“, fragte Sam leise, nahm Deans Kaffeetasse wieder vom Tisch und drückte sie Dean in die Hand, und der hielt sich daran fest, nahm einen Schluck und schwieg.
Sean fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah aus, als verwünsche er sich an einen angenehmeren Ort mit fröhlicheren Gesprächsthemen.
„Flugzeugabsturz.“
Sam hielt kurz den Atem an, blickte Dean von der Seite an und konnte mit dessen Gesichtsausdruck kurz nichts anfangen.
„Wann?“, brach es aus Dean heraus, und dann wusste Sam, dass er an die Banshee dachte und sich vor der Antwort fürchtete.
Es wäre schrecklich, jetzt zu erfahren, dass Dean all die Jahre eine Mutter gehabt hatte, dass sie nur ein paar Wochen zu spät waren, um sie kennen zu lernen.
„Vor etwa zehn Jahren – sie war auf dem Weg in die Flitterwochen“, erlöste Seans belegte Stimme sie von dem furchtbaren Gedanken, und Sam unterdrückte ein erleichtertes Seufzen.
„Flitterwochen?“, hakte er nach, weil er ahnte, dass Dean die Geschichte hören wollte, auch wenn es ihm wehtun würde, und Sean atmete einmal tief durch und dann erzählte er sie ihnen.
Soweit Sean wusste, war Dean das Produkt eines One-Night-Stands – Dean grinste doch tatsächlich, als er das hörte – und Kate war von ihrem alleinerziehenden Vater dazu gezwungen worden, ihn zur Adoption freizugeben, weil sie erstens unverheiratet und zweitens minderjährig gewesen war.
„Großvater war unglaublich streng und wollte nicht, dass sie sich in ihrem Alter mit einem Kind belastete – auch wenn er es in den letzten Jahren, glaube ich, bereut hat. Er hat zum Schluss oft davon gesprochen, dass er „Kates Jungen“ gerne kennen gelernt hätte … Aber dafür seid ihr leider ein paar Wochen zu spät.“
Deans Griff an seiner Kaffeetasse verfestigte sich, als er das hörte, und Sam hatte kurz Angst, er könne das fragile Gefäß in seiner Hand zerbrechen.
Sean nahm einen Schluck Kaffee, dann fuhr er fort.
„Als ich klein war, war Tante Kate für mich immer so eine Art Gespenst.
Nicht dass ich Angst vor ihr gehabt hätte, aber sie war einfach so hübsch und lächelte nie, und man hatte immer das Gefühl, sie sei mit den Gedanken ganz woanders.
Keiner wollte mir sagen, warum das so war, und irgendwann - ich glaube, ich war damals elf – ist Patrick nebenan eingezogen. Tante Kate hat zu dem Zeitpunkt bei uns gewohnt, und als sie den neuen Nachbarn gesehen hat, bekam sie beinahe einen hysterischen Anfall.“
„Ich nehme mal an, Patrick ist der Name meines Erzeugers?“, warf Dean leise ein, und Sean nickte und erzählte lächelnd, wie Patrick reagiert hatte, als er Kate wieder erkannte und erfuhr, dass er Vater war. Wie er unglaublich hartnäckig und trotz all ihres Widerstandes und den ihres Vaters versucht hatte, sich mit Kate anzufreunden, und es schließlich damit geendet hatte, dass sie zusammenzogen.
„Sie waren ein fabelhaftes Paar – ständig sind die Fetzen zwischen ihnen geflogen, und wenn sie sich dann wieder vertragen haben … also“, Sean suchte grinsend nach den richtigen Worten, „… Sie hatten eine sehr leidenschaftliche Beziehung.“
Dean schaffte ein kleines Lächeln, als er das hörte, und Sean schüttelte bedauernd den Kopf.
„Das mit dem Flugzeugabsturz war wirklich schrecklich. Aber zum Glück hatten sie davor noch ein paar gemeinsame Jahre und sind zusammen gestorben. Es wäre schrecklich gewesen, hätte der Eine ohne den Anderen leben müssen. So dämlich das auch klingt – sie waren für einander gemacht.“
Sam nickte automatisch, als er das hörte, und als er bemerkte, dass Sean ihn beobachtete, griff er hastig nach seiner Kaffeetasse und nahm einen tiefen Schluck.
Sean sah ihn noch immer an, als er die Tasse wieder wegstellte, und wieder verspürte Sam unerklärliche Fluchttendenzen.
Warum machte dieser Dean-Klon ihn denn nur so nervös?
„Dean?“
Der Angesprochene am Fenster zuckte leicht zusammen und drehte sich zu ihm um, und Sam zögerte kurz, dann kam er durch den Raum auf ihn zu und nahm ihn in die Arme.
„Sam?“
Dean blinzelte verdutzt über Sams breite Schulter hinweg, dann schob er den Jüngeren sanft aber bestimmt von sich.
„Was soll denn das?“
Sam wurde ein wenig rot und stellte fest, dass er neuerdings zu übereilten Aktionen neigte.
Wenn er das nächste Mal zögern sollte, etwas zu tun, war es vielleicht sicherer, seinem Gefühl zu trauen und es ganz bleiben zu lassen.
„Hallo? Adelheid?“
Dean wedelte mit seiner Hand vor Sams Nase herum, und der zog eine beleidigte Schnute, ergriff die penetrante Wedel-Hand und hielt sie fest.
„Kannst du das mit dem Spitznamen nicht mal wieder sein lassen?“, fragte er zickig, und Dean lächelte – nur um das festzuhalten: er grinste nicht, er lächelte – entzog ihm seine Hand und wuschelte ihm durchs Haar.
„Musst mich nicht trösten, Sammy, mit mir ist alles in bester Ordnung“, überging er leichthin Sams Beschwerde und wandte sich wieder zum Fenster um.
Sam, der noch immer mit Lächeln und Haarewuscheln zu kämpfen hatte, brauchte ein wenig, bis er auf diese Rede reagieren konnte.
„Ja, aber … deine Eltern …“ – „Sind John und Mary Winchester“, fiel Dean ihm ins Wort und sah ihn nachdenklich von der Seite an. „Obwohl ich am überlegen bin, einen Doppelnamen anzunehmen. Winchester-Lawless hat doch wirklich was, findest du nicht?“
Sam starrte ihn einen Moment lang perplex an, dann nahm sein Gesicht wieder diesen Ausdruck von Besorgnis an, der Dean mehr als alles Andere zuwider war.
Er war schließlich dafür da, sich Sorgen um Sam zu machen und nicht umgekehrt.
„Sieh mich nicht so an, Sam. Es geht mir gut, hörst du!“
Sam biss sich auf die Unterlippe, dann ging die Tür in ihrem Rücken auf, und Sean kam herein.
„Das Gästezimmer ist dann soweit fertig. Wollt ihr Zwei vielleicht ein Bier? Und Dean – ich hab alte Fotoalben rausgesucht, falls du Interesse hast. Sie liegen im Wohnzimmer.“
Dean nickte lächelnd und verließ die Küche, und Sam wollte es ihm gleichtun, wurde jedoch in der Tür von Sean aufgehalten.
„Sam, richtig?“
Sam nickte und blieb stehen, fragte sich im Stillen, was Sean ihm zu sagen habe, und dann sah er das merkwürdige Glitzern in dessen Augen und bekam eine Gänsehaut.
Zum Glück waren Deans Wimpern bei Weitem länger als die von Sean, sonst hätte er jetzt ein Problem gehabt.
„Dean ist nett zu dir, ja?“, fragte Sean ihn lächelnd, und Sam nickte.
Er fand, dass das eine merkwürdige Frage war, aber er kannte sich mit irischen Gepflogenheiten nicht aus, also behielt er das lieber für sich.
„Seid ihr immer zu zweit unterwegs?“
Sam fand diese Frage noch merkwürdiger als die erste, aber er nickte auch diesmal und konnte mit Seans zufriedenem Grinsen nicht das Geringste anfangen.
„Und wie lange wisst ihr schon, dass ihr keine Brüder seid?“
Die Frage brachte ihn endgültig aus dem Gleichgewicht, und er fürchtete, dass Sean ihm das angesehen hatte, denn er legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte leicht zu.
„Alles ok mit dir Sam? Ist das ein unangenehmes Thema für dich?“
„Hey Sean, wo -“
Dean hielt inne, als er Sam und Sean im Türrahmen zur Küche erblickte und runzelte die Stirn.
„Was macht ihr da?“
„Ich hab Sam nur gefragt, was für Bier ihr wollt“, erklärte Sean ruhig, und Sam zuckte beinahe zusammen, als er ihm zuzwinkerte. „Ich hol nur eben welches aus dem Vorratsraum.“
Und mit diesen Worten schob er Sam sanft in Richtung Wohnzimmer, wandte sich ab und verschwand durch die Küche in besagten Vorratsraum.
Sam warf einen Blick auf die Uhr, dann zählte er die Bierflaschen auf dem Wohnzimmertisch und gestand sich ein, dass er mit waschechten Iren nicht mithalten konnte.
Er hatte sich vor etwa einer Stunde auf einen gemütlichen Sessel am Fenster zurückgezogen, um aus sicherer Distanz Dean und Sean zu beobachten, die, während sie ein Bier nach dem Anderen kippten, sämtliche Fotoalben durchsahen, die der Lawless’sche Haushalt hergab.
Seine müden Augen konstant auf Dean fixiert, im Bauch ein Gefühl, das eine merkwürdige Mischung aus Eifersucht auf Sean, weil der sich so gut mit Dean verstand, und Zufriedenheit, weil Dean glücklich zu sein schien, war, drifteten seine Gedanken langsam aber sicher ab und gelangten zu dem Moment im Impala zurück, als Dean ihm die braune Papiertüte mit diesem unaussprechlichen Hundehalsband in die Hand gedrückt hatte.
Sam hatte ja schon immer geahnt, dass Dean einen etwas merkwürdigen Sinn für Humor hatte, aber mit sowas hatte er dann doch nicht gerechnet.
Dean hatte doch tatsächlich gedroht, ihm das schreckliche Ding anzulegen!
Sam schluckte trocken, als er plötzlich ein schummriges Schlafzimmer vor Augen hatte, er und Dean saßen auf dem Bett und -
„Hey Sam, möchtest du auch noch ein Bier?“
Sam zuckte heftigst aus seinem Wachtraum auf und blickte ein wenig planlos zu Sean auf, der vor ihm stand und ihm eine geöffnete Bierflasche entgegen hielt.
„Gib Sammy nichts mehr“, ertönte Deans Stimme aus dem Hintergrund, und Sam durchlief ein wohliger Schauer, weil sie schon wieder so angenehm rau war. „Ich fürchte, der hat jetzt schon zu viel …“
Sean lächelte mit diesem merkwürdigen Glitzern in den Augen auf ihn hinab und legte den Kopf schief.
„Ist das so? Möchtest du schlafen gehen?“
Sam nickte automatisch und stand auf, und stellte fest, dass er wirklich weit davon entfernt war, ein Ire zu sein.
„Ich zeig Sam mal eben das Gästezimmer“, wandte Sean sich kurz an Dean, der abwesend nickte, während er ein weiteres Photoalbum durchblätterte, und dann nahm Sean Sam am Arm und führte ihn langsam aus dem Zimmer.
Sie gingen eine Treppe hoch und den Flur im ersten Stock entlang, Sean öffnete eine Tür zu ihrer Linken, geleitete Sam in ein kleines, freundliches Zimmer, in dem ein offenbar frisch bezogenes Doppelbett stand, und Sam brauchte ein wenig, bis er begriff, dass von ihm erwartet wurde, in dieser Nacht gemeinsam mit Dean darin zu schlafen.
Als er es dann allerdings begriffen hatte, wurde er zu seinem eigenen, endlosen Verdruss doch tatsächlich schon wieder rot.
„Alles ok mit dir, Sammy?“, hörte er plötzlich Seans Stimme viel zu dicht an seinem Ohr, er drehte den Kopf, blickte in ein Paar Augen, die Deans viel zu ähnlich waren, und sagte aus irgendeinem verqueren Grund die Wahrheit.
„Ich hatte nicht mit einem Doppelbett gerechnet.“
Sean wirkte verblüfft und legte den Kopf schief.
„Ist das ein Problem? Ich dachte, du und Dean …“
Sams runzelte fragend die Stirn, dann ging ihm auf, was Sean dachte, und er hob abwehrend die Hände.
„Nein, nein! Wir sind nicht – ich meine – wir haben keinen – also …“
Er verstummte verzweifelt, und als er Sean wieder in die Augen sah, war das merkwürdige Glitzern in ihnen schon beinahe unangenehm.
„Also nur brüderliche Gefühle, hm?“
Sam nickte hastig, und Sean kam ihm noch ein wenig näher.
Es war so verwirrend, dass er Dean so unglaublich ähnlich sah, ohne dessen Präsenz auszustrahlen, und erinnerte Sam unangenehm an einen Zombie – und ein Dean-Zombie war nun wirklich das Letzte, mit dem er in einem Zimmer sein wollte.
Dann stand Sean plötzlich direkt vor ihm und sah ihn mit einem Blick an, der ihn aus Deans Augen hätte dahinschmelzen lassen, aus Seans Augen war er ihm in höchstem Maße unwillkommen.
„Dabei hätte ich schwören können, ihr Zwei wärt ein Paar. So, wie er dich keinen Moment aus den Augen lässt und du – naja, mir soll’s recht sein …“
Und dann fand Sam sich plötzlich auf dem Bett wieder, Sean über sich, und er hätte schwören können, der Raum habe plötzlich angefangen, sich um sich selbst zu drehen.