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Kunan

Das Amulett von Thana
von

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Schneesturm

Schneesturm
 

Der Winter kam spät in diesem Jahr und als zum ersten Mal eine Schneeflocke fiel, begannen schon die Weihnachtsferien. Es war ein Tag wie jeder andere, das heißt: natürlich war es das nicht. Aber das wusste noch niemand in diesem Haus, als Lucas Familie sich an diesem Sonntagmorgen am Frühstückstisch versammelte, und so hielten es alle für einen ganz normalen kalten Dezembertag.

Alle, bis auf Luca.

Er hatte nicht gut geschlafen. Er hatte immer noch die Erinnerung an den Albtraum, der ihn diese Nacht wie die anderen Nächte davor heimgesucht hatte. Er erinnerte sich an ihn nicht wie einen Film, sondern wusste nur, dass vier fast gleich hohe Schatten darin vorgekommen sind.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte seine Mutter, die die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut hatte. Luca schrak aus seinen Gedanken hoch, blinzelte, und brauchte einige Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein“, sagte er. „Ich habe bloß nicht so gut geschlafen. Ich hatte einen Albtraum.“

„Einen Albtraum?“, fragte seine Mutter und schaute wieder aus dem Fenster, um sich den Schneefall anzugucken. Luca antwortete nicht, sondern konzentrierte sich darauf, sein Ei mit der perfekten Menge an Salz und Pfeffer zu bestreuen. Er schielte kurz zu seinem Vater, der vor sich eine Landkarte liegen hatte.

„Kommt deine Schwester heute noch runter, oder müssen wir unseren Urlaub auf nächstes Jahr verschieben?“ Luca zuckte die Schultern.

Seine Schwester kam nie aus dem Bett, und wenn sie es doch geschafft hatte, stand sie noch mindestens eine halbe Stunde im Bad, um etwas zu tun, was sie Schminken nannte.

Luca fragte sich ständig, wie man so lange brauchen konnte, um sich zu bemalen. „Jungs verstehen so etwas nicht“, sagt seine Schwester dann immer. „Außerdem ist dein Köpfchen viel zu klein, um die Angelegenheiten der Mädchen zu kapieren.“

Zu klein! Darüber kann Luca nur lachen. Er war nur einen Zentimeter kleiner und zwei Jahre jünger als seine Schwester. Aber ohne sie wäre es hier ziemlich ruhig, dachte Luca immer, wenn Stephanie dies zu ihm sagte. Tief im Herzen hatte er sie gern, das wusste er.

„Ich glaube, sie packt noch“, sagte Luca, „eben war sie nicht im Bad und gestern wollte sie nicht packen.“

Sein Vater schnaubte. „Fahren wir für zwei Tage oder für eine ganze Woche ins Sauerland?“

Luca spürte, dass sein Vater langsam ungeduldig wurde und schlug deshalb vor, nach ihr zu sehen. Ohne auf eine Antwort zu warten, stand er auf und war gerade an der ersten Stufe der Treppe angelangt, als er neben der Stufe etwas aufleuchten sah. Er ging darauf zu und hob es auf.

Es war eine Münze, aber eine, deren Währung er nicht kannte – und er kannte die meisten Währungen, die es gab. Es war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, Münzen nach ihrem Nationalland zu ordnen.

Luca konnte einen Drachen erkennen, der sich um ein Schwert schlängelte. Auf der schmalen Seite waren Linien und Symbole abgebildet.

„Und, wo bleibt sie?“, ertönte plötzlich die Stimme seiner Mutter. Luca erschrak. „Ich schätze, sie wird gleich fertig sein“, rief er als Antwort in die Küche und steckte hastig die Münze ein. Dabei fiel ihm auf, dass auf der Rückseite die Zahl 100 stand. Luca fand das ziemlich merkwürdig, wo doch alle Länder dieser Erde Scheine benutzten, auf denen diese Zahl stand.

Oder war da doch noch ein Land, das so welche Münzen benutzte? Und wie ist die eigentlich hierher gekommen? Er konnte schwören, dass sie hier noch nicht gelegen hatte, als er runtergekommen war.

„Hey!“ Eine Stimme schreckte Luca aus seiner Fragerei und blickte nach oben. Dort stand seine Schwester neben einem großen Koffer. „Was hast du da?“, fragte Stephanie in ihrem neugierigen Ton.

„Nichts, was dich angehen sollte“, erwiderte ihr Bruder genervt, der die Münze schnell in seiner Hosentasche verschwinden ließ. „Und nur mal so zur Info: Wir fahren nur mit zwei Übernachtungen ins Sauerland, und keine ganze Woche.“

Luca fühlte sich ziemlich genervt. Immer mischte sich Stephanie in Dinge ein, die sie überhaupt nichts angingen! Schließlich fragte er sie ja auch nicht, mit welchem Jungen sie das letzte Mal zusammen war, da sie ihren Freund so oft wechselte, wie sie zum Friseur ging - und das passierte ziemlich oft.

Stephanie nahm wortlos ihren Koffer, stieg die Treppe runter und stolzierte ohne ein Wort zu verlieren an ihrem Bruder vorbei.

Luca hörte Schritte und sah seine Mutter in der Tür stehen. „Hole doch bitte deine Sachen und packe sie ins Auto“, sagte sie. „Und das ihr euch ja wieder einkriegt. Wir halten euer Gezanke nicht ewig aus!“

Sie ging zurück in die Küche und redete mit ihrem Mann über den besten Weg.
 

Keine zehn Minuten später saßen alle im Auto, hinter sich drei kleine Taschen und einen großen Koffer. Lucas Vater startete das Auto und sie fuhren los.

Aus dem Fenster konnte Luca Schneeflocken beobachten, die immer mehr wurden, sodass nach einer halben Stunde Fahrt schon eine dichte Schneeschicht auf der Straße lag.

„Mistwetter“, murmelte sein Vater und stellte den Scheibenwischer auf Dauerbetrieb, denn der Schneefall war inzwischen so stark, dass er ihnen die Sicht raubte.

Luca und Stephanie sahen sich an, sagten aber nichts. Doch nach einer Weile brach Stephanie die Stille:

„Ist euch schon aufgefallen, dass es nicht mehr so stark schneit?“ Luca sah aus dem Fenster.

Es stimmte.

Komisch, dachte er, eben hat es noch wie verrückt geschneit, und jetzt schneit es fast gar nicht mehr. Auch seinen Eltern was dies aufgefallen, doch sie hielten es für eine Laune der Natur und sagten nichts.

„Autsch!“, schrie Luca plötzlich und fuhr mit einer hastigen Handbewegung dorthin, wo er die Münze hingetan hatte.

„Was ist los?“ Seine Mutter hatte sich zu ihm umgedreht und sah ihn besorgt an. Auch Stephanie blickte in seine Richtung, sein Vater guckte nur kurz in den Rückspiegel, da er weiter auf die enge Straße gucken musste.

„Ich…äh, habe einen Krampf im Bein gehabt“, log Luca.

In Wahrheit hatte er das Gefühl, als ob diese seltsame Münze plötzlich aufgeglüht hätte. Luca war verwirrt.

Er wusste nicht, ob es nur Einbildung war oder einfach eine Art komischer Realität. Aber Münzen können doch nicht von jetzt auf gleich einfach heiß werden!

Luca sah aus dem Fenster. Nun schneite es nicht mehr und es wurde so warm, dass sie zugucken konnten, wie der Schnee neben der Straße schmolz. Er drehte sich um. Etwa dreihundert Meter hinter ihnen tobte noch immer der Schneesturm, doch über ihnen strahlte die Sonne zwischen weißen Wolken auf sie herab, als ob sie sicher war, dass es jetzt Sommer – und nicht Winter – war. Aus den Augenwinkeln sah er auf einmal zwei gelbe Augen. Luca wandte sich um.

Die gelben Augen gehörten einem schwarzen Auto, das aus dem Schneesturm schnell auf sie zufuhr und sie einholte.

„Pa!“, schrie Luca, als der schwarze BMW fast die Stoßstange ihres Wagens berührte. Sein Vater trat aufs Gaspedal.

Auch er hatte das fremde Auto erblickt.

Sie fuhren schneller, doch der BMW blieb dicht hinter ihnen. Luca versuchte zu erkennen, wer in dem Wagen saß, konnte jedoch nichts sehen, da die Scheiben getönt waren.

„Er will uns rammen!“, rief Stephanie, die sich soweit wie möglich nach hinten gebeugt hatte, um zu sehen, was los war. Sie hatte Recht. Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, spürten sie auch schon einen Ruck. Der schwarze BMW berührte sie zwar nur kurz, doch Luca fühlte beim Zusammenstoß eine Woge der Bösartigkeit.

Plötzlich stieg in ihm ein Hass auf, wie er ihn noch nie gehabt hatte. Er hatte auf einmal das dringende Bedrängnis, sich auf seine Schwester zu stürzen und ihr nicht nur weh zu tun. Er wollte sie töten. Nichts anderes war ihm jetzt wichtig. Er hatte das Gefühl, sich danach noch stärker zu fühlen. Doch eine innere Stimme riet ihm was anderes.

„Sie ist deine Schwester“, sagte sie sanft. „Deine einzige, liebe Schwester. Töte sie nicht. Es würde dir Leid tun.“

Und Luca wusste, dass sie Recht hatte. Der Hass auf Stephanie verebbte. Er drehte sich zu dem BMW um, der kurz danach langsamer fuhr.

„Habt ihr das auch gespürt?“, fragte Luca keuchend und drehte sich wieder nach vorne um. „Klar, der Aufprall war ja nicht zu übermerken.“ Die Stimme seines Vaters klang zornig. „Wenn sie das noch einmal machen, zeige ich sie an!“ Luca sah irritiert nach hinten, doch er hatte keine Zeit, seine Gedanken zu ordnen, denn der BMW wurde wieder schneller, bog jedoch auf die andere Straßenseite ab.

„Ach du Schande“, murmelte sein Vater. „Jetzt will der uns auch noch auf dieser engen Straße überholen. Wie irre sind die eigentlich?“ Luca stimmte ihm insgeheim zu.

Nun fuhren die beiden Autos so dicht aneinander, dass sich die Außenspiegel beinahe berührten. Einen Augenblick blieb der BMW auf dieser Position, fuhr dann schneller, sodass er sie überholte und sich einige hundert Meter vor ihnen quer auf die Straße stellte.

„Drück doch auf die Bremse, sonst knallen wir noch in sie rein!“, schrie die Mutter panisch.

Ihr Mann drückte den Fuß aufs Bremspedal, doch nichts tat sich. Er betätigte sie noch ein paar Mal, aber sie fuhren genau so schnell wie vorhin.

„Die Bremsen funktionieren nicht!“ Lucas Vater war verzweifelt.

Luca sah sich schon mit gebrochenen Armen und Beinen im Krankenhaus liegen.

Neben der Straße waren zu beiden Seiten breite Gräben und Bäume. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf das Auto zuzufahren.

„Luca“, sagte Stephanie tonlos. Sie war leichenblass. „Ich möchte dich in diesem Leben noch lebend wieder sehen.“

Luca wollte etwas antworten, doch dazu war es bereits zu spät. Der BMW war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt.

Der Aufprall war so hart, dass sie über das zur Seite gefallene schwarze Auto hinwegflogen. Luca schrie, während er die Straße auf sich zukommen sah. Er wollte noch nicht sterben. Er wollte noch so viel erledigen. Er konnte nicht mehr denken. Er knallte mit dem Kopf gegen das Fenster, als das Auto aufschlug. Luca konnte nicht sehen. Sein Kopf tat so weh.

Er hörte nur die Stimme seines Vaters, die irgendetwas sagte, doch Luca konnte es nicht verstehen.

Die Münze, die er heute Morgen gefunden hatte, glühte erneut auf, aber dieses Mal so heiß, dass Luca das Bewusstsein verlor.



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