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Blind Dragon

Das Auge des Orion
von

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Kapitel 21

Lavande kam besorgt aus Kariyuus kleinem Zimmer. Seit Tagen verfluchte Ronga seine guten Ohren, denn der rasselnde Atem des Drachen war zu einem Hintergrundgeräusch geworden, dessen Beständigkeit besorgniserregend war. Etwa vor einer Woche, nur kurz nachdem sie beide bei dem Alchemisten gewesen waren, war Lavandes Angetrauter erkrankt. Erst war es nur ein harmloser Schnupfen gewesen, dann eine handfeste Erkältung. So dachten sie zumindest.

Als der Unglückselige dann auch noch begann, Blut zu spucken und drastisch an Gewicht zu verlieren, hatte Lavande ihre Diagnose schnell verworfen. Für gewöhnlich war sie eine ausgezeichnete Heilerin. Obwohl die Leute im Dorf Kariyuus Zorn fürchteten und erst recht von Angst geplagt wurden, seitdem Ronga nun auch noch in das Haus gezogen war, waren sie immer hergekommen, um sich von ihr helfen lassen. Meist war ihr das auch bestens gelungen. Doch Kariyuus mysteriöse Krankheit überstieg ihre Kenntnisse. Auch der Heiler aus der fernen Stadt, den Ronga in Windeseile hergebracht hatte, war überfordert gewesen.

Als Resultat dessen lag ihr gemeinsamer Freund nun im Sterben, das konnte Ronga deutlich dem Gesicht der jungen Frau entnehmen. „Er...“ Ihre Stimme brach wie morsches Holz. Sie räusperte sich, versuchte es erneut. Ihre Kehle brachte kaum mehr als ein heiseres Flüstern hervor. „Er will dich sehen. Allein. Beeil dich, er hat sich gerade von mir...“ Die Tränen sprangen ihr in die Augen. „... verabschiedet.“ Ronga zog sie an sich, schlang tröstend die Arme um sie. Eine Weile ließ sie den Kopf gegen seine Brust sinken und weinte sehr leise. Dann plötzlich löste sie sich mit einem Ruck aus der Umarmung. „Du musst zu ihm... Er sagte, es wäre sehr wichtig. Geh, bevor er...“ Der Nachtwolf ersparte es ihr, den Satz zuende zu sprechen. Eilig verschwand er im Zimmer.

Der Anblick, der sich ihm bot, schnürte ihm gleichermaßen die Kehle zu wie zuvor Lavande. Kariyuu sah aus, als wäre er am gerade vergangenen Tag 20 Jahre gealtert. Sein Gesicht war eingefallen, die Haut rau und rissig, die zuvor pechschwarzen Haare aschgrau. Von weitem sah es aus, als wäre Rongas inzwischen langjähriger Freund von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Am schlimmsten jedoch waren die leeren, tiefschwarzen Murmelaugen, die den Eindruck vermittelten, der Drache wäre bereits tot. Schweren Herzens kniete sich Ronga neben ihn. „Ich bin hier“, sagte er, als Kariyuu keine Reaktion zeigte.

Der Halbdrache streckte die Hand aus bis sie die von Ronga berührte. „Du bist warm...“ murmelte er abwesend.

„Ich... nun...“ setzte Ronga an.

„Ja, du lebst. Noch sehr lange“, meinte Kariyuu vielsagend. Er kannte den anderen gut genug, um zu wissen, dass er das hatte sagen wollen.

„Ich verstehe nicht... Ist das so etwas wie eine Weissagung?“

„Erinnerst du dich, wie ich dir von den Träumen erzählte, die wir Drachen haben?“

Ronga nickte, erinnerte sich daran, das der andere ihn anscheinend nicht mehr sah und fügte ein leises „Ja“ hinzu.

„Ich habe geträumt-“ Ein Hustenanfall unterbrach ihn, gefolgt von einem Schwall von Flüchen. „Vermaledeite Lunge, lass mich ausreden, wenn ich schon einmal was Intelligentes zu sagen habe!“ schnauzte er. Seine Lunge dankte es ihm neuerlichem Husten. „VERFLUCHT seihst du, dummes Organ! Ich hab’s ja verstanden!“ beschwerte sich der Drache erneut. „Ich fasse mich ja kurz.“ Trotz der traurigen Situation musste Ronga lächeln. Dies hier war sein Freund, wie er ihn im Gedächtnis behalten wollte: Laut, lebhaft, großmäulig und sogar auf dem Sterbebett noch einen zynischen Witz auf den Lippen.

„Ich sah, was ihr euch von dem Alchemisten gewünscht habt... Und wie eure Wünsche in Erfüllung gehen.“ Seltsamerweise lächelte er nicht, obwohl Ronga sich sicher war, dass er ihnen die Erfüllung ihrer Wünsche gegönnt hätte.

„Bis jetzt ist nichts geschehen“, erklärte er irritiert.

Kariyuu nickte nur. „Wünsche erfüllen sich nicht von heute auf morgen. Willst du wissen, was Lavandes Wunsch war?“

„Ich weiß nicht... Wäre das in Ordnung?“

„Sicherlich. Sie liebt dich schließlich.“ Kein bisschen Bitterkeit lag in seiner Stimme, als er dies sagte. „Wie lang werft ihr beiden euch schon diese Blicke zu und nehmt Rücksicht auf mich?“

Ronga schüttelte den Kopf. „Ich würde nie...“

„Wenngleich vielleicht nicht als ihr Geliebter, du wirst mit ihr zusammensein. Schon allein, weil ich darum bitte, in ihrer Nähe zu bleiben und auf sie aufzupassen. Sonst war ihr Wunsch umsonst.“ Begleitet von einem heiseren Pfeifen, kämpfte Kariyuu um den nächsten Atemzug, um fortzufahren: „Der Konflikt zwischen unseren Völkern hat sie schon immer sehr belastet. Also hat sie sich gewünscht, kein Engel mehr zu sein, um ungehindert und so lang wie möglich mit dem zusammenleben zu können, den sie liebt. Leider kennt sie ihr Herz manchmal ziemlich schlecht.“ Wieder hallte ein lautes Husten durch den Raum. Ronga sah betreten zu Boden, dann besorgt zu dem Drachen. Hätte sich in diesem Moment ein bodenloses, schwarzes Loch vor ihm aufgetan, er wäre mit Freuden darin versunken.

„Ungehindert heißt auch, ohne dass derjenige, der ihrem Herzen beinahe genauso nahe steht, ihre Gefühle durcheinanderbringt.“

„Du willst doch nicht sagen, dass du deshalb...!“

„Dass ich deshalb erkrankt bin, ja.“ Immer noch keine Bitterkeit. Nur ein mitfühlendes Lächeln. „Ich habe eure Zukunft gesehen. Du musst... Verdammter Husten!“ Er schloss Lippen und Augen und tastete nach Rongas Geist. Der Nachtwolf, dem das Gedankenlesen im Blut lag, nahm die Einladung in das Denken des anderen an. Sie sprachen auf dieser Ebene weiter.

„Du hast dir unendliche Weisheit gewünscht, doch Weisheit verleiht einem nur das Leben selbst. Folglich wirst du ewig leben, damit sich dein Wunsch erfüllt. Wenn ich meinen Traum richtig gedeutet habe, wird Lavande ebenfalls so lang leben, bis sie kein Engel mehr ist, so wie es wollte... Sie wird bei dem sein, den sie liebt...“

Ronga war klug genug, zu wissen, dass ein ewig währendes Leben schlimmer war als der Tod. Sie und er würden alle sterben sehen, die sie gern hatten, nur um sich an neue Menschen (oder menschenähnliche Wesen) zu binden und wieder auf deren Beerdigungen zu gehen. Noch dazu hatten sie beide durch ihre unüberlegten Wünsche ihren engsten Vertrauten umgebracht. Unwillkürlich ballte er die Hand, die Kariyuu nicht hielt zu einer Faust. Die Fingernägel gruben sich so tief in seine Handfläche, dass es blutete. „Es... tut mir leid“, flüsterte er. „Mir auch“, antwortete ihm der Verstand des Drachen. „Ich bin nicht wütend auf euch. Ihr wusstet es nicht besser und ich bezweifle, dass ich es ohne die Vision besser gewusst hätte. Es ist traurig, mit dem Wissen zu gehen, dass euch so viel Furchtbares wiederfahren wird...“

„Du hast unser Leben gesehen...“ sendete Ronga zurück. Wollte er das, was Kariyuu ihm zu sagen gedachte überhaupt hören?

„Ich kann nicht sagen, was du aus deinem Leben machen wirst. Wenn du es wirklich darauf verwendest, die Weisheit zu suchen, findest du vielleicht einen Weg, mit dem Leben und Sterben um dich herum in Einheit zu leben. Luv jedoch wird schon sehr bald zerbrechen und dem Wahnsinn verfallen, weil sie die vielen Verluste, allen voran wohl leider den meinigen, nicht erträgt. Ich habe einen Haufen Verwandte, deren Nachfahren sie heimsuchen wird. Ebenso wie deren Kinder und Kindeskinder. Deswegen wollte ich unbedingt mit dir sprechen.“

Ronga biss die Zähne aufeinander. Er hörte ihr mahlendes Knirschen und fand es seltsam beruhigend. Stillschweigend „hörte“ er sich den Rest der Weissagung an.

„Es ist ein wenig ungerecht, dich auf diese Weise zu zwingen, aber ich werde dir dies dennoch als meinen letzten Wunsch mitgeben, um sicherzugehen, dass du ihn auch in die Tat umsetzt... Es gibt einen Weg, Lavande zu töten. Ich bekam in meinem Traum einige Hinweise. Suche in der Reihe meiner Nachfahren nach einem blinden Drachen. Zusammen mit dem Auge des Orion sollten sie der Schlüssel zu ihrem Tod sein.“

„Blinder Drache? Auge des Orion ?“ hakte Ronga nach.

„Blind, weil er vor seiner Vergangenheit davonlaufen wird, wenn Lavande mit ihm fertig ist. Und weil seine Augen so tot aussehen werden wie die meinigen jetzt.“

Schwarze Murmeln im Kopf eines lebendigen Drachen. Furchtbare Vorstellung, dachte Ronga schaudernd. „Was das Auge des Orion angeht...“ Kariyuu ließ einen runden, grünen Stein unter der Bettdecke hervorrollen. „Ich habe es von dem Alchemisten stehlen lassen. Er stahl es selbst, also ist durchaus gerechtfertigt. Es gehört nicht ihm und wird seine Kraft nur in Verbindung mit einem Drachen entfalten. Gib es weder Lavande noch ihm. Sie wird versuchen, damit den Planeten zu zerstören; er wird versuchen, sein Lebenswerk, also euch, zu erhalten.“

Ronga nickte. Seine Sicht verschwamm ihm, weil seine Augen nässten, doch er wartete tapfer bis alles vorbei war. „Geh in die Welt, jenseits des Bannkreises, der diese Insel umschließt“, bat Kariyuu. „Finde den Jungen und töte Lavande, damit sie Frieden findet. Wenn du dein Leben zusammen mit ihr beenden willst, leiste ihr den Treueschwur, der bei eurem Volk üblich ist, wenn euch jemand das Leben rettete. Vielleicht zieht sie dich dann mit ‚hinüber’. Doch überlege es dir gut... Und, wenn du mir eine Freude machen willst, mach etwas aus deinem Leben bis es soweit ist. Etwas, das dir gefällt. Irgend...“

Hastig zog sich Ronga aus dem Geist des Sterbenden zurück. Wenn er in dessen Gedanken verblieb, nachdem er verstorben war, würden seine eigenen möglicherweise zwischen den Welten hängen bleiben. Man hatte ihm beigebracht, dass das sehr gefährlich werden konnte. Es genügte, wenn Lavande wahnsinnig wurde.

Plötzlich glühte die kaffeebraune Hand auf, die auf Rongas zitternden Fingern ruhte. Er spürte, wie der letzte Atem aus dem Drachen wich, zusammen mit der Magie, die er besessen hatte. Sogleich kroch eine angenehme Wärme seinen Arm hinauf, breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Er riss die Augen auf. „Du gehst und vermachst mir deine Kräfte?“ krächzte er fassungslos. „Deine Großzügigkeit hätte ganze Völker ernähren können und du stirbst einfach...“ Du redest mit einem Toten, ermahnte Ronga sich. Spar dir deine Worte lieber für die Lebenden. Die brauchen sie dringender. Allen voran Lavande. Er sah zu wie der Körper seines Freundes sich langsam in Dutzende, winzig kleiner Feuer auflöste. Irrlichter. Lebendige Flammen, die sich ausgerechnet von Feuchtigkeit ernährten. Sie flohen durch das offene Fenster ins Freie. Der Anblick war atemberaubend schön.

Mit wackligen Beinen erhob Ronga sich, um Lavande mitzuteilen, dass ihr Angetrauter nicht mehr unter den Lebenden weilte.


 

Dies war der letzte Augenblick, den Ronga uns in aller Ausführlichkeit zeigte. Was nun folgte, war eine Reihe von Momentaufnahmen, die Rick mächtig ins Schwitzen brachten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Nochnoi
2007-09-20T17:43:59+00:00 20.09.2007 19:43
Irgendwie kriege ich gerade ein wenig Mitleid mit Lavande O.o Sie hat unwissentlich ihren Mann umgebracht, obwohl das bestimmt das Letzte war, was sie gewollt hat. Jetzt kann ich sogar ansatzweise verstehen, wieso das Mädel später so krass drauf ist o.ô
Kariyuus Todeskampf war wirklich eindringlich beschrieben, einfach nur traurig óò Der arme Kerl - und er macht Lavande nicht mal einen Vorwurf. Und trotz der melancholischen Stimmung musste ich dennoch lächeln, als er sich mit seiner Lunge gestritten hat :) Wirklich schade um ihn ...
Aber jetzt wissen wir wenigstens ein bisschen mehr über den Blinden Drachen und das Auge des Orion. Ich bleibe weiterhin gespannt ^.^


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