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Blind Dragon

Das Auge des Orion
von

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Kapitel 13

„Gute Nacht… oder sollte ich guten Morgen sagen?“ Ihre Stimme klang glockenhell und weckte mich. Ich fuhr hoch und blieb dann wie vom Donner gerührt aufrecht sitzen. Das Fenster stand offen. Leicht durch die Höhe gedämpft drangen die Geräusche der Via Etruria herein. Die Straße war nachts kaum befahren, doch man hörte deutlich die Stimmen der kleinen Grüppchen, die noch durch die Stadt schlenderten und davon gab es viele. Auf der Fensterbank saß eine junge Frau, weiß gekleidet und von Mond und Lichtsmog gleichermaßen in Szene gesetzt. „Was…?“ setzte ich an.

„Shhhht! Weck ihn nicht.“

Marco schlief auf der anderen Seite unseres Zimmers, von Zeit zu Zeit leise schnarchend. Ein Sabberfaden reflektierte das durch’s Fenster einfallende Licht. „Wenn Lucia ihren großen starken Marco so sehen könnte“, grinste ich. Die junge Frau auf der Fensterbank lächelte. Ich musterte sie eingehend, versuchte in ihren Augen zu lesen, doch sie zwinkerte kokett, als ihr aufging, dass ich sie beobachtete. „Wer bist du?“ flüsterte ich und kam mir reichlich dumm dabei vor.

„Ein Engel“, flüsterte sie zurück. Mich fröstelte. Irgendwie faszinierte sie mich. Ich wusste weder woher sie kam, noch wie sie hier hergekommen war und mit welchem Motiv. Dass sie nun auch noch wirr redete, machte sie nur noch interessanter. „Seltsamer Humor“, befand ich.

„Darüber mache ich keine Witze“, entgegnete sie freundlich.

„Ach nein?“

„Nein. Zieh dich um und komm mit raus. Wir fliegen. Dann hast du den Beweis.“

Das klang vielversprechend. Und gefährlich. Was, wenn sie nun vom Dach sprang, weil sie wirklich glaubte, sie könne fliegen? Besser, jemand war bei ihr, um sie von derartigem Unsinn abzuhalten. Vielleicht war sie betrunken. Ich tauschte T-Shirt und Shorts gegen tagesslichttaugliche Kleidung, wozu ich mich unter der Bettdecke verkriechen musste, da sie keine Anstalten machte, wegzusehen.

„Schüchtern?“ fragte sie überflüssigerweise.

„Ich kenn dich ja kaum 5 Minuten“, verteidigte ich mich.

„Du wirst mich sicher kennen lernen“, versprach sie in samtweichem Ton. Verwirrt versuchte ich, aus dieser Bemerkung schlau zu werden.

„Sprichst du immer in Rätseln?“ wollte ich wissen.

„Im Gegenteil. Ich tue es nie.“

„Schon wieder.“

Sie hielt mir ihre Hand entgegen. „Kommst du?“

Ich warf einen zweifelnden Blick auf Marco. Sollte ich ihn mitnehmen, oder handelte er sich dann womöglich Ärger mit Lucia ein? Wollte ich ihn überhaupt bei diesem Abendteuer dabei haben? „Er ist hübsch“, bekundete sie listig. „Besonders, wenn er schläft.“

„Und er ist vergeben“, sagte ich eifersüchtig. Sie hauchte ein Lachen in den Raum. „Willst du dich von ihm verabschieden?“

„Ach was“, sagte ich leichthin. „Wir machen schon keine Weltreise. Wahrscheinlich fällst du vom Himmel wie ein Stein, Möchtegern-Engel.“

„Wie du meinst“, erwiderte sie knapp und zog mich zum Fenster hinaus. Wir kletterten auf’s Dach, was vom vierten von vier Stockwerken ausgehend kein ernstzunehmendes Problem darstellte. Unter uns erstreckte sich Tuscalano, ein kleines, verwinkeltes Stadtviertel Roms. Meine Heimat. Ich hatte aus der Republik Kongo fliehen müssen, in deren spärlichen Regenwäldern ich meine Kindheit verbracht hatte. Marcos Familie hatte mir über alle Hürden des „zivilisierten“ Lebens hinweggeholfen und mich dadurch wohl vor der Zukunft gerettet, die viele meiner Stammesgenossen ereilt hatte: Ein einsames Leben in der Großstadt mit der Flasche als bestem Freund. Wurde es mir der familiären Wärme zuviel, verzog ich mich seit je her an den Computer, wo ich kleine Programme schrieb und mich stetig weiterbildete. Selbst Marco zog es dann vor, mich nicht zu stören, obwohl ich ihn gelassen hätte. Wir waren wie Brüder großgeworden. Niemand verstand sich besser darauf, mich einzuschätzen als er.

„Und jetzt?“ fragte ich herausfordernd, nachdem ich mich satt gesehen hatte.

„Jetzt fliegen wir“, gab sie zurück und schubste mich vom Dach.

Es kam völlig unerwartet. Ich fiel hinunter, doch statt in panischen Stillstand zu verfallen, machte sich mein Verstand an seinen Lagebericht. Ich werde nicht sterben, aber ich breche mir sicherlich was. Ich war 16 und liebte jede Art der Bewegung vom allseits gefürchteten Dauerlauf bei Signora Peretti bis zur Prügelei auf dem Schulhof. Langfristige Verletzungen, ein Beinbruch etwa, kamen für mich einem Todesurteil gleich. Die Stockwerke zogen gnadenlos an mir vorüber.
 

(Vier)

Ich muss Halt finden!

(Drei)

Ich riss die Arme auseinander, tastete wild umher, ohne jedoch irgendeinen Vorsprung des Altbaus zu Erreichen. Ich vermisste die rettende Fahnenstange aus den Comics.

(Zwei)

Ich muss fliegen! Absurder Gedanke. Einfach die Flügel ausbreiten und…

(Eins)

…fliegen?
 

Der Wind fegte durch die Gassen und schleuderte mich zurück in die Höhe. Ich hörte Stoff zerreißen, doch das Geräusch schien mir verspätet wie der Donner, der dem Blitz folgte. Es war mein Lieblingshemd, dessen Rücken jetzt vollkommen zerrissen war. Dort wo es meinen Rücken bedeckt hatte, prangten zwei Flügel, in Form und Gebrauch ähnlich denen einer Fledermaus, nur rotorange und natürlich sehr viel größer. „Drachenflügel“, staunte ich.

„Verdreh dir nicht den Nacken!“ rief sie mir zu und schwebte heran, von weißen Engelsflügeln getragen. Ich hörte auf, mir über die Schulter zu schauen und starrte stattdessen sie an. „Du bist tatsächlich…“

„Dort drüben“, unterbrach sie mich. Ich folgte ihrem ausgestreckten Arm mit den Augen und erblickte eine große ovale Scheibe aus weißem Licht. Wie ein aufgehangener Spiegel stand sie senkrecht in der Luft. „Da rein?“ Sie nickte. Mir kam ein furchtbarer Gedanke. „Ich sterbe doch nicht gerade, oder?“ fragte ich verunsichert. Marco hatte mir Geschichten erzählt über Menschen, die, geleitet von Engeln, in den Himmel kamen, wenn sie starben. Ich fand das sehr befremdlich.

„Noch lange nicht“ beruhigte sie mich. Also flogen wir wohl nicht in den Himmel. Mit kindlicher Neugier betrachtete ich das Tor. Wenn es nicht der Himmel war, was mochte dann dahinter liegen?
 

Wie ich sehr bald feststellen sollte, hatte sie mich zwar nicht angelogen, als sie sagte ich würde nicht sterben, doch die ungetrübte Wahrheit war es auch nicht gewesen. Zwar hörte ich nicht auf zu atmen und mein Herz schlug weiterhin, doch in den nächsten Monaten starb etwas in mir an Freiheitsberaubung, Verrat und Mangelerscheinungen: Der Teil meines Wesens, der an das Gute im Menschen glaubte.
 

--

Fremde zogen ihn aus dem verdreckten Wasser wie ein riesiges Stück Treibholz. Um seine Beine schlackerte ein Laken, das einmal weiß gewesen war. Nun war es grau und durchgeweicht, stand aber dennoch in krassem Gegensatz zu seiner fast ebenholzfarbenen Haut. Selbige war rissig und aufgesprungen vom salzigen Wasser. Einige Schürfwunden verunzierten seine Hände, Ellenbogen und Knie. Er war dünn und offensichtlich blind, sehr zum Ärger seiner Retter aber immer noch in der Lage, wild um sich zu schlagen und zu treten, sobald er Land unter seinen Füßen spürte. Verzweifelt versuchten die drei Männer und die junge Frau, ihn zu beruhigen, doch ihre Bemühungen brachten ihnen das genaue Gegenteil von dem, was sie wollten. Statt sich zu beruhigen, begann er in einer Sprache herumzuschreien, die für die Gruppe klang als spräche er rückwärts. „No, not scream“, probierte es der einzige unter ihnen, der wenigstens ein bisschen Englisch konnte. Hinter ihnen lag eine Stadt aus schäbigen Baracken. Ein Ort, an dem Bildung nicht weit verbreitet war. Der Junge erstarrte und lauschte gebannt. „Fu—friends it is“, sagte der Japaner etwas leiser als zuvor. „Not scream.“ Er schien zu verstehen. „Where…?“ brachte er unter großer Anstrengung hervor. „Nihon…“ Keine Reaktion. „Japan?“ Ein schwaches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Fremden. „Japan…“ wiederholte er, begleitet von einem erleichterten Seufzer. Dann sackte er einfach in sich zusammen.

--
 

Das Lichttor hatte mich ohne Umwege in ein Gefängnis befördert. Die junge Frau war fort, genauso meine Flügel. An ihrer Stelle klafften zwei senkrechte, strichförmige Wunden auf meinem Rücken. Wie lang saß ich schon hier? Es war stockdunkel. War ich blind geworden? Vorsichtig tastete ich nach meinen Augen. Ich fand sie unversehrt an Ort und Stelle vor, senkte die Lider und rieb daran herum. Sogleich tanzten bunte Punkte in der Dunkelheit. Ich beschloss, dass es in diesem Raum schlichtweg kein Licht gab. Kälte kroch mir die Glieder und mein Magen knurrte. Ich versuchte aufzustehen, fiel jedoch vornüber. Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Fußgelenke mit einer Kette verbunden waren. Vorsichtig betastete ich sie und fand einen Ring, der im Boden verankert war. Hier lief die Kette hindurch. Mein Blut sauste durch meinen Kopf als müsse es überall gleichzeitig sein, die Nackenhaare standen mir zu Berge. Kurzum: Ich hatte Angst.

„Hey!“ brüllte ich. „Wo bist du verdammt noch mal!“

Wie auf ein Stichwort blitzte eine tragbare Leuchtstoffröhre auf und offenbarte mir, dass ich wirklich noch sehend war. Ihr Licht zeigte mir hohe Steinwände, teils mit eingeritzten Schriftzeichen. Die Grundform des Raumes war kreisrund wie bei einem Burgturm. Ich saß schutzlos in dessen Mitte; sie in der Deckung der Wand, an die sie sich lässig lehnte. Dabei beleuchtete sie ihr Gesicht von unten wie es Kinder so gern mit Taschenlampen tun. Zum ersten Male konnte ich sie mir in aller Ruhe ansehen. Ihr Haar war golden und fiel ihr in sanften Wellen auf die Schultern, die Haut des fein gemeißelten Gesichts war fast weiß, die Augen von einem so kalten, intensiven Blau, dass es mir den Atem verschlug. Die Werbebranche hätte sie wohl als unheimlich schön bezeichnet. Ich hingegen fand sie einfach unheimlich.

„Willkommen“, begrüßte sie mich.

„Sehr witzig!“ schrie ich sie an. „Was soll das?! Bring mich sofort wieder hier weg!“

„Sag mir deinen Namen, Kori.“

„Was?! Den kennst du doch schon, so wie’s aussieht. Lass! Mich! Hier! Raus!“ Wütend zerrte ich an meinen rasselnden Ketten.

„Sag ihn mir“, wiederholte sie. „Egal, wie sinnlos meine Forderungen dir erscheinen mögen… Besser du erfüllst sie. Andernfalls darfst du mit grausamer Strafe rechnen.“

„Wenn das hier irgendein schlechter Scherz ist, dann wäre jetzt der Augenblick gekommen, mir das mitzuteilen“, fand ich.

„Kein Scherz“, sagte sie, zauberte ein Bund Weintrauben hinter ihrem Rücken hervor und schob sich eine davon in den Mund. „Hunger?“

„Nein“, log ich trotzig. „Warum hast du mich hier hergebracht?“

Sie schwieg. Schaltete nur die Leuchtstoffröhre aus, um sie gleich wieder anzuknipsen. Dasselbe Spiel führte sie eine Weile fort. An. Aus. An. Aus.

„Sag mir deinen Namen.“

An.

„Ich bitte dich zum letzten Mal auf diese Weise. Danach zwinge ich dich.“

Aus.

„Einen feuchten Dreck sag ich dir“, zischte ich zurück.

An.

„Wie du willst.“ Sie durchbohrte mich mit ihrem Blick. Dann stand sie auf und sprach dabei sehr langsam weiter. „Was in den nächsten Tagen geschieht, das hast du zu verantworten. Es geschieht, weil du mir eine Banalität wie deinen Namen nicht mitteilen wolltest.“

Aus.

Die Tür fand sie, ohne hinsehen zu müssen. Sie schloss sie auf, trat hindurch und warf sie hinter sich zu.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Anoriel
2008-03-21T22:43:40+00:00 21.03.2008 23:43
oh... der engel ist ja echt böse.. oder hab nur ich diesen Eindruck?
Ich meine, die Frage an sich ist ja schon n Wiederspruch... 'Sag mir deinen Namen, Kori'?
Nyaa.... spannend bleibts auf jedenfall.. wunder mich warum sie das wollte...


Von:  Nochnoi
2007-09-10T16:52:56+00:00 10.09.2007 18:52
Sehr interessant ... und sehr mysteriös ^.^ Du verstehst es wirklich, jemanden zu verwirren und gerade das mag ich XDD Immer mehr Rätsel, ganz nach meinem Geschnack ^____^
Endlich erfahren wir ein bisschen von Kori! Er ist also aus dem Kongo geflohen und hat dann in Rom gelebt? Wirklich sehr interessant - ganz besonders, da ich Rom ja so liebe ^.^ Da hat er aber eine gute Wahl getroffen XDD
Und dieses Engelchen ist wirklich ausgesprochen unheimlich, da muss ich Kori recht geben O.o Ein total seltsames Persönchen ... und gerade deswegen irgendwie cool ^.^


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