Countdown
Kapitel 7: Countdown
Tsubasa hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er wußte nicht, wie lange er hier schon eingesperrt war – es hätten genauso gut Monate sein können. Seit dem letzten Besuch hatte sich der Unbekannte nicht mehr hier blicken lassen. Er war wütend gewesen. Die Nachricht zu schreiben, war Tsubasa sehr schwer gefallen. Immerhin waren seine Hände stundenlang gefesselt gewesen, er hatte kein Gefühl in den Fingern und hatte kaum den Stift halten können. Schließlich hatte der Mann entnervt den Brief auf eine einzige Zeile reduziert und Tsubasa war es wenigstens gelungen, es unbemerkt so umzuformulieren, dass er ziemlich sicher sein konnte, dass seine Freunde weitersuchen würden. Danach hatte er jedoch dummerweise einen großen Fehler begangen und den Fremden, der wegen des Zeitverlustes eh gereizt gewesen war, durch einen miserablen Fluchtversuch erst recht wütend gemacht. Damit das Blut schneller wieder in seine Arme zurück floss und er schreiben konnte, hatte sich der Entführer dazu überreden lassen, auch seine Füße loszubinden, damit er wenigstens ein paar Schritte laufen konnte, um seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Er hatte Tsubasa unterschätzt, und Tsubasa hatte seine körperliche Verfassung überschätzt. Das Ende vom Lied war, dass er sich einen erneuten Schlag ins Gesicht eingefangen hatte und wieder gefesselt auf der Matratze saß, die sein Lager bildete. Der Unbekannte war kurz davor gewesen, ihn auch wieder zu knebeln, hatte aber wegen dem Erstickungsrisiko dann doch davon abgesehen. Dafür hatte Tsubasa nur einen einzigen Schluck Wasser bekommen. Das erneut gefüllt Glas stand wieder so, dass er die Umrisse direkt sehen musste, trotz der Finsternis, die ihn umgab. Die letzten Stunden – oder Minuten? - hatte er in einer Art Dämmerzustand verbracht, unfähig, Träume und Realität irgendwie voneinander zu trennen. Die Fesseln schienen noch fester zu sein, wie beim ersten Mal, der erneute Schlag ins Gesicht hatte seinen Kopf wieder in eine Baustelle zu verwandelt, und seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Glas zurück, dass in geringer Entfernung neben ihm stand, gemeinsam mit den erlösenden Aspirin-Tabletten, und ihn höhnisch anzugrinsen schien. Grinsende Gläser.....hoffentlich verlor er hier nicht noch den Verstand. Ab und zu war ihm, als hörte er seine Freunde nach ihm rufen, aber er fühlte sich zu erschöpft, um zu antworten. Seine Eltern tauchten auf und verkündeten fröhlich, den England-Urlaub abgebrochen zu haben, Kojiro schimpfte wütend, weil er das Spiel verpasste, und Sanae saß neben ihm und erzählte irgendetwas von einem Schulausflug. Sanae...immer wieder Sanae. Sanae, wie sie morgens gut gelaunt auf dem Fußballplatz auftauchte, wenn er alleine trainierte, Sanae, wie sie ihn bei ihrem letzten Treffen glücklich angelacht hatte, und Sanae, wie sie ihm nach dem morgendlichen Training ohne viele Worte eine Getränke-Dose zuwarf. Tsubasa öffnete die Augen und blickte das Glas an. Es grinste immer noch. In einem plötzlichen Wutanfall stieß er es mit den Füßen um. Es klirrte, als es auf dem Boden aufschlug und außer Sichtweite kullerte. Dann wurde es still. Tsubasa spürte, wie seine Wut sich in Entsetzen verwandelte. Jetzt war das Wasser endgültig weg – verteilt auf dem Fußboden und zu weit entfernt, um es irgendwie erreichen zu können. Er zwang sich zur Ruhe und schloss die Augen wieder. Nicht durchdrehen! Ja nicht durchdrehen.....es konnte nicht mehr lange dauern, bis er hier raus kam! Seine Freunde würden ihn finden, ganz sicher!
***
„Das kann nicht euer Ernst sein!“ Sanae starrte die Anderen entsetzt an. „Ihr wollt aufhören?!“
„Wir haben doch gestern schon alles versucht.“, verteidigte sich Taki. „Wir haben alle befragt, und du hast doch selber gesagt, dass wir nichts tun dürfen, was Tsubasa gefährdet! Ich will nicht wissen, was der Mistkerl mit ihm gemacht hat, damit er diese Nachricht schreibt! Das beste ist, wir geben nach und verlieren dieses verdammte Spiel. Hauptsache, Tsubasa kommt heil wieder zurück.“
Sanae traute ihren Ohren nicht. Sie ballte die Hände fest zu Fäusten und setzte schon zu einem neuen Protest an, aber Ryo kam ihr zuvor.
„Das können wir nicht machen! Tsubasa hat nicht geschrieben „Sucht mich nicht“, sondern „Fragt nicht länger“. Er will, dass wir nicht aufgeben! Verdammt noch mal, Leute, ihr könnt doch nicht ernsthaft die Flinte ins Korn werfen....“
„Wir wollen Tsubasa nur nicht unnötig in Gefahr bringen! Was ist denn daran so schlimm?“
„Das wir ihn im Stich lassen, das ist schlimm!“ Izawa knallte die Hand auf die Tischplatte. „Wir dürfen jetzt einfach nicht mit der Suche aufhören.“
„Wenn das Spiel vorbei ist, wird er bestimmt frei gelassen.“
„So?“ Ryo beugte sich etwas vor. „Und was, wenn nicht? Habt ihr da schon mal dran gedacht,hm? Was, wenn er irgendwas falsches gesehen hat und deswegen...“
„Hör auf, du hast zu viele schlechte Krimis gelesen!“
„Wir sind in einem schlechten Krimi.“, entgegnete Ryo finster. „Macht doch, was ihr wollt, ich werde jedenfalls weiter suchen!“ Damit verließ er wutentbrannt die Kabine. Sanae zögerte, dann folgte sie ihm.
Izawa musterte die Anderen stumm.
„Ihr solltet vielleicht wirklich einfach hier bleiben und trainieren, bis das Spiel anfängt, sonst ist es noch auffälliger. Aber stellt keine Fragen mehr.“, meinte er schließlich, bevor er sie ebenfalls stehen ließ. Yukari erhob sich.
„Ich helfe auch weiter.“
Nachdem sie gegangen waren, blickten sich die Anderen betreten an.
„Irgendwie fühle ich mich mies.“; meinte Shingo betreten.
„Da bist du nicht der einzige. Aber ich will nicht daran schuld sein, dass Tsubasa etwas zustößt. Wir haben gestern schon genug angerichtet, sonst hätte er nicht diese Nachricht geschrieben.“
Kumi saß stumm und bleich in einer Ecke und starrte auf den Boden.
„Vielleicht hätte ich gestern mehr beobachten sollen.“, murmelte sie leise. „Wenn ich genauer hingesehen hätte....“
Kisugi winkte ab. „Zerbrich dir nicht den Kopf, Kumi. Du hast uns gesagt, was du weißt, das ist das wichtigste.“
Kumi nickte stumm und blinzelte die Tränen zurück.
„Hoffentlich passiert Tsubasa nichts.“, wimmerte sie leise.
Die Anderen schwiegen.
„Fangen wir am besten mit dem Training an.“
***
Sanae kochte vor Wut. „Sie geben auf! Sie geben wirklich auf!“
„Sie machen sich eben auch nur Sorgen um Tsubasa.“, wurde sie von Yukari beschwichtigt. „Und ihre Argumente geben Sinn, das musst du auch zugeben. Wir haben gestern alles getan, was wir können.“
„Also willst du auch aufgeben, ja?“, fauchte Sanae deprimiert.
„Nein, will ich nicht! Aber wir müssen höllisch aufpassen.“
„Vielleicht ist es ja sogar besser, wenn wir zu viert weitersuchen und die anderen aufhören.“, meinte Izawa nachdenklich.
„Aber wie sollen wir ihn zu viert in zwei Stunden finden? Es ist schon zehn, und er könnte überall sein! Vielleicht haben sie ihn sogar aus Nankatsu rausgebracht.....“, antwortete Ryo niedergeschlagen.
Izawa schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Dazu hätte der Typ ein Auto gebraucht, und das wäre dann glaube ich doch aufgefallen.“
„Wieso? Schlag auf den Kopf, in den Kofferraum, und weg.“, meinte Ryo bitter und ignorierte die schockierten Blicke, die Sanae ihm zuwarf.
„Ryo, es ist auf dem Radweg passiert. Wenn Tsubasa wirklich mit einem Auto entführt worden wäre, hätten sie ihn erst mal zur Straße tragen müssen, und das ist ein ziemlich weites Stück. Etwas auffällig, oder?“, entgegnete Izawa ruhig.
„Das heißt, er ist doch irgendwo in der Nähe?“, meinte Sanae hoffnungsvoll.
Izawa nickte. „Ich tippe schon. Aber wir können keine Fragen mehr stellen. Am besten versuchen wir, den Typen mit dem blauen T-Shirt zu erwischen.“
„Und wie?“, wollte Yukari wissen. „Wenn er heute kein blaues, sondern ein rotes T-Shirt an hat, haben wir schon ein Problem. Wir kennen sein Gesicht nicht.....“
„Eine andere Chance sehe ich trotzdem nicht. Am besten beobachten wir die anderen unauffällig beim Training und hoffen, dass wir ihn auch beim beobachten kriegen. Irgendwie muss er schließlich gemerkt haben, dass wir alle Fragen gestellt haben.“
Die Anderen nickten zustimmend, jetzt mit neuer Hoffnung erfüllt. Vielleicht fanden sie Tsubasa doch noch rechtzeitig vor Spielbeginn.