Zum Inhalt der Seite

Die letzten Jahre

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Tiefer Fall

Kapitel XVII : Tiefer Fall
 

Als der Morgen graute, machte Harry sich auf den Weg in die Große Halle. Am liebsten hätte er jedoch den Schlafsaal angesteuert und sich noch für ein paar Stunden schlafen gelegt – die letzte, wach verbrachte Nacht hatte ziemlich an ihm gezehrt. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, als wäre die Nacht noch nicht völlig aus ihm gewichen und er bewegte sich langsam und träge wie ein von den Toten Auferstandener.
 

Als er sich an den Tisch setzte, merkte er, dass Hermine ihn beobachtete, doch sie sagte nichts.
 

In der ersten Stunde hatten sie Verteidigung gegen die Dunklen Künste, doch obwohl das einmal sein Lieblingsfach gewesen war, konnte er sich einfach nicht darauf konzentrieren. Stattdessen starrte er die ganze Doppelstunde lang aus dem Fenster und über die Wiesen von Hogwarts, die er jetzt das erste Mal wirklich wahrnahm. Im Gegensatz zu ihnen erschien ihm der Klassenraum grau, kalt und lebensfeindlich. Er ärgerte sich selbst darüber, in den Unterrichtsraum gegangen zu sein, anstatt das schöne Wetter zu genießen.
 

Was ihn jedoch noch viel mehr störte, waren die zunehmend besorgten Blicke von Hermine, die er in seinem Rücken spürte.
 

~~~~~*~~~~~
 

„Sag's.“
 

Harry hatte die Menge von Schülern, die zum Klingeln aus dem Raum strömten, ausgenutzt und Hermine einfach mitten im Strom angehalten. Ron hatte es nicht bemerkt und lief weiter.
 

Hermine hatte sich umgedreht, doch sie war nicht erstaunt. Mit ruhigem Blick sah sie ihm direkt in die Augen.
 

„Komm, wir suchen uns einen besseren Platz zum Reden.“ Sie drückte ihm die Hand in den Rücken.
 

Es war ein verlassener Klassenraum, den sie ansteuerte. Sorgsam schloss sie die Tür hinter sich und sprach einen Zauber. Dann drehte sie sich zu ihm um, die Handflächen an der Tür in ihrem Rücken. Anders als noch vor einer Minute wirkte sie nervös; als Harry versuchte, Blickkontakt mit ihr zu halten, wich sie ihm aus.
 

„Also?“, fragte er schließlich, als die Stille zu unerträglich wurde. „Wenn du dich nicht beeilst, wird Ron sich fragen, wo wir geblieben sind.“
 

Hermine nickte. Mit so einer logischen Argumentation konnte man sie immer überzeugen.
 

„Du ... verheimlichst uns irgendetwas. Ich weiß nicht was, aber – wenn du es uns noch nicht einmal sagen kannst, muss es ziemlich schlimm sein.“ Sie schluckte, sah kurz auf. „Aber du weißt doch, dass du uns alles sagen kannst, Harry, wir sind doch deine Freunde und-“
 

„Alles? Damals habt ihr auch ziemlich geschockt ausgesehen.“
 

„Ja, aber, Harry!“ Ihre Finger krallten sich an das Holz. „Natürlich waren wir geschockt, aber wir wollten dir doch nur helfen!“
 

„Aber ihr könnt es nicht.“
 

„Harry ...“
 

„Könnt ihr es?“
 

„Nein, aber-“
 

„Könnt ihr es!“
 

Hermine schluchzte. Harry sah nicht hin.
 

„Nein ...“
 

Sie ließ sich an der Wand hinunter gleiten und verbarg das Gesicht in ihren Händen. Harry hatte sie selten weinen sehen. Er wartete ruhig ab, obwohl sich sein Herz unangenehm verkrampfte, bis sie sich beruhigt hatte.
 

„Hermine. Sie mich an.“ Sie sah auf und wischte sich über die geröteten Augen. „Du kannst nichts dafür. Ron auch nicht. Der Einzige, der daran Schuld ist, bin ich. Nur ich! Aber ich möchte, dass ihr mich wie einen normalen Menschen behandelt. Ich will kein Mitleid.“
 

Hermine zog die Nase hoch, senkte ihren Blick und hob ihn wieder hoch, dann raffte sie sich auf, stand mühselig auf und versuchte zu lächeln.
 

„Du ... du hast wohl Recht, Harry.“ Sie sah noch einmal hoch, und hinter ihren verschleierten Augen sah Harry deutlich, dass er sie noch nicht vollkommen überzeugt hatte. Sie würde nicht aufgeben, sein Geheimnis aufzudecken.
 

~~~~~*~~~~~
 

Sie stießen erst nach der Pause wieder auf Ron, der zu Harrys Überraschung jedoch kein bisschen sauer auf ihr Fernbleiben zu sein schien. Dann bemerkte er den Blick, den Hermine Ron zusandte und der eigentlich heimlich hätte ausgetauscht werden sollen. Etwas Kaltes griff in seine Brust, als ihm bewusst wurde, dass Ron sie absichtlich hinter sich gelassen hatte.
 

Mit zunehmend ungutem Gefühl ging Harry hinter ihnen her, über die Wiesen von Hogwarts und hinüber zu Hagrids Hütte, wo sie Pflege Magischer Geschöpfe hatten. Die Sonne wärmte ihnen den Rücken, doch Harry konnte sich einfach nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Hatte das Gespräch mit Hermine eigentlich irgendetwas gebracht? Nach diesem Blick glaubte er es nicht mehr. War es richtig, sich verraten zu fühlen?
 

Lustlos fütterte er den Wichtel, den Hagrid ihm zugeteilt hatte und zuckte zurück, als dieser ihn in den Finger biss. Eigentlich wollte er die kleine Wunde ignorieren, doch Hermine, die ihn die ganze Zeit beobachtet hatte, keuchte erschrocken auf.
 

„Harry, das musst du sofort verarzten!“
 

Harry ließ sich widerstandslos von ihr zu Hagrid ziehen; ihm war es egal, ob er sich nun um den Wichtel kümmerte oder sich jemand um ihn. Hermine beobachtete ihn noch immer. Ihre Blicke brannten sich in seinen Rücken wie Schwefel.
 

„Hermine.“ Es musste aufhören. Irgendwie. „Du erinnerst dich doch noch an das, was ich dir eben gesagt habe, oder?“
 

Hermine antwortete nicht und selbst Hagrid verband Harrys Finger schweigend.

„Mensch, Harry!“ Ron fasste ihn an der Schulter an. „Ich – ich weiß, was du Hermine gesagt hast, aber glaubst du allen Ernstes, wir könnten das so einfach akzeptieren?“ Harry spürte, wie sich bei diesen Worten etwas in ihm verschloss. „Du hast ein verdammt hartes Schicksal, also kannst du 'Mitleid', wie du es nennst, gut gebrauchen!“
 

„Sei ruhig, Ron.“ Harry versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.
 

„Sieh es doch bitte ein, Harry!“
 

Harry wirbelte herum und riss seine Hand aus Hagrids.
 

„Nein, verdammt!“ Es war ihm egal, dass jeder ihn hören konnte. „Jetzt hört mir mal zu: Ich bin nicht hierher gekommen, um mich von jedem bemitleiden zu lassen! Ich will endlich mein Leben weiterführen, ist das euch nicht klar? Ich will meine Ruhe!“
 

Er wollte davonstürmen, doch Hermine hielt ihn fest. Sie war schon wieder den Tränen nahe.
 

„Harry, bitte ...“
 

„Lass mich!“
 

Er riss sich los. Alle starrten ihm hinterher.
 

~~~~~*~~~~~
 

Beim Mittagessen bekam er die Folgen seines Handelns zu spüren. Dass er ausgerastet war, hatte sich wie ein Lauffeuer unter den Schülern verbreitet. Jetzt spürte er die Blicke von allen Seiten kommen.
 

Den Kopf wie zum Schutz gesenkt aß er hastig seine Suppe und stand auf, sobald er fertig war. Als er die Halle verließ, wusste er, dass Hermine und Ron ihm folgten. Er versteckte sich in einer dunklen Nische am Rande des Gangs und hielt seinen Atem an. Sie liefen vorbei, sahen ihn jedoch nicht und als sie verschwunden waren, ging er einen anderen Weg.
 

Eigentlich hätte er jetzt zum Unterricht gehen sollen, doch wirklich Lust dazu verspürte er nicht. Stattdessen streifte er ohne ein Ziel durch die Gänge und senkte jedes Mal den Kopf, wenn er an anderen Schülern vorbeikam. Nicht einmal zu seiner Zeit als Held hatte er sich so gedemütigt und verlassen gefühlt.
 

~~~~~*~~~~~
 

Harrys Tag sollte sich noch mehr verschlimmern. Er kam gerade vom Abendessen aus der Großen Halle, als ihn McGonagall abfing.
 

„Mr Potter, wir haben etwas Dringendes mit Ihnen zu besprechen.“
 

Verwirrt sah Harry sie an. Es war ihm klar, dass er nicht einfach so sein normales Leben in Hogwarts weiterführen konnte, doch er wusste auch nicht, was McGonagall mit ihm bereden wollte – was ihn vielmehr störte, war jedoch die Tatsache, dass sie von 'wir' sprach. Auf ein Gespräch mit dem Lehrerkollegium war er noch nicht vorbereitet. Im Unterricht hatte er sich so klein wie möglich gemacht und auch wenn er wusste, dass Flitwick ihn am Ende der Stunde hatte sehen wollen, genauso wie Hagrid, Sprout und die anderen, so war er geflohen.
 

Er folgte McGonagall stillschweigend und mit pochendem Herzen. Doch als sie die Türe zu ihrem Büro öffnete und er die Person erblickte, die dahinter auf ihn wartete, blieb sein Herz für eine Schrecksekunde lang stehen.
 

Moody.
 

Harrys erster Gedanke war: Flucht. Doch Moody setzte bloß ein beruhigendes Lächeln auf und da wurde ihm klar, dass er keinen Grund zur Flucht hatte. Moody kannte seine andere Identität nicht. Er hatte es damals absichtlich so aussehen lassen, als sei ihm etwas passiert, nicht, als sei er geflohen. Die riesige Blutlache, die er mittels Magie auf dem Tisch im Grimmauldplatz hinterlassen hatte, zeugte von einer gewaltsamen Entführung. Von wem auch immer, es war eher unwahrscheinlich, dort entführt zu werden – und von wem überhaupt? Keiner wusste, dass er sich zu diesem Zeitpunkt dort aufgehalten hatte. Dennoch war ihm damals in seiner Panik nichts Anderes eingefallen. Er konnte nur noch hoffen, dass Moody darauf reingefallen war.
 

„Setz dich, Junge.“
 

Moody wies ihm einen Platz zu und McGonagall verschloss die Tür hinter ihm. Zu. Er konnte nicht hinaus. Sein Herz begann wieder zu rasen. Moody sah ihn schweigend an, sein künstliches Auge rollte unheimlich umher und schien ihn zu durchleuchten und Harry hoffte, dass es ihn nicht auf Lügen überprüfen konnte.
 

„Wir haben uns damals ziemlich große Sorgen um Sie gemacht, Mr Potter.“, begann McGonagall. „Als Sie damals im Grimmauldplatz aufgetaucht sind, hat man mich natürlich sofort benachrichtigt, aber bevor ich überhaupt dorthin gelangen konnte, waren Sie schon verschwunden. Und Ihr Blut war auf dem Tisch.“ Moodys Augen verengten sich bei diesen Worten.
 

„Harry, wusstest du, dass man beinahe jeden Zauber nachweisen kann? Die drei Unverzeihlichen und einige schwarzmagische sind die einzigen Ausnahmen.“
 

Harry versuchte seinem beunruhigenden Blick standzuhalten, doch mit jeder Sekunde, die verstrich, hatte er das Gefühl, sich damit noch verdächtiger zu machen und schließlich senkte er die Augenlider. Als Moody das nächste Mal den Mund öffnete, sprach er die fatalen Worte aus:
 

„Das Blut damals wurde durch den Multiplicatio gezaubert.“
 

Harrys Hände krallten sich links und rechts an die Stuhllehnen.
 

„Ich konnte mittels eines einfachen Zaubers nachweisen, dass dieses Blut in Wahrheit von einem einzigen Tropfen stammte. Von Ihnen, wohlgemerkt, aber wieso hast du das inszeniert, Harry?“ Er starrte ihn durchdringend an.
 

„Mr Potter.“ McGonagall legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wir möchten Ihnen helfen.“ Angst ließ Schweiß auf Harrys Stirn entstehen. Sein Herz hämmerte so schnell gegen seine Brust, dass es schmerzte.
 

„Nichtsdestotrotz wollen wir, dass du uns erklärst, was du in den letzten Monaten getrieben hast, Junge.“
 

„Entschuldigen Sie mich!“
 

Mit gesenktem Kopf wollte Harry aus dem Büro stürmen, doch die Tür war verschlossen. Er rüttelte zweimal daran und begriff dann, dass er eingeschlossen war. Im selben Moment durchfuhr ihn ein heißer Stich, der ihn aufkeuchen ließ. Der zweite ließ ihn sich zusammen krümmen und beim dritten fiel er auf die Knie. Es war wieder soweit. Sein Herz sprang ihm beinahe aus der Brust, während sich Tränen den Weg in seine Augen bahnten. Seine Hand griff in den Pullover, direkt über der Stelle seines Herzens und hätte er es gekonnt, hätte er es sich auf der Stelle herausgerissen, so heiß war es. Er konnte das Gift förmlich durch seine Adern fließen spüren.
 

McGonagall und Moody waren verschreckt hinter ihm stehen geblieben. Als der Schmerz nach kurzer Zeit, die ihm jedoch wie eine Ewigkeit vorkam, verblasste, packte ihn Moody an der Schulter und beförderte ihn wieder auf den Stuhl.
 

„Wasser ... bitte.“ Das war das Wichtigste. Das Einzige, woran er gerade denken konnte.
 

McGonagall reichte ihm ein Glas und in ihrem Blick stand deutlich geschrieben, das sie wusste, was gerade passiert war. In ihrem Gesicht zeichneten sich drei Gefühle ab: Der Schrecken, den ihr die Wirkung des Giftes eingejagt hatte, zugleich tiefe Erleichterung, dass sie es nicht in sich trug und – Mitleid. Das ewige verdammte Mitleid. Harry trank einen Schluck und schob das Glas dann beiseite.
 

„Lassen Sie mich gehen.“
 

Er sah, dass Moody protestieren wollte, doch er hatte es McGonagalls Weichherzigkeit zu verdanken, dass er ihn dennoch gehen ließ.
 

Kaum war er über die Türschwelle getreten, beschleunigte er seinen Gang, wagte es aber noch nicht zu laufen, da sah er die Biegung und einen Moment später war er aus ihrer Sichtweite. Er begann zu rennen. Immer schneller. Sein Herz schmerzte noch, doch er ignorierte es, rannte nur immer weiter, weiter.
 

Erst draußen hielt er an. In der Halbdämmerung konnte er das große Schloss hinter sich erkennen. Seine Füße hinterließen Abdrücke im feuchten Gras. Er versuchte ruhig zu atmen, konnte es jedoch nicht.
 

Wieso war er hier?
 

Er konnte sich die Antwort darauf selber geben.
 

Weil er gedacht hatte, zu seinem alten Leben zurückkehren zu können. Einfach so. Doch in diesem Moment begriff er, dass das ein unerfüllbarer Wunsch gewesen war. Diese eine Nacht, in der er sich vor McGonagall geworfen hatte, hatte sein Leben unwiderruflich verändert – zerstört. War es falsch von ihm, sich zu wünschen, es hätte nicht ihn getroffen? Er erwischte sich dabei, dass ihm McGonagall in diesem Fall egal gewesen wäre.
 

„Verdammt ...“ Seine Stimme klang nicht echt. Er wollte weinen, schreien und lachen zugleich. Was er hier tat – was er die ganzen Monate getan hatte – es war alles Verschwendung.
 

Und doch fand er keine Lösung.
 

Er sah hinauf zu den endlos hohen Türmen von Hogwarts, die sich allmählich in der Dunkelheit verloren. Am vorigen Tag hatte er noch auf einem von ihnen gestanden und mit dem Gedanken gespielt, sich umzubringen. Harry wusste noch genau, wie sich der kalte Wind auf seiner Haut angefühlt hatte. Er kannte das Gefühl noch genau, in schwindelerregender Höhe zu stehen und zu wissen, das Leben jeden Moment beenden zu können. Und er wusste auch, wie es war zu fallen. Er hatte eine verfluchte Angst gehabt.
 

Würde er es bereuen?
 

Vollkommen ruhig setzte er einen Fuß in das Gras. Es war möglich, dass er es bereuen würde. Der nächste Schritt. Es war sogar sehr wahrscheinlich. Langsam ging er zum Schloss zurück. Aber es konnte dennoch die richtige Entscheidung sein. Die einzige.
 

Seine Augen richteten sich zielstrebig auf das Tor, durch das er ging, folgten den Gängen, die er durchquerte und betrachteten die Treppe, die sich nach oben wand. Es kam ihm nur wie Sekunden vor, die er von den Wiesen bis zu der obersten Plattform der Türme brauchte.
 

Auch, wenn er Angst hatte, so sollte ihn dennoch nichts aufhalten. Er bezweifelte sogar, dass er etwas spüren würde. Er würde einfach nur fallen. Möglicherweise würden die letzten Sekunden schrecklich sein, angsterfüllt.
 

Doch dann wäre es vorbei.
 

Endlich.
 

Eine Hand umklammerte das kalte Geländer, das sich außen um den Turm schlang. Es war nicht hoch und davor war ein schmaler Vorsprung, nur wenige Zentimeter breit. Er schlang ein Bein darum und setzte sich darauf. Eine sanfte Windbrise ließ ihn erschauern und beinahe hätte er sein Gleichgewicht verloren. Es war so dunkel unten. Wie es wohl war, nicht einmal mehr die Dunkelheit sehen zu können? Er zog das zweite Bein auf die andere Seite. Seine Hände umfassten das Geländer. Er holte tief Luft.
 

Sieh hin, Harry, dachte er. Das ist Hogwarts. Und das war's.
 

Seine Hände ließen los und er spürte einen Windhauch.
 

Und dann plötzlich Finger, die sich fest um sein Handgelenk schlossen.
 

Die Dunkelheit unter ihm blieb dort, wo sie war. Er starrte darauf, wie in Trance. Er konnte nicht realisieren, was gerade passiert war. Dann spürte er den scharfen Schmerz in seinem Arm und dann hörte er die Schreie.
 

„Harry! Harry! Oh bitte, lass nicht los!“
 

Er riss den Kopf herum und starrte geradewegs in Hermines verzweifeltes Gesicht. Sie versuchte ihn hochzuziehen, doch es gelang ihr nicht, er war zu schwer.
 

„Lass los.“ Seine Stimme war ganz ruhig.
 

„Nein!“, kreischte sie. Sie zerrte an seinem Arm, dass er glaubte, er würde jeden Moment herausgerissen und dann würde er doch fallen. Er würde aber lieber in einem Stück sterben.
 

Bevor er auch nur einen weiteren Gedanken fassen konnte, schob sich plötzlich Ron in sein Blickfeld, er packte das schmerzende Handgelenk und zog daran; zusammen waren er und Hermine stark genug, Harry wieder über das Geländer zu ziehen. Sie schleiften ihn noch ein kurzes Stück über den Boden, vom Abgrund weg und blieben dann mit ihm auf dem Boden liegen.
 

Harry spürte die festen Steine unter sich so deutlich wie nie zuvor. Neben sich das Weinen von Hermine, die sich an ihn drückte.
 

„H-Harry! Wieso ...“
 

Harry antwortete nicht. Wie konnte er ihnen begreiflich machen, was er fühlte?
 

~~~~~*~~~~~
 

Sie brachten ihn in den Krankenflügel. Er hasste diesen Ort. Sie legten ihn auf weiße Laken in einem weißen Zimmer und Madame Pompfrey kam herein, in ein weißes Krankenschwesterkleid gehüllt. Harry schloss die Augen. Es war ihm noch nicht einmal gelungen, sich selbst das Leben zu nehmen. Es war ihm nicht erlaubt worden, seine Schmerzen selbst zu beenden. Und schon spürte er den ersten Hauch von Reue, als er den schwarzen Turm und die Dunkelheit darunter sah. Wenn er auch nur eine Sekunde früher gesprungen wäre, oder Hermine ihn verfehlt hätte, dann wäre er jetzt nicht mehr hier. Er würde nichts mehr spüren. Gar nichts.
 

Aber er konnte nicht mehr sagen, ob er das gut oder schlecht fand.
 

„Harry ...“
 

Hermine hatte sich auf seine Bettkante gesetzt und hielt seine Hand.
 

„Harry ... es tut mir so Leid!“ Er öffnete die Augen, verständnislos. Hermine lehnte ihre Stirn an seine Hand. „Ich würde dich so gerne verstehen, Harry. Es tut mir so Leid ...“
 

Er sah zur Seite, durch das geschlossene Fenster. Es war Nacht. Er brauchte den Tag wie die Luft zum Atmen.
 

„Schon gut.“
 

Dann schlief er ein.
 

~~~~~*~~~~~
 

Als Harry wieder aufwachte, schien ihm die Sonne direkt in die Augen. Er blinzelte und drehte sich um – und erschrak. Neben ihm, zusammengesunken und schlafend, saß auf einem Stuhl ein Mann. Er erkannte ihn sofort.
 

Lupin.
 

Was machte er hier?
 

Natürlich. Es war kein Problem für Lupin, in Hogwarts ein und auszugehen. Er gehörte hierher und gehörte zum Clan, und in beiden war er Spion. Spion für Jakob. Harry erschrak, als ihm bewusst wurde, dass Lupin und er jetzt Feinde sein mussten. Er hatte den Clan verlassen und damit war sein Leben verwirkt. Sie durften ihn nie erwischen.
 

Er zerrte das Laken von sich und stand auf, so leise wie er konnte. Auf nackten Füßen und im weißen Krankenhaushemd schlich er zu den großen Türen des Krankenflügels. Der Boden fühlte sich eiskalt an.
 

„Wo wollen Sie denn hin, Mr Potter?“
 

Er zuckte zusammen, als er die barsche Stimme Pomfreys hinter sich hörte.
 

„Ich – äh-“
 

„Gehen Sie sofort wieder zurück ins Bett, sonst-“
 

Dieses Mal zuckten sie beide zusammen, denn Lupin hatte sich plötzlich bewegt. Harry wagte es nicht zu atmen, doch es war bereits zu spät: Lupin zuckte noch einmal kurz, dann öffnete er langsam die Augen. Er rieb sie sich verschlafen und sah zu Harry herüber.
 

„Harry?“ Seine hellen Augen verrieten nichts. Dann lächelte er. „Hey, lange nicht mehr gesehen!“
 

Das stimmte nicht ganz. Sie hatten sich im Orden gesehen. Pomfrey mochte nicht so weit eingeweiht sein, um das zu wissen, doch für Harry bedeutete es, dass Lupin nicht auf seiner Seite stand. Er musste hier raus. Jetzt.
 

Er wandte sich zum Gehen.
 

„Mr Potter, bleiben Sie hier!“
 

„'tschuldigung, ich muss noch was erledigen!“
 

Er hastete zur Tür und drückte die bronzene Türklinke hinunter, zerrte daran, doch nichts geschah.
 

„Ich habe mir bereits gedacht, dass Sie mal wieder abhauen wollen, Mr Potter. Deswegen habe ich schonmal vorgesorgt.“
 

Wusste sie eigentlich, was sie ihm damit antat?
 

Resigniert schlurfte er wieder zum Bett zurück. Er sollte nicht auch noch bei ihr Verdacht erwecken, indem er sich in eine Ecke des Zimmers drängte.
 

Madame Pomfrey ging derweil, zufrieden mit ihrer Arbeit, zurück in ihr Arztzimmer. Lupin hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
 

„Sie haben gewusst, dass die Tür verschlossen war, oder?“
 

„Ja.“
 

„Was haben Sie jetzt mit mir vor?“
 

„Wie meinst du das?“
 

„Das wissen Sie ganz genau!“ Harry war laut geworden, senkte seine Stimme jedoch sofort wieder. „Oder wollen Sie mir etwa weismachen, es würde Ihnen nichts ausmachen, dass ich den Clan verlassen habe?“
 

„Natürlich macht mir das etwas aus.“
 

Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Harry wusste, dass seine Sache gelaufen war. Lupin wartete wahrscheinlich nur noch auf den passenden Moment, um ihn still und heimlich um die Ecke zu bringen. Wenn er jetzt darüber nachdachte, war es eine dumme Idee gewesen, abhauen zu wollen. Es wäre ein Kinderspiel gewesen, ihn klammheimlich umzubringen. Solange er im Krankenflügel war, war er sicher.
 

Er hatte mal wieder rein instinktiv gehandelt. Hatte nicht nachgedacht. Seine größte Schwäche. Die, weswegen er sterben musste.
 

„Hermine hat mir alles erzählt.“, sagte Lupin. Harry war verwirrt. Was erzählt? „Das ... letzte Nacht. Harry, wie konntest du nur? Das ist doch keine Lösung!“
 

„Als ob es Sie kümmern würde, ob ich sterbe oder nicht! Ob nun durch Ihre Hand oder meine, das ist doch völlig egal.“
 

Lupin sah ihn daraufhin eine Weile lang an. Seine Augen bohrten sich in Harrys Augen, dann seufzte er auf einmal.
 

„Ach, Harry. Erstens legen wir Werwölfe Wert darauf, unsere Dinge selbst zu erledigen. Eine Sache der Ehre, du verstehst?“
 

„Na toll.“, brummte Harry.
 

„Und zweitens“, Lupin hielt zwei Finger hoch, „hat doch niemand gesagt, dass du sterben sollst.“ Er sah ihn voller Ernst an.
 

Harry lachte.
 

Er lachte, laut, hysterisch, als hätte er seinen Verstand verloren. Vielleicht hatte er das ja auch.
 

„Was ist so lustig?“ Lupin war besorgt und geschockt zugleich und wusste nicht, ob er zurückweichen oder sich um Harry kümmern sollte.
 

„Sie – das ist wirklich eine gute Methode! Wenn Sie so weitermachen, stürze ich mich gleich wieder runter!“
 

„W-Was-“
 

„Ich soll nicht sterben? Was glauben Sie, habe ich denn anderes verdient, in Jakobs Augen? Ich habe den Clan verraten! Ich habe Hogwarts verraten! Selbst meine Freunde – meine Freunde habe ich verraten! Seit ich dieses Gift in mir trage, habe ich mein Leben noch gründlicher zerstört, als es ohnehin war!“ Aus Harrys Lachen wurde Weinen, Tränen liefen ihm die Wangen hinunter und er legte seinen Kopf zwischen die Knie. „Ich bin so ein Idiot ...“, flüsterte er heiser. „Ich habe es nicht anders verdient, als zu sterben.“
 

Er spürte eine Hand auf seiner Schulter.
 

„Das ist Unsinn, Harry. Du bist ein Idiot, wenn du das sagst, aber ansonsten bist du keiner.“ Warme Arme legten sich um ihn. „Man ... man hat mir mal gesagt, dass sich das Leben immer lohnt, weißt du?“ Er strich ihm durch die Haare. „Es ... muss nur einen glücklichen Moment in deinem Leben geben, und wenn du ihn erst in zehn Jahren erreichst. Solange es auch nur die geringste Möglichkeit gibt, ihn zu erleben, musst du weiterleben.“
 

„Ich lebe aber keine zehn Jahre mehr.“
 

„Harry, mach es mir nicht so schwer.“
 

„Und einen glücklichen Moment werde ich sicher auch nie erleben.“
 

„Das kannst du nicht wissen. - Schau: Als du es geschafft hast, vor Jakob und den anderen zu fliehen und als du dann Hogwarts gesehen hast – war das denn kein glücklicher Moment? Los, sag schon.“
 

Harry zögerte nur kurz.
 

„Hm ...“, stimmte er dann zu.
 

Dann wurde ihm bewusst, dass er gerade von seinem Feind umarmt wurde und stieß ihn von sich.
 

„Harry-“
 

„Nein, hören Sie auf! Bringen Sie's einfach hinter sich! Ich habe eh keine Chance zu entkommen, das weiß ich genau ...“
 

„Harry, jetzt hör mich doch nur einen Moment lang zu-“
 

„Nein!“
 

Er wollte sich losreißen und rausrennen, wollte ihn dazu zwingen, ihn zu töten, damit das alles vorbei wäre. Doch die Tür war noch immer verschlossen und er hämmerte dagegen, schrie: „Macht doch endlich die verdammte Tür auf!“ Und sackte am glatt polierten Holz hinunter, weinte und verbarg sein Gesicht nicht, seine Fingernägel kratzten Spuren und Splitter sanken in die Haut unter seinen Nägeln und er wollte raus, raus, nur raus.
 

Wieder legte sich eine Hand auf seine Schulter, doch er reagierte nicht.
 

„Harry ...“
 

Keine Reakion.
 

„Harry ... glaub mir, egal, was du getan hat und was du jetzt von mir denkst ... du irrst dich.“
 

Harry reagierte immer noch nicht auf ihn. Er war ganz still geworden und man hätte meinen können, er wäre tot, wäre da nicht sein apathisches Atmen gewesen. Madame Pomfrey stand einige Meter hinter Lupin, sie hatte eine Phiole in der Hand. Sie sah zwischen ihm und Harry hin und her und wusste offenbar nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte.
 

Lupin beugte sich ihretwegen vor und legte seine Hände an Harrys Ohr.
 

„Harry ... da gibt es etwas, was ich dir vielleicht sagen sollte.“, flüsterte er. „Jakob ... er gibt dir noch eine zweite Chance.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück