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Globetrotter

Wir brauchen keine Chemie, keinen Kompass, keinen Reiseführer, keine Landkarte... und kein Viagra!
von

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Ascariasis - 2

"Wir könnten etwas singen", schlug er vor.

"Nein!", fauchte ich.

"Dann beschweren Sie sich doch nicht, dass Ihnen langweilig ist!"

"Das habe ich doch auch gar nicht!" Ich blieb stehen, um ihn anzufunkeln – sehr wütend anzufunkeln.

"Hee... nicht stehen bleiben! Erst zum Schlafen!", flötete er. "Seien Sie mal fröhlicher! Das Wetter ist herrlich, die Sonne scheint, die Vöglein singen...."

"KLAPPE!!"

Wir latschten jetzt schon zwei Stunden durch die Gegend – nicht dass mir die kleine Wanderung etwas ausmachte – es lag nur daran, dass er mal wieder ununterbrochen quatschte. Das war nicht zum aushalten.

"Und Sie sind wirklich sicher, dass diese verdammte Stadt auch wirklich in dieser Richtung hier liegt?", fragte ich genervt und setzte mich wieder in Bewegung.

"Jaaaa, ich bin mir wirklich sicher. Ich hab doch meinen Reiseführer!" Er schwenkte fröhlich mit dem besagten Ding und ich hielt es für ein Wunder, dass es sich dabei nicht in sämtliche Seiten auflöste. „"nd Sie sind sicher, dass Sie nichts singen wollen? Wir könnten Amazing Grace singen, zum Beispiel."

Anscheinend setzte er dazu an, die erste Strophe zu trällern, weshalb ich schnell erwiderte:

"Ich könnte gleich einen Grund für den Trauermarsch liefern." Nebenbei legte ich eine Hand auf den Schwertgriff.

"Passen Sie auf, sonst schneiden Sie sich damit noch in den Finger", gab er zurück.

"Klappe! Ich kann sehr wohl damit umgehen. Wollen Sie’s rausfinden? Und dann ist das sicher nicht nur ein Schnitt in den Finger!", fauchte ich aufgebracht.

"Entspaaaaannen Sie sich!" Er duckte sich unter der Klinge weg. "Hui! Das Ding ist ja lebensgefährlich! Sie sollten damit wirklich nicht so rumfuchteln! Es könnte sich jemand verletzen – nun ja, ich zum Beispiel! Huch!"

Wieder sprang er aus dem Weg.

"Aus! Ksch! Jetzt ist aber Schluss damit! Wenn Sie mich damit treffen, wer soll Sie denn dann bezahlen?"

Das Argument war leider zu gut, um ihn einen Kopf kürzer zu machen. Ich ließ mein Katana sinken. "Seien Sie froh, dass ich nicht gezielt habe!", grollte ich und steckte es wieder weg.

Er sah mich groß an. "Was soll das heißen: 'nicht gezielt'? Sie hätten mich aus Versehen treffen können! Mein Herz..." Er griff sich mit theatralischer Geste an die Brust. „Ich glaub es ist stehen geblieben...."

"Na wunderbar! Dann ist hoffentlich endlich Ruhe", murrte ich.

"Nein, mal ernsthaft! Wo haben Sie das gelernt? Ich meine, den Schwertkampf!", fragte er. "Ich bin ja so froh, dass Sie sich auf die Anzeige gemeldet haben. Sie haben zumindest kampftechnisch was drauf, so wie ich das sehe!"

"Ich kann vier verschiedene Kampfsportarten", erklärte ich knapp.

"Ahhh...daher wissen Sie wahrscheinlich auch, wie man Schnitt- und Schürfwunden behandelt, wie? Apropos behandeln, ich kann Ihnen dann ja gleich mal ein paar Krankheiten erklären! Zum Beispiel die aus der Top Ten!"

"Wenn Sie meinen...", brummte ich. Dann redete er zwar, aber wenigstens über etwas sinnvolles.

"Schießen Sie los."
 

"Tja, leicht ist es nicht, aber mit der Mütze gepocht sind Sie ja auch nicht, oder?", erkundigte ich mich vorsichtshalber.

Die einzige Reaktion war ein undefinierbares Brummen, das ich einfach mal als 'Nein' auffasste.

"Gut, ähhmm... als erste Option wären da ja wie gesagt die Chlamydien. Chlamydien sind die bakteriellen Erreger der sogenannten 'Papageienkrankheit', oder auch Psittakose genannt, und laufen im heißverehrten Arztjargon unter Chlamyodophila psittaci. Chlamydien sind, soweit ich das beurteilen kann, 'ne ziemlich fette Wumme- wenn man die Erreger bei einem Einzelpatienten nicht schnell genug unter Quarantäne stellen und heilen kann, verbreitet sich das schneller als die Neuigkeit von Frau Nachbarins neustem Haarschnitt. Und die Symptome sind schwer festzustellen, weil's da eigentlich keinen 'Otto-Normalverlauf' gibt, aber einige Anzeichen, die man bis jetzt bei jeder Form der Psittakose durch Chlamydien festgestellt hat, sind Apathie, Apettitlosigkeit und starke Abmagerung, vor allem bei Jungvögeln. Kapiert soweit?"

"Größtenteils. Es soll ja Leute geben, die von Fachjargon Kopfschmerzen kriegen. Sagte der Typ in dem Telegramm nicht, dass es besonders die Nestflüchter betrifft?"

"Ja, eben deswegen halte ich Chlamydien-Befall für 'ne reelle Option. Eine andere Möglichkeit wäre Aspergillose, das Wort kommt übrigens vom Fachbegriff Aspergillus - lateinisch für 'Schimmelpilz'. Wie dieses nette Wörtchen ja schon sagt, ist Aspergillose eine Erkrankung in Form von Schimmelpilz-Kolonien, die sich in Magen und Kehle ansiedeln."

"Igitt!", stöhnte mein Leibwächter, "Und die kommen da einfach so hin, weil sie gerade Bock drauf haben?!"

"Nein, die häufigsten Gründe für Aspergillose sind falsche Ernährung, unhygienische Außenbedigungen oder auch Stress."

"Was?! Man schimmelt, wenn man gestresst ist?"

"Tja, dann würde ich mal aufpassen, wenn ich Sie wäre, Kuro-aspergillo!", kicherte ich und fing mir einen bitterbösen Blick ein.

"Ähh, naja, weiter im Text: die dritte Möglichkeit ist infektöse Gastritis, also eine eher menschenorientierte Krankheit. Gastritis ist Arztchinesisch und bedeutet eigentlich nicht mehr als Magenschleimhautentzündung. Zu der Option tendiere ich allerdings nicht, weil sich Gastritis ziemlich schwer überträgt. Sie müssten schon jemandem die Zunge in den Rachen schieben und sich dann dreimal übergeben, wenn Sie jemanden damit anstecken wollen."

Kurogane verdrehte die Augen.

"Na toll. Wie schön, dass ich das jetzt auch weiß."

"Tja, in der Medizin kann man an jeder Ecke reichhaltige Erfahrungen machen!", trällerte ich wohlgemut, "Aber was für mich eher in Frage kommt, ist eine Reihenerscheinung von Bürzeldrüsentumoren. 'Tumor' kommt ebenfalls aus dem Lateinischen und bedeutet 'Geschwulst', also ein entzündeter Auswuchs aus Fleisch oder erkranktem Gewebe. Tumore am Harpyienbürzel wachsen normalerweise nach außen, sodass man sie erkennen und behandeln kann, Anzeichen sind Ermüdung und gekrümmte Sitzhaltung."

"Moooment mal, Moment, Moment", bremste mich Kurogane ab, "Was ist überhaupt ein 'Bürzel', und wo sitzt der?"

Ich lief hellrot an. Oh nein. Ich hätte schwören können, dass irgendwann so eine Frage kommen würde.

"Ähhh-... naja, also, der Bürzel-... der ist bei Vögeln und Vogelartigen eher in den, ähhh, südlichen Regionen angesiedelt, also-... d-das ist bei Vögeln eigentlich nur das, was beim Menschen-... eh-... das ist ein anderes Wort für--..."

"Arsch?", fragte Kurogane schlicht. Ich versuchte vergeblich, nicht in blödes Gekicher zu verfallen.

"Also bitteschön, ja, es ist der Arsch."

"Sagen Sie's doch gleich."

"Ich bin Ex-Akademiker, ich kann doch unmöglich 'Arsch' sagen!"

"Und welches Wort nimmt man dann für 'Arsch', wenn man Ex-Akademiker ist?"

"Natürlich gluteus maximus! Vertagen wir diese aufregende Diskussion lieber auf heute abend, da bin ich für sowas eher zu haben! Sie wissen immer noch nicht, was ein Bürzeldrüsentumor ist, ich sollte mich schämen!"

"Doch, weiß ich. Das ist ganz einfach ein Tumor am Arsch."

"Also Kuro-mune! Nein, es ist nicht nur ein Tumor am Arsch! Er zerstört das umliegende Gewebe, und wenn man ihn nicht schnell auskuriert, kann er sogar bis in die Wirbelsäule vorwuchern und dort genug anrichten, damit der Betroffene sein Lichtlein ausknipsen muss. Die Heilmethoden für solch einen Tumor gehen in viele verschiedene Richtungen. Ich persönlich bevorzuge ja die homöopathische Version mit dem Einsatz von Theranekron, das ist ein starkes Tarantelgift. Damit bringt man den Tumor zur Einkapselung und bestenfalls zur Rückbildung, am häufigsten reagiert er mit Wachstumsstop. Der einzige Nachteil bei dem Verfahren ist nur, dass es eben nicht klappt, wenn man gerade keine Tarantel zur Hand hat."

Ich hatte mich endlich genügend von dem heiklen Bürzel-Thema weggebracht, um wieder einigermaßen ernst zu wirken, wenn man das bei mir denn so nennen konnte.

"Und die anderen Methoden?", erkundigte sich Kurogane gerade.

"Tja, es gibt noch die Variante, den Tumor mit einem desinfizierten Faden abzubinden, damit er seine Ausläufer im Körper zurückzieht, man kann ihn allerdings auch chirurgisch entfernen. Das mach ich aber nicht so gern, weil dabei sehr starke Blutungen entstehen können. Einmal habe ich eine Harpyie auf diese Weise behandelt, und sie wäre um ein Haar verblutet. Und dann gibt es natürlich noch das gute alte Antibiotikum- in diesem Fall Betaisodonalösung oder dreiprozentiges Eisenchlorid. Ich bin wie gesagt für das Tarantelgift. Tja, das war mein ganzer Vortrag. Es könnten natürlich auch noch Darmpolypen sein, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Haben Sie alles gespeichert?"

"Das war mehr Fachchinesisch als Vortrag, aber ich werde es versuchen."

"Und, haben Sie jetzt Lust auf singen?", trällerte ich unternehmungslustig und fing mir gleich den nächsten bösen Blick ein.

"Was denn? Es ist noch ein weiter Weg bis nach Shuryotori Aitoki!"

"Ach, auch schon bemerkt?!! Diese Deppen von der Regierung hätten wenigstens eine Straße bauen können, die dort hinführt!"

"Tja, warum sollte ein Mensch auch die Harpyienstadt aufsuchen? schon mal so rum gefragt? Wir werden heute wohl in der Ebene übernachten müssen. Bis zum Einbruch der Nacht schaffen wir's sicher nicht mehr."

Während ich einem gewaltigen Baumstumpf auswich, warf ich einen Blick zum kornblumenblauen Horizont, an dem eine warmgelbe Aprilsonne hing wie ein Stück reifer Goudakäse. Ach ja... apropos Käse- ich wurde langsam hungrig.

"Was haben Sie denn alles an Proviant dabei?"

"Nachos ohne Käse, Mineralwasser ohne Mineral und Salzcracker ohne Salz."

"Kann ich dann bitte die Salzcracker ohne Salz haben?"

Mein Leibwächter nahm mit einem Seufzen während des Gehens seinen Rucksack herunter und wühlte die Kekspackung hervor.

"Hier, aber fressen Sie mir nicht alles weg. Ach ja, und könnten Sie vielleicht noch gnädigerweise eine Schätzung abgeben, wann wir endlich dieses Harpyien-Kaff erreichen?"

"Spffhh-... fpäteftenf moagn, wenn mir daf Tempo belibemhaltn und niff alltfu lange flaffnen."

"Häh?!!"

Ich schluckte. "Spätestens morgen mittag, wenn wir das Tempo beibehalten und nicht allzu lange schlafen."

Mein neuer Leibwächter stieß ein Grollen aus.

"Ich warne Sie: wenn Sie mich heute nacht nicht in Ruhe schlafen lassen, dann setzt es was!"

"Ach, woher denn?", flötete ich, "Ich will doch auch einen Hut voll Schlaf kriegen? Keine Sorge, wenn ich mich erstmal hingelegt habe, schlafe ich sofort wie ein Stein, ich bin sozusagen ein wandelndes Insomnia-Therapeutikum!"

"Das will ich schwer für Ihre Gesundheit hoffen. Ein Mucks und ich überlege mir das mit dem Trauermarsch nochmal."

"I wo!", versicherte ich, "Ich schwör's Ihnen! Kein einziger Mucks von mir!"

"Ich werd Sie beim Wort nehmen. Kein einziger Mucks von Ihnen."

"Kein einziger Mucks von mir."
 

"Hyuuu. Kuro-rin! Schauen Sie mal, der Mond!"

"Noch nie den Mond gesehen?", murrte ich und drehte mich auf die andere Seite. Es war mittlerweile dunkel geworden und wir hatten uns nach einem geeigneten Platz zum Übernachten umgesehen – und da wir keinen gefunden hatten, hatten wir uns schließlich da niedergelassen wo wir gerade standen. Das Zelt hatten wir nicht aufgebaut, nicht mal ausgepackt, weil es heute nach einer milden Nacht aussah.

"Doch, natürlich, aber heute ist er besonders schön. Und die ganzen Sterne! Obwohl – im Winter kann man die irgendwie noch besser sehen und..."

"Halten Sie den Rand, verdammt! Hatten Sie nicht gesagt, dass Sie keinen Mucks machen würden?"

"Habe ich das?", fragte er unschuldig und ich drehte mich wütend zu ihm um. Er lag auf dem Rücken, hatte die Arme hinter dem Kopf gefaltet und schaute grinsend zu mir.

Ich verengte die Augen zu Schlitzen. "Ja, allerdings!"

"Okay! Ich werde nichts mehr sagen. Ich werde schweigen wie ein Grab! Ich bin so lautlos wie ein Taubstummer. Ich..."

"KLAPPE!!" Ich war kurz davor, mein Katana, das neben mir lag, wieder in Gebrauch zu nehmen.

Er schloss hastig die Augen und versuchte, so zu tun, als würde er schlafen.

Ich verharrte noch kurz eine Weile so, bevor ich mich wieder umdrehte.

"Wissen Sie was, Kuro-wan...?", kam es, kaum, dass ich wieder bequem lag.

Ich gab ein genervtes Knurren von mir. "Was?!!"

"Ich finde es richtig schön im Freien zu Übernachten. Vor allem, weil ich nicht alleine bin."

"Schön für Sie. Und jetzt nehmen Sie die Bedeutung von 'übernachten' und schlafen Sie!! Verflucht noch eins..."

"Wieso fluchen Sie eigentlich andauernd?"

"Weil das nun mal so ist."

"Sie wissen aber, dass man das nicht tun sollte, oder?"

"Na, und? Wen interessiert das?"

"Viele."

"Die sind mir egal."

"Ihnen scheint vieles egal zu sein."

"Einiges. Weil es unwichtig oder uninteressant ist."

"Was denn zum Beispiel? Also ich finde ja, dass alles interessant sein kann... ich..."

"Ich würde es interessant finden, wie viel Blut Sie verlieren können, bevor Sie ex gehen."

"Ohhh, ein Fachbegriff! Ich bin begeistert, auch wenn es nur eine Abkürzung von Exitus ist!"

"Jetzt hören Sie mir mal zu!" Abermals drehte ich mich zu ihm um, diesmal aber fuchsteufelswild. "Ich warne Sie, wenn Sie mich jetzt nicht auf der Stelle schlafen lassen, dann werde ich Sie mit meinem Katana aufspießen und in dem See da vorne versenken, ist das klar?"

"Klingt schmerzhaft und unangenehm", stellte er fest.

"Ja, genau. Und zwar für Sie!"

"Können Sie das denn mit Ihrem Gewissen vereinbaren, wenn Sie mich abstechen?", fragte er fast beiläufig.

"Sie wollen gar nicht wissen, was ich alles mit meinem Gewissen vereinbaren kann", grollte ich zurück.

"Wenigstens scheinen Sie ja eins zu haben. Aber mal ehrlich, das würden Sie sowieso nicht tun, ich mein, hey! Sie haben immer noch kein Gehalt von mir bekommen." Er grinste breit.

"Wenn Sie so weiter machen, überleg ich mir, ob ich Sie nicht kalt mache und mir einfach einen andern Job suche..." Wäre sicher besser für die Nerven. "Und wenn Sie nicht zufällig an Ihrem Leben hängen, dann lassen Sie mich verdammt noch mal schlafen. Kein Ton mehr! Verstanden?"

Er nickte beflissen.

"Aber natürlich hab ich verstanden. Meine Lippen sind versiegelt, ich..."

"Jaa....ist ja gut. Halten Sie einfach nur die Klappe." Ich legte mich wieder hin, in der Hoffnung, er würde nicht weiterreden. Vielleicht hörte er ja auf, wenn man ihn ignorierte...

"Nacht", meinte er und ich hörte, wie er sich wohl in eine andere Schlafposition brachte.

Nur leider tat er dies alle zwei Minuten und sehr lautstark.

Jetzt redete er zwar nicht, hielt mich aber trotzdem vom Schlafen ab...

Ich drehte mich missmutig ein drittes Mal zu ihm um. "Geht’s vielleicht ein wenig leiser, das Umdrehen? Und weniger? Liegen Sie mal ruhig, verdammt!"

Er sah mich an. "Aber der Boden ist sooo hart...", schmollte er.

"Sind Sie vielleicht ein Weichei", blaffte ich. "Dadurch wird er aber auch nicht weicher. Ich dachte, Sie übernachten oft so."

"Tu ich auch! Aber das heißt ja nicht, dass ich den harten Boden auch vertrage", maulte er zurück.

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Das war ja nicht zum Aushalten.

"Verdammt. Halten Sie die Klappe und bleiben sie einfach ruhig liegen. Ich. Will. Schlafen."

Na also. Ging doch. Anscheinend hatte er es endlich kapiert.
 

"Also?!!"

"Also was?", fragte ich verwundert zurück.

" 'Also' im Sinne von 'wohin und wie lange noch'?!", fauchte Kurogane und rieb seinen Nacken, was er seit dem Aufstehen wohl schon an die fünfzig Mal gemacht hatte, "Ich bin körperlich und vor allem nervlich völlig im Eimer!! Wieso konnten wir nicht einfach in ein Dorf in der Nähe gehen und dort nach zwei Zimmern fragen?!"

"Tja, hier in der Ebene gibt's zwar eine Handvoll Dörfer und kleinere Städte, aber wenn ich den Leutchen dort verklickert hätte, dass wir auf dem Weg nach Shuryotori Aitoki sind, hätten die uns nicht reingelassen. Das kenn ich schon", erklärte ich beflissen und beäugte weiterhin meinen alten Kompass, auf den Kurogane und ich schon seit fast einer halben Stunde draufstarrten. Vor etwa zwei Stunden waren wir am Nordausläufer des Moridiyama-Gebirges im Zentralnordwesten von Kongoseki Oka angekommen.

"Also, wo geht's jetzt weiter?", drängte mein Reisebegleiter, "Wohin müssen wir?"

"Es ist nicht mehr weit. Glaube ich jedenfalls. Fest steht, dass die Stadt an einem weiten, mit Wald überwachsenen Gebirgsausläufer wie diesem hier liegt. Sie ist sicher hier! Vor zwei Jahren habe ich dort schon einmal einige Harpyien operiert."

"Was?! Sie haben diese Viecher auch noch operiert?!!"

"Ja! Und wenn wir schon einmal bei Ihrem kleinen Rassenkomplex sind, Kuro-chii, würde ich Ihnen gern einen gutgemeinten Ratschlag geben, bevor wir in Shuryotori Aitoki ankommen. Halten Sie von Harpyien ruhig, was Sie wollen, aber wenn wir erst dort sind, möchte ich, dass Sie diesen Wesen wenigstens ein Mindestmaß an Respekt zollen! Okay?"

"Ist ja gut, ist ja gut!", knurrte mein Leibwächter, "Kein Grund, gleich den Oberlehrer raushängen zu lassen!"

"Keine Sorge, der hängt nur raus, wenn er auch wirklich was zu sagen hat", erwiderte ich fröhlich und deutete schließlich zu den steilen, von allerhand Bäumen und Schlinggewächsen überwucherten Gebirgshängen empor, die sich keine zwanzig Meter entfernt gen Himmel zu erheben schienen, "Jetzt sollten wir uns aber lieber an den Aufstieg wagen!"

"WAS?!! Shuryotori Aitoki ist eine Baumstadt?"

"Hätten Sie mir heute morgen eben zugehört", gab ich beleidigt zurück, "Ja, die Harpyienstadt besteht aus mehreren hundert Baumsiedlungen, die in den Ästen der Bäume verankert sind, die dort oben an den Gebirgshängen wachsen! Harpyien können immerhin fliegen, also ist es kein Thema für sie, ihre Nester in so großer Höhe zu haben. Uns Menschen bleibt eben nur die Möglichkeit, uns physisch an unseren affigen Vorfahren zu orientieren!"

"Na besten Dank auch."

"Tja, worauf warten wir dann noch?", versuchte ich vergeblich, ihn mit meinem Elan anzustecken, "Jetzt kommen die Fingerspitzen zum Einsatz! Die Stadt dürfte etwa in achtzig bis hundertzwanzig Metern Höhe liegen!"

"Dann wohl besser hinauf mit uns", brummte mein Leibwächter und schulterte seinen Rucksack.

"Das ist die richtige Einstellung!", trällerte ich, schnallte meine Tasche ebenfalls fester um meine Schultern und versuchte, an einer möglichst aufstiegsgünstigen Stelle Fuß zu fassen. Eine nette kleine Bergtour, weiter nichts.

Zwanzig Minuten später dachte ich bereits anders - am Anfang lief es zwar noch relativ glatt, aber da die Gebirgsausläufe immer rascher anstiegen und es zusehends steiler wurde, sahen wir uns mit der Zeit gezwungen, jede menschliche Zurückhaltung aufzugeben und auf allen Vieren zu klettern wie-... ja, wie die Affen, es gab eben kein besseres Wort dafür.

Ich fragte mich lieber gar nicht, wie wir auf die Augen eines etwaigen Zuschauers wirken mochten- vermutlich ganz einfach wie zwei lebensmüde Abenteurer, die ihren Freunden einen Affenzirkus vormachen wollten, indem sie auf diesen Berg kraxelten.

Da konnte man Kurogane glatt beneiden - bei ihm sah's zumindest halbwegs professionell aus. Ich beobachtete, wie sich die Muskeln seiner Oberarme anspannten, als er sich an einem Felsvorsprung festhielt und nach meiner Hand angelte, um mich mit einem Ruck auf den darüber liegenden Hang zu befördern.

"Klettern-... Sie-... öfter?", keuchte ich atemlos und richtete mich schwer auf, während er nachgestiegen kam.

"Dann und wann. Sie offensichtlich nur, wenn Sie unbedingt müssen", schloss er treffend und hob eine Hand als Sonnenschutz an die Schläfen, um sich einen Überblick des Berges zu verschaffen. "Das wird 'n dickes Ding."

"Ich-... komme mir-... schon-... vor-... wie ein Kartoffelbovist", ächzte ich und stemmte mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand in meine linke Seite, was allerdings nicht viel zum Abklingen der Schmerzen beitrug.

"Jammern Sie nicht, klettern Sie lieber."

"Ich jammere doch gar nicht!"

"Oh ja, und alle Fusselwürmer sind Fünf-Sterne-Köche."

Ich seufzte und wollte meinen Kompagnon gerade darauf hinweisen, dass es unter den Fusselwürmern dieses Planeten durchaus auch einige begnadete Köche gab- doch weit kam ich nicht, da meine Ohren plötzlich ein Geräusch auffingen.

Es klang, als würde eine hysterische Riesen-Hausfrau mit einem enormen Staublappen die Felsen polieren.

Rauschen. Knirschen. Dann ein fernes, verhallendes Kreischen. Und schon machte es Klick.

"Hey-... hey! Kuro-myu! Hören Sie doch mal! Haben Sie das gerade auch gehört?"

"Ja. Klang wie ein Adler, dem gerade die Eingeweide durchgepustet werden."

"Und wissen Sie, was das bedeutet?", trällerte ich ungeachtet dieses unfeinen Vergleichs und hüpfte aufgeregt auf und ab, "Das-... das müssen Harpyien gewesen sein! Ja, anders geht es gar nicht! Scharfe Augen und Ohren haben sie zumindest!"

"Solange sie uns nicht fotografiert oder abgehört haben..."

Ich ignorierte das Gebrummel meines Begleiters, denn ich sollte tatsächlich Recht behalten: am gegenüberliegenden Steilhang, etwa hundert Meter von uns entfernt, kamen auf einmal drei dunkle, geflügelte Gestalten in atemberaubender Flugbalance am Felskamm hochgeschossen und hielten zielstrebig auf uns zu. Mit den Adleraugen, wie Harpyien sie hatten, war es sicher nicht schwer gewesen, uns hier am Hang ausfindig zu machen.

"Heeeeey!! Hiiiiiiiier sind wir!!", jodelte ich daher aus vollem Halse und schwang beide Arme wild über meinem Kopf hin und her, wobei ich Kurogane ein paar mal fast ins Auge traf, "Hiiiier drüüüübeeeen!!"

Ein weiterer Schrei war die Antwort, diesmal aber aus drei Kehlen. Bald waren die Harpyien nahe genug, um ihr ungewöhnliches Äußeres endgültig zu offenbaren: während sie größtenteils die Gesichter von Menschen hatten, entsprangen ihren schlanken Rücken jeweils ein Paar imposanter, adlerhafter Schwingen; ihre langen, schwielig wirkenden Arme liefen bald von Haut in Federn über und endeten in einem Paar horniger Krallen, was auch bei den Beinen zu verfolgen war. Ober- und Unterleib dieser Geschöpfe waren ebenfalls menschlichen Ursprungs, wiesen jedoch deutlich kräftigere Muskeln auf, vor allem an Brust- und Schulterpartie, und waren teils von gelblicher Hornhaut, teils von flaumigen Federn mit silbergräulich-kastanienbrauner Zeichnung bedeckt. Auch ihre Gesichter hatten etwas unverkennbar Vogelhaftes; am besten erkannte man es an den wilden, rostbraunen Augen, ihrem scharf geschnittenen, Profil und den Nacken, auf denen sich- trotz des menschlichen Haars- prächtige Federhauben aufwölbten.

"Sehen Sie nur! Sind sie nicht wunderschön?", flüsterte ich, ganz beduselt von diesem Anblick.

"Pffff... ich hasse diese ewige Effekthascherei", war die schroffe Antwort. Bald schon landeten die drei männlichen Harpyien vor uns auf dem Felsvorsprung und falteten unter bedeutungsvollem Rascheln ihre schweren Schwingen zusammen, bevor sie sich uns unter Zeichen des verhaltenen Argwohns langsam näherten.

Ich war bereits an Harpyien gewöhnt, also war es für mich gar kein Thema, den ersten Schritt zu tun.

"Guten Tag!", rief ich und ging ungezwungen auf die drei zu, um mich - als internationales Zeichen des Respekts - leicht vor ihnen zu verbeugen, "Wie schön, dass ihr uns gefunden habt!"

Der offenbar älteste der drei Vogelmenschen klickte mit seinen schnabelartigen Lippen und stellte seine Federhaube auf.

"Chhhh-... wao ast doan-... N-... nime?"

"Fye", sagte ich deutlich und legte eine Hand auf meine Brust, "Fye de Flourite. Ich bin Arzt. Ich bin wegen eurem Hilferuf gekommen. Schhêl 'ke mik al' neek al' pak", fügte ich auf Harpyisch hinzu. In meiner Zeit als Frischlingsstudent hatte ich diese Sprache sogar fließend beherrscht, aber die paar Brocken, die mir noch geblieben waren, reichten völlig aus.

Die drei Harpyien begannen, sich aufgeregt und schnabelklickend in ihrer Sprache zu unterhalten, während Kurogane nur Bahnhof zu verstehen schien. "Was haben Sie gesagt? Und vor allem: was haben die gesagt? Haben Sie die etwa verstanden?!", erkundigte er sich mit misstrauisch gedämpfter Stimme.

"Ja", antwortete ich ebenso leise, "Harpyien haben eine sehr kleine Zunge und können die offizielle Landessprache nicht so artikulieren wie Menschen. Zu dem Zweck habe ich's vorsichtshalber auch mal auf Harpyisch versucht."

Soeben schienen unsere drei Besucher beschlossen zu haben, ebenfalls den ersten Schritt zu wagen, denn alle drei verbeugten sich tief und richteten gleichzeitig ihre Federhauben auf- bei Harpyien ein Beweis tiefster Ehrerbietung.

"Chhhwar hibon ief Sao gowirtot", klickte diesmal einer der jüngeren Harpyien und sah mich aus seinen rotbraunen Augen durchdringend an, "War hiben gobotot, diss Sao ons holfon könnon. Ibor bovur war Sao ans Derf brangen, müsson war ioch wasson, wor Ahr Bogloator ast."

"Kurogane", erklärte ich und tippte meinem Begleiter auf den Arm, "Leibwächter. Er hilft mir. M'n ijkse-onto."

"Ahm-... Tag", fügte Kurogane etwas unschlüssig hinzu, offenbar fühlte er sich unter den prüfenden Blicken der adlerartigen Wesen nicht sonderlich wohl. "Ich-... ähh, ich Kurogane Koimihairi."

"Geton Tig. War froun ens, Sao konnon zo lornon, Kurogane Koimihari."

"Ja, natürlich", feuerte Kurogane einfach ins Blaue. Ich griff lieber schnell ein, bevor es noch zu Missverständnissen kommen konnte.

"Ähm-... seid ihr hier, um uns nach Shuryotori Aitoki zu bringen? Shuryotori Aitoki vel n' tsschhii shaak-a?"

Ein lebhaftes Nicken und mehrere Sätze auf Harpyisch waren die Antwort.

"Was sagen die?"

"Sie sagen, dass sie geschickt wurden, um uns hinzubringen."

Kurogane- der wahrscheinlich kein Wort verstanden hatte- wollte noch etwas fragen, doch die Harpyien waren schneller- sie stürzten sich auf uns, packten uns an den Schultern und zerrten uns nach oben, wobei sie wild mit den Flügeln schlugen.

"WAAAAAAAAAAAHHHHHH!!!"

Sowohl mein Leibwächter als auch ich brüllten unwillkürlich aus vollem Halse los, als wir mit einem Ruck in die Lüfte gerissen wurden und schon im nächsten Moment in nahezu gespenstischer Schwerelosigkeit über den Felshang segelten, an dem wir vor wenigen Minuten noch mühselig emporgekraxelt waren.

Über uns rauschte der grimmige Bergwind durch das Gefieder der Harpyien, ihre langen, bekrallten Arme hatten sich zum Tragen um unsere Schultern gewunden. Diese plötzliche, schwindelerregende Höhe fühlte sich an, als würde einem ein zwanzig Meter langer Plastikschlauch durch die Speiseröhre geschoben werden - ich kannte das und tat das einzig Sinnvolle, indem ich in leicht größenwahnsinnig anmutendes Dauergekicher verfiel, während Kurogane nur wie wild mit den Beinen ruderte und dabei Verwünschungen in alle vier Himmelsrichtungen schrie, die hier unmöglich wiedergegeben werden können.

"Was haben Sie denn, das macht doch irre Spaaaaaaaaaß!!", jubelte ich, während wir über einen weiteren Abgrund segelten.

"ICH GEB IHNEN GLEICH SPASS!!"

"Also, wenn die Mission schon so toll anfängt, kann sie ja nur ein bombenmäßiger Erfolg werden! Bei meiner Ehre!", schwor ich überglücklich, während wir einen üppig mit Bäumen bewachsenen Hang hinaufrauschten.

Mein Reisebegleiter gab sein Gebrüll erstaunlich rasch auf und seufzte enerviert.

"Wenn das bloß gut geht, sag ich! Ab jetzt handeln wir auf Ihre Verantwortung!"

"Aber gern! Auf meine Verantwortung!"

"Auf Ihre Verantwortung!", schrie Kurogane noch, bevor wir in den nächsten rasanten Sturzflug gingen.

Wie war das mit über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein?

Naja, vielleicht hing's auch nur damit zusammen, dass wir lediglich 'überm Berg' waren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2007-05-03T11:18:55+00:00 03.05.2007 13:18
Haha, cool! Die laufen einfach dahin XDDD Und das Harpyisch klingt ja lustig wenn man es wirklich mal ausspricht *lol*!
Schreibt bitte in dem Tempo weiter! *freu*


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