Zum Inhalt der Seite

Die Akte Tanner

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Ein Pakt mit Becky

Obwohl sie und May den Laden bereits mehr als einmal nach Wanzen

abgesucht hatten, war es Rally zu riskant, hier die Sache mit Tanner

zu besprechen. Als Becky ankam, fuhren sie daher in die Innenstadt zu

einer Bar. Fay, eine Freundin von Rally, arbeitete dort.

Normalerweise war die Bar am Vormittag geschlossen. Aber für Rally

wurde da schon ab und zu mal eine Ausnahme gemacht. So war es auch an

jenem Tag.
 

Rally und Becky setzten sich an einen Tisch. Sie hatten reichlich

Auswahl, denn natürlich war das Lokal völlig leer.

"Kann ich euch irgendwas bringen?", fragte Fay.

"Danke, ja. Ich... nehme einen Kaffee", sagte Rally.

"Ich nehme *zwei* Kaffee. Den stärksten, den ihr habt", meinte Becky.

"Alles klar."

Fay ging nach hinten, und machte sich an der Kaffeemaschine zu

schaffen.

"Also", sagte Rally zu Becky, "warum konnten wir das nicht am Telefon

besprechen?"

"Weil der Fall möglicherweise viel grösser ist, als du denkst", sagte

Becky. "Dieser Tanner ist eine ganz schön harte Nuss."

"Ist er der Typ, hinter dem du seit Wochen her bist?"

"Wie kommst du darauf?"

"Ist nur ne Vermutung."

Becky nickte. "Ganz genau. Und in dieser Zeit habe ich nicht

allzuviel über ihn rausbekommen. Allerdings... Das was ich über ihn

rausbekommen habe...", sagte sie mit düsterer Miene.

"Nun?", fragte Rally.

"Würde dich normalerweise ein kleines Vermögen kosten",

vervollständigte Becky.

"War ja klar", dachte sich Rally. "Wieviel willst du denn?", fragte

sie.

"Tja, du hast Glück", meinte Becky. "Meinem Kunden reichen die

bisherigen Informationen nicht, und ich komme einfach nicht weiter.

Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen."

"Ich soll für dich Arbeiten?", fragte Rally überrascht.

"M-Hm", bestätigte Becky. "Erstens musst du ja schon etwas über ihn

wissen, sonst hättest du mich ja wohl kaum nach ihm gefragt. Dann

könntest du mir helfen, ihn zu überwachen. Wäre mir eine grosse

Hilfe. Der Kerl ist schlüpfrig wie ein Aal. Und ausserdem seit ihr ja

quasi Kollegen. Du könntest, na du weisst schon, Verbindungen

knüpfen."

Rally errötete leicht. "Äh, ich glaube, dass ist doch eher Mays

Fachgebiet."

"Wie du meinst. Aber ich glaube, etwas Erfahrung in diesem Gebiet

würde dir auch nicht schaden."

"Sie hat gar nicht so Unrecht", meinte Fay, die gerade mit den drei

bestellten Kaffee ankam. "Alles in allem... In deinem Alter."

"Mann...", brummte Rally, "könntet ihr zwei bitte ernsthaft werden?"

"Ich bin todernst", sagte Becky grinsend, und nahm sich gierig eine

der Kaffeetassen.

Noch bevor Fay ein Wort der Warnung aussprechen konnte, hatte Becky

den Kaffee schon angesetzt. Die Folgen waren schmerzhaft. Der Kaffee

war nämlich noch heiss.
 

Nachdem Becky sich die Lippen etwas gekühlt, und Fay den

verschütteten Kaffee aufgewischt hatte, nahm Rally das Gespräch

wieder auf:

"Also Becky, irgendwie kommt mir das alles ein wenig Spanisch vor.

Unter welchen Umständen hast du den Auftrag denn bekommen?"

"Das darf ich dir doch nicht sagen. Zumindest nicht, bis wir einen

Vertrag geschlossen haben. Aber grob gesagt, ist ein Kunde bei mir

aufgetaucht, und hat mir den Auftrag gegeben, so viel wie möglich

über Tanner rauszufinden. Und die Bezahlung hängt von der Menge und

Qualität der Informationen ab."

"Und wer der Kunde war, darfst du mir natürlich nicht sagen?"

Becky zuckte mit den Schultern. "Warum auch nicht. Ist eh ein

Pseudonym. Er nannte sich Dantes."

"Dantes? Hmmm... Den Namen hab ich kürzlich gehört."

"Ich würde nicht allzuviele Gedanken darüber verschwenden. Wie schon

gesagt: Es ist vermutlich ein Pseudonym. Aber nun zum Geschäft: Die

Infos, die ich bisher über Tanner gesammelt habe, sind bereits eine

Menge Wert. Aber wenn du mir hilfst, noch weitere zu finden, würde

ich dir alles gratis überlassen."

"Hmmm..."

Rally lehnte sich zurück. Vorsichtig nahm sie einen Schluck Kaffee.

Er war mittlerweile genug abgekühlt, um trinkbar zu sein.

"Wenn ich das richtig verstanden habe, dann erhältst du um so mehr

Geld, je mehr Informationen wir zusammentragen, richtig?"

Becky wurde klar, dass sie vorhin eine elementare Grundregel eines

jeden Informanten verletzt hatte: Rücke keine Informationen heraus,

die dir nichts bringen. Und schon gar keine, die dich etwas kosten!

"Ich denke", fuhr Rally fort, "in diesem Fall wäre eine prozentuale

Beteiligung angebracht. Sagen wir, 30 Prozent?"

Dann trank Rally langsam ihren Kaffee, während Becky sichtlich um

ihre Fassung rang.

"W... W... Wie bitte!? Wieviel!?", rief sie. "Weisst du, wieviel ich

alleine schon für die Infos bekommen würde, die ich selbst schon

habe? Fast... 50'000 Dollar! Und die würde ich dir schenken!"

"Tanner interessiert mich nur insofern, als dass ich wissen will,

warum er mir ständig in die Quere kommt. Deine Infos sind für mich

also nicht so wahnsinnig interessant. Vor allem würde ich keine 50

Mille dafür zahlen."

Becky überlegte einen Moment. "Also meinetwegen. Du kriegst 10

Prozent der Prämie. Das ist doch was, oder?"

"Ich sagte 30"

"Erde an Rally, bitte melden! Soviel zahle ich nicht. Niemand würde

das."

"Das ist aber schade."

Becky seufzte. "Was soll das Rally? Soll ich dich etwa auf Knien

anflehen, und traurige Geschichten über zu ernährende Kinder

erzählen?"

Rally grinste, und überlegte einen Moment. "20% der Prämie plus alle

Informationen, die diesen Fall betreffen, gratis?", fragte sie.

"Hm. Na schön. Einverstanden", brummte Becky.
 

Einen Handschlag später, mit Fay als Zeugin, war der Handel

besiegelt. Becky holte einen Stapel Blätter aus ihrer Aktenmappe.

"Na, dann wolln wir mal. Erst mal ein grober Abriss: Unser Freund ist

Ausländer. Höchstwahrscheinlich Europäer, vermutlich Italiener. Er

ist erst seit einigen Wochen oder Monaten hier. Hat Verbindungen

aller Art. Sowohl zu legalen wie auch zu illegalen Organisationen. Er

ist sehr vorsichtig, was ihn schwer greifbar macht. Ausserdem fürchte

ich, dass er Verbindungen zu ein paar hohen Tieren hat."

Rally pfiff durch die Zähne. "Und so was hab ich als Kunden."

"Als Kunden?"

"Ja, er hat Munition bei mir eingekauft. Aber warum meinst du, dass

er ein paar hohe Tiere kennt?"

"Oh, ganz einfach. Während der Routinekontrolle habe ich die

Einwohnerdatenbank abgefragt. Dergemäss ist Tanner von Geburt an

Bürger des Staates Illinois. Aber ich konnte keine Verbindung zu

einer der eingesessenen Familien ziehen. Das hat mich misstrauisch

gemacht, und ich habe die Datenbank mal... genauer angesehen."

"Du meinst... gehackt."

"Wer? Ich?", sagte Becky mit Unschuldsmiene.

Rally und Becky lachten. Dann fuhr Becky fort:

"Wie dem auch sei: Sein Eintrag ist gefälscht. Er wurde erst vor 3

Monaten gemacht. Was mich an der ganzen Sache stört, ist, dass die

Fälschung hervorragend gemacht wurde. Ohne eine genaue Prüfung der

Rohdaten auf der Datenbank ist sie nicht zu entdecken. Wenn du mich

fragst, ist sie offiziell angeordnet worden."

"Ein Hacker kommt nicht in Frage?"

"Unwahrscheinlich. Die Fälschung zu entdecken war schwierig. Sie

anzubringen, war aber noch viel schwieriger. Wenn das ein Hacker war,

dann war er schweinisch gut."

"Gibt es Fälle, wo so etwas offiziell gemacht wird?"

"Ja, bei Zeugenschutzprogrammen. Aber ich glaube, dass können wir

ausschliessen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, welches Tanners

wirkliche Nationalität ist. Aber ich bin mir fast 100-prozentig

sicher, dass er kein US-Amerikaner ist."

"Ja", bestätigte Rally. "Wenn ichs mir recht überlege, so klangen

seine Sätze doch ziemlich wie aus dem Schulbuch. Es klang so, als

könne er zwar Englisch sprechen, sei es sich aber nicht gewohnt."

"Sowas dachte ich mir", sagte Becky. "Was weisst du denn so alles

über ihn?"
 

"Tja", sagte Rally, "da erklär ich dir am Besten die ganzen Umstände,

wie ich auf ihn gestossen bin. Was weisst du über den Fall Stevenson?"

"Den Fall Stevenson?", fragte Becky. "Der Drogenring? Ah, dann

steckst du also doch hinter der Bombe. Ich dachte mir schon, dass sei

doch genau Kens Typ. Na, liege ich richtig?"

"Äh, ja. Wie ich sehe, bist du gut informiert. Aber sei bitte etwas

leiser."

"Klar doch", meinte Becky grinsend. "Also, der Fall Stevenson. Und

weiter?"

"Nun, alles hat angefangen mit dem Fall Cogan. Du weisst schon. Der,

wegen dem ich dich angefragt hatte. Als ich Cogan einsacken wollte,

hat ihn jemand angeschossen. Ich vermute, dass das Tanner war."

"Hast du was Handfestes?"

"Leider nicht, aber... sag mal, hat Tanner eine Lizenz für ein SIG

Sturmgewehr Typ SG550 oder so?"

"Ein Sturmgewehr? Augenblick."

Becky sah die Blätter durch. Schliesslich fand sie, wonach sie

gesucht hatte:

"Hier. Lizenz für ein Sturmgewehr SIG SG551."

"Dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch. Jedenfalls hatte der Schütze

genau so ein Gewehr."

"Meinst du? Immerhin sind die SIG Waffen doch recht verbreitet, oder?"

"Nicht dieses Gewehr. Es ist teuer und sehr pflegebedürftig. Darum

wird es fast nur von offiziellen Stellen verwendet."

"M-Hm. Könnte eine Spur sein. Und weiter?"

"Nun, in der Folge sind wir in den Fall Stevenson hinein geraten. Und

dabei hat wiederum jemand mit solch einem Gewehr mir kurz geholfen,

indem er die Waffe von Thomas Martin, Stevensons Sicherheitschef,

zerstörte. Ausserdem ist Tom gestern abgehauen, und anscheinend hat

sich Tanner sofort auf dessen Fersen geheftet."

Becky zog die Augenbrauen hoch. "Na schau mal einer an. Nur zu deiner

Information: Der Auftrag, Martin zurückzuholen, wurde nie

ausgeschrieben. Tanner hat ihn direkt erhalten."

"So ist das also. Ich hatte bei dem Job also gar keine Chance. Oh,

jetzt weiss ich wieder, wo ich den Namen Dantes schon mal gehört

habe. Vector hat ihn erwähnt."

"Vector? Doch nicht der Syndikatsboss Vector, oder?" Beckys

Gesichtsfarbe wurde sichtlich heller.

"Genau der. Kennst du ihn?"

"Machst du Witze? Jeder bessere Informant hatte schon mal Besuch von

diesem netten Herrn oder einem seiner Untergebenen."

"Oh. Naja, jedenfalls hat er..."

"Ich wills nicht wissen", warf Becky ein. Sie nahm ihren zweiten

Kaffee, und leerte die Tasse in einem Zug.

Rally war perplex. Dass letzte Mal, das Becky etwas *nicht* wissen

wollte... Nein, sie konnte sich nicht erinnern, dass sowas bisher je

der Fall gewesen war.

"Du... willst es nicht wissen?", fragte sie.

"Wenn Vector rauskriegt, dass du Informationen über ihn herausgibst,

dann bist du so gut wie tot", erklärte Becky. "Glaub mir, es ist

besser, wenn ich nichts darüber weiss. Nur soviel: Was glaubst du,

war die Verbindung zwischen Vector und Dantes?"

"Nun, Vector sagte, dass Dantes ihm misstraue. Dantes war wohl ein

Auftraggeber. Ich vermute, er gehört zu einem der anderen Syndikate."

Becky atmete hörbar auf. "Gut. Das ist immer noch viel angenehmer,

als für Vector selbst zu arbeiten. Lass mich dir einen Tipp geben:

Vector heuert gelegentlich Leute von ausserhalb seines Syndikats an.

So ziemlich alle, die einem solchen Handel zugestimmt haben, haben

sich daran die Finger verbrannt. Also halte dich fern von ihm."

"Ich kann dir versichern, dass ich absolut keine Absicht habe, mich

nochmals mit ihm zu befassen."

"Gut. Also, überlegen wir uns mal wie weiter. So, wie ich das sehe,

haben wir zwei Spuren, die wir verfolgen können. Die eine ist Martin.

Die andere wäre sein Einkauf bei dir. Er hat doch mit Kreditkarte

bezahlt, oder?"
 

Kurze Zeit später erschienen Becky und Rally wieder im Laden. Rally

ging die Kassenbelege durch, und fischte den von Tanners

Munitionskauf heraus. Becky notierte sich Tanners Kreditkartennummer.

"Sag mal", flüsterte Rally, "du willst dich doch nicht in den

Bankencomputer einhacken."

Den Gedanke, was Becky dort alles anstellen könnte, fand Rally etwas

beängstigend. Aber Becky beruhigte sie:

"Nein, das habe ich nicht vor. Banken sind grundsätzlich paranoid,

und ihre Systeme entsprechend gut geschützt. Ein direkter Angriff

wäre viel zu umständlich. Aber es gibt noch andere Mittel und Wege,

um an Informationen zu gelangen. Wie auch immer. Ruf mich an, wenn du

weiterkommst, ja?"

Daraufhin ging Becky wieder. May, die sich bisher zurückgehalten

hatte, konnte ihre Neugierde nicht weiter bezähmen.

"Was habt ihr denn besprochen?", fragte sie.

"Gehn wir rasch rüber", meine Rally, und ging zum Raum nebenan.

Rally und May hatten diesen Raum besonders gründlich auf Wanzen

abgesucht, um das Telefon darin einigermassen sicher benutzen zu

können. Die Wahrscheinlichkeit, abgehört zu werden, war hier also

bedeutend kleiner, als in irgend einem anderen Teil des Ladens.

"Also", begann Rally. "Becky ist schon eine ganze Weile hinter diesem

Tanner her. Aber ihrem Auftraggeber reichen die Informationen noch

nicht. Und weil sie einfach nicht weiterkommt, helfen wir ihr aus. Im

Gegenzug bekommen wir Beckys Infos zum Fall gratis, und einen Fünftel

der Erfolgsprämie."

"Was!? Becky bezahlt uns?"

May konnte das kaum glauben. Aber Rally nickte nur lächelnd.

"Die muss ganz schön verzweifelt sein", meinte May.

"Wie dem auch sei", fuhr Rally fort, "ich brauche deine Hilfe bei der

Sache. Und als erstes habe ich einen Job für dich und Ken, wo ich

eure speziellen Fähigkeiten brauche."

"Echt? Wann? Wo?"

"So schnell wie möglich. Was genau und wo werde ich dir draussen

erklären. Sicher ist sicher."

Mays Augen hatten einen Rally gut bekannten, und normalerweise

gefürchteten, Glanz angenommen. May konnte es anscheinend kaum

erwarten. Für sie war das zu schön, um wahr zu sein.

"Alles klar, ich hole das 'beim Fischen'-Schild, und..."

"Das wird nicht nötig sein", unterbrach Rally. "Ich habe von der Bar

aus eine Vertretung organisiert."

"Eine Vertretung?"

"Ja. Für den Laden. Während wir weg sind."

May setzte einen halb verwunderten, halb fragenden Blick auf. Doch

Rally schien entschlossen zu sein, May auf die Folter zu spannen. Die

'Folter' dauerte indes nicht lange. Die rote Lampe über der Tür zum

Verkaufsraum begann zu blinken, was bedeutete, dass jemand den Laden

betreten hatte. Rally und May gingen hinüber. Das heisst, Rally ging.

May stürmte eher.
 

"Hallo?", fragte Misty etwas verloren.

Es kam ihr seltsam vor, dass niemand im Verkaufsraum war. Doch kurz

darauf flog die Tür zum Nebenraum auf, und May stürmte herein.

"Misty?", fragte May überrascht.

"Genau", bestätigte Rally. Dann wandte sie sich Misty zu. "Danke,

dass du kommen konntest."

"Aber für dich doch immer", erwiderte Misty.

"Also, hier hast du eine Schürze", begann Rally zu erklären. "Das ist

der Schlüssel für den Munitionsschrank. Die hier sind für die

Waffenschränke. Das Lager lass ich zu. Komplexere Aufträge wie

Spezialanfertigungen oder Sonderbestellungen bringst du mir einfach

am Abend nach Hause. Ich seh sie mir dort an."

"Alles klar", sagte Misty, und legte sich die Schürze um.

"Du Rally?", fragte May. "Jetzt, wo Misty da ist, können wir doch

anfangen, oder?"

"Klar doch", meinte Rally beschwichtigend. "Gehn wir."

Draussen erklärte Rally May kurz, was sie tun sollte:

"Also, du nimmst jetzt deinen Wagen, und fährst nach Hause. Ken

wartet wahrscheinlich schon dort. Er wird dir alles weitere

erklären."

"Bin schon unterwegs", meinte May. "Und was machst du?"

"Ich statte einem alten Freund einen Besuch ab."
 

Eine halbe Stunde später befand sich May im Keller ihres gemeinsamen

Hauses, und hantierte mit einem elektronischen Gerät. Sie war sauer,

und man sah es ihr an. Ihre Laune besserte sich auch nicht, als Ken

durch die Tür kam.

"Bist du fertig?", fragte Ken.

"Gleich", brummte May.

Einige Sekunden später schaltete sie das Gerät ab.

"So, das wärs."

Gemeinsam gingen sie zur Kellertreppe.

"Warum bist du eigentlich so sauer?", fragte Ken.

"Als Rally von unseren besonderen Fähigkeiten sprach, dachte ich

eigentlich an Bomben, nicht an Elektronik. Und unser Haus zu

entwanzen finde ich nicht gerade aufregend", murrte May vor sich hin.

"Ach so, Rally hat dir also nicht gesagt, worum es sich bei der

Aufgrabe genau handelt."

"Hmpft. Hast du eigentlich welche gefunden? Bei mir war keine

einzige."

"Ja, am Lüftungsgitter war eine."

Ken griff in die Jackentasche, und holte besagte Wanze hervor. Der

Typ war May wohlbekannt. Es waren dieselben, die sie im Laufe der

letzten paar Wochen immer wieder gefunden hatten.

"Die hier scheint allerdings tot zu sein", fuhr Ken fort.

May hielt im Schritt inne.

"Tot?", fragte sie.

"Keine Signale", erklärte Ken. "Ich hab sie auch mit einem Multimeter

geprüft. Anscheinend ist ihr die Batterie ausgegangen."

"A-Aber wenn alle Wanzen vom gleichen Typ sind, dann ist unsere

Arbeit vielleicht..."

"Nicht so voreilig. Es könnten ja auch welche nachträglich platziert

worden sein."

Ken ging weiter zur Treppe, und stieg ins Erdgeschoss hinauf, um auch

dieses zu prüfen. May folgte ihm. Aber nicht, bevor sie ein lautes

"Warum ich?!" durch die Gänge schallen lies.
 

Arthur Cogan war guter Laune. Zum einen hatte er für seine Aussage

als Kronzeuge Straffreiheit erhalten. Zum anderen hatte er seinen

Wegzug aus dieser Stadt organisieren können. Nicht mehr lange, und er

konnte die meisten seiner Feinde hinter sich lassen. Nicht zu

vergessen seine Unterkunft, eine Wohnung in einer Bruchbude, die

irgend ein Witzbold als Wohnhaus eingestuft hatte. Noch dazu in einem

heruntergekommenen ex-Industrieviertel. Aber immerhin waren die

Mieten niedrig, und die Umgebung ruhig.
 

Wie schon gesagt, er war guter Laune. So guter Laune sogar, dass es

ihn nicht weiter störte, dass die Ganglichter schon wieder

ausgefallen waren. Das passierte so häufig, dass er mittlerweile

darin geübt war, das Schüsselloch im Dunkeln zu treffen. Das war auch

tagsüber nötig, da der Gang keine Fenster hatte. Er hatte gerade den

Schlüssel in die Hand genommen, als er hinter sich eine ihm bekannte

Stimmer hörte.

"Guten Abend Mister Cogan", sagte Rally.

Das genügte, um bei Cogan den Angstschweiss ausbrechen zu lassen.

Einen Moment dachte er daran, über die Feuertreppe am anderen Ende

des Ganges zu flüchten. Aber dann fiel ihm ein, dass dies ein

hoffnungsloses Unterfangen gewesen wäre. Der Notausgang war

blockiert. Die Leute hier fürchteten Einbrecher mehr als Brände.

Langsam drehte er sich um. Es war tatsächlich Rally, die da vor ihm

stand. Er sah keine Waffe, aber er zweifelte keine Sekunde daran,

dass sie mindestens eine bei sich trug.

"N'Abend", sagte er langsam.

"Wollen wir nicht reingehen?", fragte Rally.

Cogan nickte nur kurz. Er schloss die Tür auf und ging geradewegs ins

Wohnzimmer. Das war der einzige Raum, der gross genug war, dass sich

zwei Personen darin aufhalten konnten, ohne sich auf die Füsse zu

treten.

"Verdammt!", dachte er sich. "Die ist sicher nicht da, um sich nach

meiner Gesundheit zu erkundigen. Und dabei hätte ich es fast

geschafft."

Er hörte, wie Rally die Tür schloss, und ihm folgte. Ihr fiel sofort

auf, dass die Wohnung fast leer war. Mal abgesehen von ihr und Cogan

waren da nur noch die beiden grossen Koffer bei der Tür, und der alte

Sessel im Wohnzimmer, der zu sperrig war, um ihn mitzunehmen.

Ungefragt setzte sie sich.

"Du ziehst weg?", fragte sie.

"Mmmm... ja. Auf Anraten meines Arztes. Die... Atmosphäre in dieser

Stadt ist nicht gut für mich."

"Jaja... Der Bleigehalt ist in den letzten Wochen deutlich gestiegen.

Das kann einem ganz schön ans Herz gehen."

"Öh... So in der Art."

Cogan warf einen flüchtigen Blick zum Fenster. Sollte er es

riskieren, und rausspringen? Immerhin waren sie hier nur im ersten

Stock. Andererseits... weh tun würde es auch so. Rally war der Blick

offenbar aufgefallen, den sie stand auf, und lehnte sich, sehr zu

Cogans Missfallen, gegen das Fenster. Damit war die Sache auch

entschieden.

"Sag mal", fuhr Rally fort, "so ein Umzug kostet doch einen Haufen

Geld. Vor allem, sicherzustellen, das man am neuen Ort *nicht*

erreichbar ist."

"Oh, das Zeugenschutzprogramm..."

"...hast du nicht in Anspruch genommen. Misstraust wohl der Polizei,

was?"

Cogan schluckte leer. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Das gefiel

ihm gar nicht.

"Na schön", brummte er, "ich habe ein paar Dinge verkauft, um an das

nötige Geld zu kommen."

"Dinge wie Informationen über meine Verwicklung in den Fall

Stevenson?"

Das hatte Cogan befürchtet. Rally wusste bereits alles, und war nur

da, um abzurechnen. Aber sie hatte einen entscheidenden Fehler

gemacht. Jetzt, wo sie am Fenster stand, war der Weg durch die Tür

frei! Cogan drehte sich um, rannte zur Tür, und riss sie auf. Doch

die Tür öffnete sich nur ein Stück weit. Rally hatte beim

hereinkommen die Kette eingehängt. Geistesgegenwärtig versuchte Cogan

noch, die Kette zu lösen, doch da war Rally bereits neben ihm, und

schlug die Tür wieder zu.

"Schluss mit den Spielchen!", rief sie. "Was hast du Tom erzählt?!"

"Tom? Wer ist Toooo?"

Rally zog ihn an an einem Ohr zurück ins Wohnzimmer, und drückte ihn

in den Sessel. Dann zog sie betont langsam und mit einer sehr

verärgerten Miene die CZ-75, ihre Lieblingspistole, aus dem

Seitenhalfter.

"Ist ja gut, ist ja gut!", schrie Cogan in Panik. "Ich habe so einem

Typen von Stevensons Sicherheitstruppe verraten, dass du hinter der

Sache gesteckt hast. Mehr nicht, ich schwörs! Und er Kerl hiess

Martin, nicht Tom!"

"Martin ist sein Nachname. Wo steckt er jetzt?"

"Woher soll ich das Wissen! Ich kenn den Typen doch gar nicht!",

jammerte Cogan.
 

Rally stieg wieder in den Wagen. Ihr Verhör von Cogan war nicht

besonders ergiebig gewesen. Natürlich wusste sie, dass Cogan nie

selbst im Labor war. Trotzdem hatte sie gehofft, dass Stevenson ihn

zumindest in einige wenige Dinge eingeweiht hatte. Sie rief Becky mit

dem Autotelefon an, und brachte sie auf den aktuellen Stand der

Dinge.

"Tja, das ist Pech", sagte Becky. "Aber wenigstens wird er sich jetzt

wohl hüten, uns weiteren Ärger zu machen."

"In der Tat", meinte Rally grinsend. "Aber leider bringt uns das auch

nicht weiter."

"Kopf hoch. Ich hab hier eine nette, kleine Liste mit Toms üblichen

Verstecken."

"Ah schön, dann werd ich die mal überprüfen." Rally öffnete das

Handschuhfach, und holte daraus einen Notizblock. "Also, schiess

los."

"Nicht so hastig", wandte Becky ein. "Das sind neue Informationen.

Die verrechne ich dir."

"Nix da", protestierte Rally. "Laut Abmachung bekomme ich alle

Informationen gratis, die diesen Fall betreffen. Nicht nur

diejenigen, die bereits vorher bekannt waren."

"Aasgeier!"

Rally musste ob dieser letzten Bemerkung Beckys grinsen, denn

üblicherweise war die Situation umgekehrt. Becky gab schliesslich,

wenn auch zähneknirschend, die Adressen heraus, und Rally notierte

sie sich.

"Gut", sagte Rally schliesslich. "Ich werd mal noch so viele prüfen,

wie ich heute schaffe. Ken und May sollten auch bald fertig sein. Wir

können uns also heute Abend bei mir treffen. Sagen wir, um acht?"

"Kein Problem. Aber an deiner Stelle würde ich mich beeilen. Tanner

ist mit Sicherheit selbst bereits auf der Suche nach Tom. Und die

alten Verstecke zu prüfen, ist Routine."

"Jaja. Ich mach diesen Job auch nicht erst seit gestern, weist du."

"Wie du meinst. Aber ruf mich an, falls du Tanner findest, okay?"

"Meinetwegen", brummte Rally und legte auf.

Ihr Plan war einfach. Gerade deshalb hoffte sie auf Erfolg. Da Tom

noch nicht bei der Polizei abgeliefert worden war, war er ja

offensichtlich noch frei, und Tanner logischerweise hinter ihm her.

Sollte Rally Tom finden, bevor Tanner das tat, würde Tanner ihr

früher oder später in die Arme laufen. Rally klaubte einen Stadtplan

hervor, und suchte die Standorte der Verstecke heraus. Natürlich

waren sie über die ganze Stadt verteilt. Rally beeilte sich daher.
 

Die ersten drei Verstecke waren ein Reinfall. Weder von Tom noch von

Tanner war die geringste Spur vorhanden. Das beunruhigte Rally nicht

weiter, doch allmählich wurde es später, und Rally wusste, dass sie

die Suche bald abbrechen musste, wenn sie noch rechtzeitig zu Hause

sein wollte. Beim vierten Versteck erwartete sie jedoch eine

Überraschung. Vor dem Haus stand ein blauer Corsa. Genau so einer,

wie ihn auch Tanner fuhr. Jetzt waren diese Wagen zwar alles andere

als selten, doch dieser hier stand ganz alleine auf weiter Flur.

"Mal sehen", dachte sich Rally, und wartete in sicherer Distanz.

"Vielleicht..."

Sie wurde nicht enttäuscht. Kurze Zeit später kam Tanner,

offensichtlich unverrichteter Dinge, aus dem Gebäude. In seiner

rechten Hand hielt er ein Gewehr. Es war tatsächlich ein SG551. Mit

ihrem Kennerblick erkannte Rally sofort das überlange Magazin. Das

erstaunte sie, denn mit 30 Schuss war dieses Magazin doch recht gross

für ein halbautomatisches Gewehr. Es seie denn, natürlich, es würde

sich um die vollautomatische Armeeversion handeln. Aber dann wäre

diese Waffe in den Händen eines Zivilisten normalerweise illegal.
 

Das Geräusch von Tanners startendem Corsa holte sie aus ihren

Gedanken. Vorsichtig verfolgte sie ihn im Cobra. Als sie vor einer

roten Ampel halten musste, rief sie Becky an:

"Du Becky, ich hab Tanner. War ein Riesenglück. Ich hab ihn zufällig

gesehen, wie er eines von Toms Verstecken verliess."

"Spitze! Wo seit ihr jetzt?"

"Er ist wieder unterwegs. Von der Fahrtrichtung her zu urteilen, ist

er auf dem Weg zu einem der anderen Verstecke."

Rally gab die Adresse des Versteckes durch, von dem sie vermutete,

das Tanner es ansteuerte.

"Alles klar", sagte Becky. "Ich mach mich sofort auf den Weg.

Unternimm nichts, bevor angekommen bin, hörst du?"

"Ist ja gut."

Rally legte wieder auf. Das Lichtsignal schaltete ebenfalls gerade

wieder auf grün, so dass sie Tanner weiter folgen konnte. So

allmählich bereute sie es, den Auftrag angenommen zu haben. Dass die

Tatsache, dass sie für Becky arbeitete, auch bedeutete, dass sie nach

Beckys Regeln arbeitete, hatte sie schlicht nicht bedacht. Sie machte

sich so ihre Gedanken, als Tanner mitten in einem Industrieviertel

unvermittelt vor einem Haus anhielt. Dass war dumm, denn es war

deutlich nach Feierabend, und die Gegend dementsprechend ruhig. Rally

konnte hier nicht einfach anhalten, ohne das es auffiel. Daher fuhr

sie an Tanner vorbei, und bog in die nächste Seitenstrasse ein. Erst

dort stellte sie den Wagen ab. Sie stieg aus, und sah um die Ecke.

Auch Tanner war mittlerweile ausgestiegen, und betrachtete das Haus

gegenüber. Es war ein altes Lagerhaus, dass anscheinend schon seit

einiger Zeit leerstand. Ideal für ein Versteck also. Das Problem lag

lediglich darin, dass dies nicht das Haus war, welches Rally gemeint

hatte. Es stand noch nicht einmal auf der Liste. Rally schnappte sich

das Autotelefon, und versuchte, Becky zu erreichen. Doch Becky

antwortete nicht. Sie war wohl schon unterwegs. Rally riskierte, den

Hörer in der Hand, einen zweiten Blick. Tanner ging mittlerweile, das

Gewehr gut sichtbar, zum Lagerhaus hinüber. Zufällig sah Rally, wie

sich im ersten Stock des dreigeschossigen Gebäudes die Überreste

dessen, was wohl mal ein Vorhang gewesen war, bewegten. Tanner schien

es nicht zu bemerken.

"Idiot!", dachte Rally. "Du wirst noch erschossen!"

Als Tanner schliesslich die Tür erreichte, und Becky noch immer nicht

antwortete, wurde es Rally zufiel. Sie schmiss den Hörer auf die

Gabel, und schloss den Wagen ab. Dann zückte sie die Pistole, und

rannte selbst zum Eingang, den Tanner gerade hinter sich geschlossen

hatte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück