Mainliner - Pubertät 19
Kapitel 37:
Mainliner - Pubertät 19
Sanjis Sicht
Schon seit sechs Tagen weiß ich, dass Mama gestorben ist. Sechs leere, beschissene, traurige Tage. Ich
bekomme keinen Schlaf, bin nur unterwegs, hänge nur an der Szene ab, um mich abzulenken. Mein
Handy habe ich geschrottet, darum habe ich keine Anrufe mehr bekommen. Keine Ahnung, wie es mit
Beerdigung oder sonst was ausieht. Im Moment bin ich total auf’m Egotrip, zicke alle Leute an und
schmeiße mir nur Pillen rein, was auch hilft. Zwar erlebe ich meine Flashs, bin dann voll drauf, aber
jeden Abend wo ich mit zu Tamara gehe, ist mein Körper fix und alle. Ich schlafe dann durch, wache
erst mittags wieder auf und habe überall Muskelkater. Aber lieber körperliche Schmerzen, als täglich
heulen zu müssen. Ich schnorre bei Tamara immer nach Speedballs oder andere Mixe, und weil sie
merkt, dass es mir schlecht geht, gibt sie nach. Zwar labert sie immer von künftigen Schulden, aber
darüber zerbrech ich mir nicht den Kopf. Hab andere Sorgen.
Ich wache auf, da schwere Regentropfen ans Fenster prasseln, und befinde mich wie in letzter Zeit so
oft bei Tamara im Bett, fühle mich nicht gerade prächtig. Ich setze meine Füße auf den Boden, fahre
durch meine Haare und strecke den Körper, spüre mehr als deutlich, dass alle Muskeln in mir brothart
sind. Ich stehe auf und torkele ins Bad, tue Tamara weder sehen noch hören. Sie war früher mal
Studentin, hat leider wegen Drogen ihre Ausbildung geschmissen, aber wenn sie mit jemandem
verabredet ist, kommt sie immer pünktlich, diese Angewohnheit ist ihr erhalten geblieben. Von daher
nehme ich an, dass sie sich mit Freunden oder sonst wem trifft, mir egal, sie ist außer Haus. Ich laufe
zur Badezimmertür, sie ist nicht verschlossen, also kann ich meine Morgentoilette erledigen. Ich drücke
die Türklinke nach unten, öffne die Tür, und siehe da: Tamara steht vor dem Waschbecken. Innerlich
durchfährt mich ein unspürbarer Schock, etwas an ihr zieht meine Augen an, ich kann sie nicht davon
ablösen, das habe ich noch nie in Real gesehen. Sie ist eine Fixerin. Mit der einen Hand hält sie die
Spritze, den anderen Arm hat sie durchgestreckt und sich in die Armbeuge gespritzt. Scheiße.
Zwar hat sie mich bemerkt, aber macht ganz normal weiter, als wäre ich gar nicht da. Die ganze
Handlung sieht interessant aus, schreckt mich aber irgendwie auch ab. Die Spritze wird herausgezogen
und sie packt alles sorgfältig weg. Ich wusste gar nicht, dass sie auf H ist, da ist sie wohl neu
draufgekommen. Es ist schon ein bissel her, dass wir zuletzt miteinander geschlafen haben, und
damals hatte sie noch keine Einspritzstellen am Arm, also ist sie erst seit kurzem auf dem Trip. Warum
hab ich nix davon gemerkt? Sie läuft an mir vorbei, als wäre ich Luft und ich bleibe noch ein Weilchen
im Türrahmen stehen. Aufs Klo muss ich nicht mehr, würde stattdessen lieber eine Rauchen, aber
müsste dazu ja erstmal irgendwo Hasch herkriegen. Ich bin schrecklich müde und reibe mir die Augen,
gehe Tamara hinterher in die Küche und lasse mir von ihr auch was zu Trinken einschenken. „Was
machst du jetzt noch?“ will sie wissen, ich zucke mit den Schultern. Ihre Pupillen sind tellergroß, keine
Ahnung, wie sich diese Wirkung anfühlt. Müsste ich mal ausprobieren, aber nicht im Moment. „Gibst du
mir ein paar Amphetamine?“ schnorre ich und hoffe, dass sie sich rumkriegen lässt, wenn sie auf H ist.
Tamara sieht mich unter müden und zugleich hellwachen Augen an. „Hab keine hier.“ Shit. Ich kratze
mir aus der Tabakpackung fast den letzten Inhalt raus und will mir eine Sargkeule drehen. Jetzt muss
ich auch noch Tabak nachkaufen, mein Black Devil geht einfach zu schnell flöten. „Blondie?“ Ich schaue
auf und nicke ihr mit dem Kinn zu. „Hast wohl wieder ein paar Probleme aufgehalst bekomm’n, wie
schaut’s aus?“ Mein Feuerzeug bringt die Kippe zum Aufglühen. Ich ziehe an ihr und nehme sie dann
zwischen Zeige –und Mittelfinger. „Ja, schon.“ „Und woran liegt’s?“ Weil meine Erzeugerin nicht mehr
unter uns weilt, daran liegt’s. Ich hab einfach keinen Bock auf Nichts. Auch nicht darauf, mit ihr jetzt
drüber zu reden. „Sanji, ich geb dir nen Tipp: geh zu deinen Leuts hin und regel alles.“ Lustlos sehe ich
ihr in die Augen, irgendwie hat sie grad voll den Durchblick. Sie hat gecheckt, dass es was Familiäres
ist. Sie zuckt mit den Schultern. „Musst du entscheiden, aber besser du bringst es hinter dich, als hier
noch weiter in meiner Wohnung rumzugammeln.“ Sie kommt zu mir, küsst mich aber nicht, wie ich
grade dachte, sondern nimmt sich den letzten Rest aus der Tabaktüte. Sie dreht sich auch ein Blättchen
und zündet sich die Sargkeule an.
///
Wann war ich eigentlich das letzte Mal in meiner eigenen Wohnung? Zahlt Jeff für die überhaupt noch?
Ich könnte eigentlich dort mal ne Party veranstalten, und ein paar von der Szene einladen. Agotogi,
wenn der Zeit hat, Kodama, Tamara und Edward. Die mag ich im Moment am Meisten. Die sind alle voll
korrekt drauf. Bei Tamara wohne ich ja schon praktisch, Agotogi besorgt als Dealer immer Stoff, Edward
ist mit Tamara ganz dicke und Kodama ist einfach nur cool drauf. Ich bin auf dem Weg zu Jeff und
Seulgi, mal sehen, wie’s denen so geht. Ohne Drogen könnt ich mir das gar nicht vorstellen, mit Mamas
Tod umzugehen. Das hat mich echt gerettet. Zwei Tage später war alles weg, keine Trauer mehr da, ich
hab mir einfach alle Sprüche, die mir einfielen, selbst zugesprochen. Die Welt dreht sich weiter, Mama
würde nie wollen, dass ich ihretwegen traurig bin, alles wird gut, und so weiter. Das hat echt geholfen.
Aber nur dank den Pillen, eben. Ich biege in der Straße ein und sehe schon von Weiten mein altes
Zuhause, freue mich irgendwie gar nicht, dorthin zu gehen. Ich will jetzt nicht mit deprimierten Leuten
zu tun haben. Und wie ich Seulgi gegenüber stehen soll, weiß ich auch nicht. An dem Tag, wo mir Jeff
gesagt hat, dass Mama den Unfall hatte, wollte ich sie ja in die Arme nehmen und streicheln und so,
aber etwas in mir hat mich gehemmt. Vielleicht, weil ich ja schon was mit Tamara angefangen hatte.
Weil ich ihr untreu geworden bin. Seulgi ist die ganze Zeit nur eingekesselt, wogegen ich draußen nur
noch Party mache. Das unterscheidet uns jetzt. Ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich fühlen soll, in
Tamara bin ich ja überhaupt net verliebt, sie ist einfach nur voll cool drauf und so. Mit mir auf selber
Wellenlänge, steht eben hinter mir. Und zu Seulgi hab ich überhaupt keinen Bezug mehr, da hat Jeff
erreicht, was er wollte. Ich bin schon fast überzeugt davon, dass ich mich nie wieder verlieben werde. In
wen denn auch? Wer will schon nen Drogenabhängigen, der mit seiner eigenen Schwester was hatte?
Das hört sich so krank an, ich bin mit Tamara echt am besten bedient. Und ich bin soeben vor dem
Haus angekommen.
Ich klingele, warte, bis Jeff mir öffnet. „Hi.“ gebe ich von mir und warte, dass er mich rein lässt, doch
Jeff bleibt breit im Türrahmen stehen. „Was ist?“ frage ich, weil er sich nicht regt, da ist schon wieder
was im Busch. Blitzschnell werde ich sauer, was dauert das so lange? Wehe, es kommt jetzt noch so ne
scheiß Meldung, von wegen Seulgi hätte jetzt auch nen Unfall gehabt! Ich schlucke, entgegne Jeffs Blick
mit einem Schnauben, da sich Wut in mir breit macht. „Schön, dich zu sehen, Sanji.“ sagt er in bitterem
Ton, was geht denn jetzt ab? „Was ist?“ wiederhole ich mich mit Ungeduld. Wieso lässt er mich nicht
rein? „Wo warst du die letzten Tage?“ Jeff behält seine ganze Kühle, wieso will der jetzt ein Verhör
starten? „Das geht dich nichts an. Wieso lässt du mich nicht rein?“ patzig bin ich, hab keinen Bock auf
Stress, aber provozieren hat auch seinen Reiz. Das ist gut zum Abreagieren. „Seulgi will dich nicht
sehen. Aber wenn du mit mir reden willst, kannst du gerne reinkommen.“ Ich pfeif auf sein Angebot,
was soll das denn jetzt? Seulgi würde so etwas nie sagen, so blöd kann Jeff doch nicht sein, mir eine so
offensichtliche Lüge aufzutischen! Ich schnaube. „Grad weil ich dir das glaub. Du hast sie sicher wieder
eingesperrt und erzählst mir jetzt diesen Mist. Hast nicht mal Mumm genug, sie herzuholen.“ Penner!
„Sanji, sie hat mir wirklich gesagt, dass sie dich nicht wieder sehen will. Aber ich biete dir meine
Gastfreundschaft an, wir können in Ruhe -“ Seine scheiß Höflichkeit geht mir gewaltig auf’n Keks,
darum unterbreche ich ihn. „Ja, sicher doch! Wenn du jetzt wieder mit der ganzen Scheiße anfängst und
nicht zulassen willst, dass Seulgi und ich uns sehen, dann -“ In meinem Mund liegt so viel Power, da
lässt es sich nicht vermeiden, dass ich alle Wörter mit so ner Energie ausspreche; und das ist auch gut
so! Jeff soll ruhig meine Wut abkriegen, hat er nicht anders verdient! Mama hat ihn doch geheiratet, weil
er auf sie aufpassen sollte, und jetzt ist ihr doch was passiert! „Sanji -“ fängt er noch mal an, aber ich
unterbreche ihn erneut. „Du holst Seulgi jetzt her, sonst komm ich rein und hol sie, kapiert!?“ Jeff bleibt
kurz beweglos stehen, dann löst sich seine Starre und er geht ins Haus rein, meine Drohung ist
aufgegangen. Ich spucke in den Vorgarten und warte, dass er sie herholt. Der soll sich beeilen.
Seulgi, hinter ihr Jeff, kommt an die Tür und ein Teil in meinem Herzen freut sich dabei wie ein
Kleinkind. „Hey.“ Mit einem Mal ist meine ganze Stimme weich geworden, Seulgi hat immer noch so
einen Effekt auf mich, dass ich einfach nur liebevoll mit ihr umgehen kann. Nur sieht sie nicht gerade
erfreut darüber aus, mich zu sehen und Zweifel machen sich in mir breit. Die ganze Zeit habe ich sie
alleine gelassen, sie hatte niemanden zum Trauern, war nur mit Jeff zusammen unter einem Dach.
Wieso habe ich nicht früher daran gedacht? Ich bin total egoistisch abgezogen und hab Seulgi im Stich
gelassen. Ich hätte mich bei ihr melden müssen, sie hat sich sicherlich Sorgen um mich gemacht. Ich
Idiot! „Alles okay?“ versuche ich noch mal, sie zum Reden zu bringen, doch sie sieht mich nur
unentwegt von hinter der halb geöffneten Haustür an. Was hat sie bloß? Ich dachte, sie würde mir vor
Freude um den Hals fallen, nur war das alles bestimmt auch zu viel für sie, die letzten Tage. „Sanji,
ich...“ Ihre Augen flackern, sie wird doch wohl nicht weinen? „Was hast du denn?“ Meine Stimme möchte
fürsorglich klingen, ihr zeigen, dass ich für sie da bin, doch Seulgi senkt nur ihren Blick. Was geht nur
in ihr vor? Ihr Verhalten versetzt meinem Herzen einen Stich. Mit einem Mal sieht sie mich mit Wut an,
ihre Augen glänzen. Sie wird weinen. „Du bist so ein Idiot, Sanji! Ich will dich nicht noch mal sehen!“ Sie
dreht sich zu Jeff um, läuft an ihm vorbei in die Wohnung rein. Jetzt steht noch Jeff vor mir in der Tür,
sieht mich ausdruckslos an. Moment mal... HÄ!?
Jeff muss sie gezwungen haben, das zu mir zu sagen, anders GEHT es doch gar nicht! Auf weitere
Anschuldigungen und Beschimpfungen ist er nicht eingegangen, deshalb bin ich einfach davon gedüst.
Was war da bloß nur los? Ich versteh es nicht! Wieso wollte Seulgi nicht mit mir reden? Wieso hätte sie
fast geweint? Ich betrete das Hochhaus, in dem Tamara wohnt und renne die Treppen zu ihr hoch. Mein
Herz rast, als ich oben ankomme, und ich bin immer noch nicht schlauer als vorher. Am Klingelknopf
drücke ich mehrmals rum, bis mir meine Partnerin genervt aufmacht. Sie weiß schon so, dass ich es bin
und fährt mich an. „Geht’s noch!? Du brauchst deine Laune nicht an meiner Klingel auszulassen!“ Ich
laufe an ihr vorbei in die Wohnung rein, ohne ein Wort zu verlieren, sie macht die Tür zu und kommt
mir nach. Ich lasse mich auf dem Küchenstuhl fallen und starre entgeistert vor mich hin. Tamara seufzt
extra laut, stellt sich hinter mich und legt ihre Hände auf meine Schultern. „Mein Süßer, ist wohl nicht
so gut gelaufen, was?“ Ich sehe keinen Sinn darin, ihr zu antworten, von daher schweige ich weiter vor
mich hin. Sie merkt, dass es keinen Sinn hat, mir jetzt mit Worten weiterhelfen zu wollen und verlässt
daher die Küche. Verdammt ey.... Ich starre vor mich hin, alle Küchengeräte an, aber Kochen würd mir
jetzt auch nicht grad weiterhelfen. Außerdem müsst ich dazu erst mal einkaufen, weil Tamara nichts da
hat. Da klingelt’s in meinem Kopf, ich weiß, was ich tun kann, um wieder bessere Laune zu bekommen.
Ich brauche nur ein paar Pillen, aber Tamara hatte ja vorhin gesagt, dass sie keine mehr hier hat.
Hmm... was mach ich jetzt? Auf der Szene ist jetzt ja noch nicht viel los und Agotogi ist um diese
Uhrzeit noch nicht da. Wobei... da kommt mir noch ein brillanter Einfall: Tamara hat doch H im
Badezimmer, oder nicht? Es ist mal Zeit, was Neues auszuprobieren.
erstellt am 08.05.2007
4Kolibris,
Elena