Impartation - Pubertät 18
Kapitel 35:
Impartation - Pubertät 18
Sanjis Sicht
In Tamaras Wohnungstür schenke ich ihr noch ein paar Abschiedsküsse, bevor ich zur Bushaltestelle
marschierte. In meiner Brusttasche habe ich noch LSD, damit ich mir zu Hause einen Candyflip
zubereiten kann. Das wird nachher Stress geben. Zum ersten Mal hat mich Jeff angerufen, mal sehen,
was er von mir will. Ich kann mir nur denken, dass Seulgi so lange auf ihm rumgehackt hat, weil sie
mich sehen will und ich deshalb dorthin bestellt werde. Meine süße Seulgi... ich hab sie schon ewig
nicht gesehen. An der Haltestelle warte ich, drehe mir ein Blättchen und zünde dann die Zigarette an.
Heute ist es etwas kühler als sonst, von daher ist es ungemein angenehm, warmen Tabak aufzurauchen
und dann in die laue Luft hinaus zu blasen. Der Bus kommt, ich steige ein und fahre schwarz. Hier
gibt’s doch eh keine Kontrolleure, außerdem fehlt’s mir am Kleingeld. Auf Jeff oder sonst einen Streit
hab ich null Bock, aber muss nun mal sein. Ob sich Seulgi verändert hat? Sie hat bestimmt noch immer
ihr schönes Lächeln, hoffentlich hat Jeff es ihr nicht ausgetrieben. Was Mama wohl zu mir sagen will? Sie
hatte mich ganz am Anfang, als ich mich mit Tamara angefreundet hab, mal besucht, doch ich hab sie
nur angeschnauzt. Sie hat sich ja nie um mich gekümmert und bleibt jetzt auch noch bei Jeff, anstatt
mit mir gegangen zu sein. Ich mein, wie feige ist das denn? Das öffentliche Verkehrsmittel hält an und
ich steige lustlos aus. Egal was jetzt auf mich zukommt, danach schmeiß ich mir einfach den Candyflip
rein und alles ist wieder gut. Echt, Ecstasy ist das Beste, was es überhaupt gibt. Damit kommt man mit
allem klar. Ich sehe schon mein Exzuhause, nehme die letzten Züge von meiner Kippe und werf sie
dann achtlos auf die Straße, setze meinen Weg fort.
Nachdem ich geklingelt habe, macht mir Jeff auf. Ungewollt grüße ich mit einem „Hi.“ Da sieht man mal
wieder, dass ich einfach gut erzogen bin. Jeff geht einen Schritt zu Seite, damit ich reinkommen kann.
Ich sehe schon, dass im Esszimmer Seulgi mit dem Rücken zu mir sitzt und ein schon fast vergessenes
Gefühl steigt in mir hoch. Ich laufe mit schnellen Schritten auf sie zu, weiß nicht, ob ich lachen oder
weinen soll. Neben ihr angekommen schaut sie zu mir hoch, unerklärlich ist ihr Blick, sie sieht total
fertig aus und als wäre ihr zum Heulen zumute. „Hey.“ sage ich leise und beuge mich ein Stück zu ihr
runter. Sie senkt den Blick, keine Ahnung, was das soll. Sie sieht nervös aus, wie sehr muss Jeff sie nur
eingeschüchtert haben? Hat er ihr eingeprügelt, dass sie nicht mehr mit mir sprechen darf!? Dem ist
doch alles zuzutrauen! Ich richte mich wieder auf, streiche ihr kurz über die Schulter und sehe zu Jeff.
Und wieso sagt er nichts? „Was ist los?“ frage ich desinteressiert und überfliege kurz die
Wohneinrichtung. Wie lange war ich nicht hier? Wie wohl mein Zimmer aussieht? „Sanji, setz dich bitte
an den Tisch.“ ordert mich Jeff an und kommt nun auch in Seulgis und meine Richtung. Ich könnte
rebellieren, aber weil ich vorhin ein paar nette Stündchen verbracht habe, will ich mal nicht so sein und
gehorche. Jeff setzt sich Seulgi gegenüber, ich nehme am Tischende Platz. Seulgi sieht müde aus und
schaut jetzt zu mir. Soll ich lächeln? Was ist los? Mit ihrem Vater ist sie echt bestraft... wenn jetzt ne
Standpauke kommt hau ich wieder ab, mir egal. Ich brauch meine Zeit hier nicht zu verschwenden. Er
hat bestimmt von der Schule nen Anruf gekriegt, dass ich mich da kaum blicken lasse. Jetzt steht er als
schlechter Erziehungsberechtiger in der Öffentlichkeit und will mich überreden, wieder in die Schule zu
gehen. Vergiss es, Alter.
„Sanji, ich muss dir etwas sagen.“ So wehmütig wie er das schon gesagt hat, kommt jetzt eine
Entschuldigung oder so. Geht mir am Arsch vorbei. Selbst wenn er jetzt zugibt, dass er pseudokrank ist
und sich in der Klapse einweisen lässt, wäre es mir egal. Da er eine ach so tolle Künstlerpause macht,
gebe ich nur einen Hm-Laut von mir, damit er weiterspricht. Mann, schweigt der lange um den heißen
Brei herum, mach hinne. „Deine Mutter hatte gestern einen Autounfall.“ Jedes Wort spricht er langsam
und bedächtig aus, soll mir das jetzt Angst bringen? Fehlt sie halt hier, jetzt will er mich doch nur dazu
überreden, sie im Krankenhaus zu besuchen. Dann stehen wir als ach so tolle Familie da und was hab
ich davon? Das kann Mama sich doch abschminken, außerdem hab ich sie so angeschnauzt, dass könnt
ich mir jetzt net grad leisten, ihr nen Besuch abzustatten. Da würd ich höchstens wieder rumnölen und
das kann sie bestimmt net gebrauchen, also würde ich ihr mit meinem Ausbleiben sogar einen Gefallen
tun. „Sanji?“ will Jeff meine Aufmerksamkeit wiederhaben, und ich sehe zu Seulgi. Ihre langen braunen
Haare sind verzottelt, sie hat die Hand vor dem Mund und starrt betroffen auf den Küchentisch. Jeff
hingegen steht seinem Mann und ist gefasst. Ich erwidere seinen Blick, ja, das hab ich gelernt, andren
in die Augen zu sehen, macht der das jetzt nur so dramatisch oder wie sieht’s aus? Ich warte auf eine
Fortsetzung, sein Bart ist ganz schön gewachsen, finde ich. Und er sieht richtig alt aus, krank und
müde. So richtig fertig. Alter Mann. „Lydia ist bei dem Unfall gestorben.“
Das glaube ich nicht, er lügt wie geschmiert. Mein Gesicht verzieht keine Miene, das ist nicht wahr,
elender Lügner, ich hasse dich! Ich hasse dich dafür, dass du mir Seulgi weggenommen hast und ich
hasse dich, weil Mama bei dir geblieben ist. Und jetzt lügst du mir auch noch mitten ins Gesicht, echt
klasse, super gemacht, verbreitest wieder mal schlechte Stimmung, du Dreckskerl. Mehr als Lügen hast
du nicht drauf.
Es ist wahr. Jeff würde nie so etwas erfinden, es muss stimmen. Er würde nie lügen, das betrifft ihn
richtig. So richtig, deshalb ist er so fertig. Und Seulgi so traurig. Jeff hat mir die Wahrheit gesagt, er
leidet darunter. Seulgi leidet mit ihm. Mama ist bei einem Unfall draufgegangen. Gestorben, einfach
weg. Wann habe ich sie das letzte Mal gesehen? Jeff bleibt standhaft, wartet auf eine Reaktion von mir.
Aber ich gebe ihm keine. Ich bleibe einfach auf meinem scheiß Arsch sitzen und sehe ihn an, zeige
keine Emotionen.
Ich will nicht, dass es stimmt, aber es ist eben so. Sie ist wirklich tot. Ich habe keine Mama mehr. Sie ist
weggegangen. Sie ist kein Teil mehr von meinem Leben, weil sie tot ist.
Um diese Nachricht zu verstehen brauche ich einige Sekunden, mein Gehirn schaltet völlig ab. Ich stehe
im Schneckentempo auf, gehe langsam zwei Schritte vom Tisch weg und bleibe stehen. Das kann nicht
sein, wieso Mama? Wie ist das passiert? Hinter mir höre ich wieder Jeffs Stimme. „Es tut mir Leid, Sanji.“
Aber ich höre sie nicht. Ich höre sie, aber verstehe sie nicht. Ich verstehe sie, aber will sie nicht
verstehen. Kein Mitleid von niemandem. Mit einem Mal wollen Schluchzer in mir hochkommen, ich
spüre sie schon, aber gebe keinen Laut von mir. Nicht vor Jeff weinen. Und vor Seulgi auch nicht. Ich
drehe mich um und will hier raus, ich brauche Freiraum! Aus der Haustür draußen laufe ich die Straße
runter, fange ein bisschen an zu joggen. Noch nicht weinen. Noch warten. Kommt mir jemand
hinterher? Ich drehe mich nicht um. Da hinten kann ich einen Radweg einschlagen, das tue ich auch.
Meine raschen Schritte werden langsamer, bis hierhin habe ich es unterdrückt. Neben dem Radweg ist
Grad, sind Blumen, der Himmel ist gut bewölkt und es ist keine Menschenseele hier. Gut so. Ich brauche
niemanden. Ich bin stark, ich schaffe das. Ohne fremde Hilfe. Ich komm damit klar, wirklich.
Nein, ich komme nicht damit klar! Ich brauche sie! Ich brauche meine Mama! Ich will nicht alleine sein!
Mein Mund zieht an den Seiten nach unten, Tränen steigen in mir hoch und ich werde den ersten
Heullaut los. Meine Atmung spielt verrückt, ich beginne zu schluchzen, ganz für mich allein, zum Glück
ist grad niemand hier, der mich sehen kann. Ich laufe weiterschluzend den sandigen Weg entlang, mein
Brustkorb hebt und senkt sich in regelmäßigen Abständen. Was tut da in mir nur so verdammt weh? Ich
hinke zu einer Bank, lasse mich fallen und werfe den Kopf in die Arme. Ich heule ungehemmt,
verschlucke mich schon fast zwischen weinen und Luft holen, mein Bauch zieht sich total zusammen
und ich kriege Krämpfe. Meine Nase läuft, ich will sie am Shirt abwischen, aber der Fluss ist zu stark.
Ich versuche auch, mir Spucke auf die Hand zu machen und mir über die Augen zu reiben, aber auch
dort kommen einfach zu viele Tränen nach. Ich heule und schluchze und sinke in mich zusammen,
rutsche von der Parkbank auf den Boden und kann einfach nicht mehr aufhören. Mein Heulkrampf
heimst mir richtiges Bauchweh ein, mich zu beruhigen ist unmöglich im Moment. Meine Wehlaute hören
sich in meinen Ohren weit, weit weg an, ich kann es nicht glauben, aber Mama ist nicht mehr da! Ich
will es nicht verstehen, kann es auch gar nicht und sehe mit verschleiertem Blick in den wolkigen
Himmel. Ich schluchze weiter und weiter, warum lässt du mich jetzt alleine? Mein Brustkorb läuft heiß
an und ich ziehe die Nase hoch, sie soll aufhören, wische mir über die Augen, sie sollen auch aufhören,
klopfe mir auf die Brust, sie soll nicht mehr schmerzen, es bringt alles nichts. Gar nichts. Eine
unfüllbare Leere breitet sich in mir aus, die Schmerzen nehmen zu, ich heule mir verdammt noch mal
die Augen aus dem Kopf, sie brennen schon richtig! Soll ich Mama jetzt nie wieder sehen? Wo bist du
jetzt, Mama? Siehst du nicht, dass ich deinetwegen leide!?
erstellt am 07.05.2007
4Kolibris,
Elena