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Snowdrops and Chocolate

Die Fortsetzung des gleichnamigen Doujinshi
von

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Alles auf Rot

Kapitel 29 – Alles auf Rot
 

Seit einigen Minuten lag Ryu so ruhig, dass er fast wirkte als hätte er das Bewusstsein verloren. Tatsächlich hatte er seinen immer schwerer werdenden Lidern nachgegeben und die Augen geschlossen. Er fühlte wie die Müdigkeit in ihm immer größer wurde je länger er auf dem kalten Fliesenboden lag. Im gleichen Maß schien dafür der pochende Schmerz an seiner rechten Seite abzunehmen. So fiel Ryu auch das ruhige, gleichmäßige Atmen etwas leichter, zu dem er sich selbst zwang. Dennoch bemerkte er selbst, dass er langsam schwächer wurde. Wie lange er wohl schon so dalag? Wie viel Blut mochte er wohl verloren haben?

Kiku kniete nach wie vor neben ihm, versuchte die Blutung seiner Schussverletzung etwas zu stillen und wurde nicht müde, auf ihn einzureden. Ryu lauschte ihrer Stimme und ermahnte sich selbst, bei ihr zu bleiben. Die meiste Zeit sprach Kiku von Kei, Yuki, Taki und davon, dass sie hoffte, es ginge allen gut. Gelegentlich antwortete Ryu ihr mit schwachem Ton, um Kiku und sich selbst zu beweisen, dass er noch wach war.

Seine Sorge um Yuki und Kei verbot ihm, jetzt einzuschlafen. Er würde sich erst erlauben, sich auszuruhen, wenn die beiden in Sicherheit waren.
 

Ungeachtet dessen ertappte sich Ryu schließlich doch gefährlich nahe an der Schwelle zum Traumland. Innerlich schreckte er förmlich hoch, als ihn das Geräusch von Schritten auf den Fliesen der Eingangshalle wachrüttelte. Äußerlich dagegen reichte seine verbliebe Kraft lediglich, um die Augen zu öffnen und den Kopf zu drehen. Die Schritte näherten sich mit einem Klackern wie von Absätzen aus Richtung der monumentalen Treppe. Sie waren unnatürlich langsam und sehr ungleichmäßig, fast als wäre jeder einzelne Schritt eine Qual. Aus dem Augenwinkel erkannte Ryu eine hochgewachsene Gestalt mit einem langen Mantel, die um Kiku und ihn herumtrat und schließlich neben Lan niedersank. Langes, blondes Haar folgte ihrer Bewegung dabei.

„Pierre!“ hörte er Kiku freudig überrascht ausrufen. „Du bist wieder ein Mensch!“

„Oui… Isch ‘abe den Pfeil wohl schnell genug ‘erausgezogen.“

„Wie fühlst du dich?“

„Miserabel… Frag lieber nischt weiter.“ winkte er ab.

Offensichtlich entsprach dies der Wahrheit. Pierres Teint war sehr blass. Seine Augen sahen trüb und müde aus, als könnte er sie kaum offen halten. Er atmete schwer.

Dennoch galt seine aktuelle Sorge Lan. Mit einem langen, intensiven Blick musterte er den jungen Mann, der noch immer leblos dalag wie Yuki und Kei ihn abgelegt hatten. Mit der linken Hand fuhr Pierre über Lans Stirn und strich dabei wie zufällig einige der wirren Strähnen aus seinem Gesicht.

Dann wanderte Pierres Blick zu der Kanüle, die in Lans rechtem Arm steckte. Vorsichtig zog er das Klebeband ab, mit dem das Objekt fixiert war.

„Sollte das nicht lieber ein Arzt machen?“ fragte Kiku besorgt.

„Isch bin Arzt…“

„Nein, du bist Veterinär.“ korrigierte Ryu mit schwachem Ton.

„Dann ist ein ‘ornochse wie Lan bei mir ja in besten ‘änden, non?“

Behutsam und in langsamer Bewegung zog Pierre die Nadel aus Lans Arm und schleuderte die Kanüle nach einem geringschätzigen Blick von sich. Dann drückte er mit den Fingerspitzen ein Stück Stoff seines Ärmels auf die leicht nachblutende Wunde.

Diese Geste schien Lan endlich aufgeweckt zu haben, zumindest ein wenig. Für den Bruchteil einer Sekunde bemerkte Ryu, dass er versuchte, die Augen zu öffnen. Allerdings fehlte ihm die Kraft und seine Lider fielen sofort wieder zu. Dennoch hatte der kurze Augenblick anscheinend gereicht, um den Mann zu erkennen, der seinen Arm hielt. Lans Lippen, auch wenn kein Laut über sie kam, formten kraftlos ein Wort, das vermutlich „Pierre“ heißen sollte.

„Oui. Isch bin da, Lan. Isch bin da…“ flüsterte Pierre beruhigend, während er mit der linken Hand erneut über Lans Stirn strich. „Alles wird wieder gut. Keine Sorge… Tout ira bien.“

Diese Worte wiederholte Pierre wie ein Mantra, um sich selbst ebenso zu beruhigen wie Lan. Seine Stimme war heiser und zittrig. Mit dem linken Arm fuhr Pierre unter Lans Schultern und hob seinen Oberkörper an. Lans Kopf ruhte nun an Pierres Schulter, so dass dieser sein Mantra direkt neben Lans Ohr flüstern konnte.

Vermutlich unter Aufwendung all seiner verbliebenen Kraft hob Lan seine freie, linke Hand. Schwach und ziellos tastete sie, bis ihr Pierres rechte Hand entgegen kam und sie auffing. Fast augenblicklich wich nun auch die letzte Kraft wieder aus Lans Hand und sie wäre wohl zurück auf den Boden gesunken, hätte Pierre sie nicht festgehalten.

Lan und Pierre, die ewigen Streithähne, Hand in Hand. An diesen Anblick würde Ryu sich erst noch gewöhnen müssen.

„Die ganze Zeit habt ihr unter einer Decke gesteckt.“ dachte Ryu laut. „Ich kann’s kaum glauben.“

„Sieht aus als wären wir dosch bessere Lügner als du dachtest. Sogar Lan, n’est-ce pas?“ lächelte Pierre angestrengt.

„Scheint so.“ Einen Moment beobachtete Ryu die unwirkliche Szene vor seiner Nase. Vielleicht war er ja doch eingeschlafen und träumte nur, denn… „Ich frage mich, warum mir das nie aufgefallen ist…“

„Was meinst du?“

„Dass ihr denselben Ring tragt. Ich hab es nie bemerkt.“

Als hätte er nicht die geringste Ahnung, was ihn dort erwartete, senkte Pierre erschrocken den Blick auf Lans Hand, die er in der seinen hielt. Voll Überraschung sah er eine ganze Weile auf das Metall. Dann legte sich ganz unwillkürlich ein glückliches Lächeln auf seine Lippen, das gleichzeitig ein paar Tränen in seine himmelblauen Augen trieb.

„Dabei ‘ab isch diesem Idioten damals nosch gesagt, er soll das Ding abnehmen,… weil isch es nämlisch nischt tun werde…“ flüsterte Pierre kaum hörbar.

„Oh mein Gott! Das stimmt wirklich!“

Kikus Kinnlade wäre vor Überraschung fast auf den Boden gefallen, hätte sie nicht eine Hand vor den Mund gelegt, um sie festzuhalten. Darüber zeugten jedoch auch ihre weit aufgerissenen Augen von ihrem Erstaunen.

Wie um sein Gesicht, das deutlich seine Verlegenheit zeigte, vor Ryu und Kiku zu verbergen, wandte Pierre sich zur Seite. Dabei berührten seine Lippen Lans Kopf in einem verschämten Kuss.

Die schlanken Finger seiner linken Hand gruben sich inzwischen sanft zwischen Lans struwwelige Haarsträhnen. An ihnen blitzte tatsächlich der gleiche Ring auf, den Lan trug.

Es war ein recht unauffälliges Schmuckstück, ohne Edelstein oder aufwendige Verzierungen. Aber trotzdem war es Ryu ein Rätsel, warum er es in all den Jahren überhaupt nie bemerkt hatte.
 

Kei stand da wie zur Salzsäule erstarrt. Erstarrt schienen nur seine Knie nicht, deren Konsistenz eher der von Wackelpudding glich. Dennoch wagte er nicht die geringste Bewegung, um Ryami nicht zu provozieren, die ihre Pistole auf Yuki richtete. Keis Augen wanderten immer wieder nervös von Ryami, die sich in seinem eigenen Körper befand, zu Yuki und zurück. Sein Herz hämmerte als versuchte es, aus seinem Brustkorb zu springen.

Was konnte er tun, um Yukis Leben zu retten?

Konnte er überhaupt irgendetwas tun oder war er machtlos gegen Ryami?

Wie um sich selbst zur Ordnung zu rufen, atmete Kei einmal tief durch und schloss dabei die Augen. Ob er nun eine Chance gegen Ryami hatte oder nicht, versuchen würde er es zumindest. Auf keinen Fall würde Kei einfach tatenlos zusehen wie Ryami irgendeines ihrer K.R.O.S.S.-Mittelchen auf Yuki abfeuerte. Um Yuki zu retten, würde Kei nichts unversucht lassen.

Ruhig und gleichmäßig atmete Kei ein und aus, die Augen weiterhin geschlossen. Er konzentrierte sich und schaffte es tatsächlich, sich wieder einigermaßen zu fassen. Keine leichte Aufgabe, wenn derjenige, den er liebte – ja ja, inzwischen gab er es ja zu – mit einer Waffe bedroht wurde, und er selbst gleichzeitig genau wusste, dass er ihn nur retten konnte, wenn er ruhig blieb.
 

Kei steckte in Ryamis Körper, in den sie ihn gedrängt hatte. Nachdem Ryami Lans Zaleikraft gestohlen hatte, verfügte sie nun über genug Kraft, um in fast jeden fremden Körper einzudringen. Sie konnte nicht nur der telepathischen Verbindung zu ihrem eigenen Carn folgen, sondern auch jeder anderen. Und sie war stark genug, das Bewusstsein des eigentlichen Besitzers des jeweiligen Körpers zu verdrängen. Über diese Kraft verfügte Kei natürlich bei weitem nicht.

Aber er wusste, dass Yuki ihn immer wieder für sein ungewöhnlich großes Zaleitalent gelobt hatte. Auch wenn Kei selbst noch Schüler war, war er stark. Vielleicht nicht stark genug, um Ryami zu bezwingen, aber hoffentlich wenigstens stark genug, um sie lange genug aufzuhalten.

Wie in den ersten Wochen und Monaten seiner Ausbildung brauchte Kei sehr lange, um sich in diesem fremden Körper in Trance zu versetzen. Nicht ganz unschuldig war daran sicher auch, dass seine Gedanken immer wieder unwillkürlich zu Yuki abschweiften. Aber nach einer Weile hatte Kei es geschafft. Er hatte die Verbindung gefunden, über die Ryami ihn zuvor in diesen Körper gedrängt hatte. Kei konnte den Weg lange nicht so deutlich spüren wie die Verbindung zwischen seinem Körper und dem von Robin. Eigentlich spürte er ihn sogar so gut wie gar nicht. Es war mehr wie eine Ahnung, oder ein kurzes Bild, das er für den Bruchteil einer Sekunde erhaschen konnte, wenn sein Blick darüber hinweg huschte, das aber sofort verschwand, wenn er direkt darauf blickte.

So kam Kei sich fast vor als liefe er mit verbundenen Augen über ein Hochseil, als sich sein Bewusstsein langsam vortastete. Er folgte der Verbindung zunächst vorsichtig zögernd, dann jedoch immer sicherer. Je näher er seinem vertrauten eigenen Körper kam, desto deutlicher spürte er die Verbindung und desto selbstbewusster bewegte er sich weiter. Schließlich erreichte er die telepathische ‚Pforte‘ seines eigenen Körpers. Ganz deutlich konnte er sie nun fühlen. Kei versuchte sofort, in seinen Körper einzudringen. Aber Ryami schlug ihm bildlich gesprochen ebenso schnell die Tür vor der Nase zu.

Ein Kampf im Geiste entbrannte. Kei gab nicht auf, er dachte gar nicht daran. Er kämpfte um seinen Körper und drängte wieder und wieder gegen die Pforte. Und Ryami hielt dagegen. Allerdings hatte Kei den Eindruck, dass sie, während er mit aller Macht stürmte, ihn lediglich mit dem kleinen Finger zurückschob. Ryami war um ein Vielfaches stärker als er.

Trotzdem zahlte sich Keis Hartnäckigkeit schließlich aus. Er dachte an Yuki. Dass Ryami auf ihn schießen würde, wenn er sie nicht aufhalten würde. Dass er wieder leblos, blass und von Schmerzen gezeichnet in seinem Arm liegen würde. Das gab Kei den nötigen Motivationsschub, um all seine Reserven zu mobilisieren und mit voller Wucht in seinen Körper zu dringen. Ryami war von seinem plötzlichen Kraftzuwachs anscheinend so überrumpelt, dass sie nicht daran dachte, neben ihrem kleinen Finger auch die ganze Hand benützen zu können, um Kei zurückzuhalten.

Kei befand sich gerade lange genug in seinem Körper, um die rechte Hand zu öffnen. Die Pistole fiel laut krachend zu Boden. Dann griff Ryami auch schon wieder an. Sie drängte Kei aus seinem Körper und schleuderte ihn richtiggehend zurück in den ihren.

Schwach blinzelte Kei ein paarmal. Das Bild vor seinen Augen wurde erst langsam klarer. Die Anstrengung war so groß gewesen, dass er sich plötzlich so müde fühlte wie noch nie zuvor. Aber es war eine sehr merkwürdige Art von Müdigkeit. Nicht sein Körper war erschöpft, sondern sein Bewusstsein.

Kei saß auf dem Boden. Während seinem Duell mit Ryami musste Ryamis Körper unbewohnt zu Boden gestürzt sein. Taki hockte neben ihm und hielt seine Schultern, nachdem sie den Sturz des Körpers aufgefangen hatte.

„Kei! Alles in Ordnung?“ erkundigte sich Yuki sofort besorgt.

„Nicht schlecht, Kleiner!“ grinste Ryami kalt. Kei fand das Grinsen auf Anhieb so hässlich, dass er sich eine geistige Notiz machte, jeden ähnlichen Gesichtsausdruck für immer aus seinem Repertoire zu verbannen. „Jetzt weiß ich, warum der Rat deiner Ausbildung erst so zögerlich zugestimmt hat. Wenn ein so starkes Talent rechtzeitig und ausreichend gefördert worden wäre, hättest du dem alten Adoy gefährlich werden können.“

„Was meinst du?“ fragte Kei mit müder Stimme.

„Wusstest du das nicht? Der Rat der Zalei hat dich schon seit Jahren beobachtet, aber nie kontaktiert.“

Das hörte Kei zum ersten Mal. Unwillkürlich wanderte Keis Blick zu seinem Lehrer. Yuki bestätigte Ryamis Worte mit einem stummen Nicken. Sein Gesicht zeigte deutlich, dass er nicht glücklich darüber war, Kei die Information auf diese Weise zu erzählen.

„Es ist schon ungerecht. Nur selten wird ein Zalei mit so großer Kraft geboren und dann wird diese wunderbare Gabe ausgerechnet an Menschen wie dich oder Lan verschwendet.“ Ryami schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie auch immer. Ob du nun stärker als Aody bist oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Denn stärker als ich bist du auf keinen Fall.“
 

Ryami bückte sich und hob die Pistole wieder auf. Kei atmete resignierend aus. Würde sie das Ding jetzt wieder auf Yuki richten? Langsam ging ihm die gesamte Organisation K.R.O.S.S., die alle paar Minuten ihre Knarren auf seinen Freund richtete, tierisch auf die Nerven.

Außerdem war er so unendlich müde. Sein Duell mit Ryami war unglaublich anstrengend gewesen. Kei hatte all seine Kraft, all seine Willensstärke aufgewendet. Und trotzdem hatte er letztendlich überhaupt nichts erreichen können. Ryami befand sich immer noch in seinem Körper und hielt immer noch diese verflixte Waffe in der Hand. Kei fühlte sich völlig nutzlos. Als wollte er die folgenden Szenen gar nicht mehr mit ansehen, ließ er seine Lider sich schließen. Wo er doch sowieso nichts ausrichten konnte, sah er auch keinen Sinn mehr darin, gegen seine Müdigkeit anzukämpfen. Kei sank etwas tiefer in Takis Arm, der seine Schultern hielt.

„Bitte gib nicht auf.“ flüsterte Taki heiser neben ihm.

Kei schlug die Augen wieder auf und drehte sich zu Taki um. Seine Augen trafen die blaugrünen von Taki, die von Tränen benetzt waren. Takis Lippen bebten vor Anspannung ein wenig, als sie weitersprach.

„Ich will nicht, dass meine Schwester noch mehr Schuld auf sich lädt. Bitte halt sie auf. Du bist der einzige hier, der stark genug ist. Bitte… gib nicht auf.“

Einen Moment starrte Kei Taki noch schweigend an. Schließlich nickte er zögerlich.
 

Mit großer Mühe und nur dank Takis unterstützendem Arm schaffte Kei es endlich, aufzustehen. Das Hautproblem war dabei nicht einmal seine Müdigkeit, sondern diese verflixten hohen Absätze. Wie zum Kuckuck schafften es Frauen, in solchen Dingern zu laufen? Allein einigermaßen ruhig stehen zu bleiben, war ein Akt höchster Balance.

Doch Ryami verweigerte ihm jede Anerkennung für dieses Kunststück.

„Setz dich und sei still.“ befahl sie trocken.

Selbstverständlich gehorchte Kei nicht. Er war doch nicht mühevoll aufgestanden, nur um sich wieder zu setzen.

„Lass die Waffe fallen, oder ich…“

„Oder was?“

„Oder ich… spring aus dem Fenster.“ drohte Kei.

So lange er in Ryamis Körper steckte, hatte er sich selbst praktisch als Geisel in der Hand, überlegte er. Dummerweise hatte er nur keine Waffe. Und selbst wenn er eine gehabt hätte, hätte Ryami diese durch einen simplen Körpertausch ganz einfach in ihren Besitz bringen können. Also war eine Waffe in seiner Hand im Moment eine sehr schlechte Idee.

„Tu dir keinen Zwang an.“ zuckte Ryami gleichgültig mit den Schultern. „Wir sind im Erdgeschoss.“

Ups! Unwillkürlich drehte Kei den Kopf und warf über die Schulter einen Blick durchs Fenster. Er sah in den Garten - auf selber Ebene. Daran hatte er nicht gedacht.

Na toll! Dann hätte er ja gleich damit drohen können, Ryamis Make-up zu verschmieren oder lächerliche Grimassen zu schneiden. Davon hätte sie sich vielleicht sogar noch eher einschüchtern lassen.

„Setz dich!“ wiederholte Ryami ihren Befehl. Gleichzeitig hob sie ihre rechte Hand, in der sie ihre Waffe mit den Mitteln von K.R.O.S.S. hielt. „Hier drin sind noch vier Pfeile: einer, der dein Talent löscht, einer, der dich im Körper deines Carn einsperrt, einer, der dein Bewusstsein aus jedem Körper ausschließt und ein tödliches Gift.“

„Du würdest wohl kaum auf deinen eigenen Körper schießen.“ knurrte Kei.

„Natürlich nicht. Aber du hast mir vorhin recht deutlich gezeigt, wie ich dich am besten unter Druck setzen kann.“

Ohne den Blick von Kei abzuwenden, richtete Ryami ihre Waffe geradewegs auf Yuki.

„Hinsetzen.“

Diesmal schluckte Kei nur trocken und gehorchte ohne Widerworte. Er trat ein paar Schritte vor und setzte sich in den freien Ratssessel zu Auroras linker Seite. Schon bevor er den ersten Schritt getan hatte, hatte Kei sich darauf vorbereitet, sich wieder in Trance zu versetzen. Ryami brüstete sich damit, die Trance schnell und unbemerkt von anderen erreichen zu können. So gut war Kei noch lange nicht, aber zumindest war er schnell und gab seine Trance erst zu erkennen, wenn es schon zu spät war, ihn aufzuhalten.

Diesmal suchte er nicht nach dem Weg zu seinem eigenen Körper. Ryami hatte ihm bewiesen, dass er es nicht mit ihr aufnehmen konnte. Sich ein zweites Mal eine blutige Nase zu holen, wäre unsinnig gewesen. Stattdessen suchte er nach der Verbindung, die zwischen Ryami und ihrer Katze Aurora bestehen musste. Da es die ursprüngliche Verbindung des Körpers war, in dem sich Kei aktuell befand, konnte er sie wesentlich einfacher finden als den unnatürlichen Weg zu seinem eigenen Körper.
 

So gelang es Kei tatsächlich, Ryami völlig zu überraschen, als er nur wenige Augenblicke später in Auroras Körper auf sie zustürzte. Nachdem er im Körper der schwarzen Katze aufgewacht war, hatte Kei nur eine Sekunde verloren, um zu testen wie er seine Krallen ausfahren konnte. Mehr Zeit erlaubte er sich nicht zu verlieren, damit Aurora ihre Herrin nicht warnen konnte. Dann machte er einen Satz von dem Sessel in langem Bogen auf den Boden. Dabei sprang er auch über Robin und streifte den Fuchs provozierend mit der Pfote. Wo er auf dem Boden aufkam, setzte er sofort zum nächsten Sprung an, der nun direkt auf Ryami gerichtet war.

Ryami sah das schwarze Fellknäuel aus dem Augenwinkel auf sich zukommen. Sie reagierte sofort. Noch ehe sie sich die Mühe machte, sich zu ihrem Angreifer umzudrehen, schlüpfte sie aus Keis Körper und in den ihrer Katze. Das Tier brach den Sprung augenblicklich ab und landete nach einem verkürzten Bogen sicher auf dem Boden.

Im Körper ihrer Katze wollte Ryami sofort kehrt machen und sich wieder auf den Sessel legen, da schnitt Robin ihr den Weg ab. Der Fuchs, der ohnehin schon die ganze Zeit über ein kritisches Auge auf die Katze gehabt hatte, war durch den Hieb von eben sichtlich verärgert. Er schnappte nach der Katze und jagte sie ein Stück zurück.

Inzwischen blieb Kei ein wenig Zeit in seinem eigenen Körper. Kaum dass Ryami ihn nach dem neuerlichen Körpertausch in seinen Körper zurück befördert hatte, war eine neue Welle dieser gigantischen Müdigkeit über Kei hereingebrochen. Sie hatte ihn sprichwörtlich in die Knie gezwungen. Er hatte gerade genug Zeit, um zweimal zu blinzeln und seinen Blick dadurch wieder einigermaßen scharfzustellen. Dann spürte Kei auch schon wie seine Beine zitternd nachgaben und er sank wie in Zeitlupe auf die Knie.

Sofort machte Yuki einen Satz auf ihn zu und fing ihn auf. Yukis Hände hielten Keis Schultern und zogen ihn in eine offene Umarmung. Kei erlaubte sich für einen Moment aufzuatmen. Er hatte aufgegeben, seine Lider offen zu halten und legte seine Stirn gegen Yukis Brust. Ein kurzer Augenblick um nach all der Anstrengung ein wenig zu verschnaufen. Kei genoss Yukis Nähe und atmete seinen Geruch ein. Sanft hörte er Yukis Stimme seinen Namen flüstern.

Trotzdem wusste Kei, dass der Kampf noch lange nicht vorbei war. Ryami würde ihm nicht viel Zeit lassen. Wenn sie wieder in seinen Körper drängte, würde er sie nicht aufhalten können. Also rief sich Kei selbst zur Ordnung und löste sich aus Yukis Umarmung. Er richtete sich auf und sah Yuki mit festem Blick direkt in die Augen.

„Hier!“ drückte Kei seinem Freund die Waffe in die Hand.

„Was…?“

„Ryami kann nicht in Körper ohne Zaleitalent. Nachdem sie deines gelöscht hat, bist du aus dem Schneider. Also sorgt dafür, dass sie die Waffe nicht wieder in die Finger bekommt.“

So schnell wie möglich erklärte Kei, denn aus dem Augenwinkel sah er wie Ryami in Auroras Körper ihrem Verfolger Robin entkommen war. Über die Zuschauerbestuhlung war sie auf ein paar Querbalken unter der Decke entkommen. Zuvor hatte der Fuchs ihr eine blutende Wunde beigebracht, die sich auf ihrer linken Seite vom Brustkorb bis zum Hinterlauf zog. Dennoch war die Katze vorerst in Sicherheit. Es war nun nur eine Frage der Zeit, bis Ryami zu Kei zurückkehren würde.

Nachdem Kei seine knappe Erklärung geschlossen hatte, stand Yuki auf und brachte so vorsichtshalber etwas Abstand zwischen sie. Während er sich erhob, versprach Yuki dass Ryami die Waffe nicht zurückbekommen würde. Der entschlossene Ausdruck, den er dabei trug, imponierte Kei.

Kei wollte noch lächeln und antworten, aber da schickte Ryami sein Bewusstsein schon auf eine neue Karussellfahrt. Ehe Kei überhaupt verstanden hatte, was vor sich ging, kam er in Ryamis Körper wieder zu sich, der nach wie vor in dem Ratssessel saß. Diesmal fiel es ihm sogar noch schwerer, die Augen offen zu halten. Taki war inzwischen hinter den Sessel getreten. Angespannt verfolgte sie das Geschehen, während sie auf ihre Unterlippe biss.
 

Als Kei seinen Blick zu Ryami und Yuki wandte, gefiel ihm diese Szene schon deutlich besser als die letzte. Diesmal hielt Yuki die Waffe in der rechten Hand. Er hielt sie neben seinem Körper gesenkt und zeigte damit, sie nicht gebrauchen zu wollen. Gleichzeitig signalisierte jedoch sein Finger neben dem Abzug, dass er es im Notfall doch tun konnte.

Ryami, nun wieder in Keis Körper, war gerade wieder aufgestanden. Sie stand Yuki im Abstand von etwa zwei bis drei Metern gegenüber und streckte die Hand aus.

„Gib mir die Waffe zurück!“ befahl sie trocken.

Kei machte sich eine zweite geistige Notiz, diesen blöden Befehlston ebenfalls aus seinem Repertoire zu streichen.

„Vergiss es.“ gab Yuki nüchtern zurück. „Verschwinde aus Keis Körper und lass uns gehen.“

„Aber Yuki. Hast du das schon vergessen? IHR wart diejenigen, die uns nicht gehen lassen wollten.“ schüttelte Ryami in Keis Körper mitleidig den Kopf.

„Also gib die Waffe zurück!“ befahl sie nun aus Shimaris Mund im selben Ton wie zuvor.

Yuki drehte sich zum Körper des Mädchens um. Ryami stand in diesem immer noch vor der Eingangstür und richtete die Pistole mit scharfer Munition auf ihn. Dass sie nicht zögern würde, diese auch abzufeuern, hatte sie bereits bewiesen.

In Keis Körper hatte Shimari inzwischen nicht gewagt, sich zu bewegen. Mit nach der Waffe ausgestrecktem Arm war sie einfach stehen geblieben und hatte Yuki mit großen Augen erwartungsvoll angesehen.

„Gib die Waffe zurück!“ wiederholte Ryami.

„Nein.“ blieb Yukis einzige Antwort.

Dann spürte Yuki plötzlich, wie jemand nach seiner linken Hand griff. Er fuhr erschrocken herum und erkannte, dass es Keis Körper war. Aber nicht nur Keis Köper, sondern Kei selbst. Ein einziger Blick in diese entschlossen blitzenden Augen ließ für Yuki keinen Zweifel offen. Kei war nicht stark genug gewesen, um Ryami aus seinem Körper zu verdrängen. Aber mit Shimari konnte er es leicht aufnehmen.

So hatte Kei keine Zeit verloren und seinen Körper zurückerobert. Langsam und vorsichtig hatte er dann den Abstand zu Yuki geschlossen. Einerseits wollte er Ryami weiterhin glauben lassen, es handle sich um Shimari – was vermutlich sowieso nicht funktionieren würde. Aber Ryami ließ ihn wohl gewähren, in der Hoffnung, letztendlich sowieso an die Waffe zu gelangen. Der zweite Grund für Keis vorsichtiges Näherkommen war einfach, sich nur Yukis linker Seite zu nähern und damit noch so viel Abstand zur Waffe in seiner rechten zu halten, dass Yuki diese aus seiner Reichweite halten konnte, falls Ryami erneut in Keis Körper eindringen würde.

Zum Glück tat sie das nicht. Kei hielt Yukis linke Hand und spürte wie Yuki nach kurzem Zögern seinen Händedruck erwiderte. Genau genommen war es sogar eigentlich eher Yuki, der Keis Hand hielt. Denn Kei selbst brauchte seine letzten Kraftreserven auf, um stehen zu bleiben. Nach einem Moment sank er aber ohnehin doch wieder auf die Knie.

Spätestens jetzt hätte Ryami wissen müssten, dass es sich um Kei, nicht um Shimari handelte. Dass sie dennoch nicht dazwischen ging, bestätigte Keis Verdacht, sie hätte es von Anfang an gewusst.

Yuki ließ Keis Hand nicht los. Jedoch wandte er sich auch nicht zu ihm um oder kniete sich neben ihn. Yuki musste die Waffe aus der Reichweite jedes Menschen und Tieres halten, in dessen Körper Ryami schlüpfen konnte.

„Wie niedlich. Wollt ihr etwa Hand in Hand in den Tod gehen?“ grinste Ryami verächtlich.

„Hand in Hand aus diesem Raum wäre uns lieber.“

„Vorhin hätte ich euch noch gehen lassen. Aber jetzt habt ihr mich verärgert.“

„Etwa, weil wir uns nicht bereitwillig erschießen lassen wollen?“

„Weil ihr euch trotz meiner Überlegenheit gegen mich stellt und mir meine kostbare Zeit raubt. Ihr hättet längst aufgeben sollen.“

„Glaubst du etwa, dass jeder nach deiner Pfeife tanzen muss, der schwächer ist als du?“

„Das ist Darwinismus.“ zuckte Ryami gleichgültig mit den Achseln.

„Hast du deswegen K.R.O.S.S. gegründet und diese ganzen Experimente durchgeführt?!“

„Glaub nicht, dass ich dir so einfach meine Motive preisgebe. Aber um deine Frage zu beantworten: Nein.“

Ryami funkelte Yuki gefährlich an. Ein Blick so eiskalt wie ihn Shimaris große, braune Augen vermutlich noch nie ausgesendet hatten, traf ihn über die Kimme hinweg. Doch Yuki hielt ihm stand und erwiderte ihn.

Ein bisschen hatte er vielleicht gehofft, endlich zu erfahren, was Ryamis Ziele waren. Warum sie K.R.O.S.S. gegründet hatte, warum sie den Rat der Zalei missbraucht hatte, warum sie die Kräfte der Zalei erforschte, warum sie all diese Mittel entwickelte, warum sie dabei über Leichen ging. Ihr Ziel lag ebenso wie ihr Motiv weiterhin im Dunkeln. Leider hatte Yuki nicht ernsthaft damit gerechnet, dass Ryami die Karten offen legen würde. Das Hauptziel seiner Plauderei war aber ohnehin gewesen, Kei Zeit zu verschaffen.
 

Kei war müde und geschwächt. Aber so müde und geschwächt, dass er völlig tatenlos an Yukis Seite hing, war er nun auch wieder nicht. Kei suchte nach einem neuen Weg.

Als Ryami ihn aus seinem Körper hinaus und in den ihren gedrängt hatte, hatte sie Kei unabsichtlich eine Lehrstunde erteilt. Jetzt hatte er gelernt, wie er Verbindungen zu anderen Körpern finden konnte. Anders als Ryami konnte er sich nicht frei zwischen allen Körpern bewegen. Aber er konnte bestehende Verbindungen finden und ihnen folgen, wenn sie stark genug waren.

Diesmal hatte Kei sich einiges vorgenommen. Während er Yukis Hand hielt, konzentrierte er sich ganz auf ihn. Natürlich konnte Kei keinen Weg in Yukis Körper finden, denn dieser war durch das Mittel von K.R.O.S.S. gelöscht worden. Aber Yukis Präsenz spürte Kei immer noch deutlich. Yukis Kraft war ihm durch ihr monatelanges gemeinsames Training sehr vertraut. Vor allem hatte Yuki seine Kraft mehr als einmal benützt, um seinem Schüler in Trance oder beim Körpertausch selbst zu helfen. Außerdem – auch wenn es Kei bei so viel Kitsch fast die Nackenhaare aufstellte – liebte er Yuki. Vielleicht bestand zwischen ihnen tatsächlich so etwas wie Seelenverwandtschaft. Das hätte erklärt, warum es Kei einfacher als zunächst erwartet gelang, den Weg zu finden, den er suchte.
 

„Ich sag es jetzt ein letztes Mal: Gib die Waffe zurück!“ zischte Ryami und kniff gleichzeitig die Augen etwas zusammen, um zu zielen.

„Nein.“ wiederholte Yuki ungerührt seine Antwort.

Tatsächlich war es das letzte Mal, dass Ryami ihre Aufforderung aussprach. Nun wollte sie ihren Worten Taten folgen lassen. Doch bevor sie den Abzug drücken konnte, spürte sie einen Stich in ihrer linken Wade. Obwohl sie sofort erschrocken an sich hinab sah, konnte sie nur noch beobachten wie der letzte Restinhalt des Pfeils sich in ihre Adern entleerte. Neben ihrem Bein saß ausgerechnet die kleinste, unscheinbarste Kreatur in diesem Raum: Minuit.

„Was zum…?“

Ryami konnte ihren Satz nicht mehr beenden, bevor Shimaris Körper gelähmt zu Boden sank. Doch nur einen Augenblick später nahm sie ihn in ihrem eigenen Körper wieder auf.

„Was zum Teufel war das?“

Kei hatte den Kontakt zu Yuki ausgenutzt und war über diesen zur Verbindung zwischen Yuki und dessen Carn gelangt. Spätestens jetzt wusste Kei, dass die Beziehung zwischen Yuki und Minuit noch absolut intakt war und tatsächlich nur Yukis telepathische ‚Pforte‘ versiegelt worden war. Minuit hatte Kei erlaubt, ihren Körper zu gebrauchen, auch wenn sie spürbar überrascht gewesen war.

Nach einer unsanften Landung – Hey, wann hätte er fliegen lernen sollen? – war Kei heimlich in Minuits Körper zu Ryami gekrabbelt. Der Betäubungspfeil, den sie zuvor verschossen hatte, hatte nur etwa zwei Meter neben ihr auf dem Boden gelegen. Die kleine Fledermaus konnte ihn unbemerkt aufheben, sich an Ryami anschleichen und die Spitze nach einem Sprung mit Flügelunterstützung in ihre Wade rammen. Kei tat es natürlich leid, die arme kleine Shimari auf diese Weise außer Gefecht zu setzen. Aber das Betäubungsmittel würde nur vorübergehend wirken. Dafür war sie jetzt aus dem Kampf und damit aus der Gefahrenzone befördert.

Vor allem hatte Ryami nun auch ihre zweite Waffe verloren. Die scharf geladene Pistole lag neben Shimaris schlafendem Körper auf dem Boden.
 

„Du bist entwaffnet. Das war‘s.“

Kei gab sich alle Mühe, seiner Stimme einen selbstbewussten Klang zu verleihen. Aber ihm war selbst bewusst, dass sie seinen Mund nur leise und heiser verließ. Er war am Ende. Nach jedem Blinzeln fiel es ihm schwerer, die Augen noch einmal zu öffnen. Er atmete schwer. Keinen Finger konnte er mehr rühren. Kei konnte sich nicht daran erinnern, jemals so erschöpft gewesen zu sein. Wenn das alles vorbei war, würde er mindestens eine Woche lang schlafen.

„Kei, halt durch!“ sprach ihm Yuki Mut zu und drückte gleichzeitig seine Hand.

Yuki hatte fast das Gefühl, dass nur er Kei überhaupt noch in einer halbwegs sitzenden Position hielt. Am liebsten hätte Yuki sich sofort neben Kei fallen lassen, ihn in den Arm genommen oder gestützt. Aber er konnte nicht riskieren, ihm mit der Waffe zu nahe zu kommen. Gerade weil er so geschwächt war, war er leichte Beute für Ryami.

„Du hast beide Pistolen verloren. Gib endlich auf! Du bist entwaffnet.“ wandte Yuki sich wieder an Ryami.

„Pah! Ich bin noch lange nicht entwaffnet. So lange es in diesem Raum noch fünf Körper gibt, in die ich eindringen kann, und zwei geladene Waffen, bin ich noch lange nicht entwaffnet.“ winkte Ryami ab.
 

Mühelos erhob sich Ryami aus dem Ratssessel und warf in gleicher Bewegung ihr langes, schwarzes Haar zurück. Bei jedem ihrer eleganten Schritte verursachten ihre Absätze ein klackerndes Geräusch, das von den runden Wänden widerhallte. Etwa drei oder vier Schritte machte sie auf Yuki und Kei zu, bevor Taki unsicher nach ihrem Arm griff und sie zurückhielt.

„Ryami, bitte hör auf. Du hast doch vorhin selbst gesagt, dass du kein Interesse an Kei und Yuki hast. Beide sind verletzt und erschöpft. Findest du nicht, dass es reicht?“

Nur widerwillig wandte sich Ryami zu ihrer kleinen Schwester um, warf ihr über die Schulter einen strengen Blick zu. Dabei begegneten ihr Takis große Augen von Sorge erfüllt und mit nervös hin und her wandernden Pupillen.

„Bitte lass es gut sein.“ wiederholte Taki ihre Bitte etwas leiser als zuvor.

Aber ihre Bitte stieß auf taube Ohren. Unerwartet kalt und ungerührt drehte sich Ryami wieder um und riss ihren Arm aus Takis Umklammerung.

„Meine eigene Schwester. Ich dachte, du bist auf meiner Seite, Taki, egal was kommt.“ Ryami wirkte erstmals unsicher, als sie diese Worte sprach, sogar fast verletzt. Der Widerstand ihrer kleinen Schwester schien sie schwer zu treffen. „Aber letztendlich hätte ich es wohl wissen müssen. Schließlich bist du keine von uns. Du weißt nicht, wie es ist… Niemand weiß das, niemand versteht es. Ich bin also doch allein.“

„Nein, bist du nicht! Ich war immer bei dir, Ryami. Immer. Und ich bin auch jetzt bei dir.“ Taki hob verteidigend die Arme. Sie kämpfte sichtlich um ihre Schwester. „Ich will nur nicht, dass du noch mehr Unschuldigen weh tust. Denn sonst tust du genau dasselbe wie-“

„Unschuldige! Diese beiden haben sich mir in den Weg gestellt.“ zischte Ryami abfällig.

„Du glaubst, Taki kann dich nicht verstehen, weil sie keine Zalei ist?“ mischte sich Yuki in das Gespräch der beiden Schwestern ein. „Kei und ich sind aber welche. Wie wär’s, wenn du es uns erzählst? Vielleicht verstehen wir dich ja dann.“

Mit großer Mühe schluckte Kei den Satz ‚Du glaubst ja wohl selber nicht, dass wir diese Verrückte verstehen können‘ unausgesprochen hinunter. Anders als sein viel zu freundlicher und optimistischer Freund, machte sich Kei keine Hoffnungen, sich mit Ryami gütlich einigen zu können. Aber Yuki sollte ruhig sein Glück versuchen. Kei war inzwischen ohnehin zu schwach, um noch ernsthaft Widerstand leisten zu können. Er hatte schon große Mühe, überhaupt halbwegs aufrecht sitzen zu bleiben.

„Ausgerechnet ihr! Dass ich nicht lache!“ Ryami hatte die linke Hand in die Hüfte gestützt. Ihr Gesichtsausdruck war in der Tat alles andere als ein Lachen.

„Lass es doch auf einen Versuch ankommen. Vielleicht können wir dir ja sogar helfen.“ schlug Yuki dennoch vor.

Anstatt zu antworten, warf Ryami in einer schwungvollen Kopfbewegung einige Haarsträhnen zurück, die ihr ins Gesicht gefallen waren. Gleichzeitig hob sie die rechte Hand auf Schulterhöhe und signalisierte mit einem knappen Winken ihre Ablehnung.

„Vergiss es, Yuki. Der ist nicht zu helfen.“ knurrte Kei verbittert.

Er versuchte aufzustehen. Aber kaum dass er sein Knie durchdrücken wollte, gab dieses nach und er sank zurück auf den Boden. Kei musste sich sogar mit einer Hand abfangen, um sich wenigstens in der Hocke zu halten.
 

„Ihr habt mir mit eurer Plauderei bereits geholfen.“ erklärte Ryami ungerührt.

Plötzlich fiel ein Gegenstand von oben herab und landete direkt in ihrer rechten Hand. Ryami verlor keine Zeit und nahm Kei ins Fadenkreuz, noch bevor der den Gegenstand überhaupt als Pistole identifizieren konnte.

Yuki dagegen schaltete schneller. Sein rechter Arm sauste trotz der Schussverletzung an seiner Schulter sofort nach oben. Er richtete die Waffe mit den Pfeilen direkt auf Ryami. Einen Moment verharrten beide in ihren Drohgebärden.

Kei hatte inzwischen immer noch Mühe, zu rekonstruieren, was eben passiert war. Ein Blick nach oben offenbarte ein Teil der Lösung. Ryamis Katze Aurora saß direkt über ihr auf einem Balken unter der Decke. Zögerlich drehte sich Kei ein Stück weit zu Shimari um und erkannte, dass ihre Pistole verschwunden war.

„Ich hab euch doch gesagt, ich kann so schnell zwischen verschiedenen Körpern hin und her wechseln, dass ihr nie wissen könnt, wo ich gerade bin. Erst recht nicht dann, wenn ihr euch mit Plaudereien selbst ablenkt.“

„Mann… Sag nicht, dass der ganze Mist jetzt wieder von vorne anfängt. Du spinnst doch.“ seufzte Kei resignierend.

„Nein, hier fängt der Mist nicht an. Hier endet er. Und für dein freches Mundwerk bist du als erster dran!“

Ryamis Finger spannte sich stärker über den Abzug. Ihre giftgrünen Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Wage es ja nicht, Kei auch nur ein Haar zu krümmen! Sonst drück ich ab und wer weiß welches Schicksal dich dann erwartet!“

Noch nie, egal wie sehr Yuki je mit ihm geschimpft hatte oder wie sehr sie sich gestritten hatten, noch nie hatte Kei einen annähernd vergleichbaren Ton in Yukis Stimme gehört. Er hätte gar nicht für möglich gehalten, dass Yukis Stimme so verächtlich und so beängstigend klingen konnte. Kein Zweifel: Yuki meinte es todernst. Er würde ohne Zögern abdrücken, und die Konsequenzen würden ihn überhaupt nicht interessieren.

Dennoch gab sich Ryami völlig unbeeindruckt.

„Aber Yuki, du weißt doch ganz genau, dass du nicht auf mich schießen kannst…“ begann sie ihren Satz.

„… wenn du nicht weißt, wo ich bin...“ setzte sie ihn in aus Keis Mund fort.

„… und auch nicht, wer in meinem Körper steckt.“ vollendete sie ihn wieder aus ihrem eigenen Mund, bevor Kei den Körpertausch begreifen und die Waffe senken konnte.
 

„Alles klar. Du bist superstark und hast deine Knarre wieder.“ Kei atmete resignierend aus. Mit großer Mühe und nur im Zeitlupentempo stand er auf, bevor er Ryamis Blick entschlossen erwiderte. „Aber glaub ja nicht, dass wir uns deswegen geschlagen geben. An uns wirst du dir noch die Zähne ausbeißen.“

„So so. Die Zähne ausbeißen… Bist du dir da sicher?“ hob Ryami skeptisch die Augenbrauen.

„Natürlich!“ rief Kei sofort ohne zu zögern oder nachzudenken. Hätte er letzteres getan, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass Ryami eigentlich alle Trümpfe in der Hand hielt, während Yuki wegen seiner Verletzung die Waffe nur unruhig und Kei sich sogar selbst kaum auf den Beinen halten konnte.

„Das wollen wir doch mal überprüfen.“

Ryamis Blick verfinsterte sich. Irgendetwas schien sie wieder im Schilde zu führen. Doch bevor Kei sich überhaupt fragen konnte, was das war, erfuhr er schon die Antwort.

Wie aus dem Nichts schoss Robin plötzlich auf ihn zu und packte sein Bein. Ryami im Körper des Fuchses verbiss sich nur knapp über dem Knöchel in Keis Fleisch. Sofort entfuhr Kei ein Schmerzensschrei und er sank auf die Knie.

Monatelang hatte er sich mit seinem Carn nicht vertragen und war regelmäßig von dem Fuchs gebissen worden. Doch so fest wie jetzt hatte das Tier dabei nie zugebissen. Sogar durch seine Hose hindurch gruben sich die spitzen Zähne mit Leichtigkeit durch seine Haut und in sein Fleisch.

„Kei!“ Yuki wandte sich sofort erschrocken zu seinem Freund um. Er setzte schon an, diesem zu Hilfe zu kommen, doch Kei hielt ihn auf.

„Halt die Waffe oben! Sie will’s anscheinend nicht anders verstehen.“

„Aber ich kann nicht schießen, wenn Robin in ihrem Körper ist!“

„Ich weiß…“ knurrte Kei mit vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen.

Kei hatte sich schon früher so oft aus einem Biss von Robin befreien müssen. Zumindest wusste er, was er zu tun hatte. Ob Ryami sich allerdings so einfach abwimmeln lassen würde, musste sich zeigen. Kei legte eine Hand um die Schnauze des Fuchses. Mit den Fingerspitzen drückte er die Lefzen fest gegen die Zähne des Tieres. Gleichzeitig warfen sich beide Kontrahenten lange, bitterböse Blicke zu. Der Fuchs knurrte bedrohlich.

Dann fühlte Kei endlich, dass Ryami ihren Biss etwas lockerte. Leider freute er sich aber zu früh. Denn kaum, dass sie sein Bein freigegeben hatte, schnellte sie herum und packte stattdessen seinen Unterarm. Erneut schrie Kei vor Schmerz auf. Durch den Stoff seines Kapuzenpullis drangen die scharfen Zähne natürlich noch viel leichter als durch seine Jeans. Bald konnte Kei über den pulsierenden Schmerz seine Finger kaum noch bewegen. Sein ganzer Ärmel färbte sich nach und nach blutrot.

Mutig biss Kei die Zähne zusammen. Zum zweiten Mal legte er seine Hand um die Fuchsschnauze. Diesmal musste er leider die linke Hand nutzen, mit der er deutlich weniger Kraft hatte, um die Lefzen des Tiers gegen seine Zähne zu drücken. Ryami schien nur mäßig beeindruckt. Ihren Biss lockerte sie kein bisschen.
 

Allerdings fiel Kei nun etwas auf. Die Zähne gruben sich mit schwankender Stärke in seinen Arm. Es fühlte sich fast an, als ob der Fuchs zwischendurch immer wieder versuchte, sein Maul zu öffnen und ihn loszulassen, es sich dann aber sofort wieder anders überlegte. Aus den Augenwinkeln warf Kei einen Blick zu Ryamis Körper hinüber.

Natürlich! Ryami musste immer wieder zwischen ihrem eigenen Körper und dem von Robin hin und her tauschen. Und das blitzschnell. Würde sie Robin zu lange in ihrem eigenen Körper bleiben lassen, könnte dieser die Pistole nicht weiterhin auf Kei richten. Würde sie Robin aber wieder in seinen Fuchskörper entlassen, würde der natürlich sofort seinen Zalei loslassen.

Ein leichtes Grinsen legte sich auf Keis Lippen. Er hatte endlich eine Idee.

„Yuki! Du musst auf Ryami schießen. Anders können wir sie nicht außer Gefecht setzen.“

„Was wenn sie einen tödlichen Pfeil abkriegt?“ sorgte sich Yuki dennoch.

„Berufsrisiko des Oberbösewichts! Egal was passiert, es kann auf keinen Fall deine Schuld sein.“ mit seinen Schmerzen nahm auch Keis Wut zu. Langsam glaubte er nicht mehr daran, dass sie Ryami besiegen konnten, ohne sie zu verletzen. Sie konnten nur hoffen, dass die Pistole keine der tödlichen Pfeile abgeben würde.

„D-das stimmt. Meine Schwester werdet ihr wohl nicht mehr anders zur Vernunft bringen können.“ bestätigte Taki heiser und schweren Herzens.

„Aber ich kann nicht schießen, so lange Robin in ihrem Körper steckt.“

Yuki wandte dennoch seine ganze Aufmerksamkeit Ryamis Körper zu. Er legte seine zweite Hand um den Griff der Pistole, um diese zu stabilisieren. Aufgrund seiner verletzten Schulter zitterte sein Arm sonst ein wenig und machte ihm das Zielen schwer.

„Ich sag dir, wenn du schießen sollst.“
 

Einige Augenblicke verstrichen, in denen anscheinend gar nichts passierte.

Robin hatte sich fest in Keis Arm verbissen. Yuki zielte auf Ryami. Ryami zielte auf Kei. Keis Blick war fest auf Robin fixiert. Und Taki beobachtete die Szene mit angehaltenem Atem.

„Jetzt!“ gab Kei endlich das Zeichen.

Nur kurz darauf betätigte Yuki den Abzug. Ein Pfeil sauste durch die Luft und traf Ryami direkt in die Brust. Zunächst anscheinend völlig überrascht sammelte sich Ryami schnell wieder. Sie zog mit der Linken den Pfeil schnell aus ihrer Haut und schleuderte ihn von sich. Gleichzeitig gab sie mit der Rechten einen Schuss auf Kei ab.

Kei hatte damit zum Glück schon gerechnet. Er packte seinen Carn und warf sich zusammen mit diesem zur Seite. Die Kugel verfehlte die beiden so um ein gutes Stück.

Ryami taumelte ein paar Schritte zurück. Welches Mittel der Pfeil auch immer beinhaltet hatte, seine Wirkung schien schon einzusetzen. Die Pistole fiel bald aus Ryamis zitternden Fingern. Mit einer Hand hielt Ryami ihren Bauch, während die andere nervös über ihre Stirn fuhr. Sie stammelte irgendetwas vor sich hin, das Kei nicht verstehen konnte.

Nach Luft ringend lag Kei inzwischen auf dem Boden und hielt Robin im Arm. Mit seiner freien Hand streichelte Kei über den Kopf des Fuchses. Robin genoss seine Streicheleinheiten und kuschelte sich sogar freiwillig noch etwas näher in Keis Arm. Jetzt wo die größte Aufregung überstanden war, wurde sich Kei wieder seiner gewaltigen Müdigkeit bewusst. Seine Lider wurden immer schwerer. Schließlich schaffte Kei es nicht mehr, sie nach dem Blinzeln wieder zu öffnen. An Ort und Stelle hätte er sofort einschlafen können. Nicht einmal der pulsierende Schmerz an seinem Bein und seinem Unterarm hielt ihn noch wach.

Dann spürte Kei plötzlich eine Hand, die sanft über seinen Kopf strich. Mühsam drehte er den Kopf und öffnete gleichzeitig die Augen. Über ihm kniete Yuki. Keis müde Augen erkannten unscharf sein erleichtertes Lächeln im weichen Licht der untergehenden Sonne. Kei liebte dieses Lächeln.

„Ist es vorbei?“ erkundigte Kei sich mit entkräftetem Ton.

Yuki drehte sich kurz zu Ryami um. Ryami war inzwischen auf dem Boden zusammengebrochen. Taki kauerte weinend neben ihrer bewusstlosen Schwester, deren Hand sie hielt. Yukis Blick kehrte gleich wieder zu Kei zurück, als er zu sprechen begann.

„Sieht so aus. Ich hoffe, sie überlebt es.“ seufzte Yuki.

„Ist nicht deine Schuld.“ wiederholte Kei kraftlos seine Worte von vorhin.

Gegen seinen Willen fielen ihm langsam wieder die Augen zu. Auch Keis Hand bewegte sich nur noch langsam und müde über Robins Fell. Kei genoss wie Yukis Finger sanft und beruhigend über seinen Kopf strichen und sich zwischen seine Strähnen gruben. Kei war so müde.
 

„Woher wusstest du, wann sie wieder in ihrem Körper steckt? Und wie hast du das geschafft?“ überlegte Yuki schließlich laut.

„Ich hab gar nichts gemacht.“ grinste Kei ohne die Augen zu öffnen. „Das war Robin.“

„Wie… Robin…?“

„Robin kann selbstständig den Körpertausch rückgängig machen. Erinnerst du dich noch, dass er mich beim Training aus seinem Körper geschmissen hat, als er keine Lust mehr hatte?“ Kei konnte ein müdes Gähnen nicht unterdrücken. „‚Wie‘ wüsste ich auch gern. Es kann nicht dran liegen, dass er stärker ist als der jeweilige Zalei in seinem Körper. Ich bin stärker als er und Ryami erst recht. Robin muss irgendeinen Trick haben.“

„Dann hat der schlaue Fuchs wohl den Abend gerettet.“

Kei gähnte noch einmal schlaftrunken. Inzwischen war er so müde, dass er den Schmerz seiner Bisswunden kaum noch wahrnahm. Er atmete ruhig und flach, während er Yukis Nähe und seine Berührung genoss. Inzwischen ruhte Keis Kopf in Yukis Schoß. Robin hatte sich neben seinen Zalei gekuschelt, als hätte der vorangegangene Kampf auch seine letzten Kraftreserven gefordert.

Ganz langsam glitt Kei hinüber ins Land der Träume, bevor ihn seine Müdigkeit endgültig übermannte. Als einige Minuten später endlich Polizei und Notarzt eintrafen, war er schon fest eingeschlafen.
 

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Hi!
 

Wow, das war eine schwere Geburt, was? Eigentlich war gar nicht beabsichtigt, den großen Showdown so ausufern zu lassen. Aber irgendwie wollte einfach keine Seite nachgeben… Tse tse… XD

Ein letztes Kapitel folgt nächste Woche noch. Dann ist „Snowdrops and Chocolate“ mit der wunderschönen runden Zahl von 30 Kapiteln abgeschlossen. Ich hoffe, wir sehen uns nächste Woche noch einmal wieder. ^^



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