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Clinging to habits

von

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Titel: Clinging to habits

Teil: 7/7

Autor: Tsutsumi

Disclaimer: Alle Charaktere aus Yu-Gi-Oh!, die ich hier benutze, gehören nicht mir. Ich leihe sie mir nur aus und gebe sie hoffentlich unbeschädigt zurück. Ebensowenig verdiene ich Geld hierfür.

Pairing: Tristan x Joey

Kommentar: Diese FF hier ist die Antwort auf Rei17´s und Maddles Päckchenchallenge "7 Angewohnheiten" vom "Challenge"-Zirkel hier auf Animexx. Ich hoffe, ich kann sie gebührend beantworten^^

Warnung: sappy, Shounen Ai
 

Der Kaugummi unter deiner Schuhsohle
 

Manchmal tut man Dinge ganz schnell, weil sie einem auf der Seele lasten.

Sie lassen dich in der Nacht nicht schlafen, weil sie unablässig neben dir liegen, sich mit dir unruhig im Bett wälzen und dir immer wieder ins Ohr flüstern `Das schaffst du nie, das schaffst du nie!´ wie kleine, bissige Dämonen.

Ich schätze, ich sollte demnächst mal einen Exorzisten aufsuchen.
 

Alles habe ich perfekt abgepasst.

Die im Sekrätariat haben gesagt, die Klasse hat nachmittags um zwei Uhr Schluss. Die Mutter am Telefon hat gesagt, dass ihre Tochter das Handy sofort nach dem Unterricht anstellt. Und dabei geseufzt. Diese handysüchtigen Kinder heutzutage.
 

Zum Frühstück habe ich einen Kaffee getrunken und ein Käsebrot gegessen, wie jeden Morgen. Dazu einen dieser abartig wohltuenden Gesundheitsdrinks, die Tea auch täglich konsumiert. Ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen meinem gepeinigten Körper gegenüber. Zehn Minuten stehe ich nach dem Duschen vor dem Spiegel im Bad und betrachte mich von den Schultern abwärts. Tatsächlich bin ich nicht mehr so blass wie gestern. Ich habe es sogar geschafft, schon wieder etwas brauner zu sein als Joey.

Bauchmuskeln habe ich noch immer nicht. Aber dafür verspreche ich mir selbst, ab heute jegliche Himmelfahrtskommandos bleiben zu lassen.
 

In frischen Shorts und mit einem dunkelblauen T-Shirt stehe ich im Sonnenschein auf dem Balkon und tippe mit fahrigen Fingern Serenitys Handynummer in mein Schnurloses ein.

Überrascht habe ich festgestellt, dass ich einen Haufen Shirts habe, auf denen irgendwelche dämliche Sprüche aufgedruckt sind.

Heute steht „Lucky Day“ drauf. Nicht dass ich mich danach richten würde; nicht dass ich abergläubisch wäre. Aber wenn ich heute versuche, meine Welt wieder in Ordnung zu bringen, kann so ein optimistisches Sprüchlein ja nicht schaden.
 

Die Sonne lugt heute nur vorsichtig durch eine milchige, graue Wolkendecke. Irgendwo in der Ferne grollt es ganz leise und die Luft steht so still, dass in ihrer Feuchtigkeit nicht einmal Grillen zirpen.
 

Am anderen Ende wird abgenommen. Es knackt kurz.

„Hallo, ich bin´s, Tristan!“, krächze ich in den Hörer, viel, viel nervöser als vor unserem Pseudo-Date.

„Tristan? Hallo, wie geht´s dir“

„Dank eurer Pflege wieder hervorragend.“

„Dann ist ja gut.“ Sie kichert leise.

„Hast du dich daran gehalten, was mein Bruder gesagt hat?“

„Ja, allerdings. Habe keinen Fuß vor die Tür getan.“ Bis jetzt jedenfalls nicht.

„Was anderes bleibt mir ja auch nicht übrig, Joey haut mich ja sonst.“

Ich verziehe mein Gesicht zu einem schelmischen Grinsen.
 

Und trotzdem, es ist da- dieses verlegene Schweigen zwischen uns. Gestern waren wir ja nicht allein. Zwischen Tea, Yûgi und Joey haben wir das Problem wie ausgeklinkt. Wie eine Art Waffenstillstand beim Zwei-Fronten-Krieg.

„Hör mal...“

Ich fummle mir mit der freien Hand nervös am Shirt herum. Hätte ich schon eine Jeans an, würde ich die Hand in die eine Hosentasche schieben, darin aufgeregt herumwühlen, Taschentuchreste zerpflücken...

„Ich habe nicht vergessen, was da neulich im Zoo war.“
 

Meine Zunge fühlt sich ganz dick an. Wie Brei, den ich mühselig im Mund hoch- und runterschlagen muss. Ich lasse den Kopf hängen und scheuere mit einer nackten Fußsohle über den Asphalt des alten Balkons bis es wehtut.

„Ich weiß nicht, was mich da geritten hat...“

Ein Grollen hinter den Häusern.

„Aber es war nicht okay. Weder dich stehen zu lassen noch... Es tut mir Leid.“

Sie schweigt noch immer.

Und plötzlich erkenne ich, dass ich bei ihr viel mehr kaputtgemacht habe als bei Yûgi, obwohl ich das bis gestern Abend noch andersrum gesehen habe. Ich habe Serenity benutzt wie ein Ersatzspielzeug, habe genau dasselbe getan, was ich Joey insgeheim vorgeworfen habe.

„Scheinbar bin ich weniger ein netter Typ als vielmehr ein...Mistkerl. Ich weiß nicht, wie ich das wiedergutmachen soll...“
 

Schwarze Wolken hängen im fernen Himmel, als ob die Welt untergehen wollte.

Nein, denke ich mir. Wenn Gott so unfair ist, werde ich wirklich sauer. Er darf die Welt keinesfalls untergehen lassen, bevor ich alles erledigt habe. Das Wichtigste steht noch an!

Ich werde nicht zulassen, dass ich mich mit Joey erst im Himmel ausspreche. So eine Engelsharfe tut sicher weh, wenn man sie im Zorn auf den Kopf geschlagen bekommt.
 

„Tristan...“

Serenity klingt ernst. Sehr ernst.

Und in ihrem Tonfall schwingt plötzlich so viel von Joey mit.

„Ich hab niemandem weiter davon erzählt. Auch nicht meinem Bruder, weil der sicher wieder übertreiben würde. Aber...ich bin manchmal nicht ganz so zimperlich wie ihr vielleicht denkt.“

Mein Gott, was hab ich nur getan, dass plötzlich alle Leute über sich selbst rumreflektieren?

Das ist mal wieder so typisch. Tristan, der Idiot, stürzt sie alle in Selbstzweifel, weil er mit sich nicht klar kommt!

„Ich bin schon sauer auf dich deswegen.“ Wenn sie es mit ihrer süßen Stimme so sagt, könnte man das beinahe nicht glauben.

„Aber ich weiß trotzdem, dass du mich magst. Und dass Menschen, wenn sie traurig und verwirrt sind, Fehler machen.“

Jetzt ist es, als ob sie lächelt. Ich kann das förmlich durch das Telefon hören.

Sie strahlt wie Joey eine unheimlich beruhigende Energie aus, um die man nicht herum kommt.

„Und darum mach dir darum keine Gedanken mehr.“
 

~~~*~~~
 

Ich habe Menschenkenntnis genug um zu wissen, dass Serenity in Wahrheit doch noch traurig und enttäuscht ist. Jetzt, nach all dem Chaos erkenne ich plötzlich die vielen kleinen Gemeinsamkeiten zwischen ihr und ihrem Bruder.

Beide schieben ihren Frust zur Seite, wenn es darum geht, einem Freund zu helfen.

So wie ich. So wie Yûgi.

Wir sollten uns gegenseitig sofort adoptieren um eine große, tolle Familie zu werden.

Und dann gemeinsam zur Familientherapie gehen um mal die Klappe auf zu bekommen.
 

Ich werde das mit Serenity wieder gerade biegen. Vielleicht ist sie jetzt nicht mehr so doll in mich verschossen. Das macht die Sache vielleicht einfacher.

Dass ich höchstwahrscheinlich einen Komplex habe, was Joey angeht, macht sie allerdings schwieriger.

Gemein wie Yûgi manchmal ist, hat er mich gestern Abend nach der Bemerkung mit den Angewohnheiten einfach zappeln lassen.

Ich mag diese Spieler nicht! Sie setzen dir das Puzzle zusammen bis zum letzten Teil und lassen dich dann genüsslich danach suchen.
 

Die Hände in den Hosentaschen vergraben, meinen feuerroten Schirm unter den Arm geklemmt, lehne ich an der Mauer zu meinem Schulhof. Kann sein, dass hier Lehrer vorbeikommen und mich fragen, warum ich heute gefehlt habe. Aber zur Not lässt sich ja immer noch eine ärztliche Bescheinigung fälschen. Nun ja. Oder zum Arzt gehen.
 

Wenn ich in den Himmel hochsehe, blicke ich der aktuellen Weltuntergangsprobe des Allmächtigen entgegen. Die schwarzen Wolken hängen jetzt über mir, über der Stadt, und in ein paar Kilometer Entfernung zucken schon Blitze.

Ich zähle nach denen nach. Einundzwanzig...zweiundzwanzig...dreiundzwanzig. Bis der Donner die stehende Luft zerreißt.
 

Seto Kaiba rauscht als erster durch das Schultor.

Wie typisch für ihn. Und ich rätsele noch immer, wie er es schafft in der gleichen Schuluniform wie wir alle anderen, viel erwachsener, würdevoller und arroganter zu wirken. Das ist vielleicht so ein Geburtsfehler wie Yûgi meinte. Obwohl ich eher glaube, dass weder Kaiba von Anfang an arrogant war noch Yûgi seit Geburt Klugscheißer.

Manchmal passieren einem Menschen schlechte Dinge, die einen so formen. Und womöglich will man gar nicht so sein.
 

Er diskutiert gerade wieder belebt in sein Handy. Nicht laut, aber wieder genau so bedrohlich und gänsehautauslösend wie letztens. Ob Johnson schon gefeuert wurde?

Mit einem düsteren Blick klappt Seto sein silbernes Prollhandy zu, stapft den Weg entlang, der an mir vorbeiführt. Seine hellen Augen sind unter diesem überlangen Pony schlecht zu sehen. Wahrscheinlich absichtlich.

In ihnen flackert es auch nur kurz auf, als er mich da stehen sieht.

Wahrscheinlich weil sein Großhirn ihm gerade meldet, dass ich heute nicht im Klassenraum saß, sondern jetzt hier bin. Ohne Uniform.
 

Sollte das etwa bedeuten, dass er mich doch wahrnimmt?

Ich meine, nicht wie man eine Schmeißfliege bemerkt oder eine Spinne, die einem gerade ins Ohr krabbeln will. Nein, wie einen wahrhaftigen Menschen.

Unglaublich.
 

„Hallo, Kaiba!“, lächle ich ihm zu und hebe kurz die rechte Hand zum Gruß.

„Wie geht´s?“

Es ist nicht so, dass ich eine Antwort erwarte. Ich bin es gewohnt, ihn zu grüßen und keine Antwort zu erhalten. Einig und allein auf die Reaktion tief in seinen Bewegungen warte ich. Sie sind das einzige an ihm, was zeigt, wie der Kerl wahrnimmt.
 

Das Handy liegt in seiner Hand eingeschlossen, als er an mir vorbeistiefelt, mit langen, eleganten, aber trotzdem irgendwie steifen Schritten.

Und auf einmal nehme ich den Anhänger daran wahr, der aus der Hand baumelt. Ein dünner Faden an dem ein kleiner, blauer Stein ganz unauffällig hängt. Eine so vorsichtige Zierde, die so tut, als wäre sie gar nicht da.

Und trotzdem sagt sie genug aus über den Eisklotz Seto Kaiba. Mehr als ihm wahrscheinlich lieb ist.
 

Ich lächle ihm hinterher. So honigsüß, dass er das einfach im Nacken spüren muss.

Irgendwann- vielleicht- werden wir miteinander reden wie ganz normale Menschen.
 

~~~*~~~
 

Joey kommt spät. Yûgi und Tea im Schlepptau, schlendert er durch das Tor, mit hängenden Schultern und einem Blick, der irgendwie müde aussieht.

Irgendwie habe ich die unbestimmte Ahnung, dass es nicht am Unterricht liegt, dass er so fertig ist. Und beiße mir mental mal wieder in den Arsch. Davon dürfte ja genau genommen nicht mehr sehr viel übrig sein.
 

„Hey, was machst du hier?!“ , zetert er gleich los, als er mich sieht.

„Ich hab gesagt, du sollst heute nicht kommen!“

„Falsch!“, korrigiere ich ihn.

„Du hast gesagt, ich soll nicht in der Schule erscheinen. Ich bin nicht in der Schule, sondern davor!“ Ich hebe den rechten Zeigefinger wie ein altkluger Lehrer.

Yûgi kichert.
 

„Na schön!“

Joey zuckt grinsend gespielt hilflos mit den Schultern.

„Wenn du schon wieder so schön klugscheißen kannst, kann es dir ja nur besser gehen.“

Und ich spüre eine Erleichterung in ihm. Wie ein Verspannung, die sich löst und ihn wieder locker werden lässt.

„Ja.“, sage ich ganz ruhig und lächle den dreien aufmunternd zu.

„Es geht mir gut. Dank euch!“

Im Hintergrund grollt ein Donner. Es klingt wie eine überdimensionaler LKW, der die Straße hinunterpoltert.

„Na, na, jetzt werd mal nicht so melodramatisch hier!“, versucht Joey, die Situation vor dem Ernst zu retten. Doch die anderen beiden lächeln still zurück.
 

Schnell setzen sie sich ab. Unter dem äußerst unoriginellen Vorwand, dass es da für Yûgi noch eine ganz wichtige Besorgung gibt, die er für seinen Opa machen muss, und dass Tea heute ohnehin zum Aerobic geht. So sportlich wie sie ist, könnte das jedoch glatt stimmen. Sie hat garantiert mehr Muskeln als ich und könnte mich glatt stemmen. Das müsste man mal ausprobieren.
 

Doch nicht jetzt, wo Joey und ich allein sind. Wortlos angestrengt die Straße analysieren. So viele Schlaglöcher hier...

Ich bin es tatsächlich nicht mehr gewohnt, ihm so nahe zu sein. Es irritiert mich scheinbar. Plötzlich sind meine Handflächen schweißnass und meine Knie fühlen sich gefährlich weich an. Die Schritte seiner Turnschuhe, die schon fast auseinanderfallen, hallen irgendwie in meinen Ohren nach.

„Wegen gestern...“, fange ich das wohl schwerste Gespräch meines Lebens an.

„...danke!“

Ich hebe den Blick sanft von der Straße auf und sehe meinen Freund vorsichtig von der Seite an.
 

Joey nickt gedankenverloren. Mit seinem rechten Fuß kickt er kraftvoll Kieselsteinchen zur Seite, die auf dem Gehweg herumliegen. Wie Geschosse prallen sie am Asphaltrand ab, an Autotüren und Schutzblechen von Fahrrädern.

„Kein Ding.“ , entgegnet er leicht lächelnd und zerrt umständlich an seinem Schulrucksack herum. Anschauen mag er mich aber trotzdem nicht.

Das ist einfach scheiße hier. Alles.

Wir umschleichen uns vorsichtig in der Schwüle der stehenden Luft und überlegen fieberhaft, was jetzt zu sagen ist. Was zu tun ist.
 

„Und es tut mir Leid.“, schiebe ich leise hinterher.

„Ich habe mich wie der letzte Idiot benommen.“

Der Gang nach Canossa ist steinig und schmerzhaft. Das musste ja schon damals dieser Adlige einsehen, als der Papst ihn von der Kirche ausschloss. Nun gut, ich krieche nicht auf nackten Knien vor Joey herum. Vielleicht wäre das aber besser so, rein aus metaphorischen Gründen.

Es würde ihm ein wenig mehr symbolisieren, dass ich mir wirklich ganz furchtbar stark in den Arsch treten will.
 

„Ich meine nicht nur das mit den blöden Pillen.“

Meine Stimme ist plötzlich heiser, ohne dass ich geschrien oder einen Frosch im Hals habe.

Irgendwo habe ich mal gehört, dass das psychosomatische Gründe hat. Weil man Angst vorm Reden hat, setzt die Stimme aus oder so etwas.

Ich bleibe stehen und räuspere mich umständlich.
 

„Ich meine auch, weil ich in letzter Zeit so ein dummer Arsch war.“
 

In meinen Ohren rauscht das Blut im Takt meines völlig übertriebenen Pulses. Mein Herz pumpt wie eine durchgegangene Furie, als würde ich einen Sprint hinlegen oder Bergsteigen. Das hat alles überhaupt kein Verhältnis. Ich verstehe es nicht.
 

„Warst du?“

Joeys braune, helle Augen sind jetzt etwas erstaunt auf mich gerichtet. Seine Hände im blauen Blazer der Schuluniform vergraben, steht er da, ein bisschen wie bestellt und nicht abgeholt. Es wirkt, als würden wir gar nicht mehr zusammengehören.

Ich nicke langsam;

„Ja, glaub mir. Das war ich.“

Über uns blitzt es.

„Warum?“ Er fährt sich, amüsiert lächelnd durch die zerzausten Haare als würde er glauben, sie hätten sich angesichts des Gewitters aufgeladen.

„Erklär mal!“ Sein Grinsen wird breiter.

„Hast du was ohne mich ausgefressen?“
 

Ja, das ist Joey, durch und durch. Er wirft sich gern mit Schmackes wie ein waschechter Held vor seine Freunde um sie vor Energiestrahlen oder sonst was zu retten. Aber mit seinem abtrünnigen besten Freund ein klärendes Gespräch mit dem nötigen Ernst führen, das kann er nicht. Kleine Momente wie gestern Abend, das ist wiederum in Ordnung.

Aber bei Joey darf es in nichts Melodramatisches ausarten, nicht wenn es von ihm ausgehen soll.
 

Doch den Gefallen kann ich ihm gerade nicht so tun.

Ich wühle mit den Händen in meinen eigenen Taschen herum, nicke noch mal beschämt und betrachte kurz den Himmel über mir in all seiner apokalyptischen Schwärze.

„Das hab ich wirklich!“, sage ich in die stehende Luft hinein.

„`Ne ganze Menge. Glaub mir, ich hätte echt Prügel verdient!“

„Ach komm schon!“ , knufft er mich kurz in die Seite und lacht nervös.

„Ich weiß ja, dass du manchmal komisch bist , aber dass du auf SM stehst, ist jetzt was Neues!“

Da schüttele ich den Kopf leicht;

„Nein, Joey. Ich habe lieben Menschen weh getan.“
 

Was auch immer für einen Witz er sich gerade zurechtlegen wollte, er vergisst ihn gerade ganz schnell. Das Geständnis wegen Serenity und Yûgi habe ich nicht eingeplant. Nicht von Vornherein.

„Echt?“, fragt er ungläubig.

„Ja.“

Und wieder ein Blitz.

Diesmal zähle ich nicht. Aber der Donner folgt beinahe sofort. Eigentlich wäre es jetzt das Beste, irgendeinen trockenen Unterstand zu suchen.
 

Aus den Querstraßen und verwinkelten Gassen kommt in wilden, mitreißenden Böen der Gewitterwind. Von einer Sekunde auf die andere ist er plötzlich da, reißt an Joeys Haaren, an seinem Blazer, an meinem T-Shirt. Es ist einerseits erleichternd, weil man endlich wieder das Gefühl hat, atmen zu können. Und zum anderen drückt der Wind gegen die Brust, dass man erschrocken nach Luft schnappt.

„Ich war ein hundsgemeiner Widerling.“, fahre ich fort.

„Ich habe mich...“ Meine Stimme quietscht fast.

„Ich hab mich zwar entschuldigt bei Yûgi und deiner Schwester...“

Seine Augen werden ganz kurz schmaler.

„Aber da ist einiges kaputtgegangen.“
 

Joey schaut in den Himmel, wie ich gerade. Dann streckt er kurz den Arm aus, mit der Handfläche nach oben um zu prüfen, ob es schon regnet.

„Okay...“ , murmelt er mit ungewohnt tiefer Stimme.

„Es wird zu prüfen sein, ob ich dir für Serenity in den Hintern trete. Dass ich sie deswegen ausfragen werde, ist dir ja wohl klar?“

Schuldbewusst nicke ich. Von mir aus kann er mir einen Arm brechen oder so etwas. Das wäre mir eigentlich sogar lieber als wenn er mir alles nachsehen würde. Ich fühle mich schon schrecklich genug, weil gestern alle so scheißfreundlich zu mir waren. Aber vielleicht ist das die Art meiner Freunde, mich dafür zu bestrafen. Schlechtes Gewissen tut nämlich ganz schön weh.

„Ich erzähl dir auch so was passiert ist.“, biete ich mich unterwürfig an.

„Jedoch alles, was ich dir von vornherein versichern kann, ist dass ich sie weder verprügelt noch beschimpft habe. Wenn dich das etwas beruhigt.“

„Ich glaube, das wäre für deine Verhältnisse auch viel zu steinzeitmäßig.“ Er ruckelt an Riemen seines Rucksackes herum.

„Was mit Yûgi war, ist nicht meine Sache. Allerdings...“

Er schaut mich wieder an und zieht leicht den rechten Mundwinkel hoch;

„...find ich´s erst mal gut, dass du mir das überhaupt gebeichtet hast.“
 

Das stimmt wahrscheinlich. Vertrauen ist jetzt am angebrachtesten. Es hilft jetzt vielleicht auch etwas, da wir uns, einander fremd geworden, wie blinde Mäuse durch ein kompliziertes Labyrinth zueinander tasten. Ich hätte ihm das eben ohnehin nicht verschweigen können.

Wir setzen unseren Weg hastig fort. Der Wind ist kalt geworden und jagt Gänsehaut über meine nackten Unterarme.

„Was mich aber mal interessieren würde,“ redet er gegen das laute Rauschen an, als wir die nächste Straße abbiegen.

„...wie es dazu kam, dass du die beiden geärgert hast. Du bist doch sonst nicht so drauf, dass du Leute einfach beleidigst oder kränkst.“
 

Jetzt fängt der Teil der Unterhaltung an, den ich am allerwenigsten mögen werde. Ich weiß es jetzt schon. Mein Herz hämmert so hart gegen meinen Brustkorb, dass die metaphorisch eiternde Stelle schmerzt.

Ich weiß doch noch immer nicht wirklich, was mit mir los ist. Wie soll ich Joey denn da aufklären?
 

„Naja...“

Ich fummle umständlich am Regenschirm herum. Gleich werden hier Hunde und Katzen runterkommen. Die Wolken haben das Sonnenlicht abgedeckt und die Stadt in einen schwarzbestrahlten Mantel gehüllt. Der Sturm reißt mit einer Wahnsinnskraft an allem, was nicht niet- und nagelfest ist. Papierfetzen fliegen durch die Straßen, weggeworfene Plastiktüten...habe ich da grade eines dieser Miniaturhündchen vorbeifliegen sehen?
 

„Wie soll ich das sagen ohne dass es bescheuert klingt...?“ , sage ich mehr zu mir selbst als zu Joey.

„Ich...“

Zaghaft schaue ich zur Seite, schaue in sein offenes helles Gesicht. Und ich friere entsetzlich.

Obwohl ich genau wusste, dass es gewittern wird, habe ich nicht mal einen Pullover mitgenommen, gedankenlos wie ich war.
 

Ich wünsche mir mit einem Mal, dass ich es einfach so machen könnte wie die Kerle in diesen Schmalzfilmen. Dass ich einfach Joeys Hand nehmen und auf meinen beinahe zerspringenden Brustkorb legen kann. Dann würde er vielleicht begreifen- was auch immer es da zu begreifen gibt- und ich müsste ihm jetzt keinen Vortrag halten.
 

Aber wir sind in keinem Schmalzfilm.

Die Realität verdirbt einem alles.

„Tris´!“, sagte er sanft und eindringlich.

„Erinnerst du dich, wie ich dir vor Jahren erzählt habe, wie mitten im Sportunterricht meine Hose gerissen ist und alle das darunter sehen konnten? Viel schlimmer kann das jetzt doch gar nicht sein!“

In diesem Moment fängt es endlich an zu regnen.

Wie aus einer Gießkanne kommen die Wassermassen geschossen, harte, große Tropfen, die einem ins Gesicht peitschen, einem das Shirt gleich an den Rücken kleben und die gesamte Haut mit einer klammen Kälte überziehen, von der man Grippe bekommt.

Und dieser Scheiß-Schirm geht nicht schnell genug auf.

Sekundenlang klamüsere ich daran herum bis ich ihn endlich aufgespannt bekomme, ihn über unsere Köpfe halte.

Und schließlich feststelle, dass der Regen durch den starken Wind von der Seite kommt.
 

„Vielleicht nicht.“, sage ich leise und klammere mich an dem feuchten Plastikgriff des Schirms fest.

„Aber es ist genauso exhibitionistisch.“
 

Es geht einfach nicht. Nach dem zweiten Windstoß ist der Schirm total verdreht, dass ich damit das Wasser eher auffange als uns davor zu schützen. Mit klatschnassen Haaren und durchgeweichten Klamotten zwängen wir uns schließlich wortlos in einen recht breiten Unterstand an einem Hauseingang.

Unser Atem dampft.
 

„Ich...ich hab dich einfach so vermisst.“ , sage ich auf einmal polternd, mit heiserer Stimme.

Meine Hände und Arme zittern.

Der Sturm treibt es scheinbar raus, als würden seine elektrischen Impulse direkt in mein Gehirn übergehen, in meine Seele, als würde er die Worte aus mir rauspressen.

Alles, alles geht in mir mit einem Mal hoch und runter; Magensäure verknotet sich mit Galle, die Niere wickelt sich ein zwischen Lunge, Herz und Dünndarm. Ich bin ein einziges, zitterndes Riesenbaby mit einem viel zu schnellen Herzschlag.

Und ich versteh das nicht. Joey war mein bester Freund. Bin ich ihn einfach nicht mehr gewohnt?
 

Joey hat seinen Rucksack abgesetzt. Sein Gesicht ist vom Regenwasser ganz feucht, Tröpfchen rinnen seinen Nasenrücken herunter. Und obwohl es jetzt so stockduster ist, wirken seine Augen ganz hell, wie aufgeladen. Als würden sie Elektronen nähren. Und sie schauen mich so klar und unverwandt an, dass ich Angst bekomme, Joey sieht durch mich hindurch.

„Du...warst plötzlich so weit weg.“, sage ich mit wehleidigem Ton.

„All diese Spiele und Karten...und Würfel...und Dukes und Yûgis... waren dir soviel wichtiger.“
 

Es hat zwei gute Beziehungen ausgetestet, mir Kopfschmerzen bereitet, schlaflose Nächte, einen Drogenschock...bis ich es endlich mal geschafft habe, das zu sagen. Weil ich einfach zu feige war. Es stimmt schon. Ich bin ein nicht besonders anpassungsfähiges Subjekt der Evolution. Wie ein Dinosaurier ecke ich an allen möglichen Stellen an und stoße verzweifelt Urzeitgeräusche aus. Tristanus idiotensis.
 

Joey steht ganz starr und gerade vor mir, mit halb geöffnetem Mund. Ich hoffe er sieht nicht wie sehr mich das mitnimmt, ihm sozusagen alles vor die Füße zu kotzen. Doch sein Blick ist hängengeblieben zwischen dem Leuchten eines verständigen Zuhörers und eines Kindes, welches sich über jedes gesprochene Wort wundert.
 

„Ich weiß nicht...“, fahre ich zitternd fort und verschränke fröstelnd die Arme vor meiner Brust, starre in den Regen, der wie eine Wand auf die Straße donnert. Wassertropfen hängen an meiner Nasenspitze, meinem Kinn und meinen Haaren, zerstören meine Frisur.

„Es tut mir Leid, ich werde mich wohl nie für die Sachen so begeistern, wie du vielleicht versucht hast, sie mir nahe zu bringen. Nach einer Runde Duel Monsters habe halt schon genug. Es tut mir echt Leid, dass ich dich damit in Schwierigkeiten gebracht habe, dass du nicht wusstest, was du mit mir anfangen solltest...“
 

Ein beinahe erschrecktes Flackern huscht über sein Gesicht.

Wie ich es doch vermisst habe...ihn einfach anzuschauen, in seinem Ausdruck zu lesen.

„Lass mich raten...“, nuschelt er leise.

„Ein kleiner gemeinsamer Freund hat dir das verraten.“

„Er musste.“, versuche ich, Yûgi sofort zu schützen.

„Weil ich nie was von allein gecheckt habe.“
 

Eilig hetzen Leute an uns vorbei die stillgelegene Straße hinunter. Mit Schirm, ohne Schirm, sich Zeitung über den Kopf haltend, mit großen Schritten. Alle haben dunkle Wasserflecken an ihren Klamotten. Jeder versucht sich vor dem Gewitter zu retten.

En schiefes Licht fällt vom Himmel, so abgedunkelt. Und doch taghell.

„Und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.“ , fahre ich fort.

„Beschweren wollte ich mich auch nicht.“

Jetzt muss ich zynisch lächeln.
 

„Naja, worüber auch? Nur weil man früher gewohnt war zusammen zu sein, muss das ja nicht so für die Ewigkeit sein.“

Mehr als ein hilfloses Schulternzucken bekomme ich nicht hin.

„Du hast dich weiter entwickelt, Joey. Darauf bin ich echt stolz, weißt du das eigentlich? Du bist jetzt voller Kraft und Tatendrang. Und jetzt brauchst du auch keinen Tristan mehr, der dich freiboxt. Das kannst du alles selbst...“

Lächelnd schaue ich ihn von der Seite an; meinen nassgeregneten besten Freund, von dem ich manchmal träume.
 

„Vielleicht behindere ich dich einfach nur.“, sinniere ich in den nächsten krachenden Donner hinein.

„Ich bin einfach nur der beste Freund von damals. Der Kaugummi unter deiner Schuhsohle sozusagen, den man sich am besten abkratzen sollte.“
 

Ich sehe, wie sich Joeys Augenbrauen senken.

Ja, vielleicht ist es das einfach die ganze Zeit gewesen. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein für Joey. Ihn nicht mehr zu verdienen. Ein Gefühl, welches nach einem Ausdruck suchte und nur durchbrechen konnte, als ich high war und keine Kontrolle mehr über mich hatte.
 

„Du frierst.“

Joey deutet sanft auf meine meterdicke Gänsehaut auf den Armen.

„Zieh mal meine Jacke an.“

Einzelne, feine Strähnchen seines hellen Haares kleben ihm an den Schläfen und an der Stirn fest. Das sehe ich erst jetzt, als er sich aus seinem Blazer schält, sich zu mir vorbeugt.

Dieser Rosenduft seines Shampoos...ich sauge ihn unwillkürlich sofort ein. Jetzt, wo seine Haare nass sind, kann man das viel mehr wahrnehmen.

„Dann frierst du doch aber!“ , protestiere ich.

„Ach quatsch nicht!“ Er winkt ab und drängt mich förmlich in die Jacke, wartet bis ich mit den Armen hineingeschlüpft bin und zieht sie am Kragen an mir hoch.

„Wer ist denn hier immer die Frostbeule gewesen?“
 

Seine Hände bleiben am Kragen haften.

Klamme Wärme schlägt mir entgegen, wohlig, beruhigend, gemischt mit Joeys Körpergeruch. Sanft und irgendwie obstig.

Plötzlich sind seine Augen ganz nahe. Sein Gesicht verharrt ruhig vor mir, verstrahlt die Energie eines zweiten Gewitters, so umwerfend, dass ich am liebsten einen Schritt zurück gehen will. Doch direkt hinter mir ist die Wand des Hauseinganges.

„Jetzt hör mal zu, Tris´!“

Ganz ernst klingt er. So ähnlich wie Serenity vorhin am Telefon.

Und ich habe das Gefühl, kurz vor einem Kreislaufkollaps zu stehen.

Ich bin es nicht gewohnt, ihn so nahe zu haben!

Das bringt mich durcheinander, ohne Ende.
 

„Wenn du noch mal soviel Blech auf einmal redest, hau ich dir höchstpersönlich eine runter.“

Seine schmalen Augenbrauen. Die von der Gewitterkälte geröteten Wangen.

Sein halbgeöffneter, feuchter Mund. Und über allem die nassen, zerzausten Haare.

Seine Hände am Kragen des Blazers. Als würde er mich festhalten.

Ich spüre Joeys ganzes, kraftvolles Wesen.

Es ist, als ob mich seine Energie beinahe zerreißen würde.

Mich, den Ballast, den Kerl, der ihm eigentlich nur Ärger gemacht hat.
 

„Du bist kein Kaugummi unter irgendeiner Sohle! Merk dir das! Und genauso wenig bist du auf einen Nutzen herunter zu reduzieren, ohne den du nicht mehr existieren darfst. Von wegen ich bräuchte dich nicht mehr und all der Quatsch!“

Mein bester Freund bekommt beim Reden noch heißere Wangen.

Irgendwo zwischen seinem süßen Atem, der mir warm entgegenschlägt und seinen Worten im Wind versuche ich mich zu erinnern, wann wir das letzte Mal so nahe beieinander waren.
 

„Du bist mein Freund!“ , redet Joey sich mit erregtem Tonfall in Rage. Seine Hände krallen sich in den Kragen, zerknittern ihn.

„Mein bester Freund. Und nur weil wir Mist gebaut haben und nicht fähig waren, miteinander zu reden, werde ich dich ganz bestimmt nicht einfach so abhauen lassen! Da hast du dich geschnitten!“
 

Perplex gucke ich ihn an.

Irgendwie sind meine Hände hochgewandert, liegen plötzlich auf seinen nackten Unterarmen. Vielleicht um ihn daran zu hindern, allzu fest an seinem Blazer herumzuknittern. Joey kann doch nicht bügeln, er würde sich wieder furchtbar aufregen, wenn er wegen mir das Bügeleisen einmal zuviel raussuchen müsste.
 

„Und wie kommst du eigentlich dazu, unsere Freundschaft als bloße Angewohnheit zu bezeichnen?“ , ereifert er sich. Seine Stimme ist laut geworden. Zum einen, weil der Regen noch stärker geworden ist und jetzt mit lautem, rauschendem Knallen auf das Überdach hämmert, unter dem wir stehen. Zum anderen....ja, warum..?

„Das macht mich richtig sauer, Tris´! Man kauft sich aus Angewohnheit jeden Tag eine Zeitung oder man gewöhnt sich an, Sport zu treiben. Man gewöhnt sich, wenn man gut ist, das Rauchen ab. Aber das, was wir hier haben...wie kannst du dazu `Angewohnheit´ sagen!?“
 

Ich weiß nicht, was genau es ist, was da mit einem Mal in meinen Augen brennt.

Ob es Tränen der Rührung sind oder ob ich Regentropfen ins Auge bekommen habe. Oder weil ich allergisch gegen irgendwas reagiere.

Alles, was ich weiß, ist, dass in mir so etwas wie ein Widerstand zerbricht. Joeys Leuchten steckt mich an.

Und als ich ihn einfach, um ihn zu beruhigen, in meine Arme ziehe, habe ich eine Sekunde lang die Empfindung an seiner Kraft zu zerbrechen. Bis ich merke, wie sie in mich übergeht und mich von innen zu wärmen beginnt.

Dieser Moment ist so surreal, dass ich insgeheim auf fliegende Schweine warte, auf das berühmt-berüchtigte Kaninchen, welches keine Zeit hat und im nächsten Gully verschwindet.

Doch nichts dergleichen passiert.
 

„Tut mir Leid...“, flüstere ich ganz leise in das Ohr meines besten Freundes.

„Du weißt doch...ich war noch nie so gut mit Worten.“
 

All das hier...Dieses theatralische Gespräch bei Sommergewitter, mein wild schlagendes Herz, meine endlose Verwirrung... das hat alles scheinbar doch nichts mit puren Gewohnheiten zu tun.
 

Ich halte Joey fest in den Armen und spüre mich in ihm reflektieren, fast als hätte ich einen Spiegel wiedergefunden, den ich lange vermisste. Die Nervosität ist verflogen. Ich ruhe wieder ganz in mir. Als ob jemand meine Gefühle schärfer gestellt hätte.

Jetzt fehlt eigentlich nur noch dass der Himmel sich auftut und Engel singen; „Na endlich, der Trottel hat´s geschafft!“
 

So warm ist Joeys weiche Wange, als ich ganz vorsichtig einen Kuss der Versöhnlichkeit darauf setze. Nicht so rüpelhaft, nicht so feucht, nicht so unbewusst wie vorgestern Nacht.

Sondern vielmehr mit der Kraft aller meiner Nervenenden.

„Es tut mir Leid, Joey“, murmele ich gedankenversunken und spüre seinen auf meinem Brustkorb abgelegten Kopf. Mit den Haarsträhnchen, die mich kalt und nass kitzeln.

„Es tut mir alles echt furchtbar Leid...“
 

Nein. Mit Angewohnheiten hat das alles nichts zu tun.
 

„Hör endlich auf damit, du Idiot.“

Und Joey schiebt seine Hände unter den Blazer. Unter mein T-Shirt, über meinen nackten Rücken. Ganz langsam, in einer allessagenden Geste. Seine kalten Fingerspitzen jagen mir Schauer durch den ganzen Körper.

„Steck deine Energie lieber in die Aktion, mich zu wärmen.“

Seine helle Stimme klingt rauh und wohlig.

„Mir ist scheiße kalt.“
 

Da muss ich lächeln.

„Wer, sagtest du, ist von uns beiden die Frostbeule?“

Und ich ziehe ihn noch näher an mich heran, bedecke ihn mit beiden offenen Enden des Blazers so gut es geht. Schließe ihn förmlich in mir ein.
 

Es war vielmehr Sehnsucht.
 

~~~*~~~
 

„Igitt, sag bloß, du lässt die Cola immer noch abstehen, bevor du sie trinkst!“

Joey hebt ein Bein übertrieben hoch an, steigt über einen Kabelwust, der vom Fernseher bis zur Couch führt und stellt eine Schüssel mit Chips auf den kleinen, dreckigen Tisch vor uns.

Mit angewidert verzogenem Gesicht verfolgt er mit den Augen die Neigung der Flasche, die immer größer wird.

Bis er in ein glucksendes Lachen ausbricht;

„Tris´, du bist echt der ekligste Kerl auf der ganzen Welt!“

„Bloß, weil ich einen eigenen Geschmack entwickelt habe?“,

keuche ich, nach Luft schnappend, als ich die Cola absetze.

„Ja, genau!“

Mein bester Freund hebt einen Zeigefinger, steigt über den Kabeldschungel zurück und wendet sich der Tür zu, von der es schon zum dritten Mal schellt.

Seine nackten Füße tapsen samtig über meinen Teppich.

„Cola ist nur gut, wenn sie dir beim Schlucken den Rachen wegätzt! Denn dann ist die Mischung aus Kohlensäure, Koffein und Zucker perfekt!“, skandiert er.
 

Es tut gut, mich zur Abwechslung mal wieder in Situationen wieder zu finden, die mir bekannt sind. Joeys Colaspruch kann ich ja beinahe mitsprechen. Er beruhigt mich, weil er zeigt, dass zwischen meinem besten Freund und mir trotz der letzten, kurzen Zeit des Schweigens noch immer diese Nähe besteht.

Oder schon wieder.
 

Dieser Tag letztens im Gewitter war zurückblickend einfach nur ätzend. Nicht wegen Joey, nein. Sondern weil wir, wie es mir vorkam, stundenlang in diesem versifften Hauseingang standen, einander immer wieder irgendwie beteuert haben, wie Leid es uns doch tut. Und das nachdem Joey zu mir sagte, ich solle damit aufhören, selber aber wieder damit anfing. Wir haben uns so weit hochgeschaukelt mit unseren wehleidigen `Sorry`s, bis ich irgendwann im Eifer des Gefechts wirklich Tränen in den Augen hatte (ich gebe zu, die Situation war weit weniger herzergreifend als es den Anschein hat, aber ich habe weiß Gott auch schon bei `Susi und Strolch´ geheult. Allerdings war ich da jünger) und Joey, um mich aufzumuntern, einen den Mond anheulenden Hund nachahmte.
 

Wir haben noch einmal darüber gesprochen. Über sein Ausweichen. Über mein Schöngrinsen.

Darüber, dass ich mich von ihm ziemlich in der Klemme gelassen fühlte. Serenity war auch ein Thema.

Jetzt weiß ich, dass Joeys Faust im Magen nicht gerade gut tut. Ich bin allerdings selbst Schuld, nachdem ich so lange darum gebettelt habe, dass er sich seiner Wut über meinen Verschiss bei seiner Schwester doch endlich mal Luft machen soll. Zwar hätte ich beinahe gekotzt, aber seltsamerweise fühlte ich mich zu Joey danach wieder ein Stück versöhnter.

Was soll ich sagen; wir regeln die Dinge eben so. Wir sind Typen.
 

Worüber wir, um beim Thema zu bleiben, nicht reden, ist das Küssen. Naja, küssen ist zuviel gesagt. Einmal ein Bussi hier und ein Knutscher da. Obwohl ich das Wort `Bussi´ hasse. Manchmal stehen wir einfach nur in der Gegend rum, weil wir auf den Bus warten oder uns grade das Gesprächsthema ausgegangen ist. Und ganz manchmal geschieht es dann eben. Wenn wir so ganz allein sind. Wer uns gut genug kennt, weiß also, dass das Küssen nicht oft passiert. Das würde mir auch ernsthaft Sorgen machen.

Sollte es.

Es ist ein ganz neuer Aspekt in unserer Freundschaft.

Freundschaft?
 

„Tea und Yûgi sind da!“, hallt Joeys Stimme aus dem Eingangsbereich.

„Und sie haben was mitgebracht!“

Mit diesem wissenden Grinsen bugsiert er drei Gestalten in mein Wohnzimmer, die sich alsbald ebenfalls nach und nach im Kabelsalat verfangen.

Zum ersten Yûgi, zum zweiten Tea mit neuem rosa Pullover, der gewisse Stellen besonders betont.

„Ich hab mich verstrickt!“, ermahnt sich mich denn auch sofort, als sie bemerkt, wie mein Blick ganz schnell von ihrem Gesicht in Richtung Brustbein gleitet.

„Starr da nicht so drauf!“
 

Serenity ist nicht gekommen. Man muss dazu wissen, dass ich sie eingeladen habe.

Heute Früh kam eine Email von ihr.

Es sei nicht so leicht, hat sie gesagt. Sie könne einfach nicht vergessen, was war.

Über allem throne eine Sehnsucht, die sie nicht erklären könne.

Es ist erstaunlich, dass sie, obwohl sie ein paar Jahre jünger ist als ich, die Dinger scheinbar viel schneller begreift als ich.

Ich kann nichts weiter tun als ihr Zeit zu geben. Und zu hoffen, dass es vielleicht doch wieder so wie vorher wird. Wenigstens ein bisschen.
 

Die dritte Gestalt ist der Pizzajunge. Wie immer zu spät- die Pizzen werden bereits lauwarm sein- wie immer mit rotem Basecap, die er nur ganz vorsichtig auf den Kopf gelegt hat, um sein eingegeltes, blondes Haar, welches in Igelstacheln absteht, nicht zu ruinieren. Gepaart mit den weiten Jeans, deren Hosenenden er sich in die Socken gesteckt hat, wirkt das mehr als proletenhaft. Ich rümpfe demonstrativ mein zartes Näschen.

„Drei Käsepizza mit Peperoni und Anchovis.“, nuschelt er mich mühselig an.

Nimmt Schwung und...

Peng, da knallen die Schachteln so gekonnt auf meine Tischplatte, dass ich den Käse wahrscheinlich nachher wieder neu rauflegen darf.
 

„Macht 3590 Yen dann!“ Er rückt an seiner doofen Kappe herum, mit der er sich wohl ganz cool vorkommt.

“Und vergiss das Trinkgeld nicht, Kumpel!“
 

Joey kichert bereits.

Und auch ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen, als ich ihm genau 3590 Yen in kleinen Scheinchen rüberreiche.

„Nachdem ich mir meine Pizza wieder neu zusammenbauen darf?“, brumme ich amüsiert.

„Nee, vergiss es, Alter!“

Sein Gesicht zerknautscht sich wie bei diesen Kinderspielzeugen, die im Prinzip nur Luftballons gefüllt mit Sand sind. Wenn man mit den Fingern daran herummodelliert, bekommt man wahre Frankenstein-Monster heraus.

„Ey komm, ich war diesmal richtig schnell!“ , fordert er.

„Stimmt.“, gebe ich zurück und rieche an einer Schachtel.

„Diesmal sind die Pizzen noch nicht ganz kalt. Du solltest mal wieder an deinem Timing arbeiten!“

„Tze!“, macht er, zerrt an seiner Strampelhose herum, macht eine Kehrtwende auf dem Hacken und trampelt übertrieben aus meinem Wohnzimmer.

„Du Geizarsch!“

Unter Joeys lautem Beifall verlässt er ein weiteres Mal ohne Trinkgeld meine Wohnung.

Wahrscheinlich wird er noch fluchen bis zum Auto unten. Und das muss schon was heißen, denn ich lebe schließlich im elften Stock.

Aber ich weiß genau, eigentlich mögen wir uns.
 

Angewohnheiten braucht man manchmal. Um den Überblick nicht zu verlieren. Es bringt Ordnung in das Leben, sodass es einem nicht so verdammt groß erscheint. Man braucht Angewohnheiten um die meiste Zeit zu verdrängen, dass man nichts anderes ist als eine Nadel in einem Heuhaufen, nach der allerdings niemand sucht.
 

Warum ich die Macht der Gewohnheit mit purer Sehnsucht verwechselt habe, wundert mich jetzt nicht mehr. Ich habe das eben wahrscheinlich nie anders gelernt. Was Sehnsucht bedeutet mit all ihren Facetten muss ein Mensch wahrscheinlich lernen; so wie er lesen lernen muss. Wenn man das Gefühl hat und nicht weiß, was man damit anfangen soll, ist man ganz schön angeschissen.
 

„Hey, dann können wir ja anfangen!“

Joey macht es sich neben mir auf der Couch bequem. Es ist so eng, dass ich ab und an das Gefühl habe, unsere Hüften kleben aneinander. Aber das macht nichts.

Zum Glück braucht er mich doch noch, denke ich erleichtert, als mein bester Freund die erste Pizzaschachtel aufstößt, gierig erste Happen nimmt und dann mit käsefettigen Fingern sein Colaglas nimmt.

Zum Glück sind wir noch immer beieinander.

Gewissermaßen bin ich doch so etwas wie der Kaugummi unter seiner Schuhsohle.

Irgendwann hat er mich mal eingetreten. Damals merkte er das vielleicht nicht unbedingt.

Aber seitdem klebe ich an ihm wie alter Kautschuk und werde ihn auch nicht einfach loslassen. Nicht mal, wenn ich´s wollte.

Der Mensch, den ich früher aus Bewunderung nachahmen wollte, ist mir jetzt so nahe wie ein Freund nur sein kann.

Und das hat etwas, wie Yûgi sagen würde, Wunderbares.
 

„Joey, mach dein Glas doch nicht schmutzig!“, rufe ich und knuffe ihn an; was nicht schwer ist, weil ich ihm ja praktisch schon fast auf dem Schoß sitze.

„Du schmierst deine Fettgrabschen noch an mein Mobiliar!“

Seine Augen sind so groß und hell, dass ich mich in ihnen glatt verliere, anstatt auf den Bildschirm zu schauen. Yûgi traktiert meine Elfenkämpferin gerade schonungslos.

„Pass du mal lieber auf, dass du nicht verlierst!“ , entgegnet er, ohne den Blick von mir zu nehmen.

„Liebe Tea, gib mir doch bitte mal eine Serviette!“
 

Nachmittage wie dieser sind so abartig banal, dass mich einer wie zum Beispiel Seto Kaiba dafür auslachen würde, dass ich das hier als wertvolles Gut bezeichne.

Aber ich kann nichts dafür. Ich bin froh über jede dieser Sekunden.

Der springende Punkt ist vielleicht auch, sich gerade nicht daran zu gewöhnen.

Was man als Gewohnheit sieht, wird manchmal farblos und tot.
 

„Mensch, Tris´, was ist denn mit dir los?!“

Joey schmiegt sich noch näher an mich um das Videospiel auf dem Fernseher besser verfolgen zu können.

„Du lässt dich von Yûgi einfach so kalt machen?“

Seine Augen fixieren die jämmerliche Gestalt meiner Kampfelfe, der gerade von Yûgis Steinkrieger die Flügel ausgerissen werden.

Siehe da- hat unser kleiner Engel Yûgi am Ende doch eine Art dunkle Seite, die er in Spielen auslebt?

„Warte, lass mich dir mal helfen!“
 

Er schiebt meine eine Hand von der linken Seite der Kontrollknöpfe und ersetzt sie durch seine.

Und sanft legt er den rechten Arm um mich, als wollte er mich festhalten, als ob ich sonst wegwehen würde.

Ich spüre die Wärme, die von ihm in mich übergeht wie durch ein Heizkissen.
 

Gemeinsam spielen wir gegen Yûgi. Hibbelnd, kreischend, johlend, jauchzend.

Koordinieren können wir unsere Bewegungen zwar überhaupt nicht. Doch es ist ein komisches Gefühl, mit Joey sozusagen eins zu sein.

Wenn ich springe, attackiert er.

Wenn ich zurückweiche, geht er in den Abwehrmodus und blockt die Schläge und Tritte unseres Gegners.
 

Ja, das ist es.

Genau so muss es sein.

Da ist plötzlich nichts mehr, was uns auseinanderreißen kann.

Zumindest scheint es so.
 

Während draußen eine weitere laue Sommernacht anbricht, die Pizza ganz kalt wird und Tea uns ermahnt, die Nachtruhe doch bitte einzuhalten, indem wir nicht so laut schreien mögen;

verlieren wir haushoch gegen Yûgi.

Aber das macht rein gar nichts.
 

Es könnte immer so sein.

Wenn ich mich nicht allzu sehr daran gewöhne.
 

ENDE

...und Anfang..



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Kemet
2015-05-11T15:43:13+00:00 11.05.2015 17:43
So schön authentisch, wenngleich ich mich bei der Pairringwahl Nightprincess komplett anschliessen kann. Aber hey, sogar Kaiba ist derart Kaiba, dass das schon passt.
Im Allgemeinen bin ich überrascht, wie gut Tristan /Honda in eine solche Fanfic passt. Während Kaiba und Joey ein jeweiliges Extrem symbolisieren, steht Honda fast für das Normale, was es schon wieder zu etwas wahrlich knuffigen macht.

Jedenfalls schöne Fanfic!

LG
Von:  Larii
2006-12-31T10:16:01+00:00 31.12.2006 11:16
waaaaah ich liebe deine ff ^^
ich find joeyxtristan hat was, es muss in den fanfics um die beiden nicht unbedingt um liebe gehen, es ist einfach schön wenns auch um freundschaft geht, und das sie jetzt nicht mehr nur zu zweit sind, und das ganze..
das tristan sich nicht mehr dazugehörig fühlt,...
ich mags fanfics die sich um dieses thema drehen, und leider gibt es davon viel zu wenige -__-
deswegen war ich voll happy als ich die hier gefunden habe ^^
ich mag deinen schreibstil, er is schön zu lesen.
ich schau jetz mal was du noch so geschrieben hast ^__^
lari
Von:  Nightprincess
2006-09-11T15:10:34+00:00 11.09.2006 17:10
Eigentlich bin ich ja ein SetoxJoey-Fan, aber das Paar JoeyxTristan hat etwas Faszinierendes an sich, weshalb ich ich diese FF auch super cool finde. Du hast Tristan wirklich gut geschrieben und diese ganze Verzweiflung, diese Sache mit den Angewohnheiten, die eigentlich nur Sehnsucht war. Ich finds wirklich gut, wie Du das alles beschrieben hast und auch diese ganzen Situationen mit Serenity und Yûgi und die Sache mit den Pillen. Irgendwie kann ich mit Tristen wirklich gut als den Typ vorstellen, der in seiner Verzweiflung versucht, seine verwirrenden Gedanken, mit sowas wie kleinen Pillen und Alkohol zu betäuben, weil er plötzlich keinen Joey mehr um sich hat, der ihn irgendwie aufbaut, weil der viel zu oft mit Yûgi rumhängt. Also wie gesagt, ich find die FF spitze.

Gruß Carola


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