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Anime Evolution: Past

Dritte Staffel
von

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Sonnenfeuer

1.

Drei Tage waren vergangen, seitdem ich die Erde erobert habe. Drei lange Tage, in denen ich gebangt, gehofft und gezittert habe. Einerseits weil ich eine abschlägige Antwort von der Erde befürchtete – illusorisch, solange der Kontakt per überlichtschneller Kommunikation noch nicht bis nach Nag reichte – andererseits, weil die Mühlen der Justiz nun zu mahlen begannen und den speziellen Fall vor dem Hohen Gericht der Häuser verhandelte.

Im Prinzip hatte ich mich an imperialem Eigentum vergriffen und zudem an Eigentum des großen Hauses Elwenfelt.

Die besten Richter und Rechtswissenschaftler des Imperiums prüften nun schon den dritten Tag die Zulässigkeit meiner Aktionen. Oder um es mal banal auszudrücken, sie prüften, ob ich die Erde überhaupt erobern konnte.

Wurde mir, mir direkt die Erde und damit das gesamte Sonnensystem als persönliches Lehen von der höchsten Instanz des Gerichts zuerkannt, hatte ich gute Chancen, dass auch die terranischen Eroberungen im Kanto-System anerkannt wurden, da diese während des Krieges erfolgt waren.

Das Kriegsrecht war übrigens nicht weniger komplex als das Zivilrecht, und die ersten beiden Tage hatten die Rechtswissenschaftler versucht zu interpretieren, auf welchen Aspekt Kriegsrecht und auf welchen ziviles Recht anzuwenden war.

Drei Tage waren vergangen, in denen Joan ihr erstes Konzert gegeben hatte – brav in einer Live-Sendung im hiesigen Holovid, allerdings mit einer traumhaften Einschaltquote von siebzig Komma drei Prozent bei den neunzehn- bis zweihundertelfjährigen.

Drei Tage waren vergangen, in denen es einen offenen Attentatsversuch auf mich gab. Sowie drei weitere, die meiner Person als Ziel nicht genau zugeordnet werden konnten.

Wenn ich jemals begriffen hatte, was die großen Häuser ausmachte, wenn ich jemals verstanden hatte, was sich unterhalb der Spitze, auf der ich als offizieller Erbe des Hauses Arogad stand, abspielte, dann jetzt. Genau jetzt.

Ich wollte hier nicht bleiben. Ich wollte hier wieder weg. Das Kriegsgericht fiel aus, Joan Reilley drohte hier ein ebensolcher Star zu werden wie auf der Erde, dem Mars, auf Lorania, der AURORA, meine Freunde waren über die verschiedensten Systeme verstreut.

Und man versuchte mich umzubringen.
 

Nachdenklich betrachtete ich die junge Frau, die reglos neben dem Fenster stand. Ihre braunen Haare waren kurz geschnitten und trugen einen raffinierten Scheitel. Ihr schmales Gesicht war hübsch, wenngleich die Nase etwas spitz wirkte. Ihre Augen hatten eine rosa Färbung, die gut zu den gebräunten Wangen passte. Sie war fast so groß wie ich und kleine Lachfältchen waren in ihren Augenwinkeln zu finden. Ihr allgemeines Erscheinungsbild ließ mich sie unter athletisch einordnen – athletisch mit großem Vorbau.

Ich schmunzelte bei diesem Gedanken.

„Aris-sama?“, fragte sie mit unbewegter Miene in meine Richtung.

„Schon gut, Sora. Ich habe nur nachgedacht.“

Ihre harte Miene weichte auf, machte einem amüsierten Lächeln Platz. „Woran hast du gedacht, Aris-sama?“

„Nicht daran, wie wir uns das erste Mal begegnet sind, Sora.“

Die junge Frau wurde rot. Sie war fast fünfzig Jahre alt, aber bedingt durch das genetische Erbe der Naguad wirkte sie wie Anfang zwanzig. Wenn man die aktuellen Werte der Naguad als Grundlage nahm, dann war sie gerade in dem Alter, in dem man in dieser Gesellschaft ernst genug genommen wurde um Verantwortung zu übernehmen – Ausnahmen wie ich eine war mal nicht berücksichtigt.

„So, woran hast du dann gedacht, Aris-sama?“ fragte sie mit einem gefährlich kalten Grinsen, huschte hinter die Couch, auf der ich saß und nahm mich in einen liebevollen Schwitzkasten.

Ich meine, der Schwitzkasten war wirklich liebevoll. Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas geben könnte.

„Ich habe daran gedacht, wie vielen Männern du schon das Herz gebrochen hast, Sora.“

Übergangslos ließ sie mich los. „So. Daran also.“

„Hey, so habe ich das nicht gemeint. Sora, ich würde doch nie… Sora?“

Sie beugte sich herab und sah mir lächelnd in die Augen. „Hast du geglaubt, ich schmolle, Aris-sama? Ich doch nicht. Und damit du es nur weißt, ich breche keiner Männerherzen.“

Ihre Wangen röteten sich. „Das einzige Männerherz, das ich brechen will, ist nämlich deins… A-ki-ra-sa-ma!“

Ich spürte, wie sich meine Haarspitzen aufluden. „Sora, d-das…“
 

„Na, spielt ihr zwei wieder?“ erklang Joans Stimme vom Eingang her. Sie kam zur Couchecke herüber und ließ sich erschöpft darauf fallen. „Wenn euch jemand so sehen würde, könnte er glatt auf falsche Ideen kommen, oder?“

„Aber ich mag es doch so, ihn zu necken“, maulte Sora und zog einen Schmollmund. „Das macht so einen Spaß.“

Joan begann zu strahlen. „Ja, das stimmt. Das macht wirklich einen Riesenspaß.“

Mit einem schnellen Sprung rettete ich mich von der Sitzecke. „Mädels, könnt ihr das nicht mal lassen? Ich bin auch nur ein Mann!“

„Das kann ich nur bestätigen, Aki-chan“, schmunzelte Joan.

„Das kann doch nicht wahr sein! Franlin, rette mich!“

„Entschuldigen Sie, Sir, aber es wäre Selbstmord, zwischen Sie und eine Fioran-Assasinin und Joan Reilley zu treten“, entschuldigte sich mein Sekretär und trat mit einem dünnen Schmunzeln drei Schritte zur Tür.

„Verräter“, brummte ich und unterdrückte ein Schmunzeln.
 

Fioran-Assasinin. Das war Sora in der Tat. Geboren auf der Erde war sie irgendwann mit einem der Arogad-Schiffe zurück in die Heimat geflogen worden, hatte hier ihre Ausbildung erhalten und war in die Elite der Fioran aufgestiegen, die Assasinen. Eine Karriere, die ihr auf der Erde Anfang der Sechziger absolut unmöglich gewesen wäre.

Ich erinnerte mich noch gut an unser erstes Zusammentreffen. Wie sie sich in mein Appartement geschlichen hatte, vorbei an allen Wachen, allen Sicherheitsvorkehrungen, sogar an Mutter, bis sie an meinem Bett stand.

Ich hatte einen Dolchstoß erwartet, einen KI-Angriff, aber nicht, dass sie mit leiser Stimme feststellen würde, dass ich wach war. Und erst recht nicht ihren Kniefall und die Bitte, in meinen Dienst aufgenommen zu werden.

Allerdings, der wirkliche Hammer war die Erklärung gewesen, meine entfernte Cousine zu sein, genauer gesagt die Tochter eines Cousins von Opa Michael.

„Hört mal, hört mal“, sagte ich und hob abwehrend die Hände, während die Frauen auf mich zukamen, „wollen wir das nicht mal in Ruhe besprechen und…“

„Akira!“

Erschrocken fuhr ich zusammen, als direkt neben mir meine Mutter materialisierte. Genauer gesagt projizierte sie ein Hologramm ihrer Selbst, denn ihr Leib ruhte irgendwo in den Eingeweiden des Arogad-Turms in einem Biotank und unterlief intensive Reparaturen.

Auf der Erde hatte sie ein Auto angefahren und fast getötet. Eine Sache, die einer KI-Meisterin niemals unterlaufen sollte. Ihre Synapsen waren schwer geschädigt worden, ich kannte nicht alle Details, aber ihr Schädel und damit das Gehirn hatten eine schwere Penetration hinnehmen müssen. Genug um sie ins Koma zu versetzen.

Als abzusehen war, dass sie auf der Erde sterben würde, hatten Oma, Opa und Eikichi sie in einem Biotank nach Hause geschickt, hierher in den Turm, eine der besten Kliniken des Imperiums. Dort war ihr Biotank vernetzt worden, ihr Geist war erwacht und nach und nach hatte sie als guter Geist die Funktionen des Turms übernommen.

Ich wusste nicht, wie weit die Reparatur ihres Körpers fortgeschritten war, aber ich hoffte, sie in diesem Leben noch einmal in meine Arme schließen zu können.

„Akira!“ sagte sie wieder und ihr ernstes Gesicht ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken fahren. „Wir haben eine neue Situation.“

„Was für eine Situation?“

Über dem Couchtisch entstand ein Hologramm. Es zeigte den Raumhafen. Dort landete gerade eine imperiale Fregatte. Deutlich las ich den Schiffsnamen, der in Nag-Alev auf den Bug geschrieben worden war: TAUMARA.

„Das war vor zwei Stunden“, sagte sie ernst. Das Hologramm wechselte und zeigte ein paar Personen, die das Schiff über eine Gangway verließen. Ich erkannte Yohko-chan, Yoshi, Oma Eri.

Erleichtert atmete ich aus. „Eri ist da? Ich weiß nicht, wie sie es in dieses System geschafft haben, vor allem nicht mit einer gestohlenen Fregatte, aber wenn sie hier ist, dann lässt mir Oren vielleicht etwas Luft und hört auf zu rufen: Du bist der Erbe, Aris. Du bist der Erbe, Aris.“

Ich sah Mutter an. „Das sind doch recht erfreuliche Nachrichten, oder? Warum guckst du dann so griesgrämig.“ Mitfühlend streckte ich eine Hand nach dem Hologramm meiner Mutter aus. „Hast du vielleicht Angst, Yohko zu begegnen? Also, ich kann nur sagen, ich bin unendlich erleichtert, meine Freunde wieder zu sehen. Sogar Aria ist dabei, da erscheint mir alles viel leichter zu sein.

Ist was, Joan?“

„Mako kommt nicht aus dem Schiff. Er ist nicht mitgekommen. Das da ist eine Rettungsaktion, oder? Und er ist nicht dabei um mich zu holen.“ Frustriert blies die junge Frau die Wangen auf.

„Was erwartest du? Er war für die Koordination der Verteidigung von Lorania vorgesehen. Genau diesen Job wird er wohl gerade machen.“

„Ja, schon, das sehe ich ja auch ein, aber ich finde es ungerecht. Immerhin ist sogar Megumi mitgekommen, um dich zu holen.“

Ich winkte ab. „So ein Käse. Megumi ist die Oberkommandierende der Hekatoncheiren, zumindest der Regimenter Kottos und Briareos. Sie ist viel zu verantwortungsbewusst, um ihren Posten im Stich zu lassen. Für nichts in diesem Universum würde sie das tun.“

„Ach. Und wie erklärst du dir das dann?“, rief Joan anklagend und deutete auf das Hologramm. „Glaubst du vielleicht, da kommt gerade Jora Kalis die Rampe runter?“

Entsetzt starrte ich auf die dreidimensionale Abbildung. Der Haarschnitt und die Farbe riefen Jora bei der jungen Frau, die sich neben Yoshi gesellte. Aber die Augen sagten deutlich, überdeutlich, wer das da war.

Ich schluckte hart. Schweiß brach mir aus und meine Knie begannen zu zittern. „Kann bitte mal jemand schnell einen Krieg anfangen?“
 

Sora trat an das Hologramm heran und musterte die Angetretenen, die von Mitgliedern des Hauses Arogad empfangen wurden. „So, so. Das ist also deine Freundin, hm? So einen guten Geschmack hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

Sie trat neben mich, nahm mich wieder in den liebevollen Schwitzkasten – was ihre Geschwindigkeit betraf hätte ich nur mithalten können, wenn ich mein KI aufgedreht hätte, weit, weit aufgedreht hätte – und ließ ihre Rechte auf meiner Schläfe rotieren. „Ein Renegat, ein Räuber und ein Frauenheld. Du bist mir ja einer. Was kommt als Nächstes? Ein eigenes Imperium?“

„Lass das bitte. Die Lage ist ernst“, sagte ich bitter.

„Was ist denn ernst? Das da ist deine Freundin. Sie ist gekommen um dich zu retten, obwohl sie bei ihrem Aufbruch noch nicht einmal ahnen konnte, wie sehr sich hier alles zum Guten für dich entwickeln würde. Sie ist jetzt hier und wenn ich du wäre würde ich zum Raumhafen stürzen und ihr in die Arme fallen.“

„D-das ist nicht so einfach. Ich habe mit Joan geschlafen und…“

„Ach, DIE Geschichte schon wieder. Ihr Menschen mit eurem unterentwickelten Sozialverhalten. So was passiert halt. Das hat nichts mit Treue und Partnerschaft zu tun, nur mit Freundschaft, Vertrauen und tiefer Zuneigung. Muss ich dir das erst noch erklären?“

„Ist ja nett, dass du das so siehst, aber ich habe keine Ahnung, wie Megumi das aufnimmt.“ Ich sah zu Joan herüber. „Und ich weiß nicht einmal ansatzweise, wie es in dir aussieht.“
 

Die Poplegende erhob sich, kam zu uns herüber. Sie lächelte mich an und streichelte mit der Rechten sanft meine Wange. Nur für einen Moment, dann traf mich ein Schlag, der einen meiner Weisheitszähne lockerte. „Na was wohl? Ich bin natürlich sauer, weil du mich so schnell fallen lassen wirst, um dich in Megumis Arme zu stürzen.“

Ihr Blick bekam etwas dämonisches, ihr Gesicht kam meinem sehr, sehr nahe und kleine Blitze schienen aus ihren Augen zu schießen. „Du wirst doch sofort da raus fliegen und ihr in die Arme stürzen, oder?“

Der Schwitzkasten wurde ein wenig enger. „Oder müssen wir da ein wenig nachhelfen, Aris-sama?“

Ich senkte den Blick und schloss die Augen. Verdammt, gerade hatte ich mir noch einen schnellen Kriegsausbruch gewünscht, um… Ja, um was? Um ihr auszuweichen. Der Frau, für die ich beständig mein Leben riskiert hatte? Für die ich bereits einmal gestorben war?

Eine nie gekannte Wärme durchflutete mich, Tränen strömten aus meinen Augen und meine Haut begann zu prickeln. Ich liebte sie. Ja, definitiv, ich liebte sie, mit jeder Faser meines Körpers. Sie hatte ein Recht, alles zu wissen. Und sie hatte ein Recht, mich sofort zu sehen.
 

Ich öffnete meine Augen wieder, sah hoch. „Franlin, ich… Was macht Ihr alle auf dem Boden? Mutter, warum siehst du mich so entsetzt an?“

„Akira Otomo, bist du dir darüber im Klaren, dass du gerade eine AO-Schockwelle emissiert hast, die alle hier im Raum von den Füßen gehoben hat? Mein Hologramm wurde zerstört. Ich musste es neu aufbauen. Und ich glaube, auf dem Flur sind die Leute auch umgefallen wie die Fliegen.“

Ächzend kam Joan wieder hoch. „Ich bin zwei Meter weit geflogen. Und wenn die Couch nicht im Weg gewesen wäre… Was war das?“

„Und mich hat die Wand gestoppt. Aris, verdammt, warne uns doch bitte das nächste Mal vor. Oder noch besser, lass es. Warum hast du so einem Impuls abgegeben? Das ist ja lebensbedrohlich“, tadelte Sora mich ernst, während sie sich den schmerzenden Kopf hielt. Na wenigstens hatte sie die Wand nicht durchschlagen.

„Sir, wie haben Sie das gemacht? Selbst AO-Meister des Ordens brauchen für so eine Attacke eine gewisse Vorbereitung oder eine besondere Stimulans.“

„Dann ist alles klar“, schmunzelte Joan. „Megumi, hm? Du hast an Megumi gedacht. Und dann ging diese Schockwelle los. Verdammt, deutlicher hättest du die Rangfolge nicht aufzeigen können. Franlin!“

„Mylady?“

„Machen Sie sofort einen Gleiter fertig. Akira fliegt sofort zum Raumhafen ab. Oder reicht dir ein Besen, den du auflädst?“ Sie legte den Kopf auf die Seite und lächelte mich mit zusammen gekniffenen Augen an. „Abgesehen davon komme ich natürlich mit.“

„Ja, du hast Recht. Ich fliege sofort ab. Ihr kommt alle mit. Und jemand soll sofort Henry im Keller Bescheid sagen. Er begleitet uns auch.“

„Akira, warte. Da ist noch ein Problem.“ Mutter ließ das Hologramm über dem Tisch neu entstehen. Wieder wurde der Raumhafen gezeigt. Nur hatte sich die Szene entscheidend verändert. Um meine Freunde und die wenigen Arogad, die sie in Empfang genommen hatten, hatte sich eine große Gruppe Männer und Frauen gruppiert und definitiv eingeschlossen.

„Es sieht ganz so aus, als wolle Haus Daness nicht, dass Megumi unter die Fittiche der Arogad kommt.“

Daness? Natürlich. Jora Kalis war aus Haus Daness. Und Megumi auf irgendwelchen vertrackten Umwegen auch, alleine deshalb hatten die Naguad damals den Versuch wagen können, Jora als Megumi auszugeben. Ich ballte die Hände zu Fäusten.

Daness hin, Daness her. Niemand zwang meine Freundin zu irgendetwas. Nicht, wenn ich es verhindern konnte.

„Also los, gehen wir!“

**

„Ich bin Eridia Arogad, und dies sind meine Untergebenen. Ich wiederhole zum letzten Mal: Lassen Sie uns passieren, Vern Attori!“

Wütend starrte Oma den fremden Mann im schwarzen Geschäftsanzug nieder, doch der hielt dagegen. „Natürlich dürfen Sie gehen wohin Sie wollen, Admiral. Niemand hindert Sie. Aber ich muß darauf bestehen, dass Lady Daness uns begleitet. Wir können und wir dürfen sie nicht in den Arogad-Turm gehen lassen. Nicht, dass ich glaube ihr könnte dort etwas passieren, auch wenn gerade besonders viele Fioran-Attentäter bei den Arogad sind.“

Was Vern Attori damit sagen wollte, war klar. Er traute Oma und ihren Absichten nicht einen Meter weit.

Attori verneigte sich leicht vor Megumi. „Mylady. Wir hatten mit Jora Kalis gerechnet, wie es die Geheimdienstberichte aus dem Kanto-System berichtet haben. Aber nicht mit euch, Megumi Solia Daness. Bitte kommen Sie mit uns. Die Hauptfamilie erwartet Sie schon. Ihr Großvater erwartet Sie schon.“

„Moment!“ Wütend fuhr ich in den Kreis, riss die Daness-Leute auseinander und stellte mich schützend vor Megumi. „Niemand schafft hier meine Megumi ohne ihr Einverständnis fort! Ist das klar?“

„Mylord Arogad, ich weiß von Ihrer speziellen Beziehung zu Lady Daness. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass sie in ihrem eigenen Turm genauso sicher ist wie im Arogad-Turm. Nein, dort ist sie sogar noch sicherer. Außerdem ist es ihre Pflicht.“

„Ihre Pflicht, eh?“ knurrte ich wütend. „Ihre Pflicht also?“

Eine sanfte Hand berührte mich auf dem Rücken, dann spürte ich ihr ganzes Gewicht auf mir lasten, als sie sich gegen mich lehnte. „Akira, es ist gut. Dir geht es gut, Joan geht es gut. Egal was jetzt kommt, ich kann es ertragen.“

„Megumi“, flüsterte ich mit bebender Stimme.

„Dir geht es in der Tat gut. Hallo, mein Junge.“

„Oma. Yohko-chan, auf dich wartet im Arogad-Turm eine große Überraschung. Yoshi, du passt auf sie und Oma auf, klar? Und Aria, ich werbe dich hiermit für den Turm der Arogad an. Damit stehst du offiziell in meinen Diensten und bist für die Sicherheit der anderen verantwortlich.“

„Akira, Akira. Bist du nicht etwas voreilig?“, tadelte Oma. „In der Erbfolge bist du noch hinter mir und hinter Helen. Außerdem habe ich, als direkte Erbin des Ratsvorsitz, Aria Segeste schon selbst angeworben.“

Ich warf ihr einen erstaunten Blick zu. „Du beanspruchst den Posten als Erben?“

„Darum bin ich hier, unter anderem.“

„Gut“, sagte ich ernst. „Das bedeutet, ich bin jetzt die Nummer zwei und damit entbehrlich. Dann kann ich ja Megumi in den Daness-Turm begleiten.“

„Aber Meister Arogad, das…“

„Wollen Sie etwa sagen, Megumi wäre sicher, ich bin es aber nicht?“ schrie ich Attori an.

Erschrocken wich der Daness-Mann einen Schritt zurück. „Natürlich nicht, Aris Arogad.“

„Dann ist es gut. Ich gehe mit Megumi. Oder hat jemand eine bessere Idee?“

Ich sah schnell in die Runde, es gab aber keine Gegenstimmen. „Dann ist es abgemacht. Franlin, Sora, ihr zwei begleitet mich.“

„Ich werde ebenfalls mitkommen“, erklang eine Stimme von außerhalb des Kreises. Der große, breitschultrige Henry William Taylor schob sich ohne sichtliche Kraftanstrengung zwischen den Daness-Wachen hindurch und grinste in die Runde.

Yoshi zischte aufgeregt und legte sein ganzes Gewicht auf das rechte Bein, aber ich hielt ihn mit einem Wink zurück.

„Akira, das ist Taylor. Taylor!“

„Ich weiß. Und er ist in meinem Team.“

„Er ist was?“

„Ich habe ihn in mein Team aufgenommen. Genauso wie Franlin und Sora. Er untersucht die Verteilung der Daina in der Galaxis und versucht die Ursprungswelt zu ermitteln. Ach, sorry, du weißt ja vielleicht mit dem Begriff Daina nichts anzufangen und…“

„Schon gut. Das Urvolk, von dem wir alle abstammen. Eri-sama war so nett, uns allen Nachhilfe zu geben. Wie nett. Traust du ihm?“

„Mehr als Haus Daness“, erwiderte ich ernst.

Vern Attori nahm das nicht wirklich gut auf. „Also gut, ich nehme das auf meine Kappe. Außerdem garantiere ich für die Sicherheit von Meister Arogad und seinem Stab. Kommt vielleicht sonst noch jemand mit?“ Die letzten Worte ironisch ausgesprochen zu nennen wäre dreifache Ironie gewesen. Umso erstaunter war ich, als darauf tatsächlich eine Antwort kam.

„Darf ich vielleicht noch mit?“

Erstaunt wandte ich mich der Stimme zu. „Gina? Was machst du denn hier?“

Megumi erwachte aus ihrer bequemen, an meinen Rücken gepressten Haltung. „Oh. OH! OH! Schon gut, ich nehme Gina mit. Falls mir das erlaubt ist, Attori-san.“

„Natürlich, Mylady. Wenn sie zu Ihrem Stab gehört, dann ist es selbstverständlich.“
 

„Dann ist es abgemacht.“ Ich schritt aus, klopfte Yoshi noch mal auf die Schulter, strich Yohko und Aria über den Kopf und durchbrach den Kreis. Ich streckte meine Hand nach hinten aus. „Kommst du, Schatz?“

Über Megumis Gesicht glitt ein Lächeln, strahlend und herrlich. Mir stockte der Atem und unmerklich zog sich meine Kehle zu. Ich räusperte mich vernehmlich, dann folgte ich Attori und einem Teil seines Gefolges in den Gang, der uns zu ihren Maschinen bringen würde – und von dort zum Turm der Daness, der permanent in direkter Konkurrenz zu den Arogads stand. Mal Freund, mal Feind, mal vor, mal hinter ihnen. Was für ein Abenteuer.

**

Nachdenklich sah Eridia ihrem Enkel nach. Die Entwicklung hatte einen ungewöhnlichen Weg genommen, aber ehrlich gesagt hatte sie nichts anderes erwartet. Ihre schlimmste Befürchtung war wegen Piraterie verhaftet zu werden, doch Akiras Gesamtkapitulation sowie die anschließende Annexion durch den Arogad-Turm hatte das halbe Imperium paralysiert.

Die verzweifelten Blicke aller, einschließlich der Admiräle, gingen nun zu den imperialen Juristen.

Eri schmunzelte bei dem Gedanken, bedeutete er doch, dass die Strafaktion gegen Lorania aufgeschoben und im günstigsten Fall ganz abgesagt wurde.

„Eridia, mein Schatz, hat Aris ein großes Chaos hinterlassen?“ erklang eine sehr vertraute Stimme hinter der Arogad.

Sie wandte sich um und lächelte. „Luka.“

Die beiden gingen aufeinander zu und umarmten sich herzlich. „Du hast meinen Enkel also schon kennen gelernt.“

Der schlanke AO-Meister runzelte die Stirn. „Kennen gelernt? Einen Kilometer Sicherheitsabstand habe ich gehalten. Aber die Druckwellen seiner Persönlichkeit sind trotzdem bis zu mir durchgeschlagen. Deshalb dachte ich mir, warte ich mal das kleine Beben ab, das sein vorschneller Aufbruch zum Raumhafen auslöst und sammle dann die Reste auf. Das du ein Rest sein würdest habe ich nicht erwartet.“

„Charmant wie eh und je. Weiß Vater schon Bescheid?“

„Natürlich. Könnte ich sonst hier stehen?“

Eri schmunzelte. Dann deutete sie neben sich. „ Dies ist Luka Maric. Ein sehr vernünftiger Mann, und einer von drei Männern in diesem Universum, die mich bändigen können. Luka, meine Begleiter sind…“

„Schon gut, ich weiß Bescheid.“ Er trat vor Yohko und verbeugte sich steif vor ihr. „Darf ich der Erste sein, der Euch daheim begrüßt, Lady Yohko Jarah Otomo-Arogad? Wenn sich die Nachricht von Eurer Ankunft durch den Turm gearbeitet hat, werden seine Bewohner noch weit mehr aus dem Häuschen sein als bei der Ankunft Eures Bruders.“

Yohko kniff die Augenbrauen zusammen. „Jarah? Wer hat mir denn diesen doofen Namen gegeben?“

„Deine Mutter, Schatz“, belehrte Eri ihre Enkelin leise.

Sie seufzte viel sagend. „Das ist es also, was man Generationenkonflikt nennt. Es freut mich Sie kennen zu lernen, Luka Maric. Wir hatten eher mit einer Kampflandung als mit einem Empfang gerechnet. Auch wenn er im Chaos endete. So gesehen war das typisch für meinen Bruder.“ Frustriert atmete sie schnaubend aus. „Er hat uns nicht mal richtig begrüßt.“

„Megumi war im Spiel, was erwartest du?“ Yoshi grinste matt und starrte den Arogad unsicher an. „Muss ich mich vor Ihnen verbeugen? Oder Sie vor mir? Ich bin mir da nicht sicher.“

Luka grinste breit. „Normalerweise stehen Sie als Gefolgsmann von Aris Arogad über einem Hausmitglied. Aber da ich ein Gefolgsmann von Oren Arogad bin… Sagen wir, wir sind gleichgestellt.“

Der AO-Meister bot Yoshi diplomatisch die Hand, die dieser ohne zu zögern ergriff. „Einverstanden.“

Während sich die beiden Hände berührten, zuckten kleine KI-Blitze zwischen ihnen umher, tänzelten über Haut und Nägel und gaben den Gesichtern kurz eine dämonische Blässe.

„Sehr gut“, murmelte Luka. „Sehr gut ausgewählt, Aris Arogad.“

Er wandte sich der dritten Frau zu. „Aria Segeste. Da Sie ein Kommando in einer Hauseinheit der Arogad angenommen haben, gehören Sie bereits formell zum Turm, zumindest temporär. Und da Sie Admiral Eridia Lencis Arogad folgen, gibt es niemanden, der Ihnen etwas zu sagen hätte. Merken Sie sich das sofort. Ich habe viel zu viele gute Leute zurückstecken sehen, weil sie das Ziel von Eifersüchteleien und Rangkämpfen im Haus wurden.“

„Wie wahr, wie wahr“, murmelte Eridia.

„Komm, Eri. Kommt alle. Ein Gleiter erwartet uns. Miss Reilley ist informiert und wird gleich nach ihrer Studioaufzeichnung zurückkehren. Und dein Vater, Eri, erwartet dich bereits im Turm.“

Während sie gingen, fragte Yohko: „Akira hat mir eine Überraschung versprochen, wenn ich in den Turm der Arogad komme. Können Sie mir sagen, was das sein wird, Luka?“

Der Arogad aus dem Unterhaus Maric wollte etwas sagen, aber Eri winkte ab.

„Leider nein.“
 

Eine halbe Stunde später kam Yohko aus dem staunen nicht mehr raus, als sie sich dem Turm mehr und mehr näherten. Seine beachtliche Höhe von drei Kilometern, der beständige Verkehr um ihn herum und wie es schien durch ihn hindurch wirkte wie das Ballett eifriger Honigsammler und unterstrich die prachtvolle Größe noch.

Yoshi schluckte trocken. Er war die Dimensionen der AURORA gewöhnt, mit den Ausmaßen von OLYMP und ARTEMIS. Aber dieses Ding hier machte ihm Angst. Noch schlimmer, es gab neun von den Dingern, die sich alle mehr oder weniger am Horizont abzeichneten.

„Ihr Naguad habt doch alle einen an der Waffel“, brachte er gedankenlos hervor.

„Nicht so schlimm wie die Menschen“, konterte Eridia ungerührt. „Nun, zugegeben, manche Menschen haben den Schnitt beträchtlich angehoben. Andere haben ihr Bestes gegeben ihn beträchtlich zu senken.“ Ihr Lächeln verfinsterte sich. „Manche waren einfach nur gefährlich.“

Yoshi schluckte trocken, als er Eridias düstere Miene sah. Auch die beiden Frauen definierten das verzerrte Gesicht richtig.

Lediglich Luka grinste matt. „Da steckt doch bestimmt eine Geschichte der Erde dahinter, oder? Erzähl. Ich habe dreihundert Jahre drauf gewartet, sie zu hören.“

Eridia Arogad lachte rau auf. Aber übergangslos begann sie wieder zu strahlen. „Habe ich euch je erzählt, wie ich mich das erste Mal mit Michael zusammen gerauft habe? Eine schöne Geschichte, sie endet am Hof des Sonnenkönigs Ludwig des Vierzehnten. Leider nicht in seinem prunkvollen Schloss Versailles. Aber Paris war damals eine schöne Stadt und der Louvre sehr interessant. Doch bis dahin war es ein langer Weg.“
 

2.

Die beiden Männer attackierten einander. Blanker Stahl klirrte auf, als die zierlichen Degen aufeinander trafen. Zwei Männergesichter, eines glatt rasiert, das andere mit einem Kinnbärtchen versehen, näherten sich auf eine Handbreite.

Dann drückte der Bärtige zu und stieß den anderen von sich. Der nutzte den Schwung, um einen kleinen Sprung zu machen und die Reichweite des anderen zu verlassen.

Sie begannen einander zu umkreisen und der Bartlose griff wieder an. Sein von oben geführter Schlag hatte mehr von einem derben Hieb denn einem eleganten Degenstoß.

Wütend hieb der Bärtige die lange Klinge beiseite. „Nein, verdammt, nein, Michael! Das war ein Karatake! Kannst du dich nicht langsam mal von deiner japanischen Schwertkunst lösen? Wenn du den Degen wie ein Schwert führst, drohst du es zu zerbrechen!“

„Erklär mir noch mal, warum wir das hier machen“, keuchte Michael Fioran und kavierte den Stoß seines Gegenübers auf sein Herz.

Der verlor nicht einen Augenblick die Kontrolle über seine Klinge, sprang aber nun mit einem schnellen Schritt zurück. „Als europäischer Adliger musst du langsam ein Gefühl für diese Waffe entwickeln, junger Freund. Du musst sie beherrschen als wärst du ein Europäer. Denn um aus dir jetzt noch einen Japaner zu machen, fehlen uns leider die Zeit und vor allem die technischen Möglichkeiten der RAPOND.“

Sie tauschten ein paar belanglose Hiebe aus. „Diese Waffe ist wie ein Bienenstachel. Sie bietet zu wenig Möglichkeiten für eine erfolgreiche Attacke, Aris.“

Der große Taral grinste dünn und stieß die dünne Klinge mit einem Ausfallschritt zwischen Brust und linkem Arm des Fioran durch den Stoff seines weißen Hemds. „Und dieser Bienenstachel ist um einiges eleganter als dein Schwert, junger Freund. Mit Präzision, mit Geschwindigkeit, könnte ich dir beide Augen ausstechen, ein Diagramm in die Lungen stanzen und dein Herz perforieren und es würde kaum Blut dabei austreten.“ Zornig riss der Taral die Klinge hoch, direkt unter Michaels Achsel. Der zuckte bei der Berührung durch den kalten Stahl zusammen. „Wir werden auf eine Menge Leute treffen, die diese Waffe beherrschen, junger Freund. Gut beherrschen. Und wenn wir nicht noch weit mehr auffallen wollen als wir dies ohnehin schon tun, wenn wir uns die Chance auf Tora bewahren wollen, dann dürfen wir unsere Kämpfe nur auf dem Niveau der Franzosen ausführen.“

Langsam, nachdenklich zog Aris Taral die Klinge zurück. Er schnüffelte am schlanken Körper seiner Waffe und brummte: „Du solltest dich dringend waschen, Michael. Vor allem unter den Armen.“

Dies löste einen erbitterten Hieb des Fiorans aus, den Aris aber unterlief. Kurz darauf ruhte die Spitze seines Degens auf Michaels Kehlkopf. „Siehst du“, meinte der schwarzhaarige Mann mit einem dünnen Lächeln, „genauso gut hätte ich dir eine Halsschlagader öffnen können. Ich hätte nur etwas mehr nach links zielen müssen.“

Der Fioran sprang nach hinten, nahm den Druck auf seinen Hals fort und warf den Degen zu Boden. „Ich weiß ja, ich weiß!“ Wütend stapfte er davon, besann sich eines besseren und sah zurück. Schließlich klaubte er seine Waffe wieder auf. „Ich mag den Degen trotzdem nicht.“

„Du sollst ihn ja auch nicht mögen. Du sollst ihn nur benutzen“, tadelte Aris, steckte seine eigene Waffe fort und klopfte dem Jüngeren auf die Schulter. „Möglichst effektiv benutzen.“

Die beiden Männer wechselten einen stummen Blick. Schließlich nickte Michael.
 

„Michael-tono!“, rief eine laute, helle Stimme hinter ihnen.

Der Fioran und der Arogad fuhren herum. Reinecke stürmte in den großen Saal, den sie zu Übungszwecken requiriert hatten. „Die Franzosen lassen uns endlich passieren! Michael-tono, Aris-tono, ihr sollt sofort zu Eri-sama kommen!“

Michael betrachtete die junge Frau in der burschikosen Männerkleidung einen Moment und dachte darüber nach, was er über ihre Herkunft erfahren hatte, genauer gesagt über ihr Wesen.

Dann setzte er sich in Bewegung. Er klaubte sein Wams auf, dazu den breitkrempigen Hut, wie er gerade unter Edelleuten Frankreichs üblich war und nickte.

„Ich schätze das waschen hat zu warten, Aris.“

„Das glaube ich auch“, erwiderte der Taral, gurtete seinen Degen und kleidete sich an.

In dieser Region Frankreichs waren die Behörden gerade äußerst nervös. Es hieß, der Sonnenkönig blies hier zu einer Hugenottenhatz und man erwartete eine gewisse Gegenwehr. Grund genug, jeden misstrauisch zu beäugen, der sich in einer Reisegruppe bewegte, selbst wenn er Frankreich nicht verließ, sondern tiefer hinein reiste.
 

Mit dem quirligen Rotschopf als Führerin betraten sie Eridias Zimmer im ersten Stock. Dort erwarteten sie bereits die anderen hohen Vertreter ihrer Expedition. Eridia Lencis Arogad, Vortein Arogad und Seg Mitur. In einer Ecke stand, wachsam und stumm, Isegrimm, der riesige, grauhaarige Kumpan von Reinecke.

„Wir können weiter“, empfing Eridia die Männer mit ärgerlicher Miene. Die Tochter des Ratsvorsitzenden der Arogad, Oren, warf den Männern einen wütenden Blick zu, der aber glücklicherweise nicht ihnen galt. Michael stockte für einen Moment. Die weiße Schminke, das kunstvoll hochgesteckte Haar, der elegante Kimono, all das wirkte noch schöner, wenn Eri wütend war. Ihre Augen bekamen Leben, ach, kosmische Energie jenseits all dessen, was er bis dahin gesehen oder erlebt hatte.

„War es schlimm?“, hörte er Aris fragen.

„Und ob es schlimm war.“ Ihre Augen bekamen noch mehr Feuer. „Zum Glück konnte ich mich hinter der Sprachbarriere verstecken und so tun, als würde ich den Mistkerl nicht verstehen, aber… Ich hätte ihn in der Luft zerreißen können!“

„War er denn so knauserig mit der Erlaubnis?“

Seg hob eine Hand. „Das war es nicht exakt, Aris. Der liebe Capitaine hat uns präzise gesagt den Grund für die Hugenottenjagd genannt. Inklusive einiger Anmerkungen, die… Nun, gewöhnungsbedürftig sind.“

„Dieser verdammte… Wisst ihr zwei, worum es in diesem Konflikt geht? Nach dem dreißigjährigen Krieg gab es ein Gesetz in Europa: Der Herr, die Religion. Was vereinfacht bedeutet, dass jeder Untertan die Religion seines Herrn annehmen musste.

Der Krieg ging damals um die Vorherrschaft der aufgespalteten Religion des Katholizismus und des Protestantismus. Der König, der sich hochtrabend Sonnenkönig nennt, ist katholisch. Und er sieht es als seine gottgegebene Verpflichtung an, dass auch jeder seiner Untertanen katholisch ist. Ansonsten, so befürchtet seine Majestät, droht ihnen das ewige Fegefeuer oder sogar die Hölle nach dem Tod, was die Abkehr von Katholizismus automatisch mit sich führt.“ Eridia schnaubte unwillig aus. „Die Hugenotten sind aber Protestanten. Nun, der König hat eine Menge getan, um sie zu bekehren. Steuervergünstigungen, Titel, Privilegien und dergleichen. Aber es gibt genügend, die ihren Glauben dafür nicht aufgeben wollen. Manche greifen zur Waffe, andere verlassen das Land. Nun, viele Hugenotten, die das Land verlassen, versuchen ihr Glück entweder in der neuen Welt, oder sie fliehen nach Preußen, wo sie unbehelligt ihre Religion ausüben dürfen.

Auf die Dauer führt das natürlich erstens zu einem gewissen Schwund an Staatsbürgern – was nicht so schlimm ist, wie mir der Capitaine Fontaigne erklärt hat, da der Staat und die Bevölkerung groß sind – und zweitens zu einem Gesichtsverlust seiner Majestät. Da gelingt es ihm, Holland zu besiegen, Spanien in die Knie zu zwingen und England in die Schranken zu weisen, Österreich zu bedrängen und dem Papst zu diktieren. Und dann wagen es ein paar seiner Untertanen tatsächlich, den Sonnenkönig zu verhöhnen, indem sie nicht seine Religion teilen! Obwohl doch jeder vernünftige Mensch weiß, dass es Verdammnis bedeutet, sich vom Katholizismus abzuwenden!“

„Es wundert mich, dass dich der Religionsstreit dieses zurückgebliebenen Planeten so sehr aufregt, Eridia“, bemerkte Aris lächelnd.

„Das ist es nicht“, bemerkte Vortein mit einem zu ihrem kunstvoll weiß geschminkten Gesicht überhaupt nicht passendem Grinsen, „sondern die Tatsache, dass wir keine Katholiken sind. Stell dir vor, der ehrwürdige Capitaine hat doch tatsächlich die Frechheit gehabt, Eridia nahe zu legen, zum Katholizismus zu wechseln.“

„Wie kann er es wagen? Das Universum ist groß und vielfältig, aber sein kleiner Hinterwäldlergott soll das Maß aller Dinge sein und die Religion seines Königs die einzige Form seiner Anbetung?“

„Ruhig, Schwester“, bemerkte Seg mit einem breiten Grinsen. „Dank Isegrimm konnten wir die Sache ja recht gütlich regeln.“

Michael sah den Dämon an. „Du hast es geregelt?“

„Als Dolmetscher oblag es meiner Pflicht“, bestätigte der weißhaarige Riese. „Ich habe den Capitaine gefragt, wann dann der Feldzug gegen die ägyptischen Kopten und die orthodoxen Byzantiner erfolgen würde. Immerhin seien sie auch keine Katholiken und müssten ebenfalls gerettet werden.“

„Worauf hin Fontaigne meinte, sie wären ja nicht vom Katholizismus konvertiert“, fügte Seg immer noch grinsend an.

„Und dann haben wir ihm den Todesstoß versetzt und darauf hingewiesen, dass wir Taoisten seien und auch nicht vom Katholizismus konvertiert sind“, fügte Vortein hinzu. Lachend schlug sie sich auf die Schenkel. „Dieses Gesicht! Dieses unglaubliche Gesicht! Das hättet ihr sehen sollen!“

„Nun krieg dich wieder ein, Mädchen“, tadelte Eridia, nun wesentlich ruhiger. „Ich habe dann noch freundlich gefragt, warum seine katholische Majestät, Ludwig der Vierzehnte von Gottes Gnaden mit den Osmanen verbündet ist, die ja ihrem Propheten Mohammed folgen und nicht dem heiligen Petrus, und wann seine Majestät gedenkt, diese zu missionieren. Danach ist er geflohen.“

„Was denn, was denn?“, fragte Aris lachend. „Habt ihr euch etwa amüsiert – ohne uns? Dafür hättet ihr uns aber rufen müssen.“

„Das nächste Mal vielleicht“, versprach Eridia mit einem dünnen Schmunzeln, sichtbares Zeichen, dass sie sich abgeregt hatte.
 

„Aber deswegen habe ich euch nicht rufen lassen. Nicht nur. Yodama-kun!“

Die Tür öffnete sich, und der junge Japaner trat herein. „Eridia-hime.“

„Bringt ihn jetzt rein.“

Der junge Gefolgsmann verbeugte sich. Dann winkte er zwei Leuten hinter sich, ihre Last ins Zimmer zu schleifen. Sie trugen einen toten Mann zwischen sich, gekleidet in die Kutte eines Wandermönchs. Zwischen den Naguad legten sie die Leiche ab.

„Ist das…“, fragte Michael interessiert.

„Ein Attentäter. Gewiss.“ Eridia lächelte dünn. Es machte ihre Züge schmal und gab ihr ein gefährliches Aussehen. „Und er ist vom Schiff.“

Michael trat an die Leiche, schlug die Kapuze zurück und drehte den Leib auf den Rücken. Er sah direkt in zwei starre schwarze Augen.

Mit einem Ruck brach er den Mund auf. „Metallzähne. Schwarze Augen. Ja, ich denke, das ist einer von ihnen. Wer hat ihn erwischt?“

„Ähemm.“ Reinecke richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.

„Was, du? Ach, komm. Das ist ein Kampfcyborg. Dazu noch einer mit genug Grips um alleine ausgeschickt zu werden.“

„Und mit genügend Gold ausgestattet, um fünf Räuberbanden wie jene neulich zu bestechen, Michael-tono“, erwiderte Reinecke kühl.

Der Fioran starrte die rothaarige Dämonin unsicher an. „Dann sind wir immer noch auf der richtigen Spur.“

„Ja. Wir sind immer noch auf der Spur der Schiffsbesatzung und ihres Begleiters, diesem Tora“, bestätigte Eridia. „Noch immer.“

„Dann ist er wirklich auf dem Weg nach Paris. Was wird er dort wollen? Ich meine, das Metall für seinen Apparat wird er sicherlich überall in Europa finden. Und die Wissenschaftler dieser Entwicklungsstufe werden ihm keine große Hilfe sein.“

„Vielleicht will er Schutz durch den Königshof erlangen.“

„Vielleicht, Vortein, will er im Gewirr des Königshof nur die Spur verwischen, die er und die überlebenden Kampfcyborgs des Raiders seit Japan hinterlassen.“

„Du meinst die Spur aus Leichen, Michael.“ Nachdenklich rieb sich Aris das Kinn. „Es würde zumindest passen. Diverse Überfälle um uns aufzuhalten oder zumindest zu verzögern. Wir müssen nahe dran sein.“
 

Für einen Moment schwieg Michael. Er dachte zurück an die Raumschlacht im Orbit der Erde, von der zweiten Angreifertruppe, die um den Mond der Erde herumkamen und die Naguad-Flotte in die Flanke genommen hatte.

Er dachte daran, wie ihr Schiff brennend zur Erde gestürzt war. Die Bruchlandung, die Momente, nein Stunden der Verwirrung, als sich herausgestellt hatte, dass in ihrer Nähe ein Raider herunter gekommen war. Die darauf folgenden Kämpfe, die grausamen Kämpfe…

Und wie die Überlebenden mit Hilfe von Juichiro Tora geflohen waren. Aus ihren Händen, aus ihrer Umklammerung. Dieser Mann hatte ihnen den rechtmäßigen Sieg, die komplette Vernichtung gestohlen!

„Wir müssen verdammt nahe dran sein, wenn Tora einen seiner wichtigen Cyborgs opfert“, sinnierte Michael leise.
 

3.

Die Nacht in Strasbourgh war Regenverhangen, düster und von all den Geräuschen erfüllt, die es einem jeden ermöglichten, selbst lautlos zu sein.

Michael Fioran war in diesen düsteren Stunden umso aufmerksamer. Es war noch nicht lange her, dass sein Talent für das AO – oder KI, wie die Menschen der Erde es nannten – erwacht war, dennoch war er schon recht stark in dessen Kontrolle und vor allem in der gezielten Produktion. Ein wenig überraschte ihn sein heftiger Appetit, nachdem er KI angewendet hatte, aber Aris hatte ihn darauf vorbereitet. „Von nichts kommt nichts, und irgendwo muss die Energie ja herkommen.“ Das hatte Michael eingeleuchtet.

Während er durch die dunkle Herberge schritt, die Hände über die steinernen Mauern gleiten ließ, waren seine Sinne weit aufgespannt. Er versuchte, sein Gehörsinn mittels AO zu verstärken. Die Folge waren ein paar Sekunden Orientierungslosigkeit, als seine Sinne ausgerechnet einen leidenschaftlichen Schnarcher erwischten. So also besser nicht.

„Bist du nicht etwas zu gewissenhaft?“, erklang hinter Michael eine bekannte weibliche Stimme. „An allen Eingängen stehen unsere Männer. Und die Fenster sind gesichert.“

„Darum geht es mir nicht, Vortein“, tadelte der Fioran die Frau.

„Dann traust du uns Arogad nicht? Oder deinen Fioran?“ Sie lächelte spitzbübisch. „Oder liegt dir Eris Sicherheit so sehr am Herzen, dass du freiwillig auf deinen Schlaf verzichtest?“

„Natürlich. Genau das ist der Grund.“ Michael wandte sich um und sah die Arogad an.

Die wirkte überrascht und verschreckt. „Oh. OH! So ist das also. Ich… Okay, ich glaube, ich kann es verstehen und… Entschuldige mich. Ich störe dich bei deiner Runde.“

„DU verstehst überhaupt nichts, Vortein. Im Gegenteil, du verdrehst alles genau so wie du es gerade brauchst. Aber das machst du ja immer, oder?“ Michael seufzte tief. „Mädchen, natürlich ist Eri für mich das Wichtigste hier. Und das sollte sie für jeden anderen aus unserem Tross sein.“
 

Es dauerte einen Moment, bis Vortein verstand. Die hübsche Naguad hatte die Augenbrauen zusammengedrängt als würde sie intensiv nachdenken. Dabei war es eher eine Frage von eins und eins zusammenzuzählen. Oder mit einer Kugel zwei Kegel umzuschmeißen.

Übergangslos wurde sie rot und sah zu Boden. „Ach so. Und ich dachte wirklich, du hast dich in Eri verliebt. Ich meine, so ist es eigentlich immer. Sie schnappt sich immer die besten Sachen im Leben. Und ich trotte ihr hinterher und schnappe nach den Resten. So war es schon, als Aris ihr zugeteilt wurde und so ist es seit…“ Sie sah auf. „Bla bla?“

Michael unterdrückte ein auflachen. „Nein. Aber mach dir selbst nichts vor. Du bist nicht in mich verliebt.“

„Das habe ich nie gesagt!“

„Aber du hast es gemeint. Doch leider habe ich meine Probleme damit, der Trostpreis zu sein.“ Michael griff nach ihrem Kinn, richtete ihr Gesicht sanft so aus, damit sich ihre Augen trafen. „Vortein, du bist ein tolles Mädchen. Du bist hübsch, du bist klug und du wickelst alle um den kleinen Finger. Oder um ein Ohrläppchen, wenn du mal keinen Finger frei hast. Deshalb, egal wie sehr du Eri liebst und verehrst, solltest du dich nicht mit der zweiten Wahl zufrieden geben. Du solltest immer nach dem Besten streben.“

„Und du meinst, du bist das nicht?“, fragte sie leise. „S-sieh mich dabei bitte nicht so an.“

Langsam näherte sich der Fioran ihrem Gesicht. Unglaublich sanft drückte er seine Lippen auf die der Frau. Sie war anfangs starr, entsetzt, doch dann erwiderte sie den Kuss. Somit waren sie einige Zeit beschäftigt, bevor Vortein abbrach.

„Und? War er gut?“

„Ja. Es war ein schönes Gefühl dich zu küssen, Michael. Aber…“

Der Fioran lächelte. „Und genau dieses aber ist dein Problem. Geh und schnapp dir, was dir wichtig ist, Vortein.“ Sanft streichelte seine Hand über ihre linke Wange.

Eine einsame Träne floss aus ihrem rechten Auge herab. „Michael, ich glaube, du bist wirklich ein Engel.“ Sie schenkte ihm einen dankbaren Blick, den vielleicht dankbarsten in ihrem ganzen Leben und rauschte davon.

Michael sah ihr zufrieden nach. Oh ja, er gönnte der kleinen Arogad alles Glück, was sie erreichen und festhalten konnte.
 

„Michael-tono!“

Der Fioran wandte sich um. „Was gibt es, Yukio?“

„Tono, wir haben… Nun, Gäste vor der Tür.“

Etwas am Blick des Gefolgsmanns warnte ihn. Warnte ihn genug, um sofort zur Tür zu sprinten.

Die Pforte war vom Wirt geöffnet worden, in der Tür drängten sich gut zehn Kavaliere in regendurchnässten Umhängen. Einer von ihnen, ein großer Mann, sprach ihn mit hartem Akzent an. „Seid Ihr Teil der Karawane von Eridia-hime, Monsieur?“

„Das bin ich, Monsieur. Mein Name ist Michael Fioran. Womit kann ich Ihnen dienen?“

„Im Moment kann eher ich euch dienen!“ Der Mann nahm seinen triefnassen Schlapphut ab. „Bitte hört mir jetzt genau zu und entscheidet dann. Hatte Eure Madame heute Besuch von einem Capitaine Fontaigne?“

„Ja, Monsieur.“

„Nun, diese Capitaine, ist er auf Hugenottenjagd?“ „Jawohl, Monsieur.“ Michael gefiel die Richtung nicht, in die dieses Gespräch ging.

„Nun, das ist er nicht mehr. Es scheint so, als hätte ihn die Begegnung mit Eurer Madame mehr als erschüttert. Das jemand nicht katholisch sein will, mag ihm noch einleuchten. Aber überhaupt nicht an den Herrn zu glauben geht über seine Vorstellungskraft.“

Der Mann verneigte sich leicht. „Mein Name ist Graf Eugen. Ich saß mit meinen Männern in einer Schänke, als zufällig der Capitaine mit einigen seiner Männer hereinkam und das Thema ausgiebig besprach. Jedenfalls war ein Gelehrter zugegen, der den Capitaine darauf hinwies, dass Japan, das Heimatland Eurer Madame vor nicht einmal einhundert Jahren von spanischen Dominikanern missioniert worden war – und das es der Shogun war, der die Religion des Christentums wieder verbot und alle Ausländer verbannte.“

„Ich verstehe.“ Michael nickte anerkennend in Graf Eugens Richtung. „Und um es kurz zu machen, Fontaigne gefiel der Ausgang des Gesprächs mit meiner Herrin überhaupt nicht. Und nun hat er den perfekten Vorwand, um sich doch noch angemessen um sie zu kümmern. Unter dem Vorwand, sie wieder auf den rechten, einzig wahren Glauben zurück zu führen. Mit welchen Mitteln auch immer.“

Erleichtert atmete der Graf auf und seine Gefolgsleute bestätigten die Worte erfreut.

„Die Frage, die sich mir nun stellt ist, welchen Nutzen habt Ihr in dieser Sache, mein lieber Graf?“

„Nun, es gibt dafür mehrere Gründe. Einer von ihnen ist der Gelehrte, ein unangenehmer Bursche, arrogant und selbst überschätzend. Er hat das Gespräch des Capitaines erst in diese Bahnen gedrängt. Genauer gesagt glaube ich, er hat ihnen regelrecht aufgelauert.

Ein anderer Grund ist, ich bin österreichischer Diplomat in wichtiger Mission. Mein Auftrag ist es, mit seiner Majestät zu sprechen, um Frankreich als Vermittler zum osmanischen Reich zu gewinnen, mit dem wir im Dauerstreit liegen. Beide Reiche sind geheime Verbündete, also stehen unsere Chancen gut, dass unsere Wünsche gehört werden, wenn der König von Frankreich sie hört.

Der letzte Grund ist, dass Eure Madame in meiner Schuld steht. Wenn wir Paris erreichen, mag der eine oder der andere den Gegenüber zu unterstützen, auf welche Weise auch immer.“

„Ich verstehe. Und wann ist mit dem verärgerten Fontaigne zu rechnen?“

Graf Eugen schmunzelte. „Eigentlich jede Minute.“

„Yukio, wecke das Haus, weck Eridia-Hime! Sofort!“

„Hai, Tono!“

Grimmig sah Michael den Grafen an. „Wo, sagten Sie, war die Schänke gleich noch mal?“

**

Ein paar Minuten darauf huschte Michael durch die Nacht, sprang von Dach zu Dach durch den peitschenden Regen, an seiner Seite ein Katana und in der rechten Hand eine geladene Pistole.

Er wusste genau, dass in diesem Moment tumultähnliche Zustände in der Herberge herrschen mussten. Oberste Pflicht hatte natürlich der Schutz von Eridia Arogad, aber eine gelungene Flucht aller war das Optimalziel.

In der Ferne zuckte ein Blitz zu Boden; der Donner ließ nicht lange auf sich warten.

Michael verharrte auf einem Sims, einer Eingebung folgend. Er drehte sich um. Tatsächlich.

Drei Gestalten standen dort auf den anderen Dächern, die Öffnungen der Kapuzen ihm zugewandt. Michael bildete sich ein, dort grausam rot funkelnde Augen zu sehen. Aber es waren sicherlich nur Dioden, die den Cyborgs hinter die Augen gesetzt worden waren, um den Technikern die Wartung zu erleichtern.

Der Fioran lächelte dünn. Er richtete die Pistole auf den rechten Kapuzenmann und drückte ab. Arrogant begannen die Metallzähne des Cyborgs zu schimmern, er machte sich nicht einmal die Mühe auszuweichen.

Nun war es an Michael zu grinsen. Denn kurz bevor die schwere Bleikugel aufschlug, lohte sie jäh in der Farbe seines AO auf und wuchs zu einem kopfgroßen Ball.

Die Kugel durchschlug den Leib des überraschten Cyborgs, das AO zerfetzte die Reste zu kleinen Stückchen.
 

Nun griffen die anderen beiden direkt an. Michael zog das Katana, ließ es in seinem AO aufleuchten.

Der erste Cyborg erreichte ihn, schlug mit etwas auf ihn ein, was man am ehesten eine Axt nennen konnte. Der Fioran wehrte den Gegner ab und öffnete sich so für den Angriff von Nummer drei.

Dieser grinste triumphierend, sprang ein letztes Mal und zielte mit seinem Degen direkt in Michaels Herz.

Der Fioran wartete bis zur letzten Sekunde; dann riss er die linke Hand hoch, sammelte sein AO. Als der Kapuzenträger seinen Fehler bemerkte, war es schon zu spät. Von der rohen, urtümlichen Gewalt getrieben raste ein Ball aus reinem AO auf ihn zu, erfasste ihn und hüllte ihn in purem Licht ein, während ein anderer, mächtiger Blitz die Nacht erhellte.

Einen Wimpernschlag später fiel ein glühender, verbogener Metallgegenstand in die dunkle Gasse unter ihnen, der mit viel Phantasie mal ein Degen gewesen sein konnte… Mit sehr viel Phantasie.

Der dritte Gegner besann sich auf eine besondere Tugend des Cores – er floh. Doch er kam genau so weit, wie Reinecke ihn kommen ließ. Sie tauchte direkt vor ihm auf und schien zugleich meterweit hinter ihm zu stehen. Dazwischen war der Kuttenträger und verging in einer Lohe aus Feuer und Licht.

Reinecke lächelte dünn.
 

„Oh, das war so klasse, Michael-tono! Diese Kraft, diese Taktik, du bist so phantastisch!“ Die Fuchsdämonin sah aus glänzenden Augen zu dem Fioran hoch.

„Du warst aber auch nicht schlecht. Aber still jetzt, es ist noch nicht vorbei.“

„Ach, wegen Tora? Tut mir Leid, die drei waren nur hier abkommandiert um ihn zu warnen und seine Flucht zu ermöglichen. Ich habe gespürt, wie seine Aura den Bereich der Stadt verlassen hat, den ich vielleicht noch aufspüren könnte.“ Ein wenig wütend sah sie Michael an. „Was nicht hätte sein müssen, wenn du mich mitgenommen hättest. Wenn du irgendjemand bescheid gesagt hättest, was du tun willst. Komm, der Treffpunkt ist vor der Stadt. Aris war ja dafür, die Franzosen bis auf den letzten Mann auszulöschen, aber Eridia-sama war dagegen. Graf Eugen hat sich uns angeschlossen und gemeinsam haben wir beschlossen, so viel Abstand wie möglich zu Strasbourgh zu kriegen.“

„Entkommen“, zischte Michael ärgerlich.

„Ist nur ein kleines bisschen deine Schuld. Und jetzt komm endlich, Michael-tono. Übrigens, den Trick mit der Kugel, kannst du mir den bei Gelegenheit zeigen?“

Die Dämonin sprang über die Dächer davon, Michael folgte ihr automatisch. „Sicher“, erwiderte er, noch immer ärgerlich – und geplagt von einem schlechten Gewissen, weil er wirklich niemandem gesagt hatte, was er vorgehabt hatte.
 

4.

Die Gesellschaft, bestehend aus den Japanern, den portugiesischen Söldnern und ihm, dem englischen Kolonialen, wurde nun ergänzt durch zwanzig freundliche Herren auf Pferden mit kleinem Reisegepäck. Österreicher. Österreicher von der Sorte, die den Osmanen vor Wien zweimal widerstanden hatten. Österreicher, die um jeden Meter Ungarn kämpften. Österreicher, die sogar auf den Katalaunischen Feldern vor tausend Jahren gegen die Hunnen eine gute Figur gemacht hätten. Kurz und gut – Helden.

Und sie alle waren auf Reisen in einem Land, das ihnen unter dem absolutistischen König Ludwig dem Vierzehnten alles andere als wohl gesonnen war.

Michael bewunderte den Mut dieser Männer ein klein wenig. Ein klitzeklein wenig.
 

Der Fioran ließ sich zurückfallen, erreichte die vorderste Sänfte. „Meine Lady?“

Die Seitentür der Sänfte glitt einen Spalt auf. Über den Rand eines mit roten Kirschblüten bemalten Fächers lächelten ihn Vorteins Augen an. „Mein Engel?“

„Geht es dir gut, meine Lady?“

Das Lächeln wurde intensiver. „Aber ja, mein guter Michael. Mir geht es gut. Sogar besser als lange Zeit.

Mein guter Freund, bist du auf dem Weg nach Eri?“

„Ja, meine Lady.“

„Gut. Kannst du noch ein wenig weiter zur Nachhut gehen und Aris etwas von mir bringen?“

„Sicher, Vortein.“

Sie lächelte und übermittelte ihre Botschaft.

Erschrocken sah Michael die Arogad an. „Was?“

„Tu es für mich, bitte“, sagte die Frau mit hinreißendem Lächeln und schloss die Sänfte langsam wieder.

Michael fluchte erschrocken.
 

Erneut zügelte er sein Pferd, kam so bis zur mittleren Sänfte. Dort ritt Graf Eugen neben der geöffneten Schiebetür der Sänfte. Zwischen ihnen ging Isegrim, der als Übersetzer fungierte, um das Alibi aufrecht zu erhalten. Eridia lächelte zum Grafen hinaus und antwortete leise auf Isegrimms Übersetzungen.

„O-hime-sama.“

„Nandesta, yohei?“, fragte Eridia ungehalten.

„Die Herrin wünscht dein Begehr zu wissen, Söldner“, übersetzte der Wolf.

Irritiert sah Michael die Arogad an. So ging es nun schon seit Tagen. Und eine Besserung schien sich nicht einzustellen. Bis auf ein, zwei professionelle Gespräche zusammen mit den Dämonen schien sie ihm nichts mehr zu sagen zu haben.

„Es gibt keine besonderen Vorkommnisse. Und wir kommen gut voran. Wir liegen vor dem Zeitplan.“

„So ka. Betsuni.“

„Die Herrin sagt, dass sie es so erwartet hat.“

Unschlüssig wandte Michael den Blick ab. „Dann widme ich mich nun wieder meinen Aufgaben. O-hime-sama. Graf Eugen.“
 

Erneut ließ er sich zurückfallen und kam zur dritten Sänfte.

Dort ging die Schiebetür auf und Seg Mitur sah heraus. Er grinste breit und vollkommen unjapanisch. „Ein schönes Paar, die beiden, hm?“

„Sehr komisch“, erwiderte Michael ärgerlich. Obwohl, konnte das sein? War sie deswegen so kurz angebunden? Und da hatte Michael gehofft, ihr endlich näher gekommen zu sein. Ihr, seiner Heldin…

„Keine Sorge, keine Sorge. Das war nur ein Witz.“ Seg zwinkerte ihm zu. „Und der Eifersuchtsanfall legt sich auch irgendwann.“

„Eifersuchtsanfall?“ Irritiert sah Michael zu dem Mitur herüber. „Was?“

Der seufzte tief und lang. „Idiot.“

„Das mag schon stimmen, deshalb verstehe ich es aber nicht leichter.“

Seg runzelte die Stirn. „Idiot“, wiederholte er und schloss die Schiebetür wieder.
 

Michael sah einige Zeit lang auf die verschlossene Sänfte. Dann zuckte er die Achseln und ließ sich noch weiter zur portugiesischen Nachhut zurückfallen.

„Auf ein Wort, Aris.“

Der große, schwarzhaarige Anführer der Portugiesen lenkte sein Pferd neben das des Fiorans. „Was gibt es, Mann von Übersee?“

„I-ich habe eine Botschaft meiner Lady für euch.“

Interessiert hob Aris eine Augenbraue. „Von Vortein? Was sagt sie?“

Unschlüssig sah Michael den Fioran an. „Vielleicht fragst du sie selbst.“

„Ist es so dramatisch? Oder so schlimm?“

„Keins von beiden. Aber mir wäre es lieber, du würdest sie selbst fragen.“

„Michael“, begann Aris in dozierendem Tonfall. „Es ist ihre Botschaft. Es sind ihre Worte. Ich kann zwischen dem Boten und dem Verfasser der Botschaft unterscheiden. Keine Angst, ich nehme dir nichts übel, was sie gesagt haben könnte.“

Michael sah den anderen verzweifelt an. „Du hast ja keine Ahnung.“

„Und das werde ich auch weiterhin nicht haben, wenn du mich weiter zappeln lässt.“

Der Fioran seufzte zum Steinererweichen. Dann beugte er sich im Sattel zum Arogad herüber.

Und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Das ist die Botschaft meiner Lady!“

„Kerl, du!“, rief Aris mehr erstaunt als wütend, während die als Portugiesen getarnten Arogads heiter lachten. „Das kommt von Vortein?“

„Die Botschaft meiner Lady. Vielleicht lässt du es dir von ihr näher erklären. Bitte, bitte, Aris, nehmt mich nicht als Boten für derlei Sachen!“

Der überrumpelte Taral rieb sich die geküsste Wange. „Ich glaube, dich als Boten zu haben, nimmt der Sache einiges an Reiz, mein Freund.“

Entschlossen sah Aris nach vorne und gab seinem Pferd die Sporen. Es preschte an der Marschkolonne vorbei bis zur vordersten Sänfte.

„Na, wenigstens etwas, das klappt.“ Michaels Augen verengten sich. „Bleibt noch Tora und sein Gesindel.“

**

Wie versprochen erreichten die Japaner und die Österreicher die Hauptstadt Paris gemeinsam. Sie nahmen wie auch die Tage zuvor gemeinsam Quartier und Graf Eugen ersuchte zugleich mit Seg Mitur, der als Sprecher fungierte, um eine Audienz beim König.

Heraus kam eine Audienz bei seinem Minister, dem Kardinal Richelieu. Die Audienz galt Eridia und einem kleinen Kreis ihres Gefolges. Jedoch wurde der Graf hinzu gebeten.

Als Michael Fioran in seiner besten Kleidung in dem riesigen Raum nervös auf und abmarschierte und auf den Kardinal wartete, einen der mächtigsten Männer Frankreichs und damit der europäischen Welt, machte er die anderen Beteiligten heillos nervös. Und wenn er ehrlich war, vor allem sich selbst.

Erst als der Kardinal eintraf, gelang es Michael sich zu zwingen, endlich seinen Platz in der Abordnung einzunehmen.
 

Der Kardinal musterte die Delegation und sagte nicht ein Wort. Er ließ auch kein Wort der Erklärung von Reinecke zu, die diesmal als Dolmetscherin fungierte.

„Non, Renarde“, sagte Richelieu. „J´ai quelque chose pour vous.“ Er winkte einem Diener, der sofort den Raum wieder verließ.

Kurz darauf kamen vier Bedienstete herein. Zwischen sich trugen sie eine große und anscheinend auch schwere Kiste. Der Kardinal winkte ihnen zu; die Männer kippten sie aus.

Ein erschrockenes Raunen ging durch die Delegation.

Was da so achtlos auf den Fußboden geworfen worden war, das waren Teile des Geräts, von dessen Existenz sie erst seit wenigen Wochen wussten, dass es auch zur Kommunikation genutzt werden konnte: Ein Wurmlochgenerator.

„Ich nehme an, das ist es, was Sie suchen“, sagte der Kardinal in einem recht Akzentbehafteten deutsch. „Es gelang meinem Geheimdienst, dies hier zu konfiszieren, nachdem die große Spinne uns einen Tipp gegeben hat. Auch konnten wir die fünf Maschinenmenschen zerstören.“

Michael wurde es heiß und kalt zugleich. Was geschah hier? Woher wusste der Kirchenmann soviel?

„Leider ist uns Juichiro Tora entkommen. Wir wissen nicht genau, in welche Richtung er geflohen ist, aber möglich ist die neue Welt.“

Der Kardinal nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Er lächelte dünn. „Nun, wir mögen auf euch Außenweltler wirken, als würden wir nur unsere kleinlichen Machtspielchen kennen. Das bedeutet aber nicht, dass wir das, was um uns herum geschieht, komplett ignorieren können. Die Maschinenmenschen gehören zu dem, was wir nicht ignorieren dürfen.“

Mit einer weit ausholenden Geste deutete der Kardinal auf die Trümmer. „Wenn Ihr es wünscht, die Überreste der Maschinenmenschen werden von meinen besten Männern in der Bastille verwahrt. Ihr dürft sie jederzeit inspizieren, um sicherzugehen, das die Jagd zu ende ist. Heute zumindest.“

Eridia nickte schwer. „Dann sind wir euch zu Dank verpflichtet, Eminenz.“

Graf Eugen sah sie erschrocken an, als die Frau, die angeblich aus Japan stammte, einwandfreies deutsch sprach.

„Es ist noch nicht vorbei“, erwiderte der Kirchenmann. „Nun, wir ergeben uns, zugegebenermaßen, in kleinlichen Machtspielchen. Und wir würden auch ungern damit aufhören. Mylady Arogad, die Frage ist, was können Sie dafür tun, damit das so bleibt?“

Wenn Eridia erschrocken war über diese Anrede, dann zeigte sie es nicht. „Haben Sie eine Idee, Eminenz?“

„In der Tat. Juichiro Tora ist entkommen. Die Jagd auf ihn ist noch lange nicht vorbei. Wir wissen nicht, wo er das nächste Mal auftauchen wird – oder wann. Vielleicht zu meinen Lebzeiten nicht mehr.“ Der Kardinal sah ernst in die Runde. „Was wir brauchen – über der kleinlichen Ebene unserer Politik, sind Sie, die Außenweltler.“

„Eminenz?“

„Meine Idee ist, dass die Außenweltler sich auf die Welt verteilen, um Tora zu jagen. Oder um einer anderen Krise die Stirn bieten zu können. Ich weiß, etwas ähnliches haben Sie schon mit der großen Spinne vereinbart. Doch ich biete für diese Arbeit die Hilfe einer Nation an. Langsam, schleichend, über die Jahre, vielleicht Jahrzehnte.“

Eridia nickte ernst. „Legen wir unsere Ressourcen zusammen.“

Der Kardinal nickte zufrieden. „Sprechen wir darüber.“

**

Nach mehreren Stunden, die weniger der Verhandlung und mehr dem Gedankenaustausch gewidmet waren, nickte Richelieu endlich zufrieden. „Dann ist es abgemacht.“ Der ältere Mann sah den Österreicher an. „Und was euch angeht, Prinz Eugen, falls Ihr euch heute nicht das Leben nehmt – viele tun das, die aus der Unwissenheit gerissen werden und die wirklichen Gefahren erkennen, die auf uns lauern – der König weilt heute in der Stadt und gibt ein Bankett. Euch ist es erlaubt worden daran teilzunehmen. Bringt Lady Eridia mit.“

„I-ich verstehe. Eure Eminenz.“
 

Michael empfand Mitleid mit dem armen Mann. Bisher war er es gewohnt Armeen in die Schlacht zu führen, Logistik für ein paar zehntausend Mann zu verwalten und Städte zu erobern oder zu halten. Aber noch nie ging es für ihn um eine ganze Welt.

Er verstand die Aussage des Kardinals, dass so mancher Mensch, der plötzlich dieses Wissen hatte, Selbstmord beging.

Als sie in ihrer Kutsche saßen, die sie zurück bringen sollte, richtete der Graf seinen Blick auf Michael. „Ich habe mich entschieden. Mein guter Junge. Ich will helfen. Gefällt dir der Name Berger?“

**

Michael verstand nicht, warum die anderen ihn mit Eri alleine gelassen hatten. Sie sprach sowieso seit Tagen nicht mehr mit ihm und zeitweilig, selbst Tage nach dem Bankett mit Ludwig dem Vierzehnten erschien es ihm, als würde sie ihre Gunst Graf Eugen zuwenden.

Und jetzt, wo es hieß auf Jahre oder Jahrzehnte Lebewohl zu sagen… Er senkte resignierend den Kopf. Sein Weg würde ihn nach Sachsen führen. Durch die Vermittlung des Grafen würde er dort mit einigen seiner Fioran unter dem Namen Berger firmieren und den Rückhalt aufbauen, den sie fortan und weltweit brauchen würden. Bei der Jagd auf Tora, bei der Verteidigung der Erde, die so wichtig geworden war wie kaum etwas sonst im Imperium – oder im Kaiserreich.

Und hier standen sie, alleine gelassen in einem kleinen Raum, doch Eri schaffte es, durch ihre Haltung und vielleicht durch die Tatsache, dass sie ihm den Rücken zuwandte zu suggerieren, sie sei eine Meile weit entfernt.
 

„Ich werde dann gehen. Ich wünsche dir viel Glück bei den Yodamas in Japan. Und auch wenn es dir nicht viel bedeutet, ich freue mich darauf, dich wieder zu sehen.“

„Warum hast du es getan?“, fragte sie unvermittelt.

„Warum habe ich was getan?“

Wütend fuhr sie herum. „Tu nicht so dumm! Warum hast du Vortein geküsst? Lüg erst gar nicht! Ich habe euch im Gang gesehen, damals in Strasbourgh!“

Michael erschrak. Mit welchem Recht stellte sie ihn zur Rede? Nur weil Vortein aus dem gleichen Haus kam, eine gute Freundin von ihr war, die mit ihr gemeinsam die Akademie besucht hatte, glaubte sie Rechte an ihrem Leben zu haben? Für einen Moment war Michael ehrlich wütend. Und ehrlich zu Schalk aufgelegt.

„Ach das“, meinte er und machte eine abwehrende Bewegung. „Ich küsse alle hübschen Frauen.“

Diese Aussage ließ den Zorn verrauchen. „Küsst du dann auch mich?“

Michael zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Eridia küssen, seine Heldin?

Sie bemerkte seine Reaktion mit Enttäuschung. „Ich bin nicht hübsch?“

„Das ist es nicht.“

„Also, warum dann nicht?“

Michael hüstelte. Ja, warum nicht? Weil er sich dann Hals über Kopf in diese Frau verlieben würde! Etwas, was er schon seit Jahren zu vermeiden suchte. Etwas, was sein Privatleben beeinträchtigt hatte, bis es nichts mehr gab, was diesen Namen verdiente.

„Nein“, sagte er resolut.

Eridia kam mit einem schnellen Schritt zu ihm, ergriff ihn mit beiden Händen am Kragen. „Als wenn ich dich um deine Meinung fragen würde, du Dummkopf.“

Sie verschloss seine Lippen mit einem langen Kuss. Dann musste er den Verstand verloren haben, als seine Hände nach dem Gürtel ihres Kimonos langten und zu öffnen versuchten.
 

5.

Eridia Arogad seufzte bei dieser Erinnerung. „Es hat lange gedauert. Aber wenn man bei Michael die richtigen Knöpfe zu drücken weiß – jedenfalls mussten wir die Abreise eine Nacht verschieben.“

„Danke“, erwiderte Yoshi säuerlich. „Den Rest meines Lebens hätte ich auch gut ohne diese Information verbringen können.“

„Trottel“, tadelte Yohko und hieb ihrem Freund den Ellenbogen in die Seite. Der grinste nur und legte seine Rechte auf die linke Brusttasche seiner Jacke. Sofort wurde die selbstbewusste Regimentskommandeurin bemerkenswert einsilbig.
 

Der Gleiter setzte sanft auf einer Plattform auf dem oberen Drittel des Turms auf. Schutzwände fuhren hoch, um sie vor Fall- und Scherwinden zu schützen.

Ein Schott zum Turminneren glitt auf, Joan Reilley eilte freudestrahlend hinaus, stürzte den Mädchen in die Arme und griff Yoshi in den Nacken, um ihn für einen Kuss auf die Wange herab zu ziehen. „Wann kommt der Rest?“, scherzte sie.

„Yohko“, erklang eine unsichere Frauenstimme vom Eingang her.

Akiras Schwester sah auf.

Neben ihr hielt Eridia den Atem an. „Haben sie es geschafft, Mädchen?“

Die Frau in dem bodenlangen Kleid, die im Eingang wartete, schüttelte den Kopf, fast unmerklich.

Eri seufzte enttäuscht, aber auch ein wenig froh. „Yohko. Ich möchte dir jemanden vorstellen. Oder zumindest sein Hologramm.“ Sie deutete auf die Frau am Eingang, die gerade in holographische Tränen ausbrach. „Deine Mutter Helen.“

Wie hypnotisiert ging die junge Frau auf das Hologramm zu. Sie blieb davor stehen, musterte die Züge und spürte ihre Tränen die Wangen herab laufen. Zögernd streckte sie eine Hand aus, aber sie ging durch den Körper hindurch.

„Trotzdem“, hauchte sie und brach vollends in Tränen aus. „Ich bin so froh. Mutter.“

„Yohko“, hauchte Helen und versuchte ihre Tochter dennoch zu umarmen.

Die beiden arrangierten sich halb lachend und halb weinend, und hielten schließlich starre Posen ein, die ihnen wenigstens die Illusion einer innigen, Tochter und Mutter-Umarmung erlaubte.

Yoshi wurde rot. „Das ist ihre Mutter?“ Unauffällig versuchte sich der Futabe-Sproß, nach hinten zurück zu ziehen.

Bis er die verhängnisvollen Worte hörte: „Mutter. Das ist mein Freund.“

Das Lächeln des Hologramms schien ihm vom Schlimmsten zu verschonen. Dennoch meinte er mit einem gequälten Lächeln: „Akira, der Mistkerl. Der muß nicht die Mutter von Megumi treffen.“

„Dafür hat er einen ganzen Turm, mit dem er sich rumschlagen muß“, bemerkte Eri trocken.

„Der arme Turm“, fügte Joan hinzu.

Yoshi seufzte und machte sich an seine größte Herausforderung seit langem.

**

Wider Erwarten arrangierten sich die Daness-Wachen und meine Arogads ungewöhnlich schnell. Zwischen den Leibwächtern der Daness und Sora gab es sofort ein stilles Einverständnis, wie es nur unter perfekten Profis möglich zu sein schien – es erinnerte mich daran, wie die Piloten der deutschen Luftwaffe mein Oberkommando bei der Schlacht um Hamburg akzeptiert hatten, kaum dass mein Mecha Primus aufgetaucht war. Damals war ich von der SARATOGA aus gestartet, die mir bei Operationen im Nordatlantik als mobile Basis gedient hatte… Tapfere Amerikaner. Sie hatten damals den Träger vor allem deshalb immer wieder bis aufs Messer verteidigt, damit ich einen Platz zum landen hatte.

Andererseits, wenn ich jetzt drüber nachdachte, waren sie bei Megumi noch weit enthusiastischer gewesen und sie war damals erst dreizehn gewesen. Verdammte Fetischisten!

Jedenfalls übernahm Sora den inneren Schutz und saß mit Franlin, Attori, Gina, Henry, Megumi und mir im Fonds des großen Schwebegleiters, während sich die Leibwächter von Daness die Vorderbank und die beiden Begleitflieger teilten.

Also, ich hätte mir durchaus etwas mehr Intimität gewünscht. Etwas Zeit alleine mit der Frau, von der ich gedacht hatte, ich würde sie vielleicht nie wieder sehen. Sehnsüchtig betrachtete ich ihr gefärbtes Haar und stellte mir vor, mein Gesicht darin zu versenken und mehr davon zu riechen als den milden Hauch, den die zirkulierende Lüftung erlaubte.

„Was?“, fragte sie amüsiert und ich merkte, dass ich sie angestarrt hatte.

Etwas, was ihr neuer Aufpasser Attori nicht wirklich gut aufnahm.

Ich ignorierte ihre Frage und sah den Daness ernst an. „Vern, welchen Rang hat Lady Megumi im Haus Daness?“

Sein Blick war mörderisch, eine wilde Mischung aus Nennen Sie mich nicht beim Vornamen und Kommen Sie meiner Herrin nicht so empfindlich nahe.

„Ich hoffe doch, sie ist nicht die Erbin des Ratsvorsitz“, fügte ich hinzu. Hoffentlich nicht. Nicht noch ein Naguad-Haus in der Familie. Ein Turm reichte vollkommen und endgültig.

„Machen Sie sich nicht lächerlich, Arogad“, knurrte Vern Attori arrogant, aber in einem Tonfall, der deutlich freundlicher ausfiel als ich erwartet hatte.

„Natürlich ist sie nicht die Erbin des Ratsvorsitzes. Dazu müsste sie die Tochter unseres ehrenwerten Vorsitzenden Mitne Daness sein.“ Um sicherzugehen fügte der Mann hinzu: „Was sie nicht ist.“

Erleichtert lehnte ich mich zurück. Nichts war schlimmer als plötzlich Barrieren aus dem Boden schießen zu sehen, die mich und Megumi voneinander zu trennen versuchten. Nichts war schlimmer als sie neben mir zu haben und sie nicht berühren zu können.

Obwohl, das sollte mir möglich sein.

„Was? Gönnst du mir den Hausvorsitz nicht?“, fragte sie in gespieltem Ernst.

„Ein Hausvorsitz reicht in der Familie“, erwiderte ich und vergrub nun doch mein Gesicht in ihren Haaren. „Ich habe dich so vermisst.“

Vern Attori kam langsam aber sicher von null auf hundertachtzig. Wütend rief er: „Können Sie das bitte lassen, Aris Arogad? Immerhin ist Lady Megumi eine Daness!“

„Was habt Ihr verdammten Naguad nur mit euren Genen? Braucht Ihr so dringend Nachfolger, dass euch schon eine oberflächliche Verwandtschaft reicht, um jeden zu eurem Herrn zu machen? Also, regen Sie sich nicht so auf. Sie haben selbst gesagt, Megumi ist nicht Mitne Daness´ Tochter.“

„Nein, natürlich nicht. Sie ist seine Enkelin und Nummer drei in der Erbfolge.“

Mein Kopf ruckte herum und fixierte den Leibwächter. „Was, bitte?“

„Moment mal, Moment. Mein Großvater heißt Jeter, das hat Oma Eri mir gesagt!“, warf Megumi ein.

Vern Attori schnaufte auf die Art der Lehrer, die zum wiederholten Male einem Schüler etwas wirklich Offensichtliches erklären mussten. Also, es beeindruckte mich nachhaltig.

„Lady Megumi, ich bin sicher, auch auf diesem Hinterwäldlerplaneten namens Erde ist es üblich, zwei Großväter zu haben. Jeter ist der Vater Ihres Vaters, Mugen Tamalis. Und Mitne ist der Vater Ihrer Mutter, Hattara. Wobei ich nicht weiß, welche Decknamen sie auf der Erde getragen haben. Soviel zu Ihrer Verwandtschaft, Lady Megumi. Ihr Onkel Sostre sollte vielleicht noch erwähnt werden, der ältere Bruder Ihrer Mutter und derzeitige Erbe des Ratsvorsitz.“

„Oh Mann, das muß ich erstmal verdauen.“ Plötzlich wirklich, wirklich müde ließ ich mich in die Polster sinken.

„Das ist in der Tat eine Überraschung“, pflichtete mir Sora bei.

„Für mich nicht“, stellte Taylor grinsend fest. Das Grinsen verschwand aber, als er Ginas Blick zum wiederholten Male begegnete. Etwas an ihr schien ihn zu irritieren. Und zugegeben mich auch. Welcher Teufel hatte Oma geritten, eine einfache Restaurantbesitzerin in so ein ungewisses Abenteuer mitzunehmen?

„Und wieso nicht, Henry, mein Bester?“, fragte ich, um den ungewohnten Moment der Stille zu durchbrechen.

Taylor grinste breit. „Weil es mich sehr gewundert hätte, wenn innerhalb deines Magnetfeldes irgendetwas banales passiert wäre. Du ziehst nicht nur den Ärger an, Fliegerjunge, sondern auch außergewöhnliche Ereignisse.“

Franlin und Sora warfen mir schiefe Blicke zu. Simultan seufzten sie.
 

„Wie dem auch sei“, erhob Vern Attori seine Stimme wieder, „Lord Jeter ist gerade auf Daness, aber er wird so schnell wie möglich herüber kommen, um seine Enkelin zu begrüßen. Er wäre wahrscheinlich schon hier, immerhin wissen wir seit Monaten, wer sich im Kanto-System aufhält und seit ein paar Tagen wer hier her kommt – Jora gibt wirklich eine gute Befehlshaberin ab, aber keine perfekte Kopie von Ihnen, Lady Megumi – aber es gab Schwierigkeiten, denen er sich widmen muß. Als Chefarchitekt des Planetenprojekts konnte er seinen Zeitplan nicht weiter raffen. Seine Frau und Ihre Großmutter, Lyda, erwartet Sie aber zusammen mit Mitne. Und bevor Sie fragen, Ihre Großmutter mütterlicherseits, Baina, ist vor etwa achtzig Jahren gestorben. Dennoch bin ich sicher, dass Ihr Onkel Sie ebenfalls empfangen wird. Jedenfalls hat er versprochen im Turm zu sein.“ Vern warf mir nach seinem Monolog einen langen Blick zu. „Vorsicht, mein Lieber. Er mag keine Arogad, vor allem nicht solche, die ganze Systeme unterwerfen und sich selbst einladen.“

„Entschuldigung, dass ich nicht ganz euren Werten und Normen entspreche“, zischte ich verärgert.

„Ganze Systeme unterwerfen?“, fragte Megumi interessiert.

„Du weißt schon. Das Sol-System und alle Eroberungen, die wir im Kanto-System gemacht haben. Die Rechtswissenschaftler prüfen den Fall gerade.“

„Das meinte ich nicht“, widersprach Attori. „Ich meine das Nag-System, dass Sie erobert haben. Sie und Joan Reilley.“

Ich runzelte die Stirn. „Erobern ist vielleicht nicht das richtige Wort.“

„Nein, erobern passt schon. Miss Reilley ist enorm populär. Und Sie – ich hasse es das zugeben zu müssen – stehen ihr kaum nach. Gerade bei den Angehörigen der kleineren Häuser und bei den Hauslosen genießen Sie ein sehr hohes Ansehen. Immerhin haben Sie alleine eine Elite-Division Banges besiegt.“

„Dafür dass Sie es hassen zuzugeben loben Sie mich aber ganz schön über den grünen Klee, wie man auf der Erde sagt, mein guter Vern.“

„Warum auch nicht? Immerhin war es ja eine Arogad-Hauseinheit!“ Der Mann warf den Kopf nach hinten und lachte lauthals.

„Der Mann hat ja richtig Sinn für Humor“, bemerkte Henry grinsend.
 

„Mylord Attori, der Turm hat uns im Leitstrahl“, meldete der Fahrer des großen Schwebers.

Interessiert sah ich zum Seitenfenster hinaus – vor allem weil es mir erlaubte, Megumi dabei diskret zu berühren – und pfiff anerkennend. Der Turm der Daness stand dem der Arogad kaum nach. Vielleicht übertraf dieses Bauwerk den anderen Prunkbau sogar noch.

„Willkommen Zuhause, Megumi Solia Daness“, sagte Vern Attori mit Zufriedenheit in der Stimme. „Sie erobern das System vermutlich auch ohne einen Massenauflauf am Raumhafen.“

Ich blinzelte bei dieser Bemerkung. Natürlich, als ich und Joan ins System gekommen waren, hatte jede interessierte Frau und jeder interessierte Mann auf Naguad Prime und den anderen bewohnten Planeten gewusst, wer da kam und warum.

Megumi und Oma hingegen waren still und heimlich eingetroffen, soweit ich das sagen konnte.

Demnach verwunderte mich die Menschenmenge, die den Landeplatz vor dem Turm einrahmte. Wir hätten auch eine Plattform auf dem Turm selbst benutzen können – eigentlich. Das Attori sich dagegen entschieden hatte, schien der erste Teil eines neuen Kapitels im ewigen Kampf zwischen Daness und Arogad zu sein. Arogad hatte seinen Erdenhelden, und Daness jetzt endlich auch.

Wieder erkannte ich bei der wartenden Menge viele in nachgemachten UEMF-Uniformen. Junge, entweder hatte der durchschnittliche Naguad zuviel Freizeit, war zu leicht zu begeistern oder hatte Helden wie Megumi und mich so nötig wie ein Verdurstender Wasser.

Wobei das Wort Held im Zusammenhang mit mir merkwürdig klang. Ein Mann, der dreitausend intelligente Wesen getötet hatte, konnte kein Held sein.
 

Nach einem Bad in der Menge, bei dem ich überraschenderweise sehr wohlwollend aufgenommen worden war, und einem harten und nachdrücklichen Kampf mit Attori, der mich nicht in das Appartement hatte lassen wollen, in dem sich Megumi frisch machen sollte, saß ich auf ihrer Couch und klopfte nervös die Fingerspitzen aufeinander. „Willst du was trinken?“ rief ich zu meiner Freundin ins Badezimmer. „Die haben hier ein paar sehr gute Weine und exzellente nichtalkoholische Getränke.“

„Deine Oma hat mir von diesem Tee erzählt. Wenn du den auftreiben kannst… Deine Oma ist übrigens sehr nett.“

„Du meinst Zuma, hm? Ich lasse welchen bringen. Und was zu essen vielleicht? Hm, du findest Oma nett?“

„Nein, danke, nichts zu essen. Ich bin viel zu nervös, um zu kauen. Ja, ich mag Eri. Sie hat mir einiges erzählt und so. Sie hat… Na, sie war halt wie eine Oma sein sollte. Auch wenn sie erst aussieht wie Mitte dreißig.“

„Nicht schlecht für sechshundert Lebensjahre, oder?“ schmunzelte ich und orderte über die im Couchtisch eingelassene Konsole Zuma bei der Turmküche. Gut, dass sich die Systeme nicht voneinander unterschieden, hier und im Arogad-Turm.

Megumi kam ins Wohnzimmer, ihr kurz geschnittenes Haar nachdrücklich abtrocknend. Sie trug neben der imperialen Uniformhose nur ein recht luftiges Tank Top, ganz nach Naguad-Vorschrift. Aber eine vollständige UEMF-Uniform mit all den Daness bekannten Orden lag schon für sie bereit. Nun, da sie ihren eigenen Erdenhelden hatten, wollten sie ihn auch richtig präsentieren, ging es mir durch den Kopf.

Sie warf mir das nasse Handtuch an den Kopf. „Hey. Ignoriere mich nicht. Seit wann ist eine Uniform für dich interessanter als ich?“

Ich sah sie an, in ihre herrlichen blauen Augen, ihr strahlendes Gesicht, die schwarz gefärbten Haare so gut es ging ignorierend – und wurde rot.
 

Langsam erhob ich mich. „Megumi. Es gibt da etwas, dass… Ich meine, ich… Ich habe mit Joan geschlafen.“

„So? Gut.“

Meine Kinnlade sackte herab. „Was?“

„Ich sagte, gut. Legen wir das ad acta. Oder spielst du mit dem Gedanken, Mako die Freundin auszuspannen? Du weißt, ich könnte mit einer direkten Konkurrenz wie Joan nicht leben.“

„Megumi“, sagte ich leise, legte die Hände gefaltet vor mein Gesicht und atmete tief durch. „Megumi, ich war mit Joan im Bett. Oft, nachdrücklich und meistens auch ziemlich lange.“

„Ja, ich kenne deinen Stil. Ich hoffe sie war zufrieden mit dir. Muss sie ja, wenn du sagst, ihr habt oft miteinander geschlafen.“

„Megumi, Megumi, Megumi, was redest du da? Ich habe mit ihr ge-schla-fen!“

„Warum betonst du das so?“ Misstrauisch hob sie die Augenbrauen. „Joan sah wirklich gut aus bei ihren Auftritten auf Naguad Prime. Da war nichts mehr von der Puppe ohne Persönlichkeit, die sie war als Torum Acati ihr den Verstand zerschmettert hat. Aber so wie du die Sache wieder und wieder betonst… Du hast sie doch nicht etwa ausgenutzt, als sie vollkommen hilflos war, nur dich als Bezugsperson hatte und mehr wie ein Kleinkind als eine erwachsene Frau war? Ich meine, wenn dir so etwas gefällt, wir könnten ja mal ein paar Rollenspiele ausprobieren, was meinst du?“

„Natürlich habe ich sie nicht ausgenutzt!“, rief ich erschrocken. „Natürlich nicht. Sie hat sich von Anfang an an mich geklammert. Ich war ihr Anker in die Realität. Ihre Lust ist auch erst erwacht, als sie wieder ihren Verstand zurück gewann. Ich habe ihr anfangs tapfer widerstanden, obwohl ich wusste, dass es nicht gut für ihre Genesung war. Aber dann hat mich Torum beiseite genommen und gemeint, dass wir beide unsere Leben so intensiv auskosten sollten wie wir konnten, weil er absolut keine Ahnung hatte, wie lange wir noch leben durften. Tja, und dann ist es einfach passiert und passiert und passiert und passiert und…“
 

Der Zeigefinger ihrer Rechten legte sich auf meinen Mund und ließ den Strom an Wörtern abbrechen. „Akira. Ich habe schon verstanden. Was ich wissen will ist, wo du stehst und wo ich da jetzt hinein passe. Liebst du sie?“

„Natürlich liebe ich sie, aber nicht so sehr wie dich.“

„Dann ist es doch in Ordnung.“

„Megumi, es kann nicht in Ordnung sein. Es darf nicht in Ordnung sein. Ich habe mit ihr geschlafen. Ich habe sowohl dich betrogen als auch meinen lieben Makoto. Schlimmer könnte es nur noch sein, wenn ich mit Yoshi schlafen würde und… Okay, vergiss das bitte wieder. Aber du solltest wütend sein, mich anklagen, mir etwas vorwerfen, oder etwas nach mir werfen. Ich verstehe nicht, wie du so ruhig sein kannst, nachdem ich dich betrogen habe. Nachdem ich Makoto betrogen habe.“

Sanft streichelte ihre Rechte meine Wange. Dann wurde ein heftiger Schlag draus. Verdammt, schon wieder diese Stelle.

„Gut so?“, fragte sie lächelnd. Gott, ich liebte diese Frau.

„Nein.“

„Okay, mein Schatz. Gehen wir die Sache mal durch. Du warst Acatis Geisel im Austausch für die Sicherheit der AURORA. Du und Joan wurdet von ihm nach Naguad Prime entführt, damit euch als Rebellen und Aufständischen der Prozess gemacht werden sollte. Vor eurer Ankunft hier hattet ihr nur einander und zudem die nicht gerade erfreuliche Aussicht, hier hingerichtet zu werden. Ihr seid sehr gute Freunde füreinander und… Na ja, es ist halt passiert. Aber solange du dich jetzt nicht für Joan entscheidest – was ich dir nicht einmal übel nehmen könnte – oder uns beide zugleich willst – was ich dir sehr wohl übel nehmen würde – ist alles in Ordnung.“

„Du nimmst die Sache viel zu locker, Megumi. Viel zu locker. Das habe ich nicht verdient. Nein, nein, ich brauche eine Strafe.“ Deprimiert senkte ich den Blick. Mann, war ich ein Idiot.

„Oh. Tut mir Leid, aber mit einer Strafe kann ich nicht dienen. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“

„Was?“

„Bei mir ist es zwar nicht ganz dasselbe wie bei dir, aber rein moralisch darf ich dir überhaupt nichts vorwerfen, Akira. Hauptsache, du kommst wieder zu mir.“

„Wie?“

Sie seufzte. „Bei unserer ersten Nacht auf OLYMP, nach deiner Geburtstagsfeier, kamen dir da ein paar Dinge nicht merkwürdig vor?“

„Nur, dass du sehr gut vorbereitet warst. Ich meine, die Gummis und so…“

„Dir ist also nicht aufgefallen, dass ich keine Jungfrau mehr war?“

„Nicht, dass ich damit Erfahrung hätte“, brummte ich erschrocken, entsetzt, verstimmt und überfahren. „Es erklärt aber, dass du diese Tricks drauf hattest und… Wer war es?“

Sie errötete leicht. „Eigentlich kann man es wirklich nicht vergleichen. Immerhin waren wir zwei damals nicht zusammen, oder? Selbst zwischen den beiden Marsangriffen gab es nie eine Zeit, in der ich gesagt hätte: Ja, wir zwei sind ein Paar.“

„Rechtfertigst du dich jetzt?“, fragte ich leise.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte nur, dass du mich verstehst. Die Zeit, als du die Hekatoncheiren verlassen hast, die Zeit als du in diesem Biotank auf OLYMP gefangen warst, die langen Jahre in denen du gegen deine partiell gelöschte Erinnerung angekämpft hast… Du warst so weit von mir entfernt, dass ich dich kaum noch sehen konnte. Ich… Es hat sich halt irgendwann ergeben, als ich mal wirklich Halt brauchte. Und wer wäre besser dazu geeignet gewesen, um mir wirklich männlichen Halt zu geben als…“

„Eikichi?“ rief ich entsetzt. „Hat Eikichi dich… Hat Vater dich…?“

Amüsiert sah sie mich an. „Nicht Eikichi. Aber jetzt wo du es sagst, es wäre vielleicht keine schlechte Idee gewesen. Dann wäre es ja auch in der Familie geblieben.“

„Wieso auch?“ Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Sag mir nicht, es war Makoto. Unser kleiner, süßer, Frauenkleider tragender Makoto.“

„Oh, er kann sehr männlich sein, wenn er will. Verdammt männlich.“

„Jetzt verstehe ich einiges. Warum ihr zwei euch gegenüber manchmal so kühl, beinahe schon zurückweisend wart, wenn ihr euch getroffen habt. Nein, professionell ist das passende Wort. Ihr wolltet nicht, dass die alte Flamme wieder auflodert, oder?“

„Ach, die alte Flamme ist immer mal wieder aufgelodert, Akira. Bis ich zu dir ins Haus gezogen bin, sicherlich ein paar Mal im Jahr. Aber was soll´s, wir zwei waren ja nicht zusammen.“

„Ich glaube, ich lasse mich von ihm scheiden.“

Megumi rutschte auf meinen Schoss. „Sei ihm lieber dankbar“, hauchte sie mir ins Ohr, „erstens hat er mich durch eine sehr schlimme Zeit gebracht und zweitens hat er mir ein paar von den Tricks beigebracht. Das hier zum Beispiel.“

Ich bekam sofort eine Gänsehaut, als ich Megumis Zähne an meinem Ohr knabbern fühlte. Ja, das war ein sehr guter Trick. Ich mochte ihn sehr, sehr gerne. Und Megumi auf meinem Schoss zu haben, ihre Wärme, ihre Nähe zu fühlen, war aufregend wie immer.

„Also, wer ist deine Freundin, A-ki-ra-sa-ma?“ gurrte sie mir leise zu.

„Du und nur du.“

„Na also“, stellte sie zufrieden fest, gab mir einen flüchtigen Kuss und erhob sich. „Leider muss ich mich jetzt beeilen, mein Termin bei Mitne ist gleich und ich muß noch die Uniform wechseln.“ Sie lächelte mich an. „Aber du kannst mir beim anziehen helfen wenn du willst, A-ki-ra-sa-ma.“

„Heirate mich“, rief ich spontan aus.

„Später vielleicht. Jetzt hilf mir erstmal in diese Uniform“, erwiderte sie lächelnd.

Hastig sprang ich auf, schnappte mir die nagelneue Uniform und folgte ihr ins Bad. Das Leben konnte schön sein – sogar für mich.
 

Eine Viertelstunde später drängte Attori bereits wieder zum Aufbruch. Megumi und ich wurden mit unseren Freunden vereinigt, und unserem Nicht so Freund Henry, und man brachte uns durch ein ähnliches Fahrstuhlsystem, wie ich es vom Turm der Arogad kannte.

Auch hier ging die Reise bis in die Spitze. Doch anstatt eines gläsernen Büros in der absoluten Spitze des Turms erwartete uns ein gewaltiger Kuppelbau, der mit verschiedenen Sitzgelegenheiten notdürftig gefüllt war, einem wuchtigen Schreibtisch, der aber angesichts der Dimensionen hier beinahe zierlich wirkte, und einem großen Konferenztisch, an dem drei Naguad saßen, zwei Männer, eine Frau, und wartend zu uns herüber sahen.

Der eine, Ältere, erhob sich erfreut, kam um den Tisch herum und eilte auf Megumi zu. Einem ersten spontanen Impuls folgend wollte er sie umarmen, ließ es dann aber doch und sagte erklärend: „Ich bin dein Großvater Mitne, Solia. Es tut mir leid, dass du so hast auf der Erde leiden müssen.“

Unentschlossen machte der alte Mann wieder einen Schritt nach vorne, dann noch einen.

Da war aber die Frau da und schloss Megumi in eine innige Umarmung. „Oh, du armes Mädchen. So lange von zu Hause getrennt und unter all diesen Barbaren von der Erde. Schrecklich.“ Sie warf mir einen taxierenden Blick zu, und ich fühlte mich seziert und bloß gelegt. DAS musste ihre Großmutter Baina sein. Auch wenn sie wie lediglich vierzig wirkte, diese Frau hatte ihren Vater geboren. Oder zumindest die Gene gespendet. Da war ich mir noch nicht ganz sicher.

„Na, wenigstens hast du dir ein anständiges Exemplar an Barbaren geschnappt“, murmelte sie nach meiner Musterung und schmunzelte.

In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich nicht einmal ein halber Naguad war. Zur Hälfte war ich Erdenmensch, dank Vater. Ein Viertel und ein achtel war Naguad, und das letzte Achtel war Iovar. Megumi hingegen war hundert Prozent Naguad, mit Gütesiegel und von Angehörigen eines einzigen Hauses gezeugt. Die Stammbäume und die genetischen Wächter der Daness hatten sicherlich dafür gesorgt, dass die Verbindung ihrer Eltern nicht zu nahe in der Genetik erfolgt war.

Aber auch wenn, das Ergebnis konnte sich sehen lassen und ich wollte es nie wieder aus den Händen lassen. Und endlich, endlich hatte sie wieder Familie. Abgesehen von meinem Haushalt.
 

Der zweite Mann am Tisch erhob sich. Er fixierte mich ernst und forderte damit meine Aufmerksamkeit ein, während nun endlich Mitne zu seinem Recht kam und Megumi umarmen durfte.

„Sag mal, Arogad“, begann er, und seine Stimme klang ernst und arrogant, „wenn du hier bist, wenn Solia hier ist und wenn Eridia hier ist, was ist dann mit unserem geheimen Pakt? Wer beschützt jetzt die Erde?“

Geheimer Pakt? „Ich glaube, wir haben uns einiges zu erzählen“, murmelte ich ernst.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2007-04-04T16:54:11+00:00 04.04.2007 18:54
Wie immer spitzenklasse!


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