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Begegnung auf Route 6

von

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Der Sturm

Ich stecke in Schwierigkeiten. Ich stecke in Schwierigkeiten. Ich stecke in ganz gewaltigen Schwierigkeiten!

Der Himmel donnerte, als wollte er mir für diese Einsicht spöttisch Beifall zollen. Meine Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln, als ich mein Gesicht mehr schlecht als recht mit einer Hand beschirmte, den Kopf in den Nacken legte und die brodelnde Schwärze über mir begutachtete. Eine Gänsehaut zog sich über meine Arme, und das lag gewiss nicht nur an dem kalten Wind, der verbissen an meinen Haaren und Kleidern zerrte.

Wie kann das bloß sein?, dachte ich mit einer Mischung aus Furcht und Faszination. Wie kann das Wetter innerhalb so kurzer Zeit so drastisch umschwenken? Vor ein paar Minuten war der Himmel doch noch strahlend blau gewesen ...

Ein neuer Blitz tauchte die Welt für einen Herzschlag in grelles Licht; gleich darauf verschluckte ein ohrenbetäubendes Krachen sämtliche Geräusche um mich herum. Mit einem stummen Schrei auf den Lippen schlug ich beide Arme über meinem Kopf zusammen, als würde mir diese Geste in irgendeiner Weise Schutz bieten können.

Keine Zeit zum Nachdenken! Keine Zeit, Fragen zu stellen! Rennen!

Und ich rannte.

Ich rannte mitten durch eine Ansammlung von Bäumen hindurch, und mein Herz schien mit jedem hektischen Schlag „dumm!“ zu kreischen. Dumm! Dumm, dumm, dumm!

Natürlich wusste ich, dass es dumm war, mich während eines Gewitters in der Nähe von Bäumen aufzuhalten, aber ich konnte kaum etwas dagegen unternehmen, weil ich von Bäumen geradezu umzingelt war. Vor mir Bäume, hinter mir Bäume, rechts von mir der Fluss und links von mir ... noch mehr Bäume. Mir blieb nur die Möglichkeit zu rennen und zu hoffen, dass ich bald einen sicheren Unterschlupf finden würde. Der Weg zurück nach Marea City war viel zu lang, der Weg zur Elektrolithhöhle noch länger, aber ich wusste, dass sich auf der Mitte der Strecke das JFI, das Jahreszeitenforschungsinstitut, befand, und wenn mich mein Instinkt nicht täuschte, müsste ich bald dort ankommen.

Ich hatte selten so verzweifelt darauf gehofft, dass mein Instinkt mich nicht täuschen würde, wie in dieser Situation.

Ich rannte und rannte und riss mir das Gesicht an einem tief hängenden Ast auf und rannte und stolperte durch eiskalte Regenpfützen und rannte weiter und brach endlich aus den Bäumen hervor.

Ich taumelte noch ein paar Schritte vorwärts, dann blieb ich zusammengekrümmt stehen, stützte meine Hände auf den Knien ab und rang angestrengt nach Luft. Es war so verdammt unangenehm, ich fühlte mich gleichzeitig erhitzt und unterkühlt. Ich konnte spüren, wie mir der Schweiß über das Gesicht lief und sich mit dem Regenwasser mischte, wie meine nasse Kleidung auf der Haut klebte, wie meine Lungen brannten, als hätte ich Eissplitter eingeatmet.

Reiß dich zusammen, Touko! Konzentriere dich auf das Wesentliche! Sieh dich um!

Ich hob den Kopf und blickte mich genauer um. Und was ich sah, verdrängte all die unangenehmen Eindrücke schlagartig: Das JFI! Es war tatsächlich nicht mehr weit ...

Und wieder ein Blitz, und wieder ein Donnerschlag, und wieder rannte ich los.

Ein jämmerlicher Schrei drang in meine Ohren, genau in dem Moment, in dem ich an einer Brücke vorbeikam. Ich wirbelte reflexartig auf den Fußballen herum, ließ meinen Blick hektisch über die Umgebung schweifen - und stolperte dabei beinahe über meine eigenen Füße.

Zuerst kam ich mir unglaublich dämlich vor, wie ein albernes verwöhntes Mädchen, dass bei dem kleinsten Unwetter hysterisch wurde und sich einbildete, Stimmen im Heulen des Windes zu hören.

Aber verdammt, dieses Unwetter war weder klein noch harmlos, und es hatte sich wirklich wie ein Schrei angehört ...

Ich schaute mich noch einmal um, zögernd, zweifelnd. Und dann-

Oh, scheiße!

Ich bemerkte es, als ich das Wasser näher betrachtete. Das Wasser war genauso aufgewühlt wie der Himmel, ein köchelnder Albtraum aus Schwarz und Dunkelblau, besetzt mit weißen Schaumkronen. Und in diesem Chaos trieb ein einzelner rosa Fleck ... der Kopf eines Sesokitz. Es trieb ganz in der Nähe der Brücke, die nicht mehr war als ein flacher Holzsteg ohne Geländer, im Wasser. Dann stieß es auch schon gegen die Brücke und versuchte, sich mit den Vorderläufen daran festzuklammern.

Ich setzte mich in Bewegung, ohne es überhaupt bewusst wahrzunehmen, und überwand den Abstand zur Brücke in einer Geschwindigkeit, die mich selbst erstaunt hätte – wenn ich in dieser Situation auch nur einen Gedanken daran verschwendet hätte.

Als ich den Anfang der Brücke erreichte, einen Pokéball wurfbereit in der Hand, wurde ich von einer neuen eisigen Sturmböe erfasst, die mir meine Kappe vom Kopf zerrte und sie fortwehte, bevor ich etwas dagegen unternehmen konnte. Erst in diesem Augenblick begriff ich, dass ich unter diesen Umständen unmöglich in der Lage sein würde, das Sesokitz mit einem Pokéball zu fangen: Erstens war der Sturm so stark, dass er den Ball sofort aus seiner Flugbahn werfen würde, zweitens würde der Pokéball im unwahrscheinlichen Fall, dass ich doch genug Glück hatte, das Sesokitz zu treffen, unmittelbar nach dem Einfangen des Pokémons im Fluss versinken.

Mir blieb nur die Möglichkeit, die Brücke zu betreten, das Pokémon eigenhändig aus dem Wasser zu ziehen, und es dann mit dem Ball einzufangen. Und dann so schnell wie möglich zum FJI zu rennen und Schutz für uns beide zu suchen.

Ich überquerte die Brücke wie ein Seiltänzer über einer metertiefen Schlucht. Vorsichtige, aber zielstrebige Schritte. Ich ignorierte das besorgniserregende morsche Knirschen des Holzes unter meinen Füßen und umging die rutschigen Wasserpfützen, die sich auf der Brücke gebildet hatten. Aus irgendeinem Grund wurde ich durch die jämmerlichen Schreie und die schiere Panik in den rollenden Augen des Pokémons nicht ängstlicher, sondern ruhiger. Und entschlossener.

Halte durch, dachte ich, als ich einen weiteren konzentrierten Schritt setzte, ich bin gleich da. Die Augen des Sesokitz trafen meine eigenen, verschränkten sich darin ... und mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als hätte es mich genau verstanden ... als würde sich ein Teil meiner eigenen Ruhe auf dieses kleine Wesen übertragen. Dann war ich an der Mitte der Brücke angelangt – dem Punkt, der dem Pokémon am nächsten war. Eine Welle erfasste das Sesokitz, drückte seinen Kopf unter Wasser und drohte, es fortzureißen und unter die Brücke hinweg zu treiben. Mit einem Schrei packte ich die strampelnden Vorderläufe und zog mit all meiner Kraft. Es war schwerer als ich vermutet hatte, und eine furchtbare Sekunde lang glaubte ich, gleich nach vorne hin umzukippen. Ich konnte mein Gleichgewicht wiedergewinnen und zog und zog, dann tauchte der Kopf endlich wieder aus den Fluten auf. „Ruhig“, murmelte ich, „Ruhig. Alles wird gut.“ Ich zog den zitternden Körper zur Hälfte aus dem Wasser heraus, bettete den zierlichen Kopf in meinem Schoß und holte den Pokéball wieder aus meiner Tasche. „Alles wird-“

Eine neue Sturmböe erfasste uns, ließ einen Wasserschwall über uns hinwegschwappen und raubte mir den Atem.

Gott, wenn das alles hier vorbei ist, werde ich wahrscheinlich an einer Lungenentzündung-

Ich hatte keine Zeit, diesen lakonischen Gedanken zuendezuführen.

Ich dachte nicht daran, Atem zu schöpfen.

Ich dachte nicht daran, zu schreien.

Als das Holz unter mir mit einem entsetzlichen Knirschen entzwei brach, als die Welt in einem bizarren Winkel zur Seite kippte und ein dumpfer Schmerz in meinem Hinterkopf explodierte, dachte ich nur an eines: dass ich das Sesokitz in meinen Armen so gut wie möglich festhalten musste.

Dann stürzte das Wasser über uns zusammen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  mor
2012-03-27T13:15:57+00:00 27.03.2012 15:15
Das fängt ja schon mal sehr Spannend an ^^ wie es woll weiter gehen wierd? ^^


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