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shaping fate

von

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BFFI

Der Plan war simpel. Und angeblich waren simple Pläne besser. Was natürlich hieß, dass der Plan funktionieren würde. Was er sowieso würde. Weil es ihr Plan war.

Zunächst galt es, das alte Spiel aus frühen Tagen zu wiederholen: Der Boden ist Sumpfwasser! Sie hatte natürlich gerüchteweise gehört, das manche meinten, der Boden sei Lava. Das war natürlich Blödsinn. Schon allein, weil es an der Oberfläche gar keine Lava gab, die gehörte nach innen, tief unter die Erde, wo sie Zwergen und Dunkelelben das Leben schwer machen konnte, so wie sich das gehörte! Nein, Sumpfwasser war darüber hinaus auch viel ekliger. Natürlich hatte sich Arien schon mal verbrannt, wer hatte das nicht irgendwann? Aber sie war auch schon mal in den Sumpf gefallen.

Es hatte keine halbe Minute gedauert, da war sie wieder draußen, dank ihrem Großvater natürlich, der die halbe Minute genutzt hatte, um dem Dummkopf, der sie ins Wasser geschubst hatte, eine Lektion zu erteilen. Vermutete sie jedenfalls. Sie war immerhin damit beschäftigt gewesen, zu rudern, nach Luft zu schnappen und das aufgrund des faulen Geschmacks des Wassers sofort zu bereuen. Aber was den Sumpf wirklich widerlich machte, war nicht mal unbedingt der Geruch oder Geschmack des Wassers.

Es waren die Egel.

Eine halbe Minute, weniger bestimmt, und da waren drei. Die hatten sich sofort an ihr festgebissen. Sie hatte es in ihrer Hektik, aus dem Wasser zu kommen, nicht einmal bemerkt. Dabei hing eines der Dinger an ihrem Hals. An ihrem Hals! Und es war so groß wie ihre Hand, gute Götter! Ihr Großvater hatte ihr immer zu erklären versucht, das Phylia einen Plan hatte, wenn sie Dinge schuf. Pflanzen, die Tiere fraßen, beispielsweise. Einfach, damit man nicht unvorsichtig wurde, weil man aus Gewohnheit heraus davon ausging, das Pflanzen nur Licht und Wasser fraßen. Oder Tiere, die Magie beherrschten. Damit sie sich besser gegen Menschen verteidigen konnten. Und bestimmt auch gegen Zwerge und Dunkelelben.

Aber Egel?

Diese schwarze, glitschige Masse, zuckend und sich windend, die sie da von ihrem Hals abgezogen hatte… blutig und schleimig und… urgh. Ariens fachmännische Theorie belief sich nach wie vor darauf, das Phylia einfach einen wirklich, wirklich schlechten Tag gehabt haben musste, als sie das gebaut hatte. So wie Großvater immer irgendwas Gefährliches baute und in einem seiner Zauberschränke wegschloss, wenn er von einer Einladung des Rates zurückkam.

Also ja: Der Boden war ganz sicher nicht Lava. Er war Sumpf. Und damit war diese Sache schon mal geklärt!

Was natürlich nach wie vor das Problem offen ließ, wie man über den Sumpf kam. Zugegeben, sie würde nicht von Egeln angefallen werden, wenn sie den Boden betrat und sie war klug und alt genug, das zu wissen. Aber die Vorstellung half dabei, sich vor Augen zu führen, wie gefährlich es wäre. Denn die Dielen in diesem Haus waren… alt. Und offenbar hatte man ihr, ganz zufällig, das Zimmer gegeben, in denen die Dielen nicht nur am ältesten, sondern auch am lautesten waren.

Carasarta hatte sich bislang ohnehin schon als schrecklich langweilig erwiesen. Aber das lag vielleicht auch daran, dass sie den ganzen Tag Großvaters Liste an Verpflichtungen hinterherjagen mussten. Er hatte immerhin versprochen, dass es viel lustigere Ecken gab und er ihr diese morgen zeigen würde.

Nur war Geduld nicht unbedingt eine ihrer Stärken. Außerdem war Großvater ein viel beschäftigter Mann – er konnte ja unmöglich alle Ecken und Winkel der Stadt kennen, nicht? Coru hingegen besaß eine wirklich feine Nase und sie selbst hatte eine andere, etwas kürzer geratene Perspektive – vielleicht fanden sie ja ein paar Orte, die Spaß machten und von denen Großvater noch nichts wusste… oder andere Abenteuer. Abenteuer waren auch gut.

Nach einem langen Moment der Kontempt-… Kontam-… des Nachdenkens erhob sich Arien schließlich aus ihrem Schneidersitz. Bäume mochte es in diesem Sumpf vielleicht nicht geben – aber Stümpfe! Also balancierte sie geschickt und grazil und nur gelegentlich halb aufschreiend mit den Armen rudernd über ihren Nachttisch, den Stuhl, die Kommodentür und schließlich den zweiten kleinen Nachttisch, der aus irgendeinem Grund direkt neben der Tür stand. Immerhin – sie hatte die Lampe vom Runterfallen abhalten können, die Kommode war lediglich fast umgekippt und hatte sie daher auch nur fast unter sich begraben und ihre halb erstickten Aufschreie waren sicherlich nicht laut genug gewesen, um gehört zu werden.

Und Coru tippelte einfach zur Tür.

Ein wenig musste sie schon lachen, als sie sich vorstellte, wie ihr treuster Freund und Begleiter den Sumpf durchquerte. Oder eher, überquerte. Coru lief auf Wasser, offensichtlich, denn sein Gewicht entlockte den verräterischen Wach-Dielen nicht einen einzigen Laut.

Leise öffnete sie die Tür, gerade weit genug, dass sie durchschlüpfen konnte. Sie hatte sich gut eingeprägt, wann die Tür zu knarzen begann und der Spalt war… nicht sonderlich bequem, aber breit genug. Damit kamen sie natürlich im Flur an und das Dilemma setzte sich fort. Nein, der Boden war nicht mehr Sumpf. Jedenfalls nicht überall – und sie hatte sich gut eingeprägt, wo die Dielen Alarm schlugen und wo nicht.

Direkt neben ihrem Zimmer war Illanyas Zimmer. Und so wie sie die Köchin kannte, war die noch unten und räumte auf und las Kochbücher und sortierte Gewürze und bereitete Dinge für die Mahlzeiten morgen vor. Was hieß, das ihr Zimmer leer war und der Türsturz damit eine gute Gelegenheit bot, sich vorwärts zu schleichen.

Rasch schlüpfte sie hinaus in den Flur, tippelte dicht von Coru gefolgt an der Wand entlang und schlüpfte in die nächste Lücke hinein. Dabei war sie vielleicht, nur vielleicht, ein klein wenig schneller gewesen als beabsichtigt – was dazu führte, das ihr Kopf ein wenig gegen die Tür schlug. „Au…“, zischte sie leise und sah sich beinahe augenblicklich um.

„Er kommt!“, warnte Coru sie. Panisch die Augen aufreißend, wirbelte sie herum und starrte ihren Mitverschwörer an. Sein Blick aber haftete an der Zimmertür. Nur… warum sollte Großvater in Illanyas Zimmer sein?! Und tatsächlich, nach einem Moment konnte sie die Dielen im Zimmer knarren hören, Schritte, die näher kamen. Panisch stolperte ihr Verstand durch verschiedene Fluchtszenarien und entschied sich für das Wagemutigste, denn ein Held musste schließlich wagemutig sein!

Flucht nach vorne.

Abermals dicht von Coru gefolgt, taumelte Arien den Gang hinab, achtete peinlich genau darauf, ihre Schritte mit denen ihres Großvaters in einen Takt fallen zu lassen, damit er das eventuelle Knarzen nicht vernahm und schlüpfte gerade noch rechtzeitig um die Ecke, auf die Treppe hinab in das untere Stockwerk. Sie hörte, wie die Tür aufging. Dann erst einmal Stille. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an und trotzdem hatte sie das Verlangen, schwer zu schlucken. Aber sie tat es nicht – schon aus der Angst heraus, er könne es hören, irgendwie.

„Arien? Illanya?“, vernahm sie leise Großvaters Stimme. Nach einem weiteren Moment des Schweigens hörte sie, wie die Tür wieder geschlossen wurde. Lenikki sei Dank!

Damit war der nächste Teilabschnitt ihres gefährlichen Manövers direkt vor ihr: Die Treppe.

Auf Zehenspitzen tippelte sie zum Geländer. Auf den Teil freute sie sich sogar. Auf das Geländer klettern erwies sich als unbequem und schwierig, weil es recht hoch war, doch einmal oben, folgte der lustige Teil – sie ließ sich nach ganz unten rutschen. Einmal dort angekommen, hatte sie wieder ihre Müh‘ und Not, vom Geländer runter zu kommen – aber das hatte definitiv Spaß gemacht und sie würde es definitiv wiederholen… nur sollte Großvater das vielleicht nicht unbedingt sehen oder wissen. Er war zweifellos kein so großer Freund von Geländerrutschen. Man könnte ja schließlich zur anderen Seite runterfallen und das war immerhin ein ziemlich hoher Sturz und könnte gefährlich werden…

Damit war sie im Untergeschoss des Hauses angelangt und es waren nur noch wenige Meter bis zur Ausgangstür. Sie hatten es also fast geschafft, ihr Plan war fast aufgegangen…

„Kekse!“

Corus Stimme in ihrem Kopf war noch immer etwas ungewohnt, er tat das noch nicht allzu lange und bisher hatten auch keine anderen Tiere versucht, mit ihr zu reden. Er konnte auch selbst nicht ganz erklären, wieso sie ihn plötzlich verstand – denn laut seiner Sicht hatte er schon immer mit ihr geredet. Das wiederum glaubte sie ihm sofort, immerhin schien er sehr wichtige Informationen über sie zu besitzen, beispielsweise, dass ein Keks-Alarm immer eine Abweichung von vorhandenen Plänen wert war!

„Was für welche?“, flüsterte sie möglichst leise.

„Mit flüssiger Schokolade drin.“

Insbesondere für diese Kekse!

Ein Abenteurer musste wagemutig sein, nicht? Außerdem brauchten Abenteurer Wegzehrung für ihre Entdeckungen und weiten Reisen. Ein Punkt, den sie bisher gar nicht bedacht hatte. Natürlich würde sie nicht allzu lange draußen bleiben. Sie wollte schließlich weder, dass irgendwer ihr Fehlen bemerkte, noch, dass sich irgendwer Sorgen machen würde. Ein oder zwei Kekse sollten also völlig genügen.

Die nächsten Schritte führten sie daher auch nicht zur Ausgangstür, sondern zum Türsturz, der in die Küche überführte. Illanya rührte in einer Schüssel herum. Der Inhalt sah nach irgendeinem hellen Teig aus, mit kleinen, rötlichen Tupfen darin. Worum es sich dabei handelte, war schnell geklärt… mehr oder weniger. Auf dem Küchenschrank standen mehrere Brettchen mit Messern und bereits geschnittenen Zutaten. Das Rot kam entweder  von den Erdbeeren, oder von den Chili-Schoten. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich nicht von beidem in Kombination, denn was immer das wäre, sie würde es sicherlich nicht probieren wollen!

Ihr Blick streifte weiter, über die geschlossenen Schränke, über die offene Feuerstelle, über den Esstisch mit der Stuhlgruppe und… die zwei Tabletts, die darauf ruhten. Jedes voll beladen mit Keksen. Vermutlich für morgen, denn es ging noch so einiges an Hitze von ihnen aus. Illanya musste wieder ihre Magie gewirkt haben, wortwörtlich, damit sie die Kekse nicht schon im ganzen Haus hatte riechen können! Einfach nur gemein.

Dann wiederum, wann immer sie es tatsächlich mal schaffte, es zu verbergen, waren sie auch schöne Überraschungen. Sie würde sich natürlich morgen nicht anmerken lassen, dass sie schon davon gewusst hatte. Vielleicht würde das ja diesmal klappen… doch was das vorläufige weitere Vorgehen anbelangte, konnte es keine Diskussionen geben, keine Zweifel. Sie brauchte Wegzehrung! Und nichts anderes würde taugen.

Ihr erster Plan war recht schnell verworfen. Natürlich könnte sie versuchen, mit ihren großen, müden Augen Illanya darüber aufzuklären, das sie nicht schlafen könne – nur dazu müsste sie ihre Kleider wieder ausziehen, ihren Nachthemd wieder anziehen und Coru würde vermutlich nicht genug Ablenkung durch das Manöver bekommen, einfach weil sie es schon zu oft verwendet hatten…

Dann wiederum, warum nicht dreist sein? Also, wagemutig natürlich? Illanya rührte in ihrer Schüssel und starrte in ihr Buch, gelegentlich setzte sie die Schüssel ab, schrieb etwas hinein, rührte weiter… sie wirkte merkwürdig fokussiert, je länger Arien zusah. Auch fiel ihr jetzt erstmals auf, dass sie unter ihrer Küchenschürze ein Kleid trug. Also, eines ihrer Hübscheren. Ihr erschloss sich nicht so recht, weshalb, aber das bot vielleicht eine gute Gelegenheit, eine möglicherweise einmalige Gelegenheit!

Hastig und mit in den Ohren rauschendem Blut allen Mut zusammenkratzend, schlüpfte sie direkt hinter der Köchin ihres Großvaters in die Küche. Sie nahm sich einen der Kekse, deren Teig noch warm, aber bereits ausgehärtet. Dann noch einen. Noch einen. Noch einen. Noch einen. Gut, das sollte reichen. Sie ließ sich sogar genug Zeit, die verbliebenen Kekse auf dem Tablett so neu zu arrangieren, das es den Eindruck machen würde, das kein Einziger fehlte.

Als sie wieder aus der Küche verwand, drückte sie sich zunächst einen Moment mit dem Rücken gegen die Wand. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust wie schon auf der Treppe, ihr war ein klein wenig schwindlig, weil sie nicht bemerkt hatte, wie sie den Atem anhielt, also… atmete sie erstmal einen Moment ruhig und tief und gleichmäßig durch.

Mut haben war wirklich anstrengend.

Nachdem ihr das Atmen wieder glückte und ihre Finger nicht mehr kribbelten, schlich sie lautlos am Kücheneingang vorbei, sich innerlich dafür scheltend, das sie bei ihrer Flucht aus der Küche eigentlich direkt die andere Seite hätte ansteuern können. Doch sie bekam abermals keine Probleme. Vielleicht wurde Illanya nachlässig?

Auch die Haustür konnte sie nahezu lautlos öffnen und schließen.

Und damit lag sie vor ihr. Die Stadt Carasarta. Eine neue Stadt voller Abenteuer und Möglichkeiten… hoffentlich.

 

Das langweilige Erwachen ließ sich eine Stunde Zeit. Vielleicht waren es auch anderthalb.

Arien trottete mit einem Wanderstock bewaffnet durch die Straßen und Gassen einer Stadt, die ebenso gut hätte ausgestorben sein können. Sie hatte versucht, sich das vorzustellen – sie, die große Entdeckerin, die die Ruine einer alten elbischen Zivilisation entdeckte… aber die Ernüchterung stellte sich rasch ein, als ihr klar wurde, wie grässlich langweilig es sein musste, Ruinen zu entdecken. Niemand, mit dem man reden konnte, keine Monster, vor denen man fliehen musste, keine Schurken, die man bekämpfen konnte. Nur leere Häuser.

Und diese hier waren nicht mal leer!

Dann und wann waren sie beleuchtet und sie konnte Gespräche hören oder Gesänge oder das Scharren von Besteck auf Tellern. Manche hatten wirklich seltsame Essenszeiten. Dann wiederum, manche hatten wirklich seltsame Arbeitszeiten und Großvater war ja auch nicht unbedingt ein Glanzbeispiel, wenn Illanya da Recht hatte.

Letztlich streifte sie mit Coru an ihrer Seite die Straßen entlang, knabberte ein wenig lustlos an den Resten ihres letzten Kekses herum und hoffte, dass das Abenteuer sie finden würde – denn allmählich war sie sich nicht mehr sicher, ob das umgekehrt überhaupt funktionierte. Zumindest nicht hier.

Sie kam in die Nähe des Flusses, als Lenikki ihr wohl doch noch ein wenig Glück zuschob.

 

„Stehenbleiben! Verdammt nochmal, bleib stehen!“, rief ein Verteidiger. Allein dem Ruf konnte man anhören, dass er ein wenig außer Atem war. Arien blieb sofort wie angewurzelt stehen. Der Ruf war weit weg, es ging also nicht um sie, aber sie konnte die hastigen Schritte hören, die näher kamen. Vielleicht… hätte sie sich doch kein Abenteuer wünschen sollen? Oder etwas präziser damit sein müssen…?

Doch ehe sie sich entscheiden konnte, ob umkehren und schlafen gehen nicht vielleicht doch besser wäre und ob sie nicht eigentlich doch recht müde sei, kam bereits ein Junge um die Ecke geschossen. Und das fast wortwörtlich. Er war verflixt schnell!

Außerdem blieb er direkt vor ihr stehen, einen ziemlich hektischen Blick an sie heftend. Er musterte sie einmal von unten nach oben und Arien verzog unweigerlich das Gesicht. Oh diesen Blick kannte sie schon, das konnte nicht gut enden. Jetzt käme der Punkt, an dem er sie damit aufzog, das sie-

„Du bist wie ich?!“, japste der sichtlich außer Atem geratene Junge.

Arien stockte, starrte ihn nun ihrerseits irritiert an. Das… war unerwartet. „Bin ich?“, hörte sie sich selbst fragen.

Er nickte eifrig und noch ehe sie sich für Flucht oder wenigstens einen Schritt zurück entscheiden konnte, trat er näher und griff sie bei den Schultern. „Du musst mir helfen, bitte! Ich hatte einfach nur fürchterlichen Hunger und wenn die mich erwischen… ich will nicht, das sie mich erwischen!“

Nachdem ihr gesamter Verstand für einen Moment regelrecht ausgesetzt zu haben schien, sprang er nun wieder in die Schienen und holte mit einer kräftigen Überladung verlorene Wegstrecke auf. Sie bemerkte den Druck an ihrer Schulter, sah aus dem Augenwinkel heraus das Bündel, das er trug. „Ich will den Speck! Er hat Speck!“, klang es in ihrem Hinterkopf. Darin war also das Essen. Sie bemerkte auch das Muster auf dem Tuch. Eine… eine alte Tischdecke? Hatte er denn keinen magischen Beutel? Sie bemerkte auch den ziemlich üblen Zustand seiner Kleidung. Zerrissen, an manchen Stellen. Zerschnitten an anderen, wie es schien. Und generell fürchterlich verdreckt. So wie seine Haut. Und seine Haare. Und er roch. Nicht auf die gute Art, wie Kekse oder ein schöner Festtagsbraten rochen.

Aber er hatte hübsche Augen. Eisblau. Und obwohl sein Lächeln im Moment ein wenig gezwungen wirkte, hektisch, verzweifelt, lag darin irgendwie Schalk, den sie so nur von Coru oder ihrem Spiegelbild kannte. Vielleicht waren sie wirklich gleich? Oder zumindest ähnlich?

Aber er wurde von Verteidigern gejagt. Diese Männer erhielten in der Stadt Recht und Ordnung. Sie waren die Guten, oder nicht? Warum jagten sie den Jungen also? Etwas später als ihr lieb gewesen wäre, registrierte sie auch seine Worte. Er hatte das Essen also… gestohlen?

Diebstahl war falsch. Und böse. Meistens.

Gedanklich kramte sie all ihre Bücher hervor. Und hätte fluchen wollen. Aber das tat man nicht. Großvater war da sehr strikt, auch wenn er selbst es immer mal wieder tat und sehr bereute, wenn sie ihn darauf hinwies. Meist fluchte er, wenn er glaubte, sie war nicht in Hörreichweite. Aber sie hatte feine Ohren. Sie war nämlich auch elbisch!

Ihre Bücher waren keine Hilfe, wirklich nicht. Es gab die netten Diebe, die dem Bösewicht seine Waffe stahlen. Oder ein Stück seiner Weltuntergangsmaschine. Oder einen Schlüssel oder Juwel. Und es gab die bösen Diebe, die… im Grunde genau das Gleiche stahlen, nur eben von den Guten, von den Helden und Abenteurern.

Essen stehlen konnte nicht so schlimm sein, oder? Und er sah wirklich ziemlich dürr aus. Konnte sie nicht mit den Verteidigern reden? Dann wiederum, wann hörten die Erwachsenen schon je zu, wenn sie etwas sagte? Außer ihrem Großvater natürlich. Aber bis zu dem würden sie es nicht schaffen, egal wie erschöpft die Verteidiger schon wären. Aber waren die nicht eigentlich die Guten? Wieder suchte sie nach Antworten in ihren Büchern, kramte einen Moment in ihrem Gedächtnis und wieder waren die Werke der Literatur wenig hilfreich. Manchmal waren die Guten, vor allem die Diebe, für böse gehalten worden, obwohl sie das gar nicht waren. Und dann mussten sie vor allem und jedem fliehen, um ihre Unschuld zu beweisen. Und manchmal waren die Guten die Bösen, ohne es zu wissen, weil sie belogen worden waren.

„Im Zweifelsfall“, kamen ihr Großvaters Worte in den Sinn, „Vertrau auf das hier“, meinte er und tippte gegen ihre Brust, „Ich denke, ich habe dich gut genug erzogen, dass der Kompass da drinnen taugen sollte, um dir zu sagen, was richtig und was falsch ist.“

Ihrem Großvater zunickend – der natürlich nicht hier war, weshalb die dem Jungen zunickte, der daraufhin bereits hoffnungsvoll leuchtende Augen bekam – traf sie ihre Entscheidung. Der Junge war dürr und verdreckt und hatte nur Essen gestohlen. Davon gab es genug, oder nicht?

„Du stinkst!“, meinte Arien zunächst.

„… w-was…?“, kam es sichtlich verwirrt von dem Jungen.

„Ja. Du stinkst. So finden sie dich ständig immer wieder. Aber ich habe eine Idee! Gib Coru den Beutel!“, erklärte sie so zügig, wie sie konnte. Die Verteidiger mussten ziemlich außer Atem sein, wenn sie so lange brauchten. Aber der Junge war auch wirklich, wirklich schnell gewesen, vermutlich hatte er sie gehörig auf Trab gehalten.

Ihr neuer Schützling starrte derweil unschlüssig auf den Fuchs, dann wieder zu ihr.

„Nun mach schon, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit! Coru passt darauf auf und versteckt es, keine Sorge. Er ist gut in sowas, wir, uhm, wir leihen uns immer mal wieder Kekse von unserer Köchin aus.“ Noch immer deutlich unschlüssig, senkte er langsam seine Hände und gab den Beutel Coru – der ohne zu Zögern zuschnappte und damit davon jagte. Auch Arien ließ sich keine Zeit mehr. Wer konnte schon genau sagen, wie nahe die Verteidiger waren? Und sie wollte ganz sicher keinen Ärger bekommen, indem sie hier draußen gesehen und erkannt wurde…!

Also packte sie den Dieb beim Handgelenk und riss ihn mit. Er war im ersten Moment ziemlich verwirrt und stolperte ihr eher hinterher, aber schon nach einem kurzen Moment holte er auf und vermutlich hätte er sie auch überholen können. Er war wirklich ziemlich schnell…!

Natürlich konnte er sie nicht überholen. Er wusste ja nicht, wo es hinging. Also führte sie ihn zum Fluss. „Was machen wir hier?“, quetschte er zwischen hastigen Atemzügen hervor.

„Das ist Ninafer, der Fluss läuft durch ganz Carasarta! Da können wir uns verstecken und du kannst den Gestank loswerden! So verlieren sie die Spur!“, antwortete sie ihm einen Moment langsamer werdend, ehe sie wieder Geschwindigkeit zuzulegen versuchte.

„Ich weiß, was das ist und es heißt Nîn Faer!“, erwiderte der Junge haspelnd.

Arien verzog ein wenig das Gesicht. Sie rettete ihm das Leben – also, das Leben vielleicht nicht, aber sie rettete ihn! – und er belehrte sie? Das gehörte sich so aber auch nicht. „Meins klingt schöner!“, gab sie schlagfertig zurück. Und damit er auch ja nicht auf die Idee kam, zu widersprechen oder noch mehr Belehrungen auszupacken, legte sie nochmal ein wenig an Tempo zu, holte alles heraus, was sie konnte und, ohne zu zögern, sprang ab.

Sie bemerkte, wie er auf dem letzten halben Meter – als es ohnehin schon zu spät war – zu bremsen versuchte… und dann kam die Trägheit. Ihr Gewicht, verbunden mit dem Tempo, riss ihn schlicht vom Ufer fort und hinter ihr her. Sie verlor dank seiner Bremsung den Kontakt zu ihm, aber das grundsätzliche Ziel war erreicht: Beide landeten im Wasser.

Der Fluss – wie immer er nun wirklich hieß – war eisig kalt und nachtschwarz. Natürlich, es war ja auch Nacht. Glücklicherweise konnte sie sich rasch genug orientieren, wo oben war und schwamm an die Oberfläche. Als sie dort ankam und nach Luft schnappte, sah sie sich leise lachend um. Sie hatten es geschafft! Sie waren der Wache entkommen! Sie hatte ihr erstes, richtiges Abenteuer bestritten und… und…

… wo war er?

Das Lachen versiegte schlagartig und Angst kroch ihr in die Glieder. Er hätte längst wieder auftauchen müssen! Was, wenn etwas passiert war? Was, wenn er zu sehr gebremst hatte? Was, wenn er nicht weit genug gesprungen war? Mit dem Kopf auf einen Stein aufgeschlagen war? Was, wenn er gerade den Fluss hinab trieb? Was, wenn sie ihn getötet hatte…?

Ihre Gedanken überschlugen sich, Panik breitete sich aus und sie war Sekundenbruchteile davor, aus vollster Kehle um Hilfe zu schreien, als der verdammte Dummkopf doch noch auftauchte. Paddelnd und rudernd und einen gehörigen Lärm veranstaltend. „So finden sie uns natürlich doch noch!“, rügte sie ihn strengen Tones.

„Ich kann nicht schwimmen, verdammt!“, keifte er nur zurück und mit einem Schlag war die Panik wieder da. Ja, das, was er da tat, das sah nicht nach Schwimmen aus. Aber wenigstens hatte er sich nicht den Kopf aufgeschlagen…

Mit wenigen, kontrollierten Zügen schloss sie zu ihm auf und packte ihn. „Halt still, sonst haust du mich noch und wir haben beide ein Problem!“, wies sie ihn zurecht. Er zappelte weiter, aber wenigstens schlug er nicht mehr mit den Armen um sich. Vermutlich war das sein Versuch, beim Schwimmen zu helfen. Er trat sie mehrfach gegen die Wade, was vermutlich blaue Flecken geben würde, aber… das war besser als nichts und sie hatte nicht genug Luft übrig, um ihn nochmal zu ermahnen.

Wie konnte er ausgerechnet in Carasarta leben und nicht schwimmen können?

Mit letzten Kräften schaffte sie es, sich und den Dieb ans Ufer zu ziehen. Die Strömung hatte sie ein ganzes Stück flussabwärts getragen. Jetzt wäre es eine gute Weile, bis sie zurückkam. Ihr anfängliches Abenteuer war keine gerade Linie gewesen, eher diverse Kreise und gelegentliche Stopps – aber jetzt? Jetzt war es vermutlich eine Stunde geradeaus laufen… in völlig durchnässter Kleidung. Daran hatte sie nicht gedacht.

Abenteurer sein war ziemlich anstrengend. Lustig, aber anstrengend.

Einige Minuten saßen sie einfach nur am Ufer. Das Kiesbett war nicht unbedingt sonderlich bequem, aber keiner von ihnen hatte genug Energie, um sich großartig zu bewegen. Sie saßen einfach nur da, direkt nebeneinander, um sich vielleicht ein bisschen aufwärmen zu können, zitterten vor sich hin und atmeten. Das schien bereits anstrengend genug.

Nach einigen Minuten lehnte sich der Langfinger plötzlich zu ihr rüber und drückte ihr den Mund auf die Wange. Nicht lange, nur kurz. „Hey! Was sollte das denn?“, meinte sie abrupt von ihm zurückfahrend und wischte sich über die Stelle.

„Ich hab dich geküsst“, erwiderte er völlig unbeeindruckt.

„Ja das weiß ich auch! Aber warum?!“

Einen Moment kräuselte sich seine Stirn, ehe er mit den Schultern zuckte. „Als Dankeschön. Für die Flucht und die Rettung. Erwachsene küssen sich auch als Dankeschön. Oder weil sie sich mögen. Nur meist eher auf den Mund oder zwischen den Beinen.“

Arien nickte – das konnte sie akzeptieren und verstehen. Auch wenn ihre in verbales ‚Danke‘ immer noch lieber gewesen wäre. Sie wollte ja-

Warte, was? „Zwischen den Beinen?“, wiederholte sie irritiert und gaffte ihn regelrecht fassungslos an.

Aber einmal mehr nickte er nur. „Ja. Hab ich schon einige Male  gesehen.“

„Aber… aber da kommt doch… was anderes… raus…?“, krächzte sie mühselig hervor. Sie spürte die Röte in ihren Wangen brennen und den Knoten, den Ekel und Übelkeit ihr in den Magen drehten.

Mit einem Schlag sich offenkundig ebenso unwohl fühlend, nickte der Dieb nur ein drittes Mal und schwieg daraufhin ebenso.

„Und… und wie war das so?“, wollte Arien nach einem langen Moment wissen. Sie überdachte ihre Frage nochmal und schob beinahe schon panisch hinterher „Der Kuss, meine ich…?“

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Ganz okay?“

„Wie, ‚ganz okay‘?“ Das war jetzt nicht unbedingt, was sie erwartet hatte. Es war so… unhilfreich.

„Naja eben ganz okay. Es war nicht toll, aber auch nicht eklig. Es… war eben ganz okay.“

„Hm.“

Wieder verharrten sie mehrere Minuten, ehe er sie in die Seite stieß und mit einem Kopfnicken andeutete, das sie sich in Bewegung setzen sollten. Arien nickte ihm zu, erhob sich ebenso und spürte erstmals, wie kalt ihr eigentlich wirklich war. Abrupt musste sie niesen, drei Mal am Stück.

Seite an Seite setzten sie sich in Bewegung. Es dauerte eine kleine Weile, ehe sich Coru wieder neben ihnen einfand. Er gab dem Dieb sein Bündel zurück – minus Speck. Aber das würde der Langfinger ohnehin erst sehr viel später bemerken, dessen war sich Arien recht sicher. Und da es ja gestohlen war, war der verschwundene Speck nicht wirklich schlimm. Denn etwas Gestohlenes konnte man nicht stehlen.

„Wie heißt du überhaupt?“, fragte Arien nach einer gefühlten Ewigkeit, da sie schweigsam Seite an Seite an den Häusern der Stadt vorbei trabten.

„Faelon. Und du?“, gab der Dieb nach einem Moment zurück.

„Arien. Arien Inránainn Zauberfänger. Aber Arien reicht. Hast du keinen Familiennamen?“

„Nicht… nicht so wirklich, nein.“

Arien stockte. Tatsächlich wäre sie um Haaresbreite stehen geblieben, um ihn ungläubig anzugaffen. Stattdessen starrte sie ihn möglichst verstohlen aus dem Augenwinkel heraus an. Sie war sich ziemlich sicher, dass er ihren Blick bemerkte. Aber er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen und das konnte sie verstehen, konnte es respektieren. Also sagte sie nichts weiter dazu. Es musste ihm unangenehm sein, oder nicht? Wie war das wohl, keine Familie zu haben?

Einige weitere Minuten ihres Weges, erneut schweigend, brachte Arien damit zu, sich genau das vorzustellen. Wenn es ihren Großvater nicht gäbe und Coru nicht gäbe und Illanya nicht gäbe und auch all die anderen Bediensteten des Hauses nicht – und vielleicht sogar generell kein Haus…

Das Zittern und Schütteln stammte diesmal nicht von der Kälte.

„Weißt du… du könntest meinen Namen sagen…?“, bot Arien Faelon nach einer Weile an. Das wiederum schien den Dieb ins Stocken zu bringen, doch wie sie selbst zuvor fasste er sich rechtzeitig und stolperte lediglich einen Moment etwas aus dem Takt seiner Schritte.

„Was meinst du?“

„Du könntest ein Zauberfänger sein. Faelon Zauberfänger“, erklärte sie weiter. Dabei mied Arien strikt, in seine Richtung zu schauen und sie war sich ziemlich sicher, dass sie spüren konnte, wie sein Blick sich in sie bohrte…

„Aber das fänden deine Eltern sicher blöd. Und dann werden sie wütend und schicken die Verteidiger hinter mir her. Nein danke.“ Er klang… unentschlossen. Einerseits trotzig, fast schon wütend, andererseits unsicher. Sie konnte das Zittern in seiner Stimme hören. Erneut allen Mut zusammennehmend, schüttelte sie den Kopf und wagte es. Sie wagte, zu ihm zu schauen. Seinem Blick standzuhalten.

„Meine Familie ist ziemlich groß. Ich lebe mit meinem Großvater und wir reisen viel und es fühlt sich ständig so an, als wäre jeder vierte, den wir treffen, ein Zauberfänger. Wir kommen auch ursprünglich gar nicht von hier, wir sind nur zu Besuch, weil Großvaters Geschäfte hier geprüft werden müssen. Das Haus, in dem wir gerade wohnen, gehört eigentlich einem… einem Großcousin oder sowas. Aber der ist auch auf Reisen, also haben wir das Haus für uns. Bei so vielen Zauberfängern fällt einer mehr gar nicht auf. Und Großvater ist wirklich nett… also… wenn man ihn erstmal kennt.“

Faelon runzelte unschlüssig die Stirn. Arien dagegen stand zwischen Hoffen und Bangen, ihr Herz hatte wieder deutlich beschleunigt. Dabei wusste sie nicht einmal genau, warum ihr das eigentlich so wichtig war. Er war ja nur ein Dieb, den sie gerettet hatte. Vielleicht lag es daran? Ihr erstes großes Abenteuer. Sie wollte, dass es reibungslos blieb, makellos, fehlerfrei. Nur… was würde es ihm effektiv bringen, sich Zauberfänger zu nennen? Es würde ihn wohl kaum an irgendwelche Handlungsweisen binden, oder?

„Hey, noch da?“, drang plötzlich seine Stimme zu ihr durch. Aus ihren Gedanken gerissen, starrte sie auf die noch immer etwas dreckige Hand, die vor ihrem Gesicht wedelte, und dann zu deren Besitzer. Im Aufgebot all ihrer Eloquenz und als Demonstration ihrer guten Bildung formulierte sie ihre höfliche Frage danach, was er gesagt hatte:

„Huh?“

„Wo deine Eltern sind, fragte ich“, wiederholte Faelon halb lachend. Ein Lachen, das rasch auf ein Lächeln reduziert wurde, und selbst das starb zügig. Arien wusste, wie sich ihre Mimik veränderte. Sie konnte es spüren. Was sie nicht konnte, war: Es aufhalten. Es ändern. Es überspielen. Mitlachen. Oder wenigstens, sich zu einem Lächeln zwingen.

„Meiner… meiner Mutter geht es nicht so gut. Sie ist krank. Und ich… ich weiß nicht wirklich, wer mein Vater ist.“ Ihre Stimme klang halb erstickt und sie hasste es. Ihr Blick wurde von aufwallenden Tränen getrübt und sie hasste es. Erinnerungen fluteten ihren Verstand – und sie hasste sie. Ihre Mutter, die ihr Gesicht nicht erkannte. Ihre Mutter, von Unheil sprechend, schreiend, um sich schlagend. Bis man sie hatte festbinden müssen. Ihr Gesicht zu einer Fratze entstellt. Und all das überschattet von dem großen Fragezeichen, das ihres Vaters Gesicht ersetzte. Seine Herkunft. Alles an ihm.

Der Stups in die Seite ließ sie zusammenzucken, davon regelrecht wegspringen. Fast wäre sie über Coru gestolpert, aber der war glücklicherweise flink genug, auszuweichen. Sie starrte, irgendwo zwischen Kummer und Zorn, zur Quelle der Berührung. Faelon bemühte sich sichtlich um ein möglichst unschuldiges Lächeln. Sie erkannte das, weil sie es selbst oft genug verwendete.

„Ich hatte gefragt, was du eigentlich hier draußen machst, mitten in der Nacht. Du driftest ziemlich oft weg, was?“

Nein, das hatte er nicht gefragt. Sie hätte es bemerkt. Sie hatte vorher schon etwas verpasst, was er gesagt hatte. Und das war unhöflich. Sowas tat man nicht. Und für einen Abenteurer war mangelnde Aufmerksamkeit sogar gefährlich. Also hatte sie extra darauf geachtet, aufmerksam zu sein. Und er hatte nichts gefragt! Einen Moment erwog sie, ihm das an den Kopf zu werfen. Streit zu suchen. Ihn anzuschreien.

Aber was hätte das gebracht?

Sie hatte ja mit diesem ganzen Gespräch überhaupt erst angefangen. Sie hatte erwähnt, dass sie bei Großvater lebte. Natürlich kam da unweigerlich die Frage, wo ihre Eltern waren. Natürlich konnte er nicht wissen, wie… schlecht das Thema war. Also atmete sie tief durch, rang die Tränen nieder, kontrollierte ihren Atem. Es war ihr völlig egal, wie lange er dafür warten musste. wie lange sie einfach schweigend nebeneinander her liefen. Glücklicherweise schien es ihm ebenso egal zu sein – er schwieg, lief, drängelte sie nicht. Sie war ihm fast dankbar dafür.

Als sie glaubte, sich gefangen zu haben, konnte sie sogar mit einem schiefen Lächeln zu ihm herüber schauen. „Ich bin Abenteurer! Und entsprechend suche ich Abenteuer. Und du bist das Abenteuer der heutigen Nacht“, erklärte sie im Brustton der Überzeugung und voller Stolz, als wäre sie beim Angeln gewesen und würde ihren gewichtigen Fang hochhalten. Vielleicht hatte Faelon das gleiche Bild vor Augen, als er zu lachen begann. Zumindest fühlte es sich an, als würde er mit ihr lachen und nicht über sie – und das, obwohl sie nicht mal lachte. Nur grinste. Wirklich breit.

„Solltest du dann nicht mehr Waffen haben?“, hakte er skeptisch nach. Arien jedoch schüttelte wild entschlossen den Kopf. So funktionierten Abenteuer nicht!

„Ein kluger Abenteurer weiß sich aus allen Gefahren mit Verstand rauszubringen! Ständig auf alles draufhauen ist was für Menschen und Orks und Zwerge.“

„Was ist, wenn du mal nicht mit deinen Gegnern reden kannst? Weil du ihre Sprache nicht sprichst? Oder weil sie kämpfen wollen, wie, uh, ein Ork zum Beispiel!“, erwiderte Faelon neugierig. Arien dachte gut und lange darüber nach und musste einsehen, dass er durchaus einen Punkt hatte. Es gab wirklich dumme Leute auf der Welt. Und manche waren einfach von Grund auf böse, wie Dunkelelben. Mit denen wollte man nicht reden. Und wirklich, mit denen sollte man auch gar nicht reden, die logen sowieso die ganze Zeit nur.

„Dann verteidigt mich Coru!“, erklärte Arien im Brustton der Überzeugung.

Faelons Blick wanderte zu dem Fuchs. „Uh… er’s… ein bisschen klein dafür, nicht?“

Ihr Blick folgte dem Seinen, musterte Coru einen Moment. Coru war clever, wirklich clever. Selbst für einen Fuchs. Und er konnte ziemlich fies zwicken. Aber ja… wirklich gefährlich waren seine Bisse nicht. „Dann… dann…“ Ehe sie sich spontan auf eine brauchbare Alternative besinnen konnte, musste sie abermals niesen. Fünf Mal sogar. Das letzte Mal tat weh und sie krümmte sich halb zusammen. Oh das würde eine gehörige Erkältung geben… hoffentlich nicht, aber… die Chancen dafür standen schlecht.

Sie kam auch nicht dazu, die Diskussion mit Faelon fortzusetzen – denn sie hatte bereits die Tür erreicht und er war einige Meter hinter ihr bereits stehen geblieben.

„Kommst du?“, hakte sie verwirrt nach. Das wurde nur noch schlimmer, als sie sah, wie er plötzlich herumzudrucksen begann.

„Ich… ich weiß nicht, ich… sollte vielleicht zu meinem Versteck und… naja, trockene Sachen anziehen… und ich muss ja auch noch mein Essen in Sicherheit bringen… also…“

„Hast du denn überhaupt andere Sachen?“, rutschte es ihr ungläubig heraus. Das… war unhöflich gewesen. Und sein verletzter Blick genügte auch völlig, ihr zu sagen, dass sie zu weit gegangen war. „Das tut mir leid. Ich… habe nicht nachgedacht. Das passiert mir wirklich selten, versprochen! Willst du nicht mit reinkommen? Ich kann uns ein warmes Bad machen, denke ich. Das könnten wir gerade sicher gut gebrauchen. Mir tut das jedenfalls immer gut, wenn ich heim komme, und es hat kalt geregnet.“

Immerhin, die Entschuldigung schien zu wirken. Er bemühte sich jedenfalls wieder um sein unbesonnenes Lächeln. Dennoch stand er da noch eine ganze Weile länger, ehe er zögerlich nickte. Aber immer noch keinen Schritt näher kam. Also seufzte sie, vielleicht ein wenig theatralisch aufgespielt, kam zu ihm zurück und nahm ihn erneut beim Handgelenk. Sie schleppte ihn regelrecht zur Tür, öffnete diese leise und schloss sie hinter ihnen beiden.

Inzwischen war die Küche still, dunkel. Die Kekse waren weggeräumt worden, vermutlich wieder in irgendeinen Tonkrug, der möglichst weit oben stand. Damit alle das Scheppern hören könnten. Hatte die letzten zwei Mal jedenfalls funktioniert – aber sie arbeitete bereits an einer Idee, wie man Stuhlbezüge stapeln könnte, um den Krug abzufangen oder wenigstens den Lärm zu dämpfen.

„Das Bad ist oben, linke Seite, am Ende des Flurs“, flüsterte sie Faelon leise zu, „Wir müssen aber leise sein. Großvater schläft schon und Illanya sicher auch.“

„Wer?“

„Das ist unsere Köchin.“ Er nickte. Arien dagegen musterte ihn eine ganze Weile von oben bis unten, ehe sie nachschob: „Du möchtest keinem von beiden begegnen. Nicht jetzt. Nicht so.“ Er war völlig abgemagert. Vermutlich, wenn auch mit besten Absichten, würde sie ihn vollstopften, bis er nie wieder würde essen wollen. Bis der bloße Anblick von Keksen nur noch Übelkeit hervorrief. Und das war ein Verbrechen, das Arien einfach nicht zulassen konnte.

Faelon nickte abermals, wenngleich deutlich verwirrter, und folgte ihr die Treppen hinauf. Sehr leise, sehr vorsichtig und ihrer Anweisung folgend genau auf die Stellen tretend, auf die sie trat. Ob Großvater schon bereute, ihr dieses Buch über Gedächtnismethodik und Hypnosetechniken geliehen zu haben?

Es gelang ihnen tatsächlich, vollkommen lautlos nach oben und sogar den Flur herab ins Badezimmer zu schleichen. „Wooow…“, entfuhr es dem Langfinger unwillkürlich, bis Arien ihn zu packen bekam und die Hand auf den Mund presste. „Sssccchhht! Sonst wachen alle auf!“, raunte sie mahnend. Er nickte und sie konnte spüren, wie sein Mund sich unter ihrer Hand zu einem Grinsen verzog. Warum grinste er jetzt? Warum-

„Iiihhh…!“, entfuhr es ihr nun wiederum, als er über ihre Hand leckte. Rasch zog sie sie von seinem Mund zurück und wischte sie an seinem Hemd ab, „Das ist so widerlich…!“

„Sssccchhht!“, erwiderte Faelon lediglich, „Willst du denn, das alle aufwachen?!“

„Das… aber… ich…!“ Seufzend brach sie ab und gab sich geschlagen. Zumindest vorläufig. Dafür würde sie ihn mit Wasser vollspritzen! Sie hatte vor kurzem gelernt, wie sie ihre Hände zu Krallen umformen konnte. Das tat immer noch ziemlich weh, aber damit konnte sie sehr viel besser graben und klettern. Wie schwer konnten da Schwimmhäute schon sein? Und wenn sie die erstmal hätte, könnte sie ganze Wellen in seine Richtung werfen!

Die Badezimmertür sorgfältig geschlossen, begann sie sich im Raum umzusehen. Was genau Faelon so beeindruckt hatte, war ihr nicht klar und erschloss sich ihr auch nicht, aber nachdem er ihre Hand angeleckt hatte – was ihr immer noch einen Schauer über den Rücken jagte – wollte sie ihm auch nicht die Genugtuung gönnen, mit ihm zu reden. Also sammelte sie einfach ein paar der Badezusätze zusammen, die gut rochen, kippte etwas davon in den noch leeren Bodenzuber, nach freiem Ermessen – dann ein Blick zu Faelon – und doch noch ein, zwei Schwapp mehr davon… ehe sie das Wasser anstellte.

Und da begann das Problem.

„Zieh dich schon mal aus und… uhm… du kannst dann was von mir bekommen“, erklärte sie leise und spürte, wie ihre Wangen wieder zu glühen begannen.

„Aber du bist ein Mädchen!“, erwiderte Faelon.

„Hast du das auch schon bemerkt? Bist ganz klug, was?“, schoss sie zurück, sehr zufrieden mit ihrer Schlagfertigkeit.

Etwas irritiert und sichtlich aus dem Takt gebracht, stockte der Junge, schüttelte dann den Kopf und zeigte auf sie, als würde das irgendetwas klarer machen. „Aber du bist ein Mädchen!“

„Ja und?“

„Ich kann doch nicht in Mädchensachen rumlaufen!“

„Läufst du lieber ohne Sachen rum? Denn die da kannst du nicht mehr tragen!“, schoss sie sofort zurück und deutete auf den kleinen Stapel dreckiger Lumpen, die er daraufhin sofort etwas dichter an sich drückte. Dabei wurde ihr jetzt erst klar, dass er wirklich nur Hemd, Hose und Schuhe gehabt hatte. Keine Socken. Keine Unterwäsche. Kein… gute Güte, ihm hatte noch viel kälter sein müssen als ihr. War es vermutlich immer noch!

… und sie bekam das verdammte Wasser einfach nicht warm… warum funktionierte das nicht?!

Beide erstarrten abrupt, als auf dem Gang Geräusche waren. Nicht nur das Knarren von Holzdielen und die zugehörigen Schritte, auch ein… ein Pfeifen? Arien glaubte Illanyas Stimme zu erkennen, aber ihre Köchin… pfiff eine Melodie…? Sie tat das gelegentlich, ja, schon. Aber nur, wenn sie wirklich außergewöhnlich gute Laune hatte. Und… das war selten der Fall, sehr selten. Obendrein wurde die Melodie zunehmend lauter, sie kam also direkt hierher.

War sie mitten in der Nacht aufgewacht, weil sie auf die Toilette musste? Aber warum dann das Pfeifen?

„Was machen wir jetzt?!“, unterbrach Faelon ihre rasenden Gedankengänge und sich überschlagenden Vermutungen.

Wieder hämmerte ihr Herz unstet in ihrer Brust, flackerte ihr Blick umher. Die Schränke! Zu klein. Die Wanne? Zu offensichtlich. Das Fenster! Es gab keins. Verdammt! Genau.

Hilflos zuckte sie mit den Schultern, ihren Blick starr auf die Tür heftend. Das war’s also. Das war das Ende.

Als sich die Tür öffnete, trat, ganz wie erwartet, Illanya ein. Die Elbe zog gerade noch das Schulterstück ihres Kleides empor, zurück über ihre Schulter, wo es hingehörte. Überhaupt wirkte ihr Kleid ein wenig unordentlich. Überall Knickfalten und es saß nicht ganz richtig, wirkte verrutscht.

Die Bedienstete des Hauses Zauberfänger blieb im Türspalt ebenso abrupt und erstarrt stehen, wie Arien und Faelon im Badezimmer. Erstere noch immer über das Wasser gebeugt, dem Rätsel der fehlenden Wärme nachjagend, Letzterer noch immer splitternackt und verdreckt im Raum stehend, seine Kleider an sich gepresst.

Die Stille zog sich eine gefühlte Ewigkeit, ehe Illanya die Hände in die Hüften stemmte, ihren Blick auf Arien heftete und die linke Braue langsam ein kleines Stück hob. Das… war eindeutig genug. Es war das universelle Zeichen für „Fräulein Arien Inránainn Zauberfänger – eine Erklärung, sofort!“ Hastig rappelte sich Arien auf. „I-Ich kann das erklären… ehrlich!“

Illanyas Blick wanderte kurz zu Faelon, musterte ihn einmal gründlich, dann zur Wanne. „Schalte das Wasser aus.“ Arien tat sofort, wie ihr geheißen und trat einen Schritt bei Seite, als Illanya die Badezimmertür hinter sich schloss und zu ihr kam. Sie wirkte einen Zauber und das Wasser, das nach dem erneuten Anstellen kam, dampfte vor kochender Hitze. Natürlich. Warum hatte sie daran nicht gedacht?!

Frustrierender war die Erkenntnis, dass sie diesen Zauber nicht beherrschte. Sie hätte Faelon und sich so oder so kein warmes Bad einlassen können.

„Dein Name, Junge?“, hakte sie strengen Tones nach. Er duldete keinerlei Widerspruch und keine Verzögerungen.

„F-Faelon, H-Herrin…“

Einen Moment schnaubend, schüttelte Illanya den Kopf. Für ihn musste es abwertend wirken, jedenfalls bemessen daran, wie er zusammenschrumpfte, die Schultern hängen ließ. Arien dagegen wusste es besser. Sie war lediglich darüber belustigt, Herrin genannt zu werden. Etwas, das üblicherweise nur Großvater tat, wenn sie ihn wieder herumkommandierte, obwohl sie doch eigentlich ihm unterstellt war.

„Faelon. Und weiter?“, hakte sie nach. Arien erwog bereits, ihm beistehend einzuspringen, doch als Illanya auch nur hörte, wie sie Luft holte, bekam Arien einen Seitenblick, der ihr regelrecht die Kehle zuschnürte. Faelon hingegen, mit zunehmender Panik deutlich ins Gesicht geschrieben, blickte sich um. Seine Suche führte ihn immer wieder zur Badezimmertür zurück, doch er entschied offenbar, es nochmals mit Antworten zu versuchen, ehe er die Flucht ergriff.

„Faelon Zauberfänger…?“, brachte er vorsichtig heraus.

Das… schien sie zu überraschen. Ihr Blick wanderte augenblicklich zurück zu Arien. Die befand das Fliesenmuster des Bodens für äußerst interessant, spürte jedoch, wie die Glut in ihren Wangen und Ohren sie verriet. Tief seufzend richtete sich Illanya wieder auf. „Nun gut. Faelon, sei so gut und leg die Wäsche dort auf die Bank. Und dann ab ins Wasser, du kannst es gebrauchen.“ Die Härte und Strenge war mit einem Schlag aus ihrer Stimme gewichen und der warme, mütterliche Ton kehrte zurück. Es schien den Jungen völlig aus dem Takt zu bringen. Arien hingegen kannte auch das bereits. Als Illanya sich ihr zuwandte, schluckte sie schwer. Dann, sehr zu ihrer Überraschung, hockte sich die Köchin hin und flüsterte ihr leise zu.

„Ich denke, das behalten wir erst einmal für uns, hm? Ich überlege mir etwas, was ich deinem Großvater erzählen kann, beim Frühstück. Er ist dein Gast, schätze ich?“ Unendlich erleichtert atmete Arien tief auf und nickte etwas enthusiastischer, als sie gewollt hatte. Ihr Kopf fühlte sich nur so leicht an… „Dann kümmerst du dich auch darum, wo er schläft. Und ich plane ihn zum Frühstück ein – wenn er weg ist, bevor es Frühstück gibt, dann werdet ihr seine Portion hübsch mit essen, haben wir uns verstanden?“ Da… fühlte sie sich dann doch etwas unwohler. Allein der Gedanke daran, aufessen zu müssen, mit noch mehr auf dem Teller… sie meinte es ja gut und sie kochte wirklich exzellent, aber die Portionsgrößen waren so schon gewaltige Berge. Nach einem Moment begriff Arien jedoch, dass das lediglich ihre clevere Idee war, dafür zu sorgen, das Arien ihrerseits wiederum dafür sorgte, das Faelon nicht einfach ausriss und wieder verschwand.

Vermutlich gab es da noch Fragen. Jede. Menge. Fragen.

Nicht dass sie sich darauf freute, aber glücklicherweise war das, so redete sie sich zu diesem Moment erfolgreich ein, mehr sein Problem als ihres. Wenigstens für heute hatte sie ihn oft genug gerettet.

Illanya gab ihr daraufhin einen kleinen Schubs in Richtung des großen Bottichs. Anfangs tat die Hitze des Wassers fast schon weh – fast. Glücklicherweise, als Verwandlerin, wusste sie schon das eine oder andere darüber, wie man mit Schmerzen am besten umging. Sie hielt eine Weile still, bis es besser wurde, sank dann etwas tiefer ein. Wartete, bis es besser wurde. Das setzte sie fort, bis sie gänzlich im Wasser verschwunden war und tauchte nach einem Moment wieder auf. Illanya dagegen verschwand kurz aus dem Raum, um – wie sie erklärte – ein paar Vorbereitungen zu treffen.

„Die Köchin?“, erkundigte sich Faelon unsicher. Arien nickte. „Warum genau meintest du vorhin, ich wolle ihr nicht begegnen…?“

„Nun, sie… du bist… das… erfährst du morgen früh. Beim Frühstück.“ Es wäre einfacher, es ihm zu zeigen, als ihm davon zu erzählen, entschied sie. Er nickte einen Moment, ehe er realisierte, was ihre Worte implizierten. Sie kam ihm jedoch zuvor. „Du schläfst heute hier. Es ist immerhin schon sehr spät und so wie ich Illanya kenne, wird sie sowieso deine Sachen waschen und flicken wollen, also müssen sie bis morgen früh eh trocknen.“

Nun war es an Faelon, zu nicken – wenngleich unschlüssig, wie ihr schien, ob er nicht doch noch die Flucht ergreifen wollte. Glücklicherweise kehrte Illanya zurück, ehe er eine Entscheidung treffen konnte und begann damit, sie beide abzuschrubben. Dabei erkundigte sie sich darüber, wie sie überhaupt aneinander geraten waren und Arien erzählte ihr stolz von ihrem ersten großen Abenteuer. Davon, wie sie sich verwegen an allen Gefahren des Hauses vorbeigeschlichen hatte – nicht davon, wie sie Kekse ausgeliehen hatte und auch ganz sicher nicht von den Magenschmerzen, die sie kurz darauf des warmen Teiges wegen gehabt hatte. Stattdessen erzählte sie von der Stadt bei Nacht, von Faelon, in den sie hineingerannt war, oder vielmehr er in sie – und sicherlich nicht von den Wachen, die ihm auf den Fersen waren. Nein, stattdessen war er einfach nur gerannt, in sie, am Ufer, und sie waren beide durch seinen Schwung aus Versehen im Fluss gelandet. Dummerweise konnte er aber nicht schwimmen, also hatte sie ihm heldenhaft das Leben gerettet. Obwohl er nicht aufhören wollte, herumzuzappeln und sie ständig gegen die Wade trat.

Ein Moment in der Geschichte, in dem auch von Faelons Seite eine leise genuschelte Entschuldigung kam, nachdem er die ganze Zeit über bemerkenswert still geblieben war.

Nachdem beide halbwegs den Ansprüchen und Standards der Köchin entsprachen – zumindest, was den Grad an Sauberkeit anbelagte -, wurden sie vom Schrubben und Waschen, Einseifen und Ausspülen entlassen und durften sich in angewärmte Nachtgewänder begeben, nachdem sie sich ordentlich abgetrocknet hatten. Das Wasser in der Wanne lief ab, die Dampfwolken entkamen in den Flur, Kälte kroch ins Badezimmer hinein und beide waren noch damit befasst, sich die Beine und Füße abzutrocknen. Illanya war ihrerseits wieder in ihr Zimmer verschwunden, um zu Schlafen und wenigstens noch etwas von der Nacht zu haben. Ihre Anweisungen waren immerhin deutlich genug gewesen.

„Wie alt bist du überhaupt?“, hakte Faelon nach einer gefühlten kleinen Ewigkeit nach. Arien antwortete ohne zu zögern und sichtlich stolz, immerhin war sie für eine Abenteurerin ihres Kalibers ziemlich jung. Und hatte schon Leben gerettet! Faelon hingegen grinste zufrieden und allmählich begann sie diesem Grinsen zu misstrauen. Jedes Mal, wenn dieses Grinsen auftauchte, führte er irgendwas im Schilde. „Ich bin ein Jahr älter als du!“, erklärte er triumphierend.

Natürlich wollte sie sofort dagegen halten. Immerhin war er das nicht. Konnte er nicht sein. Oder… konnte er zumindest nicht wissen, nicht mit Sicherheit! Er hatte keine Eltern, also woher wollte er überhaupt wissen, wie alt er war!

Der Gedanke sickerte eine Sekunde ein, dann zwei, drei. Und ihre Überlegungen kamen zu einem abrupten Stopp. Nicht nur würde sie in einer potenziell schmerzhaften Wunde herumbohren, wenn sie ihm ausgerechnet das sagen würde. Sie wusste auch nicht, was mit seinen Eltern war. Gab es sie und sie wollten ihn nur nicht? Waren sie fort? Wie lange schon? Er war sehr dünn, ja, aber Illanya meinte stets, das man schnell dünn wurde, wenn man nicht ordentlich aß. Und sie selbst hatte ein paar Ausflüge schon beendet und sich im Spiegel betrachtet und nicht sehr viel besser ausgesehen als Faelon früher in der Nacht, weil sie durch Unterholz und Matsch gekrochen war. Vielleicht war er erst seit ein paar Tagen auf der Straße?

Sie wusste es einfach nicht.

Sie würde fragen, beschloss Arien. Sie würde ihn fragen und sie würden darüber reden und vielleicht würden sie Geschichten austauschen. Aber nicht heute. Nach all der Aufregung und dem ungeplanten Bad und der Rückreise bei Nachtkälte war sie schlicht erschöpft. Zu müde, um sich noch klare, strukturierte Gedankengänge zuzutrauen. Und auch, wenn sie ihn noch nicht so lange kannte, glaubte sie ihm die gleiche Erschöpfung ansehen zu können.

Allein das warme Nachthemd anzuziehen wirkte wie ein Schlag in die Magengrube für ihr Bewusstsein. Einlullend. Als könnte sie sich direkt hier, auf den Fliesen, zusammenrollen und den tiefsten und entspanntesten Schlaf seit Wochen haben. Das war natürlich nicht wahr – morgen früh würde ihr alles wehtun. Aber im Augenblick wirkte es so. Und das allein war Zeichen genug, das sie ins Bett gehörten. Alle beide.

Entsprechend schlichen sie den Flur herab zu ihrer Zimmertür. Der Boden war immer noch Sumpf, stellenweise, und es gelang ihnen, an Großvaters Zimmertür und Illanyas Zimmertür vorbei zu schleichen, ohne Lärm zu machen. Leise schloss sie die Tür hinter sich, leise, aber nicht lautlos. Und während Coru sich ohne zu Zögern auf das Bett kletternd eines der drei großen Kissen aussuchte und darauf einrollte, standen Faelon und Arien zögernd vor dem einen Bett, das es gab.

Das hatte sie also damit gemeint, dass sie sich kümmern müsse…

„Du, Arien… sag mal… hast du Freunde?“

Die Frage kam unerwartet, entsprechend benötigte sie etwas Zeit, um zu antworten. „Ich habe Coru. Und Großvater. Und Illanya.“ Sie starrte nach wie vor das Bett an, auch als er schwieg, lange schwieg, und auch dann, als seine Antwort kam.

„Ich auch nicht.“

Sie nickte lediglich, unsicher, ob er es überhaupt sah. Schließlich packte sie all ihren Mut. Ein letztes Mal, für diesen Abend, so nahm sie sich vor. „Du kannst die linke Seite haben.“

„Was? Nein!“, brachte er abrupt hervor, „Ich teile doch nicht das Bett mit dir!“

Verwirrt über seine Empörung wandte sie sich ihm nun doch noch zu. „Warum nicht?“

„Du bist ein Mädchen!“

Regelrecht gröhnend war sie einen Moment geneigt, sich die Hand vor die Stirn zu schlagen. Das konnte nicht sein Ernst sein, oder? Schon wieder? „Na und?!“, fuhr sie ihn aufbrausend an.

„Mädchen schnarchen!“, warf er zurück. Sie stockt abrupt. Taten sie? Tat sie das? „Und treten im Schlaf!“ Also sie war sich ziemlich sicher, dass sie nicht um sich trat…! Sie boxte ihn kurzerhand einfach gegen die Schulter.

„Stell dich nicht an wie ein-… stell dich nicht so an! Linke Seite oder Boden!“, erklärte sie eisern ihr Ultimatum und kletterte ins Bett unter eine der zwei Decken. Faelon stand noch einen Moment unschlüssig neben dem Bett, rieb sich die Schulter, ehe er das große Möbelstück umrundete und auf ihrer Lieblingsseite hinein kletterte.

„Du bist doof.“

„Selber.“

Einen Moment hielten sie eisern ihre ernsten, anklagenden Blicke aufrecht, ehe sie zeitgleich grinsen mussten. „Das hat Spaß gemacht. Alles, heute, meine ich“, gab Arien schließlich zu.

„Wie lange seid ihr noch hier?“, erkundigte sich Faelon. Und obgleich er lächelte, glaubte sie zu spüren, das darin… Sorge lag?

„Zwei Tage. Vielleicht drei. Wenn du willst, kannst du hier bleiben. Großvater stört es bestimmt nicht und Illanya freut sich immer, wenn sie noch jemanden vollstopfen kann. Und wir könnten ausziehen und zusammen Abenteuer erleben. Du kennst bestimmt ein paar lustige Orte in der Stadt, nicht?“

Er nickte eifrig, schien gedanklich bereits Carasarta abzulaufen, während er nebenher herzhaft gähnte. Davon angesteckt, tat Arien es ihm gleich. Sie zog das Kissen etwas näher an sich, auf dem Coru sich zur Ruhe begeben hatte und der Fuchs kroch mit wenig Mühe halb unter die Decke, ließ jedoch die Schnauze weiterhin auf seinem beanspruchten Kissen liegend draußen.

Sie freute sich auf die kommenden Tage. Es klang… aufregend.

„Du, Arien…?“, hob Faelon nach einer kleinen Ewigkeit das Wort.

„Mhm…?“, gab sie bereits im Halbschlaf von sich und wunderte sich insgeheim, wie er immer noch so wach sein konnte.

„Wir sind… wir sind Freunde, oder?“

„Mhm…“

„Und wir bleiben Freunde?“

Natürlich hätte sie die gleiche Klangfolge einfach noch ein drittes Mal von sich geben können, wieder mit anderer Betonung. Das wäre als Antwort völlig ausreichend gewesen. Aber das hier… das war wichtig. Also zwang sie sich wieder zurück, raus aus dem Halbschlaf, öffnete die Augen und sah ihm entgegen. Er war näher gerutscht. Komplett in seine Decke gewickelt wie in einen Kokon, nur das Gesicht lugte hervor und das Sternenlicht fing sich in seinen eisblauen Augen. „Beste Freunde“, meinte sie leise, „Beste Freunde, für immer.“

Selbst ihr war klar, das sich ‚für immer‘ vielleicht ein wenig überdramatisiert anhörte. Sie waren Halbblüter, alle beide. Es würde kein ‚für immer‘ geben. Aber es fühlte sich richtig an. Das Gewicht der Worte wirkte passend dazu, wie ernst es ihr damit war. Ihr erster richtiger Freund. Und er war wie sie! Natürlich würde sie den nicht wieder loslassen!

Er lächelte. Und es war anders als sonst. Erst jetzt bemerkte sie den Unterschied, weil sie erst jetzt diese Art von Lächeln von ihm kennenlernte. Es wirkte… offen. Verletzlich. Der Schalk und Aberwitz, die Frechheit, nichts davon fand sich in seinem Blick. „Danke“, nuschelte er leise und zog sich noch ein wenig stärker in seinen Deckenkokon zurück. Gerne hätte sie ihm diesen Dank erwidert, aber… es fühlte sich falsch an, jetzt noch etwas zu sagen.

Also schloss sie die Augen wieder, drückte Coru ein wenig und entließ den Jubelschrei als langes, lautloses Seufzen.

Beste Freunde für immer…

 

Als der nächste Morgen kam, streckte sich Arien, gähnte herzhaft und lächelte selig vor sich hin. Sie hatte so einen wunderschönen Traum gehabt. Ihr erster Freund, ihr erstes Abenteuer und Kekse mit flüssiger Schokoladenfüllung. Zugegeben, dass ihr Traum ihr zu suggerieren versuchte, dass das mit Bauchschmerzen einhergehen würde, war weniger schön gewesen. Aber was wussten Träume schon!

Vielleicht würde sie es heute ja durchziehen. Vielleicht würde sie heute Nacht losziehen und Abenteuer suchen. Sie hatte sich alle Dielen eingeprägt, die knarzten, wenn man auf sie trat. Was, gerade in ihrem Zimmer und auf der Treppe, dummerweise schlichtweg alle waren. Im Flur aber waren es nur ein paar bestimmte Stellen, die man umgehen musste. Sie war bestmöglich vorbereitet!

… Kekse. Vielleicht sollte sie sich eine kleine Tasche für Proviant mitnehmen. Ihr Traum hatte ihr ziemlich deutlich gemacht, dass sie durchaus eine Weile unterwegs sein könnte. Und man musste auf Abenteuern schließlich bei Kräften bleiben, das war wichtig! Weiter über ihre Vorhaben sinnierend, rollte sich Arien auf die Seite… und starrte in jemandes Gesicht.

Da lag ein Junge in ihrem Bett.

Auf ihrer Lieblingsseite.

Sehr nah.

„Ah!“, rief sie eher überrascht als alles andere aus. Sie versuchte aus Reflex heraus, ihn wegzustoßen, aber ihre Arme waren noch zu sehr in ihrem Deckenknäuel gefangen, also winkelte sie ein Bein an und trat kräftig zu, ohne zu beachten, dass er im Grunde direkt an der Bettkante lag. Er schrak auf, riss die Augen auf. Sie erkannte dieses Eisblau sofort. Der Junge aus ihrem Traum…?

Und Sekunden später verschwand ein sich windendes Deckenbündel samt Inhalt neben dem Bett – mit dumpfem Aufschlag Sekundenbruchteile später.

„Ich sag’s ja…“, grönte eine Stimme von unten, „Mädchen treten…!“

Der große Tag

Schockstarr saß sie vor dem Spiegel. Wie hatte das passieren können?

Sie wagte nicht, sich selbst in die Augen zu schauen. Sie würde zu viel Panik darin finden, sich davon anstecken lassen. Vielleicht am Ende sogar noch fliehen.

Fliehen.

Das war früher ihre Standardantwort gewesen, nicht wahr? Außer natürlich, es gab zwingende Umstände. Solche, die sie dazu nötigten, zu bleiben und sich dem zu stellen, was immer ihre Furcht in solch schwindelerregende Höhen getrieben hatte. Aber diesmal konnte sie nicht fliehen. Konnte nicht, weil es wieder solche Umstände gab.

Entschlossen schüttelte sie den Kopf – nein. Nein, nein, nein! Sie würde nicht fliehen. Und vor allem würde sie nicht fliehen wollen. Diesmal ging es nicht um Umstände und Zwänge. Das war etwas, das sie mit sich ausmachen musste. Wenn sie nur fest an sich glaubte, daran, was sie zu tun fähig war – an all das, was so viele ihr über die letzten Wochen und Monate hinweg immer wieder gepredigt hatten… dann würde sie bestimmt genug Mut zusammennehmen können, um dort raus zu gehen und… und dann… dann würde sie…

… sie würde…

Kalter Schweiß. Sie spürte ihn auf ihrer Stirn, an ihren Händen, mit denen sie fortwährend an im Stoff herumnestelte. Ein leichtes Zittern verbergend. Ganz leicht. Unauffällig. Wirklich völlig unauffällig.

„Na, kalte Füße?“, durchbrach eine Stimme neben ihr Ariens Gedankenwelt.

„Gah!“ Ihr Kopf fuhr herum und für die Dauer weniger Sekunden fror die Welt ein… bis sie verwirrt den Blick vom Gesicht ihres Vaters riss und im Raum herumsah. „Was… wieso…?“

Vetus dagegen amüsierte sich prächtig, breit grinsend und kehlig lachend, obwohl er sich wirklich um Beherrschung bemühte und zumindest die Lippen fest zusammenpresste. Es hinterließ einen merkwürdig verzerrten, gedämpften Laut, der aus ihm hervorkroch. „Fies kalte Füße, was? Du hast sogar das da vergessen?“, mahnte, erklärte und erinnerte er zugleich, als er mit einer Klaue auf das Amulett um ihren Hals deutete – dessen hübscher blauer Saphir selbst jetzt noch gehörig leuchtete. Es galt da schließlich eine ganze Menge Teleportationsmagie aufzufangen, auszubremsen und zu zerstreuen.

Verlegen errötete Arien. Das war einfach nicht fair. Natürlich wäre es… unpraktisch gewesen, wäre sie jetzt einfach verschwunden. Aus dem Raum teleportiert. Geflohen. Aber deshalb erschreckte man ja Leute auch nicht! Damit genau sowas nicht passierte! Und überhaupt… „Kalte Füße?“, hakte sie stirnrunzelnd nach. Sie hatte zugegeben nicht die bequemsten Schuhe an. Sie waren hübsch, keine Frage. Aber nicht so bequem wie erwartet. Daran merkte man unweigerlich Lisas und Vasillas Prioritäten. Aber gut, sie würde sie auch nicht lange oder auch nur ein zweites Mal tragen müssen, von daher war das wohl gut zu überleben. Es war ja auch nicht so, dass sie schmerzhaft oder wirklich unbequem wären, einfach nur dieses leichte-

Die vor ihrem Gesicht wedelnde Klaue riss sie abermals aus ihren abdriftenden Gedanken heraus. Und… natürlich leuchtete das Amulett erneut auf. Verdammtes, verräterisches Ding.

Dabei ging sie zunehmend errötend in Gedanken durch, wohin sie eigentlich hatte fliehen wollen. Die Teleportation triggerte noch immer intuitiv, instinktiv – und brachte sie in aller Regel zu denen, bei denen sie sich sicher fühlte. Was, wenn sie die Umstände bedachte, ihr so wirklich überhaupt nicht weitergeholfen hätte. Wirklich gar nicht.

„Was ist denn?“, gab sie ein wenig unleidlich von sich. Vetus zeigte sich davon unbeeindruckt, nahm den Kamm zur Hand und wies sie an, sich gerade und ordentlich auf den Stuhl zu setzen. Völlig ruhig begann er, sie zu kämmen. Es war angenehm. Ihr Magen – insbesondere dessen Inhalt, bei dem es sich aktuell um gefühlt sämtliche Schmetterlingspopulationen Elvorans handeln musste – rebellierte gegen den Beruhigungsversuch, indem er sich verkrampfte und, gefühlt, umstülpte. Glücklicherweise konnte sie die Übelkeit gut im Zaum halten.

Nach allem, was die Meister der Nadel durchhatten, war ein bisschen Brechreiz eigentlich kaum noch der Rede wert. Traurig irgendwie, nicht? Als er dann jedoch auch noch begann, ein wenig schief und aus dem Takt zu summen, zauberte es doch unweigerlich ein Lächeln auf ihre Lippen. Wie konnte sie auch nur versuchen, ihm nachtragend zu sein, ihm irgendwas übelzunehmen, wenn er sich so bemühte. Schief und krumm, aber bemüht.

„Es ist ein Sprichwort der Menschen“, erklärte Vetus nach einer ganzen Weile. Sie hatte unlängst die Augen geschlossen, sich wieder der Anweisung um gerade Sitzposition ein wenig sinken lassen, es sich bequemer gemacht. Sie genoss die Berührungen, sie genoss das vorsichtige Kratzen des Kamms auf ihrer Kopfhaut, genoss die grässliche Melodie. Als sie langsam die Augen öffnete, ihn im Spiegelbild musterte, wussten sie beide sofort, dass er gewonnen hatte. Ihre Neugier und ihr Wissensdurst funktionierten einfach immer. „Ich bin mir nicht ganz sicher, wie genau sie es eigentlich begründen. Aber kalte Füße zu bekommen steht bei ihnen offenbar für Flucht.“

Sie nickte langsam. So einige Bräuche der Menschen waren befremdlich. Dann wiederum… je weniger über die Bräuche, Traditionen, Instinkte, Reflexe und Gewohnheiten von Drachen gesagt war… desto besser.

„Ich will doch aber gar nicht fliehen!“, merkte sie leise und ohne rechte Überzeugung an.

„Mhm“, kam sofort ungläubig zurück. Er deutete mit der freien Klaue, die bis eben noch auf ihrer Schulter geruht hatte, auf den Spiegel. Genauer genommen, auf das Amulett, das darin sichtbar leuchtete. Verdammtes Ding.

„Das lügt“, erklärte sie trotzig.

Vetus schüttelte leicht den Kopf, lächelnd. Und nur das Zucken und Beben seiner Schultern, das sich bis in seine Flügel übertrug, verriet das diesmal sehr viel besser unterdrückte Kichern und Glucksen. „Wovor hast du solche Angst, hm?“

„Ich habe vor gar nichts Angst!“, widersprach sie noch immer mit der Kraft der Sturheit gesegnet. Sie sah seine geschuppte Braue empor wandern, ließ sich ohne Zögern auf das Blickduell ein, ehe sie doch einsehen musste, ihm noch immer nicht gewachsen zu sein, wenn es ihm nur ernst genug war.

Vielleicht hatte sie auch einfach darauf spekuliert, dass das hier nicht ernst genug wäre…

Also gab sie nach. Kaute angespannt auf ihrer Unterlippe herum. Es war Vetus. Ihr Vater. Und der Raum war, ansonsten, leer. Niemand würde es hören, nicht? Doch die mögliche Zuhörerschaft war nicht einmal, was sie wirklich besorgte. Tatsächlich war sie nicht einmal besorgt, vielmehr… in der Not, die richtigen Worte zu finden, um ihre Bedenken darin einzukleiden.

„Es ist… es ist eine Ehe“, begann sie langsam, zögerlich. Vetus nickte zunächst nur. „Es ist… die Ehe. Meine Ehe.“

„Erstmal nur die Hochzeit, Arien – eins nach dem anderen“, merkte er grinsend an.

Arien aber schüttelte den Kopf. „Nein, eben nicht. Die Hochzeit ist ein Tag. Dieser eine Tag, an dem eine Entscheidung für den Rest des Lebens getroffen wird. Das ist nichts, was man… was man leichtfertig eingehen sollte. Was man rückgängig machen könnte. Was… was, wenn ich nicht bereit bin? Was, wenn ich mich zu schnell entschieden habe? Was, wenn ich…“

Vetus unterbrach sie. Er brauchte dafür nicht mehr zu tun als mit dem Kämmen kurz zu pausieren. „Ah, ah, ah! Liebes, hör gut zu: Du, von allen Wesen, die mir in meinem langen, ätzend langen Leben je begegnet sind – zumindest dem Teil, an den ich mich erinnern kann – bist du diejenige, von der ich am wenigsten erwarten würde, das sie jemals eine Entscheidung trifft und umsetzt, der sie vorher nicht das Maximalmaß an Aufmerksamkeit und Recherche gewidmet hat. Du hast so ziemlich jedes Buch in unserer Bibliothek gelesen, dass das Thema auch nur anschneidet – Sachbuch, Ratgeber oder fiktional. Du hast mit jedem darüber geredet. Gute Güte, du hast Leute um Rat gefragt, bei denen ich mir nicht sicher bin – nach wie vor nicht, übrigens -, ob du deren Rat wirklich je hättest hören sollen. Du hast Monate darüber nachgedacht. Dich tiefer in das Thema eingegraben, als es die Priester vermutlich tun – und die führen die Trauungen üblicherweise durch! Du hast dein eigenes Gelübde geschrieben. Du hast mit Artemis darüber geredet, wieder und wieder und wieder.“

„Denkst du, das war zu viel?“, hakte sie unweigerlich verunsichert nach.

„Lass mich ausreden, Liebes. Und nein, denke ich nicht. Keiner kann sich so schnell so viel Wissen aneignen wie du und das hast du getan. An deiner Vorbereitung solltest du also nicht zweifeln. Dazu hast du schlicht keinen Grund. Oder fällt dir noch irgendetwas ein, das du hättest tun können oder sollen?“ Herausfordernd grinste er ihr zu und Arien gab sich wirklich, wirklich Mühe. Dachte ein paar Minuten sogar angestrengt nach, während er das Kämmen wieder aufnahm.

„Nein“, gab sie sich schließlich geschlagen. Selbst ihr wollte einfach nichts mehr einfallen.

„Fein. Gut. Was das ganze… bereit sein angeht… ich fürchte, da kann ich dir nur bedingt helfen. Fühlst du dich denn bereit?“, hakte Vetus nunmehr selbst etwas unsicherer nach.

„Ich… ich weiß es ja eben nicht“, gestand sie kleinlaut ein – und nahezu unhörbar leise. Hätte es irgendeine Form von Kulisse geben, irgendwelche Hintergrundgeräusche, er hätte sie vermutlich kaum einen Ton von sich geben hören.

„Nun… dir ist speiübel bei dem Gedanken, was kommt, oder?“ Sie nickte ohne Zögern. „Aber… wenn du Appetit auf Kekse hast. Wirklich, wirklich, wirklich fiesen Appetit auf Kekse. Und du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen. Aber es müssen Kekse sein. Ein Käsebrot, keine Pilzpfanne – Kekse. Dann wird dir mitunter schlecht, nicht? Das macht Kekse nicht zu etwas Schlechtem. Was… was ich sagen will – denke ich -: Hast du Angst vor Artemis?“ Kopfschütteln. „Davor, mit ihm zusammen zu sein?“ Sie wurde etwas röter, schüttelte aber erneut den Kopf. „Mit ihm zu reden?“ Wieder Kopfschütteln. „Mit ihm zusammenzuleben?“

Arien seufzte. Wenn sie es dabei beließ, dann würde er ewig so weiter machen und Dinge aufzählen, die gar nicht wichtig waren. Nicht für ihr Problem, allemal! „Das sind alles Dinge, die wir sowieso schon tun!“, merkte sie verdrossen an.

Vetus hingegen grinste in den Spiegel hinein, als hätte er gerade von ihr unbemerkt eine Partie Schach gegen sie gewonnen. Was völlig unmöglich war, weil er für Schach nicht die Geduld besaß. „Eben“, erklärte er zu ihrer Verwirrung und elaborierte nach wenigen Augenblicken, „Was glaubst du, was sich alles ändern wird? Ihr lebt zusammen. Gute Güte, genau genommen habt ihr schon eine gemeinsame Wohnung und Kinder.“

„Was?“, fuhr sie überrascht auf.

„Hey, nichts für ungut, aber ich habe gesehen, wie ihr zwei – beide – Thalion betüddelt. Und Coru. Und gelegentlich sogar Lucilia.“

„Aber-“

Doch offenbar war er nicht geneigt, sie ausreden zu lassen. „Alles, was ihr da nachher macht ist, das, was sowieso schon besteht – offensichtlich besteht – auch offiziell zu machen. Ihr bekommt schicken Schmuck als Erinnerung für euch, an euer Versprechen, an eure Feier und aneinander. Und als Zeichen für andere, das ganz subtil sagt ‚Finger weg, sonst Finger ab – das ist meiner!‘“ Bei dem Gedanken musste Arien unweigerlich schmunzeln. Vielleicht war ja tatsächlich jemand so frech gewesen, genau das in die Ringe gravieren zu lassen…? „Ihr bestätigt vor den Göttern und den Anwesenden, dass ihr zueinander gehört. Aber das tut ihr sowieso schon. Ihr seid unzertrennlich. Auch wenn ihr schon ein paar Quer- und Tiefschläge hattet, aber die kommen unweigerlich immer wieder und was habt ihr gemacht? Ihr habt euch zusammengesetzt, drüber geredet und Lösungen entwickelt. Und das werdet ihr auch weiterhin tun. Die Götter nehmen’s vielleicht zur Kenntnis, aber letztlich werden auch die nichts groß unternehmen. Wenn sie euch hätten trennen wollen, hätten sie ein bisschen früher anfangen müssen. Die Gäste, die werden sich freuen, das ihr endlich so weit seid, nachdem schon so ziemlich jeder jede diesbezügliche Wette verloren hat-“

„… was? Es gab Wetten?“

„Das ist jetzt nicht wichtig. Und alle, die es stören würde, die würde es stören, ganz egal ob Ringe oder nicht.“

Sie… wollte nachfragen. Eigentlich wollte sie wirklich, wirklich nachfragen. Nicht nur wegen Lucilia. Sie betüddelten sie überhaupt nicht! Wenn überhaupt, war sie für Arien so etwas wie eine kleine Schwester, nicht? Und was es mit diesen ominösen Wetten auf sich hatte, von denen sie gerade zum ersten Mal hörte, das wollte sie definitiv wissen. Wenn nicht jetzt, dann mindestens später!

Aber was ihr letztlich so schwer im Magen lag… war nicht einmal, was sie als Vorwand hingeworfen hatte. Wenn sie ehrlich war – nicht nur mit Vetus, sondern auch mit sich selbst. Vor allem mit sich selbst. Dann zweifelte sie nicht an ihrer Vorbereitung. Nicht einmal daran, ob sie bereit war.

Sie liebte Artemis.

„Aber…“, setzte sie zögerlich und leise neu an, während er den Kamm weglegte und begann, ihre Flechtfrisur zurechtzumachen, „… was ist… was ist, wenn es sich ändert, Papa? Was ist, wenn er sich ändert? Oder wenn ich mich ändere? Oder wenn sich ändert, was er für mich empfindet? Was ist… wenn ich ihm irgendwann nicht mehr genug bin?“

Der Kloß in ihrem Hals war unerträglich dick geworden. Ihr Magen fand immer neue Knotenmuster, die es auszuprobieren galt und die Schmetterlinge machte das ständige Hin- und Herknoten natürlich auch ziemlich unruhig. Vetus dagegen runzelte die Stirn, konnte es sich bei dieser Arbeit jedoch nicht leisten, zu pausieren. Zu viele Strähnen zwischen zu vielen Klauen, die zu präzise verarbeitet werden wollten. Wenn er pausieren würde, würden ihm unweigerlich die Arme erlahmen, die er auch so schon lange genug hoch und in präzisen Stellungen halten musste. Dennoch – für ein Seufzen war Platz. „Liebes, ich… ich kann dir nicht garantieren, das sich Dinge und Leute nicht ändern werden. Keiner kann das. Die ganze Welt dreht sich fortwährend. Veränderung ist der Lauf der Dinge, unweigerlich. Selbst wir Drachen ändern uns – es dauert nur sehr lange und geht langsam vonstatten, weshalb alle glauben, wir wären wie die Urgebeine der Erde. Aber frag mal Zwerge – sogar die ändern sich. Wenn die Änderungen kommen – bei euch, bei eurem Umfeld – dann kommt es darauf an, sich mitzuändern. Anzupassen. Sich nicht stur dagegen zu stemmen. Und mit einem kleinen Schuss Glück, wenn ihr arbeitet, an euch, an eurer Beziehung, dann werdet ihr euch miteinander verändern. Aneinander anpassen.“

„Aber-“, begann Arien natürlich unweigerlich. Atmen wurde irgendwie schwieriger. Schlucken war schwieriger geworden. Der Knoten in ihrem Magen tat weh. Und die Schmetterlinge schienen plötzlich alle verschwunden. Oder verharrten für einen Moment einfach nur so still, dass man sie gut und gerne hätte totglauben können. „Was ist… wenn er mich irgendwann nicht mehr liebt…?“

Vetus hatte mit sich zu kämpfen. In der Vaterrolle, die er seit seinem Wiedererwachen erstrebt, erreicht und seither eisern und verbissen ausgeübt und verteidigt hatte. In jener Rolle, die ihn immer wieder vor überraschende und unerwartete Probleme und Aufgaben gestellt hatte. In eben jener Rolle hatte er Arien besser kennengelernt denn je zuvor und sie letztlich auch für die Tochter gewonnen, die er in ihr gesehen hatte. Das machte es in solchen Situationen umso schwieriger. Ihre Angst war real. Und sie war durchaus begründet. Dinge konnten schiefgehen. Emotionen waren unberechenbar.

„Selbst wenn irgendwann, irgendwie, alles in die Brüche geht. Und versteh mich richtig: Ich bezweifle sehr, dass das passieren wird, geschweige denn, überhaupt möglich ist. Ebenso, wie ich mir sehr, sehr sicher bin, das viele andere das ähnlich sehen wie ich. Aber gesetzt des Falles. Dann sind wir für dich da. Wir alle. Jeder einzelne von uns, der heute hier versammelt ist. Wir werden da sein. Für dich, um dir Trost und Halt zu bieten, Sicherheit und einen Rückzugsort. Und auch für ihn, falls er das braucht und will.“

Die aufgestauten und von purer Willenskraft und einigen reichlich unlauteren geistigen Drohungen zurückgehaltenen Tränen verschwanden nur zögerlich wieder in den Löchern, aus denen sie hervorgekrochen waren. Noch ein wenig schwer und unregelmäßig atmend, etwas schniefend, kurz schluchzend, ehe sie sich vom Stuhl halb erhob, halb ihn umwarf und sich an Vetus‘ geschuppter Brust vergrub. Die Klauen um sie geschlossen, spannte er die Flügel auf und formte eben jenen Sicherheit vorgaukelnden Kokon, den sie auch früher schon genutzt und zu schätzen gewusst hatte.

Erst, als sie sich nach einigen Minuten etwas beruhigt hatte, entließ er sie wieder. Und sehr zu seiner Beruhigung und Zufriedenheit war die Frisur mit ein paar einfachen Handgriffen hier und da wieder gerichtet. Immerhin waren dramatische Momente wie dieser zwar bei der Organisation und Planung des Tages grundsätzlich berücksichtigt worden, doch das hieß noch lange nicht, dass es nicht dennoch einen Zeitplan gab.

„Geht es dir besser?“, hakte er langsam und vorsichtig nach.

Arien schniefte noch ein letztes Mal, lächelte aber. Und erstmals – seit er das Amulett sehen konnte, jedenfalls – leuchtete der Stein nicht. Ha! Ein weiterer Sieg für die Familie. Er war eindeutig der beste Vater aller Zeiten… „Gut, dann können wir ja los, hm? Immerhin warten da schon ein paar Leute auf dich!“

… uuund das verdammte Ding leuchtete wieder. Soviel zum besten Vater.

Seufzend gab er es auf. Vielleicht konnte er auch auf Ariens Ausrede verweisen, dass das Ding irgendwie defekt sein müsse? Wer hatte das nochmal gebaut? Ah ja, genau, das war-… oh gut, dann würde er wohl mit der Niederlage leben müssen…

 

Zeitgleich in einem anderen Teil der Nadel ging es sehr viel ruhiger und gesitteter zu. Weit weniger dramatisch.

Nein. Keinerlei Drama.

„Das ist eine Katastrophe!“, krächzte Artemis und ließ den Kopf auf den Tisch knallen, Gesicht voran. Er hatte keine weiche, formbare Muskulatur, von Natur aus warme Haut und entsprechende Nervenenden, dass er sich um Schmerz hätte sorgen müssen. Er hatte Routinen, die auf Basis von Aufschlagsgeschwindigkeit, Material des Aufschlagsgegenstandes und Winkel berechneten, wie viel Schmerz er empfinden sollte und dann wiederum diese Informationen an wiederum andere Routinen weitergaben, die auf Basis der vorherrschenden Informationslage durchaus fähig waren, Schmerz im entsprechenden Ausmaß zu simulieren.

Glücklicherweise war er auch fähig, diese Prozesse abzuschalten – und das Sekundenbruchteile, bevor sein Gesicht die Tischplatte aus gutem, solidem Massivholz deformierte. Nicht, das er seinen Schädel wirklich mit Kraft aufgeschlagen hätte. Dann wäre der Tisch eingebrochen. Aber bei einem Koloss wie ihm, zu großen Teilen aus massivem Metall bestehend, wog selbst etwas so halbwegs Handliches wie sein Kopf noch immer eine ganze Menge.

Unter einem mehr als frustrierten Seufzen setzte sich Brutus neben seinen Schöpfer. Gewissermaßen machte das Artemis zu seinem Vater. Abhängig davon, wen man befragte, natürlich. Obgleich Vetus Artemis erschaffen hatte, hütete sich so ziemlich alles und jeder davor, dergleichen als irgendeine Form familiärer Beziehung definieren zu wollen – allem voran, weil es hieße, dass heute Geschwister heiraten würden.

Das wollte sich keiner im Detail vorstellen. Immerhin waren organische Körper ohnehin schon fragil genug – wenn man dann auch noch begann, an der Grundsubstanz herumzupfuschen und das Risiko für Fehlbau zu erhöhen, was konnte man da letztlich schon noch groß erwarten? Die diesbezüglichen Befürchtungen waren für ihn also sogar ein kleines, wirklich winziges Stück nachvollziehbar. Es wäre vermutlich ein wenig größer gewesen, hätte irgendein Risiko bestanden, das sich Arien – eine Fleischliche – mit Artemis – einem Konstrukt – überhaupt fortpflanzte. Zugegeben, da waren so einige seltsame Faktoren involviert. Arien war ein Halbdrache und Halbdrachen waren, wie der Name schon sagte, halbe Drachen. Drachen wiederum waren für ihre ausgesprochen absurd starke Magie bekannt und wer konnte schon genau sagen, wozu Arien fähig war oder sein würde? Ihr Leben oblag nicht länger einer natürlichen Spanne, kein Ende in Sicht. Sie würde lernen, studieren, forschen können, wie immer sie wollte. Sie war schon zu Zeiten ihres Daseins als Halbelbe mit unbekanntem Vaterteil und inaktivem Drachenblut ein überaus arkan talentiertes Geschöpf gewesen. Jetzt? Wer konnte schon über die Gegenwart spekulieren! Oder die Zukunft erst!

Und Artemis, nun. Er war ebenso zeitlos. Darüber hinaus war er alles andere als ein gewöhnliches Konstrukt. Er war von einem Zeitdrachen erschaffen worden. Einem Zeitdrachen. Wer wollte sagen, aus welcher Epoche die Informationen stammten, mittels derer Artemis fertiggestellt worden war? Vielleicht würde es irgendwann den Moment geben, an dem sich Maschinen mit biologischen Wesen fortpflanzen konnten? Vielleicht hatte der uralte Vetus in seiner Weisheit und Voraussicht solcherlei verwendet, entwickelt, eingebaut? Und auch da wieder: Vetus, Artemis‘ Schöpfer, war auch ein Zeitdrache.

Dazu kamen diese Roboter, die Eresthenes ihm verpasst hatte. Maschinen, die so winzig klein waren, dass das bloße Auge sie nicht sehen konnte. Der Gnom nannte dergleichen ‚mikroskopisch‘. Und mikroskopische Maschinen hießen offenbar Naniten. Woher der Gnom dieses Wissen hatte, war Brutus unklar. Und nachdem es ein paar kleinere Zusammenstöße zwischen ihnen gegeben hatte – und ein paar Größere zwischen dem Gnom und anderen Verbündeten oder nicht-mehr-Verbündeten -, war er auch nicht versucht, nach der Quelle der nötigen Informationen zu forschen.

Früher oder später gab einfach jeder auf, Eresthenes über Dinge befragen zu wollen, deren Anfang mit Warum, Wie oder Woher begann.

Also ja – vielleicht, irgendwann, mochte es Sprösslinge geben. Dann war es völlig legitim und sogar relevant, sich um mögliche Verwandtschaften zu sorgen. Bis dahin fiel es Brutus schwer, einen Großteil der diesbezüglichen Abneigungen nachzuvollziehen. Allerdings konnte er sich auch nicht wirklich vorstellen, dass es sich in diesem Moment um dieses Thema handeln mochte. All seinen Beobachtungen nach hatte Artemis sich in einer interessanten Mechanik befunden. Je näher der heutige Tag gerückt war, desto… kurzsichtiger wurde er. Als würde kein Tag, keine Stunde, jenseits der heutigen Geschehnisse existieren.

Was zwar nicht unmöglich war, ihm aber dennoch sehr unwahrscheinlich erschien.

Das legte zumindest nahe, das der subtile Ruf um Hilfe und verbale Unterstützung sich mit etwas befassen musste, dass sehr viel naheliegender war – zeitlich betrachtet.

„Was ist?“, erkundigte er sich daher von Artemis‘ möglichen Schmerzen reichlich ungerührt. Falls er welche hatte und sie wollte – fein. Falls er welche hatte und sie nicht wollte – nun, dann sollte er sie wohl abschalten. So oder so, war das seine Entscheidung.

„Was ist… wenn das hier ein Fehler ist?“

Im ersten Moment glaubte Brutus, Artemis wolle scherzen. Nicht, weil er dazu irgendeine Veranlassung hatte. Es gab keine Indikatoren, dass das hier irgendwie humoristisch für seinen Schöpfer war, im Gegenteil. Er wirkte ernst und ehrlich aufgebracht. Besorgt, verzweifelt fast schon. Zweifelnd, allemal.

Doch Brutus hatte ein paar der Spionagebots, wie Eresthenes sie nannte, in verschiedenen Winkeln der Nadel eingesetzt und behielt konstant seine Aufgabe als Torwächter bei. Und wie der Zufall es so wollte, gab es einen der Miniaturroboter in Ariens Zimmer. Die wenige Minuten zuvor mit einer ganz ähnlichen Tirade begonnen hatte.

Nun mochte man davon halten, was immer man wollte – Brutus war nicht Vetus. Artemis war nicht Arien. Und es waren zweifellos unterschiedliche Beweggründe, die seinen Schöpfer dazu veranlassten, nach und nach eine fast identische Rede zustande zu bringen wie seine Geliebte – Verlobte – es gerade getan hatte. Das änderte nichts daran, dass Brutus sich mit der Situation grundsätzlich überfordert sah.

Er war niemand, den man um seelischen Beistand oder moralische Stärkung bitten sollte. Das zu tun sprach von Verzweiflung. Dem Mangel an Alternativen. Er war zornig, er war besessen vom Zorn. Wut war die Wurzel seiner Persönlichkeit. Er hatte sich der Lehren und Lektionen vieler Mönchs- und Paladinorden verschrieben, führte sie mit eisernem Willen und Selbstdisziplin durch, um Herr eben dieser Wut zu werden.

Niemand sollte sich von jemandem beraten lassen wollen, der konstant vor Wut schäumte. Egal wie ruhig und gesittet er nach außen wirken mochte…

Nichtsdestotrotz war er hier und musste sich das anhören. Nichtsdestotrotz war Artemis überfordert und erhoffte sich offenkundig Antworten von ihm. Von ihm, ausgerechnet. Tatsächlich verzweifelt. Oder es war einer dieser Fälle, in denen das Sprichwort über falsche Orte und falsche Zeiten zutraf. Vielleicht hatte Möbius seine Finger im Spiel. Er sollte das untersuchen und sofern sich die Theorie bewahrheitete… nun, er hatte 2.781 Pfeile. Irgendeiner davon würde schon irgendetwas Sensibles treffen.

Zunächst jedoch erwehrte er sich der Situation bestmöglich, indem er Vetus‘ Verhaltensweisen imitierte. Das war… gar nicht so leicht. Einerseits musste er dazu den konstanten Informationsfluss der anderen Spionagedrohnen vorübergehend ignorieren und zusätzlich seine Aufmerksamkeit für die unmittelbare Umgebung drastisch senken, um dann aus den immer wieder wiederholten Aufzeichnungen dieser einen Drohne die Texte heraus zu sammeln und auf die Situation anzupassen, um diese dann wiederum an Artemis weiterzugeben – inklusive brauchbarer Gestik und angepasster Stimmmodulation.

So gesehen war es plötzlich sehr verständlich, warum Fleischliche fortwährend in Konflikt miteinander gerieten. Empathie zu demonstrieren war schwierig, kräfte- und zeitzehrend und erforderte die Vernachlässigung anderer Pflichten. Die Ungeduld, die so vielen von ihnen zu Eigen war, war völlig unverdient und letztlich bei ihrer rückständigen Art der Kommunikation die Wurzel vieler Übel.

Immerhin verbuchte er zumindest einigen Erfolg mit der Imitation. Nur das Artemis – glücklicherweise – nicht nach körperlicher Nähe bedurfte oder zusammenbrach, ehe es besser wurde. Brutus mochte sich ungern vorstellen, wie… befangen es geworden wäre, hätte er auch diesen Teil aus Vetus‘ Vorgehensweise kopieren müssen. Denn jener Part ließ nicht allzu viel Modulation zu. Ein freundlich-aufbauendes Schulterklopfen hätte vermutlich nicht die gleiche Reaktion erwirkt.

 

Es war Zeit.

Alle wussten das. Nichtsdestotrotz war noch einiges an Bewegung zu sehen.

Unruhig verlagerte Hans sein Gewicht ständig von einem Fuß auf den anderen. Die Kleider, die er trug, waren schick. Sahen sehr… beeindruckend aus. Sehr offiziell. Aber er fühlte sich alles andere als wohl darin. Er war Hans. Früher mal bekannt gewesen als Hans Laye, Sohn einer Schneiderin aus Samara. Und heute war er… nun ja – heute heute war er Priesterersatz. Was irgendwie witzig genug war. Hätte seine Mutter ihm das je zugetraut? Dass er irgendwann Priester spielen und Leute verheiraten würde?

Zugegeben, nicht einfach irgendwelche Leute. Seine Enkelin. Gewissermaßen. Das kam wohl ganz darauf an, ob man Vetus als seinen Sohn ansah, oder seine Schöpfung…

Sein unruhiger, nervöser Blick schweifte über die Gäste. Arthur hatte Sedhwen mitgeschleppt. Der alte Mann wirkte bemerkenswert… gerührt. Die Elbe hielt sogar bereits ein Taschentuch bereit und so, wie er sie kennengelernt hatte – wenig genug, wie’s war -, galt die kleine Aufmerksamkeit gewiss nicht ihren eigenen, von Hochwasser bedrohten Augen, sondern seinen. Hatte er Sedhwen je weinen sehen? Würde er das je? Konnte sie das überhaupt?

Nicht, das er ihr grundsätzliche Unmenschlichkeit unterstellte. Oder Unelbischkeit? Das klang merkwürdig. Jedenfalls wollte er ihr nichts Böses. Nicht mal etwas unterstellen. Doch sie wirkte… hart. Härter als Arthur, um Längen. Während inzwischen in der gesamten Nadel es ein mehr oder weniger offenes Geheimnis war, dass der raue Kriegsveteran, Soldat vieler Jahrzehnte, eine geheime Leidenschaft für Backbücher und –rezepte pflegte und eine noch viel größere, noch viel peinlichere Vorliebe für die miesesten, unrealistischsten, kitschigsten Schnulzen und Romantikromane aller Zeiten, so war Sedhwen… die Elbe, die ihre Männer striezte. Zu jeder Gelegenheit. So hart sie nur konnte. Und stellte einer sie in Frage oder warf ihr vor, nie mitzumachen? Dann machte sie es vor. Bewies das Gegenteil. Und ließ das Großmaul doppelte Arbeit bei halber Ration verrichten.

Hans schauderte kurz. Irgendwie glaubte er, unter Sedhwens Kommando zu stehen musste ein wenig so sein, wie unter Thorins. Wirklich nichts, das er wollte. So ganz grundsätzlich nicht wollte.

Elesil hingegen hatte es wider Erwarten und ihrer ursprünglichen Ankündigung doch noch geschafft – und sie hatte Maria gleich mitgebracht. Das war auch einer der Gründe gewesen, warum Brutus darauf bestanden hatte, dass irgendwer sich irgendwas zur Absicherung einfallen ließe. Der Auftrag fiel letztlich zur allgemeinen Beunruhigung und Belustigung ausgerechnet Eresthenes zu. Man wusste schließlich nicht, ob das verdächtige Ticken aus Elesils Geschenk irgendwas zu bedeuten hatte…

Und sei es im Zweifelsfall nur, das jeder, der zum Zeitpunkt des Öffnens dieses Geschenkes im Raum war, die nächsten zwei Wochen blau sein würde. Königsblau, von Kopf bis Fuß. Es war schon amüsant, was man mit ein bisschen Alchemiekenntnissen anfangen konnte. Es erinnerte ihn irgendwie an früher und weckte das Bedürfnis, sich nochmal kurz von der versammelten Gemeinschaft zu verabschieden, um sich an ein paar von Riks Vorräten zu vergreifen. Nichts, was er nicht ersetzen könnte, nicht wahr?

Er hatte sich bereits von der kleinen Bühne heruntergeschlichen, die sie zusammen mit einigen Sitzbänken und natürlich kräftig Dekoration im leergefegten Trainingsraum aufgebaut hatten, als eine Stimme aus der Gästeschar erklang. „Wo genau glaubst du, dass du hingehst?“ Bei diesem Tonfall zuckte er unwillkürlich zusammen und stand danach ein wenig strammer als zuvor.

„Ich? Uh, nirgendwo. Ich… Ich geh nirgendwo hin!“, haspelte er rasch hervor und eilte zum Pult zurück.

Rasska. Natürlich. Der Blick der Naga folgte ihr kritisch, dann skeptisch, dann zufrieden und beruhigt. Verflixter Fisch. Und dieser nicht-Oktopus an ihrer Seite beunruhigte ihn nach wie vor. Er war ja für kulturellen Austausch und all das, wirklich. Aber das hier war die Nadel. In der Nadel passierten ständig seltsame Sachen. Und gleich beide Hohepriesterinnen von Eumenes hier zu haben, das bereitete ihm irgendwie Bauchschmerzen. Rasska mochte die Nadel und ihren Irrsinn ja noch gut in Erinnerung haben. Aber hatte sie auch ihre liebreizende Gesellschaft eingeweiht, deren Tentakel-Beine sich gerade an der Bank per Saugnapf festklebten…?

Hinter den zwei nicht-Fischen saßen Sszerin und Isimalia. Oder Isimal…antie? Isima… Issi. Sszerin und Issi. Jeder rief sie so – also war es in Ordnung, das auch zu tun, nicht? Er sollte heute ernst sein und seriös und alles, aber… man konnte ihm nicht vorwerfen, dass er einen einzigen Namen der Gäste nicht aussprechen konnte, oder?

Rasskas Begleitung zählte nicht. Den kannte er nicht mal. Und keiner hatte sich die Mühe gemacht, das zu ändern, also war es auch nicht wichtig. Es ging ja auch gar nicht um die Gäste. Genau. Es ging nicht um die Gäste.

Nicht um Siranthus, nicht um Prisuwalim, nicht um Julimania, nicht um Adrilayan. Um die ging es nicht. Warum, in drei Teufels Namen, hatte er sich also die wiederum eingeprägt? Die hatten nicht mit ihm getrunken. Die hatten nie mit ihm Karten gespielt. Vermutlich, weil sie die Karten aus Versehen verbrannt hätten…

Es machte keinen Sinn, dass er sich ausgerechnet deren Namen merkte. Aber Motte war es so unglaublich, so wirklich unfassbar unglaublich wichtig gewesen. Und sie hatte einfach nicht lockergelassen, bevor er die Namen nicht allesamt fehlerfrei betont wiedergeben konnte. Wozu auch immer!

Und weit hinten, demonstrativ in der letzten Bankreihe, saß Peter. Was, wie Hans befand, für eine Fee nach wie vor ein wirklich seltsamer Name war. Als würde man einen Hohen Lord vom Hof der SidheHarald nennen oder so. Oder Gunther.

Nicht, das er fragen würde. Jemals. Denn Peter war gruselig. Allein diese Tasche mit den Puppen, die er ständig herumschleppte... selbst der bloße Gedanke daran jagte ihm eine Gänsehaut herab.

Dreizehn Gäste. Irgendwer hatte nicht nachgedacht. Oder nicht nachgezählt. Oder forderte aktiv und in vollem Bewusstsein das Schicksal heraus. Dreizehn Gäste. Konnte ja nichts mehr schief gehen…! Vielleicht hätten sie weniger Trauzeugen wählen sollen oder weniger-

„Ah!“, entfuhr es Hans abrupt, als er beinahe von der Tribüne stürzte und, dem eigenen Gefühl nach, fast wortwörtlich aus der Robe sprang. Dabei handelte es sich lediglich um die Instrumente, die Vasilla und Lisa animierten, damit sie die sanfte Musik begannen. Eine Melodie, die zunächst nur ankündigte, dass es allmählich Zeit wurde. Krisen waren beizulegen, Drama einzustellen: Die Show würde bald beginnen.

Nachdem er sich etwas beruhigte und zwecks eben dessen die Hand an der Brust verkrampft nach seinem Puls spüren ließ, richtete er sich etwas… straffer und ernster und seriöser am Pult auf. Glücklicherweise war von ihm nicht allzu viel Text zu erwarten. Er musste nur seriös aussehen. Ein bisschen einleitendes Geschwafel, ein Satz am Ende – keine großen Reden. Die hatten die zwei selbst geschrieben. Was irgendwie sehr… süß war. Kitschig, aber süß.

Als es einige Minuten später endlich soweit war, das die Melodie der Instrumente in eine neue übergeführt wurde – Teil zwei von drei -, erhoben sich in den vorderen Reihen die Trauzeugen. Auf Artemis‘ Seite traten Rik und Eresthenes hervor. Und Hans biss sich wirklich auf die Zunge, nach wie vor, um nicht ein Wort darüber zu verlieren, das Rik auf Artemis‘ Trauzeugenseite stand. Auf Ariens Seite dagegen machten sich Ahillea und Athavar bereit.

Vielleicht hätten sie einfach mit der Asynchronizität leben sollen? Es war ja nun wirklich kein Weltuntergang, wenn auf Ariens Seite drei standen und auf Artemis‘ Seite einer, oder? Aber er würde ganz sicher nicht jetzt, im Grunde während der Hochzeit, noch anfangen und irgendetwas umrangieren wollen. Vermutlich würde dann die versammelte Gemeinschaft, allesamt, wie Wölfe über ihn herfallen und ihn in Stücke reißen. Zu viel Arbeit war investiert, zu viele Nerven strapaziert worden, um dafür zu sorgen, dass dieser Tag wirklich perfekt wurde – oder wenigstens so nah wie möglich an Perfektion heranreichte.

Der Trainingsraum war einfach die logische Konsequenz gewesen. Sie brauchten einen großen Raum mit guter Akustik, der sich leicht freiräumen ließe. Allein die Bettkiste in Vetus‘ Zimmer war zu schwer gewesen, von seinem Sofa oder den Steinbänken ganz zu schweigen. Das Schwimmbecken hätte man vielleicht irgendwie trockenlegen können, aber dann mussten alle heraus und wieder herein kommen. Er fand immer noch, dass man einfach die Oberfläche hätte vereisen können. Wäre die Schicht dick genug gewesen, hätte sie die Bänke samt Gästen sicherlich tragen können. Das wäre sooo hübsch geworden! Aber nein. Das war ja wieder zu absurd…

Den Trainingsraum hatte man zumindest nur auskehren müssen. Gewissermaßen. Die großen Trümmerstücke mussten immer noch von Arien oder irgendwem mit absurder Körperkraft weggeräumt werden, aber wenigstens konnten sich da auch die ohne eben diese Kraft beteiligen – mit einem Besen im Kampf gegen die kleineren Stücke oder beim Abräumen und wegschleppen der Waffentische. Und die Dekoration konnte sich sehen lassen. Man hielt das Farbthema beider bestmöglich aufrecht. Blautöne auf Artemis‘ Seite, Lilatöne auf Ariens. Und obgleich das in Hans‘ Kopf keine allzu hübsche Kombination zu ergeben vermochte, bewies sich darin dann offenbar seine mangelnde Vorstellungsgabe. Dann wiederum: Man hatte eine Muse an die Arbeit gelassen… natürlich funktionierte es, irgendwie.

Die Statuen waren ein hübsches I-Tüpfelchen. Und die feine Garderobe der Gäste erst! Issis Fähigkeit, Seide zu produzieren, war tatsächlich einer der Faktoren gewesen, warum die ganzen Vorbereitungen überhaupt so lange gedauert hatten. Immerhin brauchte es gute Kleider. Wirklich, wirklich gute Kleider. Für die Trauzeugen, für den Priester, für-… ihm wurde immer noch seltsam bei dem Gedanken daran, was genau er gerade am Körper trug. Das kam aus dem Hinterleib von Sszerins Freundin…

Vielleicht ein klitzekleines bisschen blasser als zuvor war Hans doch sehr dankbar, als der Wechsel in die dritte Melodie endlich den tatsächlichen Beginn ankündigte. Zunächst kam der Bräutigam mit seinem Ringträger – also Artemis und Brutus. Dabei war es für Hans selbst jetzt, da er ihn so oft in Kleidung gesehen hatte, noch immer seltsam, den Stahlriesen in einem feinen, elegant geschnittenen Anzug zu sehen. Nicht, das ihm das nicht stehen würde – es war schlicht ungewohnt.

Brutus dagegen war stoisch und schweigsam wie eh und je. Er fügte sich mit der gewohnten Präzision den Aufgaben, die der heutige Tag von ihm verlangte und wirkte dabei weder abgelenkt, noch nervös, weder euphorisch, noch angefressen. Es schien nahezu unmöglich, zu sagen, ob er eigentlich überhaupt hier sein wollte oder nicht. Ganz anders als bei Peter – der sich zumindest redlich Mühe gab, den Eindruck erwecken zu wollen, dass man ihn zu diesem Unsinn verpflichtet habe… obwohl inzwischen jeder wusste, dass er Lisa um eine Einladung gebeten hatte, nachdem man ihn zunächst nicht fragte, schlicht davon ausgehend, das er solch einer Veranstaltung nicht beiwohnen wollen würde…

Nachdem Bräutigam und Ringträger ihre Position bezogen hatten, kamen schließlich die Brautjungfern, Lisa und Vasilla.

Es war zweifellos ein amüsanter Gedanke, der Hans schmunzeln ließ: Eigentlich sollten Brautjungfern böse Geister verwirren und von der tatsächlichen Braut ablenken, um Unglück, Pech und Übel für die Ehe abzuwenden, die geschlossen werden sollte. Aber irgendwie vermutete er, das Vasilla insbesondere eine ganz eigene Art von Abwehr parat hätte, wenn irgendwer oder irgendwas versuchen sollte, diese wundervoll romantische, von ihr zu einem guten Teil mitgeplante und mitorganisierte Hochzeit zu ruinieren. Ganz zu schweigen davon, dass Lisa inzwischen auch zweifellos einige Erfahrung darin hatte, die ach so bösen Geister niederzuringen

Der Gedanke an mögliche Rollenspielkombinationen der beiden im Schlafgemach ließ ihn einen Moment beinahe jungenhaft glucksen. Glücklicherweise lag zu viel Aufmerksamkeit auf den Brautjungfern und ihren Frisuren und Kleidern und wer wusste was nicht noch alles, als das irgendwer ihn bemerkt oder sich an seinem Blick hätte stören können. Lisa war… bildschön. Unmenschlich schön. Und selbst Vasilla war eine Augenweite, solange sie ihr menschliches Abbild wiedergab. Doch derlei hatte für Hans irgendwie deutlich an Reiz verloren. Kam wohl mit dem Götterdasein – oder dem Umstand, niemanden mehr berühren zu können, ohne denjenigen in einen orakelnden Visionär zu verwandeln…

Niemanden außer seine Familie zumindest… ein Gedanke, der das Lächeln auf seine Lippen zurückbrachte.

Nachdem die Brautjungfern ihren Teil erfüllt und böse Geister vertrieben hatten, tauchten auch postwendend die Blumenmädchen auf. Gewissermaßen. Hans hatte wirklich sehr mit sich zu kämpfen, nicht zu lachen – aber diesmal erging es ihm da wenigstens nicht als Einzigen so. Lucilia war… begeistert von ihrer Rolle. Und dem jüngsten Mitglied des Ältestenrates von Elvoran sah man plötzlich nicht mehr an, das sie etwas anderes war als ein junges Mädchen mit einem hübschen Flechtkorb voller Blütenblätter, die sie ausnahmsweise mal aller Ordnungsliebe der Erwachsenen zum Trotz herumwerfen und überall verteilen konnte. Man sah ihr nicht einmal an, dass sie je etwas anderes gewesen wäre.

Das war, was ein warmes Lächeln auf die Gesichter trieb, ja. Was sie in Schalk und Amüsement verzog, das waren Thalion, Zenna und Coru. Die hatten ihre Körbe im Maul – und wedelten damit eifrig herum. Was ganz unweigerlich den Teil mit dem Blütenblätter verteilen natürlich ebenso erledigte. Aber allein die Euphorie zu sehen, mit der sie um Lucilia herumliefen…

Man hatte versucht, ihnen zu erklären, was ihre Aufgabe war. Und wozu sie das machten. Und natürlich, was es als Belohnung gab. Aber offenbar hatte die allgemeine Nervosität, Energie und Freude aller auch die Tiere angesteckt. Thalion jagte schneller als das Auge folgen konnte um Lucilia herum, Coru hüpfte irgendwann die Formation brechend aus der Reihe und über diverse Schöße, ehe er unter den Bänken hindurch kroch und generelles Chaos stiftete und die Einzige, die weiterhin tapfer blieb, ihre Rolle hielt und mit Lucilia in gemäßigtem Tempo den Gang zum Altar beendete… war Zenna.

Die dann natürlich auch entsprechend begeistert zu Arthur sprang und ihren Korb dabei eher ignorant mit einem Kopfschwung zur Seite beförderte.

Wer war eigentlich auf die brillante Idee gekommen, die Dinger zu verzaubern? Der Vorrat an Blütenblättern darin war – vermutlich? – endlos, wurde permanent nachgefüllt. Was dazu führte, das – gerade mit Thalions Begeisterung und Corus generellem Wahnsinn – sehr schnell eine konstante Blütendecke den Boden des Trainingsraums bedeckte und es so ziemlich überall recht intensiv nach den zugegeben hübschen Blumen roch, die man tagelang in den Kavernen gesäht, gepflegt, geerntet hatte.

 

Alle Aufmerksamkeit verlagerte sich unweigerlich zum Eingang der – für heute – Festhalle, als die Braut erschien.

Arien wurde von Vetus am Arm geführt, wie die Tradition es gebot und obgleich er sich nicht ohne eigene kleine Panikattacken und Zweifel kräftig in Schale geworfen hatte – immerhin war Ahillea anwesend -, wurden doch alle Blicke ganz unweigerlich von Arien selbst angezogen. Lisa und Vasilla hatten zusammen mit Issi Wochen an diesem Kleid gesessen. Dutzende Entwürfe waren verworfen worden, dutzende Schnitte probiert und ignoriert. Für die Farbgebung hatte man Rik und das Alchemielabor bemüht, wieder und wieder. Seidenproben hatten darauf getestet werden müssen, wie gut sie welche Farben annahmen. Und letztlich… war dieses Prachtwerk entstanden.

Selbst Lisa, die viel auf ihre Kunst gab, war am Schluss des Schaffensprozesses überzeugt gewesen, so etwas kein zweites Mal schöpfen zu können.

… glücklicherweise schien das auch weiterhin keine Kreaturen anderer Ebenen anzuziehen, nur weil sie ihren Job gut machte.

Hans räusperte sich kurz. „Du sabberst“, flüsterte er leise in Artemis Richtung, der daraufhin den Mund zuklappte. Natürlich sabberte er nicht. Er konnte. Vermutlich. Aber seine aufrichtige Verwirrung zu sehen, war wunderbar – und es brach ihn genug aus der Trance, damit es auch tatsächlich weitergehen konnte.

Vetus führte Arien bis zum Altar, ehe er sich langsam löste und seinen neuen Platz einnahm. Dann verstummten die Instrumente und es wurde Zeit. Einen letzten, zu spät heraneilenden Impuls der Nervosität niederkämpfend, räusperte sich Hans und holte Luft. „Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um die Vermählung von Arien Inránainn Zauberfänger und Artemis zu vollziehen. Und weil die beiden es einfach nicht lassen können, haben sie ihre Gelöbnisse selbst geschrieben.“

„Hans!“, wies Arien ihn mit beinahe wehklagendem Ton zurecht, ehe der beschwichtigend die Hände hob.

„Hey, alles ernst, keine Panik. Also, Leute – bereit dafür?“ Nachdem ein Lächeln, vereinzelt sogar ein Kichern, durch die Reihen gegangen war und allgemeines Nicken, Lächeln und Zustimmung ihnen entgegenschlug, nickte der Zeremonienleiter Artemis zu. Der daraufhin aussah, als würde er gleich zusammenbrechen. Was wirklich seltsam war für ein dreieinhalb Tonnen Stahlkoloss.

 

Dann jedoch fing das Amulett um Ariens Hals seinen Blick ein. Der wundervolle Saphir darin eingefasst, verzaubert von ihrem Großvater… und im Moment von einem bildschönen, tiefdunklen Meerblau. Er leuchtete nicht. Sie wollte nicht weg. Keine Flucht. Sie wollte hier sein. Bei ihm. Und das durchziehen. Mit ihm.

Artemis nickte. Ob nun als Reaktion auf Hans oder sich selbst zur Bekräftigung, wer konnte das schon sagen?

„Wir haben viel miteinander durchgemacht. Es mögen noch keine Jahrzehnte sein – aber ich wage zu hoffen, dass wir in Jahrzehnten mit einem warmen Lächeln auf diesen Tag zurückblicken werden, gemeinsam. Ich habe um dich fürchten müssen, muss es noch. Darum, ob du von deinen Aufträgen überhaupt zu mir zurückkehrst. Darum, ob Ereshkigal dir die Gnade der Wiedergeburt gewährt, falls dem nicht so sein sollte. Darum, wie schlimm deine Alpträume diesmal sein werden. An manchen Tagen glaubte ich, vor Sorge krank zu werden. Und du teilst diese Ängste. Nicht zurückzukehren. Schlafen zu gehen. Und dennoch gehst du hinaus, jedes Mal wieder. Stellst dich dem Irrsinn dort draußen, den Gefahren dieser Welt und den Kräften, die sie zu zerstören versuchen. Nicht einmal, weil du daran glaubst, dem gewachsen zu sein – sondern weil du daran glaubst, dass es das Richtige ist. Ich bewundere diese Stärke und Entschlossenheit. Ich bewundere seine Willenskraft und Selbstdisziplin. Deinen Willen, für das einzustehen, woran du glaubst. Und ich liebe dich für so viel mehr – für all die Kleinigkeiten, allem voran. Für die bildschöne Röte in deinen Wangen, wenn ich dich verlegen mache. Für dein Lachen, dass du viel zu selten erklingen lässt. Für die Stunden, die wir Seite an Seite in der Küche standen, mit Teigresten an den Händen und Mehl in den Haaren. Ich liebe dich für all die Stunden, die wir gemeinsam auf dem Sofa saßen und schweigend gelesen haben. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen – und will es auch nicht müssen.“

Einen Moment lang verlor sich Artemis in ihren wunderschönen Augen. Der Drang war groß, einfach diesen einen Schritt vor zu tun, die Tränen von ihren Wangen zu streichen und sie zu küssen. Sie an sich zu ziehen und ihr zuzuflüstern, dass er für sie da war. Und immer sein würde. Dann jedoch riss er sich schweren Herzens los – das käme erst noch. „Ich, Artemis, gelobe hier und heute feierlich, dich zu ehren und zu lieben, in guten wie in schlechten Zeiten, bis zum Ende der Zeit selbst… und frage dich nun: Willst du meine Frau werden?“

Warum? Es machte keinen Sinn, dass so viele angespannte, nervöse Blicke nun plötzlich auf Arien ruhten. Hans konnte sich das nicht recht erklären. Er hatte während Artemis‘ Rede kaum zugehört. Während der Proben hatte er sie dutzende Male gehört, er kannte sie selbst auswendig. Es war gewiss nicht die hübscheste oder epischste Rede aller Zeiten. Er hatte eloquentere und geschicktere, sogar humoristische Reden gehört. Aber Artemis heiratete zum ersten Mal. Vielleicht – falls der Große Glück hatte, auch zum letzten Mal. Seine Rede war zumindest… ernst. Sie kam von Herzen.

Die mangelnde Notwendigkeit, zuzuhören, hatte Hans jedoch Zeit gelassen, die Gästeschar im Blick zu behalten. Und die waren angespannt. So als würde Arien wegteleportieren – was seines Wissens nach sehr gründlich abgesichert worden war. Oder als würde sie gleich einfach die Schleppe packen und davonrennen. Was… schlicht und ergreifend nicht seine Lieblingsenkelin war. Das hier war kein fürchterliches Monster, das hier war auch keine Peinlichkeit. Das hier war etwas zum Jubeln und Feiern, es war ein Geschenk, ein Glück, es war ihr großer Tag – warum also die Blicke…?

„Ja, ich will“, kam es von ihr nach kurzer Pause, aber überzeugt.

Auch ohne Hans‘ Aufforderung wusste Arien, dass es nun an ihr war. Einen Moment zögerte sie, raffte ihren Mut zusammen, ehe sie ihre Stimme auf der Skala ihrer Lautstärke weit genug in die Höhe treiben konnte, dass sie auch zuverlässig hörbar sein würde – selbst für Peter. Vielleicht hatte er sich deshalb ganz hinter gesetzt…? Damit sie sich wirklich überwinden musste, laut und deutlich zu reden? War das seine merkwürdige Form von Unterstützung?

Der Gedanke – und das Lächeln dabei – halfen ihr, sich zu konzentrieren.

„Ich hatte viele Ängste. Als wir dich und diesen Ort fanden, fürchtete ich die Geheimnisse darin. Als du mir ein Freund wurdest, fürchtete ich, du würdest dich nur an die erstbeste freundliche Seele klammern, die dir in viel zu langer Zeit begegnete. Als wir einander näher kamen, fürchtete ich meine eigene Unwissenheit vor dem, was ich von mir erwartet glaubte. Und während all dessen fürchtete ich mich stets am meisten vor meinen Fehlern. Davor, einmal mehr nicht genug zu sein. Nicht schnell genug, nicht stark genug, nicht gut genug. Aber du warst da. Du warst für mich da und hast mich gehalten, als ich zitternd einschlief und schreiend aufwachte. Du warst für mich da, als ich vor Scham im Boden versinken wollte, weil ich nichts wusste – und hast mich zum Lachen gebracht. Du warst für mich da, wann immer ich übers Ziel hinausgeschossen bin und hast mir Grenzen aufgewiesen, die ich selbst nicht länger sehen wollte. Du hast mir geholfen, wo und wie du nur konntest und all meine Ängste ertragen. Gemeinsam haben wir viele davon bezwungen. Aber du hast mehr getan als das. Du hast dich mir geöffnet. Wie es keiner zuvor getan hatte. Du hast dich mir gezeigt, mich eingelassen. Wir… hatten unsere Schwierigkeiten. Und ich fürchte mich. Ich fürchte mich auch weiterhin vor allem, was schief gehen kann. Vor allen Fehlern, die passieren könnten. Aber alles, was uns bisher im Weg stand, haben wir überkommen können. Und mit jedem Mal wird es schwerer, nicht daran zu glauben, dass wir auch weiterhin alles überkommen werden. Ich… i-ich möchte dich nicht mehr hergeben müssen, nie mehr.“

Ein schwaches Lächeln umspielte Ariens Lippen. Er hatte so viele Dinge angebracht. Alltägliches, gewiss. Zeit, die sie zusammen zugebracht hatten. Sie dagegen, sie erinnerte sich an die großen Dinge. An Nächte, die sie durchgeweint hatte. An Tage, in denen sie vor ihrem eigenen Schatten davongesprungen war. An all den Unsinn, den sie sich selbst über die Wochen und Monate eingeredet hatte – und den ihr wieder auszureden oftmals nicht nur Artemis allein Zeit und Nerven gekostet haben musste, sondern auch viele andere, die heute hier versammelt waren. Vielleicht, irgendwann, würde er dessen überdrüssig werden. Vielleicht würde seine Geduld mit ihr ein Ende finden. Vielleicht würde seine Liebe für sie nachlassen.

Aber bis es soweit war… würde sie keine Sekunde der Zeit, die sie mit ihm hatte, freiwillig hergeben!

Mit neuer Entschlossenheit im Blick atmete sie tief durch. Sie versank in seinem Blick. Dem Lächeln auf seinen Lippen. Es schenkte ihr eine innere Ruhe, die sie abermals durchatmen ließ. „Ich, Arien Inránainn Zauberfänger, schwöre dich zu ehren und zu lieben, in guten wie in schlechten Zeiten, bis…“ Einen Moment lang zögerte sie, ehe ein Lächeln auf ihren Lippen aufzog. „… bis zum Ende der Zeit selbst…“, lieh sie sich seine Formulierung aus, „und frage dich nun: Willst du mein Mann werden?“

Die üblichen Gelübde waren dahingehend ein wenig einseitig, wie Hans befand. Willst du meine Frau werden? Willst du mich denn auch zur Frau haben? Dahingehend begrüßte er Ariens Abwandlung der Standardformel mit einem zufriedenen Lächeln – und noch viel zufriedener war er, als Artemis endlich meinte „Ja, ich will!“

Und dann brach Chaos aus.

Man hatte Arien ja bereits gut anmerken können, wie unglaublich nervös sie war. Gewiss nicht als Einzige im Raum, wirklich nicht – und das ging selbst über Artemis hinaus. Aber keiner der Anwesenden hatte erwartet, dass ihre sich monströs und unüberwindlich aufbäumende Nervosität binnen eines Wimpernschlages die Kontrolle an sich reißen und sie gerade dazu verleiten würde.

Ein Laut, der irgendwo zwischen einem glücklichen Schluchzen und einem freudigen Jubelschrei steckengeblieben war, drang gerade noch rechtzeitig aus ihrer Kehle, ehe sie plötzlich Artemis entgegensprang. Der fing sie – wenngleich unnötig – dank guter Reflexe natürlich prompt auf und das technisch betrachtet eigentlich noch nicht vermählte Paar küsste sich.

Sehr, sehr, sehr hingebungsvoll.

Einen Moment herrschte völlige Stille, ehe der Saal in amüsiertes Glucksen und Gelächter ausbrach. Erst da schien Arien zu begreifen, dass irgendwie noch ein Teil fehlte. Also ließ sie schweren Herzens – zweifellos – von Artemis ab, kletterte, nachdem sie ihn wortwörtlich angesprungen hatte, wieder von ihm herab, nahm ihre etwas distanziertere Position ein und brachte das Kleid wieder dahin, wo es hingehörte: Gut sitzend an anständige und sittsame Orte.

Mit hochrotem Kopf nuschelte sie eine kaum verständliche Entschuldigung in Richtung des sich vor Lachen den Bauch haltenden Zeremonienmeisters, der daraufhin vage mit der Hand abwinkte. „Schon gut, ihr zwei, nur zu. Kraft meines Amtes und Macht meiner Person erkläre ich euch zwei Turteltauben hiermit zu Mann und Frau, ihr dürft jetzt – wieder – übereinander herfallen…!“

Von der kleinen Stichelei ein wenig beschämt, hatte Arien Artemis diesmal nur sittlich und gebührlich küssen wollen. Und dabei ganz offenkundig unterschätzt, was der kleine Überfall mit ihm angestellt hatte. Denn kaum reckte sie sich ihm ein kleines Stück entgegen, packte der tonnenschwere Stahlkoloss bereits zu und zog sie zur Gänze an sich, um allen Publikums ungeachtet fortzuführen, was sie hatten unterbrechen müssen.

Glücklicherweise… war Arien hart im Nehmen und konnte das aushalten. Hans mochte gar nicht über die blauen Flecken spekulieren, die anderen über Wochen Schmerzen bereitet hätten, die Arien eigentlich ständig haben musste. Nein. Nein, darüber wollte – und würde – er wirklich nicht spekulieren. Wirklich nicht.

Nachdem sie sich dann irgendwie doch wieder voneinander hatten lösen können, trat das Paar ab und den nicht mehr ganz eindeutig zuzuordnenden Blumenblütenpfad entlang in Richtung Ausgangstür – wo Arien schließlich stehen blieb und, vor der großen Feierlichkeit, den letzten Teil der Hochzeitstradition umsetzte… indem sie blindlings den Blumenstrauß in hohem Bogen hinter sich in die Menge warf.

Hans verfolgte noch immer mit schmerzendem Zwerchfell, wie Vetus das Gebinde verdutzt auffing und sich vors Gesicht hielt, als müsse er zunächst eine Kostprobe nehmen, um seine Natur erkennen zu können. Wirklich dazu kommen konnte er jedoch schlecht, als Ahillea neben ihn trat und den Strauß kecken Lächelns aus seinen Klauen pflückte. „Danke, lieb von dir“, erklärte sie leise und drückte dem Drachen einen Kuss auf die Wange.

Ihr Zwinkern danach. Sein sinnbefreites Gestammel. Das unruhige Zucken und Halbflattern der Flügel. Wie plötzlich da ein kräftiger Schuss Lila seine Schuppen färbte. Hans konnte sich unweigerlich nicht mehr recht halten und sank, von neuem Gelächter geschüttelt und gepeinigt, in sich zusammen. Sie wollten ihn umbringen, das musste es sein. Sie alle hatten sich verschworen, um herauszufinden, ob man einen Gott töten konnte.

Mit Lachen.

So musste es einfach sein. Musste. Immerhin standen jetzt die Feierlichkeiten an… und Arien und Artemis würden mindestens einmal tanzen müssen…

… so musste es einfach sein…

Wunder

„Ich hab’s!“

Mit diesem Satz, so hätte mancher meinen wollen, begann alles. Sicherlich – man konnte auch gut darüber streiten, wo der Anfang tatsächlich lag. War es der Moment, an dem Arien Zauberfänger und Artemis sich ineinander verliebt hatten? Oder vielleicht der Moment, als Artemis überhaupt erst einen eigenen Verstand von der neusten Generation an Nadelmeistern zugestanden bekam? Immerhin erlaubte das überhaupt erst, dass er sich seiner bewusst wurde, eine Persönlichkeit entwickeln, sich entfalten konnte – zu dem werden konnte, den Arien zu lieben lernte. Möglicherweise sollte man es auch zurückführen, auf den Zeitpunkt seiner Schöpfung? Oder noch fundamentaler, auf den Zeitpunkt der Schöpfung von Vetus, der seinerseits überhaupt erst die Nadel und damit die Notwendigkeit zur Schöpfung von Artemis hervorbrachte. Und wenn man diesen Pfad schon verfolgte, warum dann nicht die Berufung von Hans Laye, Sohn einer Schneiderin, zum Gott der Zeit, Zwölfter im Pantheon der Alten? Oder all die Umstände, die zu seiner Zeugung überhaupt erst geführt hatten?

Es gab immer Varianzen. Wahrscheinlichkeiten. Mögliche Abweichungen. Entscheidungen. Entgegen dem Glauben mancher war freier Wille keine Illusion und an zahllosen Stellen hätten viele Ereignisse anders ausgehen können. Selbst nachdem dieser schicksalsträchtige Satz gefallen war hätte sich vieles noch anders entwickeln können, als es das letztlich tat.

Es war schlicht nicht möglich, einen einzelnen Zeitpunkt festzusetzen, mit dem sich diese Geschehnisse signifikant in den Büchern einbringen ließen. Und in jenem Moment? Da war ohnehin niemandem bewusst, was es wirklich bedeuten, wozu führen, wie die Zukunft formen würde. In jenem Moment war da einfach nur Eresthenes, der sehr selbstzufrieden sich sogar ein Lächeln erlaubte. Er stand in der Tür zum Gasthaus, starrte Arien und Artemis an, die ihrerseits überrascht aufgefahren waren.

Irgendeinen sozialen Anlass sprengte er hier gerade. Ein Jubiläum vielleicht? Wovon?

Es scherte ihn nicht allzu sehr. Er hatte Nachrichten, Neuigkeiten, von außerordentlicher Größe und nein, sie konnten keine weitere Stunde oder auch nur die nächste Minute warten!

„Eh… Entschuldigung“, brachte Artemis zunächst verdutzt hervor, „aber… was hast du?“

„Eine Lösung für das Energieverteilungsproblem bei dem Gewehr? Du hast aber nicht schon wieder versucht, die Sekundärplatinen kurzzuschließen, oder? Hast du eine Schalldämpfung für die Werkstatt installiert oder ist diesmal tatsächlich nichts explodiert?“ Ariens Enthusiasmus verließ binnen eines Wimpernschlages den Tisch und das zugegeben ohnehin seichte Gespräch, das sie gerade mit ihrem Liebsten geführt hatte – zu Gunsten der möglichen neuen Entdeckungen eines guten Freundes. Ein guter Freund… aber nicht unbedingt immer der Zurechnungsfähigste.

Der Gnom rollte seinerseits mit den Augen. Warum unterstellten ihm nur immer alle, er würde Dinge explodieren lassen? So ein Blödsinn, er war kein verdammter Goblin! Wenn, dann würden sie implodieren. Oder phasenverschoben werden. Oder die Farbe ändern. Sie hätten jedenfalls andere, bemerkenswertere, sensationellere Effekte als einfach nur stumpfe Explosionen. Ihm solche Stümperei zu unterstellen, er war fast geneigt, tatsächlich zu warten, sie schmoren zu lassen, in ihrer eigenen Ungeduld. Verdient hätte sie’s!

Fast.

„Nein, nein!“, winkte er hastig ab, „Alles Schnee von gestern! Ich habe-“

„Schnee?“, echote Arien irritiert, „Du hast… das Gewehr aber nicht aus Versehen in Eis verwandelt, oder? Kannst du die Temperatur ausreichend niedrig halten oder ist es schon geschmolzen? Falls du Hilfe brauchst, es rückgängig zu machen, sag einfach was, ich könnte-“

„Arien!“, zischte Eresthenes in einem seltenen Moment der Ernsthaftigkeit. Sie schwieg sofort still und nach einer Sekunde betretenen Schweigens im Raum – vielleicht auch zehn Sekunden – seufzte der Gnom und schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte Artemis Recht. Vielleicht färbten sie beide tatsächlich irgendwie aufeinander ab. War er wirklich so? So… nun…

Nein. Nein, das konnte einfach nicht sein. So war er nicht. Wie immer man es nannte.

„Ich habe eine Lösung für das andere Problem. Euer Problem“, erklärte er in einem neuen Versuch.

Jetzt endlich begriff sie. Artemis ebenfalls. Während der zu lächeln begann, bekam der Halbdrache große Augen und wurde ein klein wenig blasser, auch wenn ihre Mundwinkel ebenfalls nach oben zuckten. Er nickte zufrieden und trat näher, zog sich von einem der benachbarten Tische einen Stuhl herbei und besah sich den Aufbau auf dem Tisch kurz. Ein Kerzenhalter mit drei halb herabgebrannten Kerzen deutete einen romantischen Hintergrund an. Dazu, dass das Treffen schon eine Weile ging und möglicherweise die besten Teile – oder Wichtigsten – ohnehin bereits geklärt waren. Denn ohne ein Verständnis für die üblichen Abläufe war es nur naheliegend, wichtige und drängende Dinge eingangs zu besprechen. Wer würde schon bis zum Schluss warten?

Die Tischdecke war gewöhnlich. Die, die sie hier immer hatten. Also war es wohl nicht zu wichtig. Oder Artemis ließ mit der Mühe nach, mit der er um Arien warb. Auch wenn es selbst nach dessen Erklärung noch immer ein seltsames Konzept für ihn war, um jemanden zu werben, dessen Interesse und Zustimmung man bereits ‚gewonnen‘ hatte. Eresthenes verstand natürlich das Prinzip, das Interesse auch wieder sinken konnte und man es aufrechterhalten musste. Was er nicht verstand war, warum diese übliche Regel in diesem unüblichen Fall ebenfalls griff. Oder greifen sollte.

Aber er zerbrach sich ohnehin lieber den Kopf über Maschinen als über Leute und deren Relationen zueinander. Maschinen waren verlässlicher. Teile griffen ineinander und funktionierten einfach. Und taten sie das nicht, gab es gut nachvollziehbare, klare, eindeutige Fehler, die man beheben konnte. Lisa, Vasilla, Elesil, Ithildalin, die hatten alle oft genug versucht, ihm zu erklären, dass es im Grunde möglich sei, diese Denk- und Vorgehensweisen auch auf das soziale Parkett zu übertragen. Aber wann immer jemand damit begann, Leute, Teile ihrer Persönlichkeiten, Facetten, Eigenheiten, Angewohnheiten, mit Maschinenteilen und deren Kooperationsbedürfnis und –fähigkeit gleichsetzen zu wollen… hörte es bei ihm einfach auf. Sein Verstand stoppte jegliche operative Funktion und verweigerte sich den Schlussfolgerungen.

Leute waren keine Teile. Beziehungen waren keine Maschinen. Und sie zu reparieren war damit glücklicherweise nicht, niemals nie nicht, seine Aufgabe. Darum konnten sich gut und gerne andere kümmern. Ihm egal, wer. Andere eben.

„Eresthenes?“, erkundigte sich Artemis. Er hätte es vermutlich ignoriert, so wie die zwei Mal zuvor auch schon, aber diesmal winkte das Konstrukt mit der Hand vor seinem Gesicht und der über seine Augen wandernde Schatten ließ ihn unwillkürlich blinzeln, was sich als störend für seine klaren, strukturierten Gedankengänge erwies und-

Er hatte gerade eine Idee gehabt. Eine Erkenntnis. Und jetzt war sie weg.

Etwas ungnädig betrachtete er den grauen Stahlriesen, verwarf jegliche Vergeltungswünsche jedoch augenblicklich und kehrte stattdessen zur eigentlichen Thematik zurück. „Ist Artemis ein Konstrukt?“ Verwirrung herrschte für einen Moment vor, bis Arien – vertraut mir Eresthenes gelegentlich wirrer Gesprächsführung – entschied, seinem Faden zu folgen und bejahte. „Seht ihr, die Naniten in ihm wissen das. Das und auch alles andere. Und letztlich wissen sie, inzwischen zumindest, auch so viel mehr als das, was sie ursprünglich mal wissen sollten. Sie kennen und unterstützen mit ihrer Rechenleistung all die Routinen, die inzwischen seine Persönlichkeit ausmachen. Sie kommunizieren, geben diese Informationen weiter, entwickeln sie, verändern sie, speichern sie bis zur nächsten Weitergabe oder Veränderung. Im Grunde… besteht Artemis aus Sprache. Und du, du genauso. Du bist Halbdrache. Aber du hast auch blaue Schuppen an den Schultern. Am Bauch aber nicht. Du hast Flügel, die am Rücken sitzen – nicht an der Brust. Dein Körper wächst und weiß, wie und wo er wachsen muss, was wohin gehört und wie aussehen muss. Er kennt seine Funktionen. Und jede Zelle deines Leibes enthält die Informationen, die dazu nötig sind. Und dein Hirn? Elektrische Impulse, Erinnerungen im Fluss, letztlich nicht so viel anders als eine Schar Routinen, nur komplexer. Sein Körper wird zwar nicht von seinen Routinen bestimmt und verändert, aber letztlich könnte man selbst dafür ein paar Neue schreiben.“

Eine erste, dramatische Pause.

Er hoffte auf Begeisterung. Darauf, dass Arien nach wenigen Sekunden seinen Gedankengängen weit genug gefolgt wäre, von dort aus den Sprung ins frisch eröffnete Ideenbecken wagen würde und letztlich, bei den selben simplen Schlüssen ankäme wie er. Sie war immerhin brillant. Vermutlich einer der klügsten Köpfe dieses Zeitalters.

Allerdings hatte sich in der Vergangenheit schon mehrfach gezeigt, dass das auch hinderlich sein konnte. Und auch diesmal erlag sie dem Nachteil, den solch ein überragender Intellekt mit sich brachte: Sie schoss über das Ziel hinaus, dachte viel zu kompliziert und verhedderte sich in einer gewaltigen Schar gleichzeitig eindringender, miteinander verwobener und generell völlig irreführender und unnützer Ideen. Bis sie die Stirn in Falten gelegt die Brauen zusammenzog und ihn hilfesuchend ansah. „Worauf willst du hinaus?“

Er hatte Hoffnung für sie, wirklich. Gemeinsam würden sie diese Existenzebene revolutionieren. Ihre Technik, ihr Verständnis der Naturwissenschaften, einfach alles!

Aber nicht heute.

Heute war einer dieser Tage, an denen er sehr frustriert und sehr gedehnt seufzen wollte. Und sie schütteln.

Natürlich war ihm klar, dass das nicht zielführend wäre. Vom Schütteln allein würde kein Verständnis in ihren Kopf einsickern. Auch wenn seine Mutter das stets damit zu erklären gewusst hatte, dass man jemanden schüttelte, damit sein Kopf etwas durcheinander kam, damit dort im Oberstübchen Chaos entstand und der Geschüttelte im Nachgang dessen, im Versuch, die Ordnung wiederherzustellen, möglicherweise endlich ein paar Grenzen überschritt, Limitationen einriss, Dinge endlich in den richtigen Zusammenhang setzte. Er wusste es inzwischen nur einfach besser.

Aber wäre es nicht schön, wenn die Dinge so einfach funktionieren würden…?

„Sprache, Arien! Es geht um die Sprache!“, brach er in einem neuen Anflug von Begeisterung hervor, „Alles ist Sprache! Du bist Sprache! Dein Körper ist Sprache! Er ist Sprache! Sein Körper ist Sprache! Vermehrung ist nichts anderes als zufällige Kommunikation, wirres Gebrabbel zwischen Zellen! Das ganze Problem bei euch war eigentlich immer nur, dass eure Sprachen so unkooperativ waren, sich nicht miteinander verknüpfen ließen! Aber die Naniten, die verstehen! Verstehst du? Sie verstehen, dass Artemis aus Metall besteht. Welches Metall. Wie dieses Metall auf molekularer Ebene strukturiert ist. Sie verstehen, dass seine Platinen nicht aus dem gleichen Metall bestehen. Und warum dem so ist. Wie man die Metalle kombinieren muss. Welche Funktionen wie gewährleistet werden. Die Sprache deines Verstandes und Körpers ist Chemie und die Naniten in ihm verstehen Chemie! Alles, was ich machen muss, ist ihnen beizubringen, wie sie auch Chemie sprechen können! Wenn sie seine physiologische Erscheinung und die Routinen, die seine Persönlichkeit, Erinnerungen, seinen Verstand ausmachen, wenn sie die in Chemie übersetzen können, dann haben wir’s! Ich muss ihnen nur begreiflich machen, nach welchem Prinzip deine chemische Kommunikation aufgebaut ist. Ihnen quasi das Alphabet beibringen. Dann Wortbildung. Grammatik, Rechtschreibung. Satzstrukturen. Und selbst das muss ich nicht mal selbst machen – ich, ich muss ihnen nur die Werkzeuge geben, es sich selbst anzulernen. Analyse-Routinen und ein paar Upgrades hier und da schreiben. Aber wenn das erstmal steht, dann können sie es sich selbst beibringen, hundertfach schneller, als ich es ihnen zu lehren fähig gewesen wäre!“

Endlich begannen ihre Augen ebenfalls zu leuchten. Nicht wortwörtlich, glücklicherweise - dann hätte er sich Sorgen gemacht, ob der Stuhl wieder aus seiner Werkstatt ausgebüchst wäre. Aber endlich war da dieses zuvor schon erhoffte Feuer der Zuversicht, der Spaß an der Entdeckung, das Berauschen im Angesicht neuer Entwicklungen. Und, zweifellos, die Freude über die Aussichten, die damit einhergingen. „Wenn du ihnen das beibringst, sind die Informationen, die beide Teile verarbeiten, kompatibel… das heißt…“

Eresthenes nickte eifrig. „Das heißt, du schuldest mir eine Werkstatterweiterung!“

Arien nickte – und stutzte benommen einen Moment später. „Ich… was?“

Er bekräftigte sein Nicken. „Ich habe die Wette gewonnen. Ich habe das Rätsel geknackt. In unter dreißig Jahren.“

Etwas verdutzt starrte Artemis zu Arien herüber, die dezent errötend den Blick senkte. „Ich war betrunken“, nuschelte sie leise zu ihrer Verteidigung – mit wenig Erfolg, wie sie zweifellos bereits erwartet hatte.

„Wette ist Wette und du warst nicht so betrunken. Du erinnerst dich noch daran“, schoss er zurück.

„Das liegt an den verdammten Erinnerungstechniken“, merkte sie defensiv an.

Doch der Gnom zuckte nur mit den Schultern. „Nicht mein Problem. Du schuldest mir eine größere Werkstatt.“

„Fein. Ich werde mit Vater darüber reden und Artemis findet sicherlich demnächst Zeit…?“ Sich geschlagen gebend, wanderte ihr Blicke Unterstützung suchend zu Artemis, der geistesabwesend nickte.

„Das heißt“, setzte dieser schließlich an, den Kopf mit einem vorsichtig-freudigen Lächeln auf den Lippen hebend, „das… das wir…?“

Arien lächelte. Vielleicht war es sogar mehr als nur das. Zählte das schon als Grinsen? So oder so war ihr tiefroter Hautton verräterisch, als sie nickte und beinahe unhörbar leise ein „Wir können Kinder bekommen“ flüsterte.

„Oh. Ja, genau. Das auch“, meinte Eresthenes nach einem Moment.

Arien und Artemis, die sich seiner weiterhin bestehenden Anwesenheit jetzt erst wieder richtig bewusst wurden, starrten ihn einen Moment an, ehe sie einen Blick miteinander wechselten und zu lachen begannen. Er hätte sich echauffieren wollen. Die Werkstatterweiterung war für ihn natürlich vorrangig und wichtiger als der Umstand, ob sie nun Nachwuchs zeugen konnten oder nicht. Das sollte ja wohl selbstverständlich sein!

Doch er wollte ihnen den Moment nicht ruinieren und beließ es daher bei einem Schnaufen. Sollten sie doch lachen.

Nun ja. Immerhin wirkten sie glücklich.

 

„Ich habe einige Zufallsroutinen eingebaut. Damit Ariens Informationen nicht vollständig überschrieben werden, aber auch nicht immer das Gleiche herauskommt. Ist damit auch etwas realistischer. Auch wenn ich nach wie vor befinde, dass das ein unnötiger Schritt war. Es wäre so viel einfacher, ein Kind einfach zu bauen. Ich meine… gerade in dieser Situation wäre es so simpel!“, maulte Eresthenes und überreichte Artemis einen kleinen Kanister. Die scheinbar zähflüssige Substanz darin war tatsächlich ein Schwarm von Millionen von Naniten. Ihre Lebenserwartung war nicht sonderlich hoch und ihr Arbeitsbereich… hochspezialisiert. Dafür konnten sie, was Artemis‘ restliche Naniten nicht zu vollbringen vermochten.

„Wenn wir ein Kind bauen wollen würden, dann hätte ich einfach einen Hammer zur Hand genommen und Arien in die Schmiede geführt. Erz und Esse, Eresthenes. Mittel, die uns schon seit Anbeginn dieser Sache zur Verfügung standen. Aber das ist einfach nicht das Gleiche“, erwiderte Artemis geduldigen und nachsichtigen Tones.

Eresthenes hasste diesen Ton. Man musste nicht geduldig mit ihm sein. Er war schnell. Begriff schnell. Weil er auch klug war. Sehr. Und überhaupt, Nachsicht brauchte man mit ihm erst recht nicht! Er war umsichtig und vorausschauend und weitsichtig und… und bestimmt noch andere wichtige Sachen. „Fein. Aber wehe du beschwerst dich, das euer Nachwuchs kahl ist. Die Naniten haben auch dafür Informationen gespeichert.“

Artemis lachte kurz auf. „Ich denke, das werden wir überleben. Solange das Kind nicht schon vor der Geburt vorhat, so groß wie ich werden zu wollen…“

Der Gnom verzog das Gesicht. „Natürlich nicht, Dummkopf. Ich habe mehr Zeit auf die Sicherheitsmaßnahmen verwendet als auf sonst irgendwas. Es ist nur… es ist trotzdem viel Arbeit gewesen. Und ihr macht ein Glücksspiel draus. Das erscheint mir einfach nicht richtig. Aber letztlich ist es eure Entscheidung, also macht was ihr wollt.“

Artemis kniete sich hin, um ihm etwas mehr auf Augenhöhe begegnen zu können. Eine Hand auf seiner Schulter, wurde das Lächeln des Konstruktes seltsam… warm. Freundlich. Eresthenes hatte nie ganz begreifen können, allen technischen Sachverstandes und aller detaillierter Analysen zum Trotz, wie er das bewerkstelligte. Und er hasste und verfluchte diesen ‚Geist in der Maschine‘-Blödsinn. Das waren Routinen! Kleine Programme. Dutzende. Hunderte. Zehntausende. Aber es war alles nachvollziehbar!

Nur diese lebendige Mimik war-… war bestimmt nur Einbildung. Er selbst war schließlich aus Fleisch und Blut und damit fehlerhaft und anfällig für Suggestionen, selbst wenn sie von seinem eigenen Verstand ausgehen mochten. Er konnte Artemis gut leiden, also unterstellte er ihm eine bessere, lebendigere, authentischere Mimik, als dem wiederum hätte möglich sein sollen. So musste es einfach sein. Bestimmt.

„Dir ist klar, dass du dann Patenonkel wirst, oder?“, durchbrach Artemis‘ Stimme seine Gedankengänge.

Eresthenes stockte und überlegte einen Moment, wog ab. Onkel zu sein hatte sicherlich so seine Vorteile. Es war technisch betrachtet nicht sein Kind, er konnte es also abgeben, wann immer ihm der Sinn danach stand. Trotzdem konnte er auch so viel Zeit damit verbringen, wie er wollte. Es studieren. Analysieren. Ihm beibringen, wie man aus ein paar Schrottteilen kleine Maschinen bastelte. Erstmal nur simple Mechanik, für den Anfang. Energiekonverter, Nuklearreaktoren und Plasmaspulen konnte man sich für die frühe bis späte Jugendzeit aufheben.

Und so eine weitere kostenlose Assistenz war sicherlich auch nicht verkehrt. Noch jemand, den er möglicherweise einspannen und an die Technik der Zukunft heranführen könnte. Wenn auch nur ein Funke Ariens in diesem Kind stecken würde… nun, nicht alle Persönlichkeitseigenschaften oder körperlichen Merkmale schlugen sich im chemischen Konstruktionsplan nieder. Vieles wurde auch durch Umwelt, Erziehung und Myriaden ihm unbekannter interner und externer Faktoren beeinflusst, abgeändert. Aber bei Arien und Artemis? Das Kind musste einfach ein Genie sein. Er konnte sich auf Gedeih und Verderb nicht vorstellen, wie es keins werden sollte.

Also nickte er langsam. „Natürlich.“

Artemis stählerne Braue hob sich langsam, sein Mundwinkel einseitig ebenso. Er vermutete zweifellos, dass der frisch gekürte Patenonkel bereits eine kleine Schar an Absichten und Plänen hatte. Aber Eresthenes gedachte aktuell definitiv nicht, die zu teilen. Wozu auch? Die Naniten waren allem zum Trotz immer noch experimenteller Natur. Es gab letztlich keinen Garant für das Gelingen dieses Projektes und beide gingen all seinen Mühen zum Trotz dennoch ein erhebliches Risiko ein.

„Dann… gehe ich mal zu ihr. Arien, meine ich“, erklärte Artemis, als hätte es da irgendwelche Zweifel geben können. „Zur… zur möglicherweise zukünftigen Mutter unserer Kinder…“ Er lächelte versonnen. „Es klingt seltsam. Aber schön. Noch immer etwas unwirklich.“

Der Gnom verzog dagegen reichlich das Gesicht. „Stimme zu. Klingt seltsam. Will ich auch wirklich nichts von wissen. Jetzt raus hier. Los. Husch. Raus!“ Er, Herr und Meister der Werkstatt, hätte das dreieinhalb Tonnen schwere Konstrukt unmöglich bewegen können. Sein Versuch, den Stahlriesen also aus der Werkstatt hinaus zu schieben, war nur und ausschließlich deshalb von Erfolg gekrönt, weil Artemis glucksend wie ein Bursche mit dem ersten Flaum am Kinn beim Streichespielen sich hatte schieben lassen. Oder vielmehr: Er richtete sich auf und zog vor, gemächlichen Schrittes zur Tür zu gehen, während hinter ihm ein Gnom schnaufend versuchte, sein Schritttempo zu erhöhen.

 

„Wollen wir?“, hakte Artemis im Bemühen um eine verführerische Stimme nach. Versuche dieser Art gab es schon zur Genüge und erfolgreich waren sie so gut wie nie gewesen. Zumindest nicht dahingehend, tatsächlich in sich verführerisch zu sein. Ihr üblicherweise durchaus vorhandener Erfolg lag vielmehr darin begründet, was Arien sich bei jenen Worten unweigerlich ausmalte – und das wiederum, das griff auch dieses Mal.

Deutlich errötend nickte sie.

„Ich habe ein paar Dinge… verändert“, erklärte er lächelnd, während beide unter der Decke verschwanden.

„Hast du?“

„Mhm. Eresthenes ging mir beim Schreiben dessen ein wenig zur Hand. Er meinte, es würde mein Empfinden auf grundsätzlicher Ebene deutlich realistischer gestalten und-… u-und…“ Artemis hatte nicht grundlos deutliche Schwierigkeiten, seinen Satz zu beenden. Oder auch nur, den Gedanken festzuhalten, den er damit zum Ausdruck zu bringen versucht hatte. Arien zeigte dieser Tage weit mehr Initiative, als sie es zu Beginn ihrer Beziehung je getan hatte. Mehr, als er ihr an manchem Punkt zugetraut hätte. Und übernahm gelegentlich sogar die Führung. Wie, offenbar, auch heute Abend.

Sie rutschte über ihn, saß zunächst auf seiner Brust und spähte hochrot zu ihr herab. Selbst im Dunkel konnte er es ausmachen. Sie zierte sich noch immer, wurde ihr Schamgefühl selbst ihm gegenüber nie wirklich los und würde es wohl auch nie werden. Aber sie wusste, dass er ihren Anblick liebte. Jede Sekunde, die er erhaschen konnte und jeden Zentimeter, an dem er sich sattsehen durfte. Langsam nur stützte sie sich auf seiner Brust ab und rutschte etwas tiefer, positionierte ihre Hüfte über der seinen und lehnte sich zu einem innigen Kuss herab.

Er spürte die Hitze, die von ihr ausging. Sie warm, weich, wohlig angenehm ihr Körper war, ihre Nähe, ihr Atem, ihre Lippen, ihre Schenkel, fuhr mit seinen Händen ihren Rücken herab bis zum Steiß, strich behutsam über ihre Flügel. Stirn an Stirn liegend, glitten seine Hände wieder herauf, zogen zärtliche Spuren über ihre Ohren. Das unweigerliche, ungehemmte Aufkeuchen, als er jener hochempfindlichen Region seine Aufmerksamkeit schenkte, war für das frisch erprobte, realistischere Empfinden jedoch offenkundig zu viel.

Unter einem Ächzen bäumte er sich ein kleines Stück auf, kam ihr entgegen. Überrascht lehnte Arien sich zurück, richtete sich auf und hielt ihn, als er die Stirn an ihre Brust legte. Als er sich mit den Armen nach hinten abstützte und das Haupt hob, lag ein Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie zuvor nicht oder höchst selten zu sehen geglaubt hatte. Artemis war üblicherweise niemand, der für Schamgefühl sonderlich anfällig war…

„Bist du gerade…? Also… hast du…?“ Verdutzt blickte sie sich noch ein Stück zurücklehnend herab, zwischen ihre Leiber und wieder zu ihm herauf.

„I-Ich glaube… ich belasse es erstmal bei… uhm… den… d-den konventionellen… uhm… wir… können das ja später testen und… ja…“ Die Situation war absurd. Und entbehrte nicht einer gewissen Komik. Wie oft hatte er sie aufgezogen? Wie oft hatte er sie geneckt? Und jetzt saß er hier und wusste weder kohärente Sätze zu formen, noch mit der Situation umzugehen? Wo waren jetzt seine frechen Sprüche?

Für einen Moment erwog sie, es ihm heimzuzahlen. Natürlich keineswegs in böswilliger Absicht. Niemals in solcher. Aber ein kleiner Seitenhieb, den würde er verkraften können, nicht? „Nun…“, hob sie schmunzelnd an und wartete, bis er zu ihr aufblickte. Langsam ließ sie etwas bemüht ihre Hüfte kreisen, verfolgte, wie seine Augen sich weiteten, er sie anstarrte. Es war glorreich! Zugleich aber wurde ihr auch bewusst, wie… seltsam verletzlich er plötzlich wirkte. Einen Moment nur erwog sie, ihn noch ein wenig länger auf die Folter zu spannen, entschied sich jedoch dagegen. Später wäre sicherlich genug Raum. „Ja. Können wir. Wir haben mehr als genug Zeit“, erklärte sie stattdessen, lehnte sich wieder vor und küsste ihn abermals. Mit sanftem Druck verdeutlichte sie ihm ihren weiteren Plan und bereitwillig senkte er sich wieder auf das Bett zurück.

Arien dagegen nahm ihren Mut zusammen und richtete sich nach einem kurzen Moment wieder auf. Ein wenig Feinjustierung und unter einem Seufzen sank sie nieder, biss sich unbewusst auf die Unterlippe und hielt die Augen für den Moment geschlossen, spürte dem Gefühl nach.

Sie hatten jede Menge Zeit. Jede Menge.

 

„Ich bin fett“, kam der frustrierte Tonfall seitens seiner Liebsten.

„Das liegt am guten Kraftfutter und dem Umstand, dass dein Appetit nun für zwei reichen muss“, erwiderte Artemis in dem Versuch, ihre Stimmung ein wenig aufzuhellen. Dazu musste er nur den Pinsel aktuell noch nicht weglegen.

„Du machst dich über mich lustig…!“, warf sie ihm anklagend vor.

Ihm lag bereits ein Spruch darüber auf der Zunge, wie er sich das im Leben nicht wagen würde, der Ton sorgfältig moduliert, um das Gegenteil zu implizieren, doch die Ernsthaftigkeit, mit der sie das vorgebracht hatte, ließ ihn zögern und schließlich den Pinsel bei Seite legen. Er trat von der Staffelei und der Leinwand zurück, wischte sich kurz die Hände am Tuch ab und kniete sich vor Arien, die mitsamt ihrem voluminösen Bauch in ihrem Sessel im Kaminzimmer seiner Wohnung saß. Das Buch, das sie gelesen hatte, lag seit einer Weile schon unbeachtet auf dem kleinen Nebentisch. Sie hatte so ziemlich jedes Werk über Schwangerschaften und Kindererziehung verschlungen, dass ihre Bibliothek hergab. Und die umspannte immerhin sämtliche Bibliotheken eines ganzen Kontinents. Den Wissensschatz von drei Nationen und inzwischen mehr als einem halben Dutzend Völkern.

Manche der Bücher waren hilfreich gewesen. Andere dienten eher dem gemeinsamen Amüsement. Denn keiner von ihnen hatte wirklich vor, den Ratgebern der Drow oder Zentauren zu folgen. Dein Kind kann sich nicht gegen andere Kinder verteidigen? Mach ein Neues, Stärkeres!

Er kniete sich vor sie, die Hände auf den Armlehnen und musterte sie einen Moment.

„Erinnerst du dich, als wir bei deinem Großvater Urlaub machten? Unser erstes Phyliafest in Carasamban. Dieser Abend, als wir Essen gingen. Ich sagte dir, dass ich zu der Überzeugung gelangt sei, dass du jedes Kleid tragen könntest, jede Farbe, jeden Stoff – es würde nur die Schönheit unterstreichen, die ohnehin schon da sei. Damals ging es um Kleider und heute… erweitere ich das. Du bist – und wirst bleiben – die schönste Frau, die ich gesehen habe. Und inzwischen kannst du es nicht mehr darauf schieben, das ich zu wenige Frauen gesehen hätte.“ Es war nicht unbedingt sein bester Versuch. Aber er bemühte sich und er war ehrlich. Etwas, das sie möglicherweise spürte.

„Ich bin zu nichts mehr nütze“, seufzte sie gequält, „Ich sitze den ganzen Tag nur noch herum. Schlafe, esse, beschwere mich. Ich darf nicht mehr kämpfen, nicht mehr aushelfen, trainieren, nicht mal mehr fliegen! Fliegen, Artemis! Was kann da schon groß dabei sein!“

„Es ist eine enorme Beanspruchung deines Körpers und die Flugbewegungen könnten-…“ Er brach ab. Sie rollte mit den Augen und er realisierte auch leicht, warum. Sie hörte diese Begründung wahrlich nicht zum ersten Mal und hatte sich damit vermutlich schon bei allen anderen beschwert, die ihr – möglicherweise – allesamt genau das Gleiche geantwortet hatten, wie er gerade zu antworten ansetzte.

„Ich kann froh sein, das Eresthenes mich wenigstens noch arbeiten lässt… wer weiß, wie lange er das noch zulässt… oder wie lange der Rest das noch zulässt“, murrte sie weiter.

Artemis seufzte, lächelte jedoch auch. „Das sind deine Stimmungsschwankungen, die da aus dir sprechen. Und tief drin weißt du das auch. Eresthenes würde eher mit Waffengewalt drohen, vielleicht sogar Fallen einbauen, als sich etwas vom Rest vorschreiben zu lassen. Und vermutlich hätte er dir vorher Asyl gewährt, wenn du ihm deine Situation darlegst. Ich bezweifle, dass du jemals bei ihm vor verschlossener Tür stehen würdest.“ Das schien sie zwar zumindest mit jenem Teil ein wenig zu versöhnen, nicht aber mit den grundsätzlichen beiden Problemen. Sie fühlte sich nicht mehr wohl, von ‚attraktiv‘ ganz zu schweigen. Doch gleich, wie oft er betonte, dass er sie noch immer hinreißend fand, anziehend, sie glaubte ihm nicht. Konnte es möglicherweise einfach nicht.

Das war damit eine Schlacht, die er unmöglich gewinnen konnte. Sie würde erst enden, wenn der Krieg selbst endete.

Eine andere Schlacht dagegen konnte er möglicherweise durchaus für sich entscheiden, hier und heute zumindest. Sein Blick blieb kurz an dem Buch hängen, das dort lag. „Trainieren und Kämpfen magst du nicht mehr können – aber du darfst noch immer schwimmen, nicht? Und in der Werkstatt arbeiten, wie du sagtest. Du kannst noch immer mit Thalion rausgehen. Oder die Pferde versorgen. Du kannst so viele Bücher lesen, wie du es noch nie zuvor gekonnt hast. Und brauchst nicht länger eine Ausrede, warum du diese Bücher liest und nicht etwas, das ‚effektiv‘ und ‚nützlich‘ ist. Du kannst dir Gedanken um das Kinderzimmer machen. Pläne zeichnen. Die Einrichtung bauen.“

Sie lächelte. Schwach und schmal, aber es war da. Ihr Widerstand schmolz zumindest ein wenig. „Wir wissen doch noch nicht einmal, was es wird. Junge, Mädchen… Kreuzschlitzschraube…“

Beide teilten einen kurzen Moment ihr Glucksen und Kichern, ehe Artemis ihre Hände ergriff. „Es ist die Nadel, Arien. Es ist nicht so, als hätten wir Platzmangel. Dann baust du eben für einen Jungen und ein Mädchen. Und wenn es soweit ist und wir mehr wissen, dann können wir eins der Zimmer immer noch verschwinden lassen. Oder umdekorieren. Den Inhalt verkaufen. Oder unser Kind in späteren Jahren damit gefügiger bekommen, indem wir ihm statt Hausarrest und frühes Zubettgehen androhen, dass er die nächste Woche in dem anderen Zimmer zubringen muss.“

Diesmal bekam er ein ungefiltertes, ehrliches Lachen aus ihr herausgekitzelt. „Folter! Das ist schrecklich. Du bist schrecklich!“

Er lachte ebenfalls kurz auf, gab ihr einen Kuss auf die Hand und nickte. „Möglicherweise. Aber wenn ich unser Kind vergraule, dann steigen die Chancen, dass es hilfesuchend zu dir rennt.“

„Ist das meine einzige Option, mich bei unserem Kind beliebt zu machen?“, hakte sie nach, eine Braue gehoben, „Und willst du wirklich riskieren, dass wir es mit unseren komplexen Plänen nicht eher in Richtung seines Patenonkels treiben…?“

Artemis stockte, erwog einen Moment. „Spätestens, wenn es das erste Mal bunt leuchtend und glitzernd zurückkommt, ist es vermutlich ohnehin erstmal ein Weilchen vom Spielen in Onkel Astrasius‘ Werkstatt kuriert.“

„Oder möchte dann erst recht dahin“, wandte Arien schmunzelnd ein.

„Nun in dem Fall… wissen wir zumindest, wie wir das Zimmer umdekorieren müssen.“ Wieder lachte sie kurz auf. Er beugte sich etwas vor und küsste sie. Ein langer, inniger Kuss, ein Moment Frieden und Besinnung auf das Gute, das sie hatten. „Du könntest mir beim Malen helfen, wenn du möchtest.“

Lächelnd nickte sie und ließ sich aufhelfen. „Was wird es denn diesmal?“

Er führte sie dem Gemälde näher und Arien begann abermals zu kichern. „Arthur Laiermann, erster Ritter des Ordens der Nadel, bei einem seiner gefährlichsten und wichtigsten Einsätze.“ Tatsächlich war das Bild noch grob, doch die Szenerie bereits zu erkennen, wenn man damals anwesend war. Die ersten Farbtupfer fassten gut den blassen Orangeton der riesigen Reitschnecke ein, von deren Rücken Arthur gerade stürzte, schleimig und mangels eines Sattels, als diese sich aufbäumte.

„Hatten wir an dem Tag nicht Illyanas Keksdose erbeutet?“, flüsterte Arien leise, verträumt. Sie trat an das Gemälde heran und strich vorsichtig über eine der skizzierten, aber noch farbfreien Stellen.

„Du meintest wohl: Ein kostbares Familienrelikt mit Schätzen jenseits der Vorstellungskraft vieler“, erklärte Artemis mit ernstem Nicken.

Ihr Lächeln gewann an Wärme, als sie sich neben ihm einfand. „Ich vermisse ihn“, flüsterte sie leise. Es lag Nostalgie in ihren Worten. Vielleicht noch eine Spur Wehmut. Doch der Schmerz war inzwischen vergangen. Eine Weile ließ er ihr, besahen sie sich das Bild, erinnerten sich still der Szenerie, ehe er seinen Pinsel aufnahm und ihr einen Zweiten reichte.

Je länger sie daran arbeitete, umso ruhiger und entspannter wirkte sie wieder. Mit ihren Launen umzugehen war gerade anfangs schwierig gewesen. Er hatte wenig darüber gewusst, viel zu lernen gehabt. Doch inzwischen… war er an dieser Herausforderung gewachsen – wenn auch längst nicht im gleichen Ausmaß wie sie.

… vielleicht sollte er sich den für später merken…

 

Ariens Schreie zogen durch die Nadel.

All die Pein und Qual der Seelen, die Jahrtausende in den Höllen zubrachten, täglich neu gefoltert und gemartert, vereint in ihrem wahnsinnigen Kreischen nach Erlösung und ihrem Heulen vor Schmerzen, all jene wären verblasst im Angesicht des Schreies, der Ariens Kehle entrang. Immer wieder ging sie dazu über, in kurzen, heftigen Atemstößen ihre Lungen neu zu befüllen, ehe Eresthenes, ausgerechnet Eresthenes, ihr die Anweisung gab, zu pressen.

Die letzten Stunden waren, gelinde gesagt, anstrengend gewesen. Für alle Beteiligten. Und dank Ariens Organ und der immensen Lautstärke, zu der es offenbar fähig war, galt wohl so ziemlich jeder als Beteiligter, der sich innerhalb der Nadel befand. Eresthenes konnte sich nicht ausmalen, welche Schmerzen das sein mussten. Und wirklich, er wollte es auch eigentlich nicht wissen, so gar nicht. Was ihn interessierte war lediglich, was alle interessierte, wirklich alle: Dass es bald vorbei war.

Und genau das war, wofür er arbeitete. Gut, schnell, so ruhig wie möglich.

Es gab Komplikationen. Das war angesichts der Umstände zu erwarten gewesen. Sie war ein Halbdrache. So etwas hatte es vorher nie gegeben. Und hatte Nachwuchs gezeugt. Mit einem Konstrukt. Auf Basis von Nanitentechnologie, die in dieser Zeit eigentlich wirklich nicht existieren sollte. Ja, Komplikationen waren gewissermaßen unvermeidlich gewesen.

Er hatte getan, was er konnte. Hatte alle Sicherheitsprotokolle installiert, die ihm eingefallen waren. Aber er hatte nicht daran gedacht, ob es Möglichkeiten gab, Ariens Körper ebenfalls, nun, sicherer zu machen. Zu spät erst hatte sich gezeigt, dass der Gedankengang vielleicht nicht verkehrt gewesen wäre. Zu spät erst war er mit der Nase darauf gestoßen worden, dass die Naniten noch so sicher sein konnten, aber letztlich würde es Ariens Körper sein, der mit den langfristigen Konsequenzen dieser Zeugung umzugehen hätte.

Jetzt war es zu spät und sie konnten sie Ursache nicht mehr angehen. Alles, was ihnen blieb war, die Symptome zu bekämpfen.

Dabei war Eresthenes frühzeitig immerhin zu dem Entschluss gekommen, seinen üblichen Arbeitsmodus vorzutäuschen. Er war fokussiert, konzentriert, definitiv nicht ablenkbar oder ansprechbar oder sonstwie kommunikativ über das zwingend Nötige hinaus. Denn wirklich, Artemis hatte von Geburten keinen Schimmer und Rik noch viel weniger. Vetus wiederum hatte zwar Ahnung… war jedoch umgekippt und fiel als wirklich nützliche Hilfe damit auch raus.

„Nächste Ladung“, warnte Eresthenes, bevor er ein Trio von Ampullen in Ariens Arm leerte. Die Haut war schon völlig zerstochen. Ursprünglich hatte er ihr eine Ladung pro zehn Minuten gegeben. Dann eine alle fünf. Dann eine jede Minute. Dann zwei jede Minute. Inzwischen waren es drei alle dreißig Sekunden. Ihr Unterarm heilte auch nicht mehr die Einstichwunden. Zu beschäftigt war ihre beschleunigte natürliche Heilung damit, die deutlich kritischeren Wunden an anderen Stellen zu behandeln. Interne, hauptsächlich – was ihm weiterhin erlaubte, Artemis über den Ernst der Lage im Unklaren zu lassen.

Der hatte sich zwar über den enormen Verbrauch gewundert, sich aber mit einem simplen „Das war zu erwarten gewesen“ abwimmeln lassen.

Rik platzte rein. „Die nächsten Ladungen“, klärte er Eresthenes nur kurz auf, packte zwanzig Stück auf den kleinen Rolltisch mit dem medizinischen Besteck und sah zu, das er schleunigst wieder aus dem Raum kam. Das erste Mal war Arien von seiner Anwesenheit und Beteiligung an dieser Sache aus irgendwelchen so ziemlich allen unklaren Gründen heraus nicht sehr begeistert gewesen – und hatte ihn per Telekinese erst gegen die Wand geworfen, dann fast daran zerquetscht in dem Versuch, ihn durch die Wand durchzudrücken.

„Wieviele?“, hakte der Gnom nach.

„Noch fünfzig“, meinte Rik auf dem Weg nach draußen. Er würde in ein paar Minuten mit den nächsten zwanzig Ladungen zurückkommen. Eresthenes rechnete kurz den aktuellen Verbrauch hoch, den noch vorhandenen Vorrat und die geschätzte Dauer, bis Arien endlich das Kind bekommen hätte.

Das verdammte Hemochem würde nicht reichen. Als der steigende Verbrauch absehbar wurde, war Eresthenes eingangs noch dankbar für Riks fortwährende Paranoia gewesen, für seinen beinahe schon zwanghaften Drang, sich stets aufs Äußerste auf alle möglichen und unmöglichen Katastrophensituationen vorzubereiten. Hemochem zu horten wie Arien Schmuck hortete war dem Bastler ein wenig merkwürdig vorgekommen, aber es war die Nadel und hier hatte es schon ganz andere Absurditäten gegeben.

Jetzt wurde jede Dosis zu einem kleinen Lebensretter. Arien brannte dennoch schneller durch die Dinger durch, als sie sie nachproduzieren konnten.

Ein Fluchen auf dem Gang ließ Eresthenes aufhorchen und das Schlimmste befürchten. Falls Rik eine komplette Ladung fallen gelassen hatte… hätte Arien nur noch wenige Minuten…

„Schau nach!“, wies er Artemis an, bemüht, jegliche Hektik aus seiner Stimme fern zu halten.

„Wenn du jetzt gehst, reiße ich deinen Schädel in zwei Hälften! Mit bloßen Händen!“, fauchte Arien mit solcher Wortgewalt, das Artemis wie angewurzelt stehen blieb. Glücklicherweise konnte er nicht wirklich blass werden und vermutlich war es etwas Gutes, das Arien ihm erlaubt hatte, zumindest das Schmerzempfinden in seiner Hand abzustellen. Stark genug, Metall zu verbiegen, war sie allemal. Nichts, was ein paar gut gezielte Hammerschläge und ein paar Zauber später nicht würden richten können. Aber der Gnom machte sich Sorgen um Arien.

Er hatte zwar wirklich gehofft, nicht dazu greifen zu müssen, sah aber auch an dieser Stelle nicht viele Alternativen. Die Geburt musste beschleunigt werden. „Trink das“, wies er ruhig an.

„Fahr zur Hölle!“, zischte Arien zwischen heftigen Atemstößen und kniff bemüht die Augen zusammen, biss die Zähne aufeinander.

Rik kam herein – offenbar mit nicht einer Ladung beschädigt. Gut. Immerhin etwas.

„Nächste Ladung“, verlangte Eresthenes, während er Arien das nächste Trio spritzte und eine weitere Spritze vorbereitete. Sie wollte es nicht trinken? Fein. Dann würde er eben den direkteren Weg nehmen! „Das wird weh tun“, warnte er sie vor.

Der Blick, den er daraufhin abbekam… er hatte keine Worte dafür. Eresthenes war nüchtern. Üblicherweise schwer einzuschüchtern. Er gab sich von Zeit zu Zeit so, aber ihn tatsächlich einzuschüchtern, war nahezu unmöglich. Und dieses ‚nahezu‘ hatte vor diesem Augenblick auch nicht existiert.

Etwas zusammenschrumpfend erwog er kurz, ob ihre eigenen, regenerativen Kräfte nicht vielleicht doch irgendwie damit fertig werden würden, doch… doch letztlich wusste er es besser. Also packte er zu und drückte die Spritze hinein. Sie riss sich beinahe von den Adamantiumfesseln los, als sie sich aufbäumte. Ihr Kreischen schwoll nochmals in Lautstärke an, wurde beinahe zu einem herzzerreißenden Heulen, das letztlich nur schwächer wurde, weil sie nicht endlos viel Luft in ihrer Lunge hatte.

Jener Moment erschütterte unweigerlich auch Artemis zutiefst. Ihn – und sein Vertrauen in Eresthenes‘ Können und die Normalität des bisherigen Ablaufs. „Was passiert hier?!“, verlangte er entsetzt zu wissen.

„Ich beschleunige die Geburt“, erklärte Eresthenes knapp.

„Warum?“ Natürlich fragte er nach dem Warum. Wozu war ja auch völlig irrelevant. Oder wie.

„Wir haben nicht genug Hemochem übrig, um sie durch den restlichen Geburtsprozess gehen zu lassen“, erwiderte Eresthenes leiser, in der Hoffnung, Ariens eigenes Jaulen möge dafür sorgen, dass sie selbst das nicht zu hören bekam.

„Was?!“, drang es dummerweise dennoch aus beiden Kehlen zu ihm.

„Lasst mich meine Arbeit machen und vertraut mir. Steh mir nicht im Weg rum“, erwiderte er kratzbürstig und schob Artemis wieder zu Arien heran, als der einen Schritt näher zu ihm trat. Was er damit hatte bezwecken wollen, war dem Gnom unklar – und gerade in diesem Moment war es ihm auch völlig einerlei. Seine Freundin, seine Kollegin, seine möglicherweise-irgendwann-mal-Schülerin lag dort auf dem Tisch und verblutete allmählich. Er gedachte das nicht zuzulassen.

Als Rik wieder reinkam, schleppte er nur noch halb so viele Ladungen. „Das ist der Rest“, gab er hastig wieder. Statt jedoch abermals fluchtartig den Raum verlassen zu können, stoppte Eresthenes ihn, indem er ihm in den Weg trat.

„Drei Ladungen alle dreißig Sekunden, zähl‘s in Gedanken ab oder nimm die Uhr, lass dich nicht ablenken, lass dir nichts erzählen, hör einfach nicht zu. Drei Ladungen, dreißig Sekunden. Ich bin gleich wieder da!“

Fassungslos starrten alle drei dem Gnom hinterher, als der in aller gebotenen Eile – sogar einen Zauber wirkend, um sein Lauftempo mehr als nur zu verdoppeln – den Raum hinter sich ließ. Noch immer etwas schockstarr gaffte Rik einen Moment die drei Ampullen an, dann zu Arien, die bereits mit Blicken drohte, seine Wange neuerlich Bekanntschaft mit der Wand schließen zu lassen. Just in dem Moment, als die Anspannung im Raum so dick zu werden drohte, dass man sie sicherlich hätte mit der Hand greifen können, packte Artemis die Ampullen und setzte Arien die Ladungen in den Unterarm.

Eresthenes verschwand in seiner Werkstatt. Und baute. So schnell und rücksichtslos, wie er noch nie gebaut hatte. Ein paar Teile flogen ihm um die Ohren, als er Werkstoffe und Einzelteile aus ihren halbfertigen, aber bis dato zumindest stabilen Konstruktionen herausriss. Es zischte und surrte und fauchte und klirrte, der Hammer wurde geschwungen und binnen zwei Minuten hatte er das mieseste Stück instabiler Technik zusammengeworfen, das er je entwickelt hatte.

Wobei man wohl auch wirklich nicht von einer Entwicklung sprechen sollte.

Mit dem äußerlich im Grunde unidentifizierbaren Ding kehrte er zurück, stellte es neben Arien. „Das wird weh tun“, erklärte er und schüttelte den Kopf, als Rik wortlos darum bat, den Raum verlassen zu dürfen. Arien… versuchte einmal mehr fast erfolgreich, ihn mit bloßem Blick in Asche zu verwandeln.

Er war wirklich, wirklich froh, dass sie gegenwärtig keine Ressourcen mehr hatte, um irgendwas oder irgendwen zu desintegrieren.

Mit einem beherzten Schwung stieß er eine längere Metallnadel in Ariens Arm. Das Ding brach einmal komplett durchs Fleisch und rutschte dabei unweigerlich am Knochen ab. Sie schrie erneut auf, rüttelte an den Ketten und – Faelons solider Arbeit sei Dank – sie hielten auch diesmal stand.

„Beschwör Thilia. Danach hol Brutus“, wies Eresthenes Rik an und trat an Artemis, „Es überträgt Heilfähigkeiten. Ist nicht stabil und dezent giftig, aber das wird euch drei nicht stören. Es erspart uns ein paar Ladungen und verschafft uns Zeit.“ Artemis nickte und zögerte keinen Moment. Die zweite Nadel nahm er dem Gnom ab und schob sie unter zwei der Panzerplatten in den eigenen Brustkorb.

Rik bemühte sich wirklich sehr, Thilia an Ort und Stelle zu beschwören – aber nach einer halben Minute sah er ein, dass er hier unmöglich die Konzentration zusammen brächte, um das durchzuziehen. Er verließ unter Eresthenes Antrieb zur Eile den Raum und schickte Brutus hoch, bevor er Thilia zu beschwören versuchte.

Artemis erkaufte ihnen tatsächlich ein paar Minuten. Danach konnte man selbst dem Konstrukt die Schwächung ansehen. Und ganz ähnlich erging es Brutus. Als die zwei ihrer Kräfte beraubt waren, kam Thilia gerade recht. Beherzt und ohne Zögern ließ auch sie sich anzapfen und gab auf und weiter, was Rik bemüht mit einigen Zaubern noch verstärkt hatte. Ihre Heilkräfte waren inhärent, waren von ihm vor langer Zeit ein- und nie wieder ausgebaut worden. Aber mit etwas Arbeit ließen sie sich verstärken. Nicht viel, aber jedes Bisschen zählte.

Mit dem beschleunigten Geburtsvorgang, der gestohlenen Regenerationsfähigkeit und den letzten Resten an Hemochem konnten sie den Großteil der verbliebenen Zeit überbrücken. Hätten sie auch nur einen konventionellen Heilzauber weniger gehabt – jene, die sie noch vor Hemochem zu verbrauchen begonnen hatten -, hätte Arien den Tag möglicherweise nicht überlebt.

Wie knapp es trotz seines Versuchs, alles abzusichern, dann letztlich geworden war… beunruhigte Eresthenes. Ein Aspekt, der ihn für Wochen und Monate verfolgen würde. Selbst Jahre später, gelegentlich, beim ihrem Anblick, würde er noch schaudern und sich an den Tag erinnern, an dem die Konsequenzen seiner Forschung fast seine Freundin getötet hätten.

Als der erste Schrei erklang, waren sie alle erleichtert. Aus irgendeinem Grund. Denn an jenem Punkt endete es noch nicht. Eresthenes bemühte sich, den Sprössling zunächst einmal angemessen zu verarbeiten, so wie die Bücher und Anleitungen und Lehrstunden mit Vetus es ihm beigebracht hatten. Es gab da ein paar Handgriffe, die erledigt sein wollten. Doch Arien schrie und presste noch immer – bis ein zweites Kind das Licht der Welt erblickte.

Mit der Erstversorgung erledigt, wickelte Eresthenes sie fachmännisch ein und war heilfroh, die zwei kleinen, ungeschickt zappelnden Bündel vorsichtig übergeben zu können. Er hatte genug von Nachwuchs. Genug von Hemochem und Geschrei – nein wirklich, ihm klingelten noch immer die Ohren von Ariens ständigem Gebrüll! Er hatte genug von Nadeln und Blut und Operationstischen. Er hatte genug von alledem hier.

Eresthenes hätte es unumwunden zugegeben: Er war mit den Nerven am Ende. Selten genug, wie das vorkam… dieser Tag erfüllte die nötigen Bedingungen mühelos – und dann noch ein wenig mehr.

Die Nachbereitung, obwohl dringend, fühlte sich dennoch nicht mehr so hektisch an. Ohnehin kamen seine nicht sonderlich beeindruckend ausgeprägten Muskeln auch allmählich zum Ermüden. Entsprechend war er froh, mehr als froh, als Vetus anbot, sich um den Rest zu kümmern. Arien war in ihrem Bett, zusammen mit Artemis und zwei kleinen Sprösslingen. Vetus kümmerte sich um das Aufräumen und Saubermachen und das Entsorgen der Maschine und Eresthenes… nun, der zog sich in seine Werkstatt zurück. Er hielt es dort ganze drei Minuten aus, ehe er selbst den Anblick der in aller Hast und Eile zerpflückten Maschinen nicht mehr ertrug und sich noch weiter, noch tiefer zurückzog.

Ein langes, heißes Bad später kroch er mit seiner Leselampe und einem Roman ins Bett und zog die Bodenplatte über den Schlafverschlag zu. Erst wurde es finster, dann dank der Lampe ein klein wenig heller. Ihr schwaches, warmes Licht fühlte sich wundervoll für seine Augen an. Das weiche Bett bemühte sich im Verlauf der nächsten zwei Stunden im Grunde kontinuierlich, ihn einzulullen. Aber zunächst gab er dem nicht nach, nein. Er las. Las irgendetwas über die Eskapaden von irgendwem in irgendwo, vermutlich irgendwann. Irgendwas passierte auch.

Von Bedeutung war nichts davon. Nichts blieb hängen. Worte zogen an seinen Augen vorbei, Seiten wurden umgeblättert. Absätze, Kapitel, bedeutungslos. Es ging darum, die Fülle in seinem Kopf mit etwas zu verdrängen, das verlässlich war, ohne wirkliche Arbeit zu bedeuten.

Und am Ende erreichte er nach eben jenen zwei Stunden einen Zustand der Leere, der ihn zutiefst zufrieden stimmte. Dann erst löschte er das Licht. Und beendete einen Tag, von dem er wirklich hoffte, es würde ihn weder so, noch in ähnlicher Form jemals wieder geben.

 

Es klopfte an der Werkstatt. Es klopfte wie Arien klopfte, wenn sie ungehalten war.

Einer der möglichen Gründe, warum sich weder auf magische Weise – oder technische – die Tür von allein öffnete. Noch, dass er an die Tür käme. Oder auch nur etwas sagen oder sonstwie seine Anwesenheit deutlich machen würde. Dummerweise hielt das Arien nicht davon ab, einfach einzutreten – wie es das früher auch schon nicht getan hatte.

„Eresthenes, wir reden“, begann sie.

Nein, er zog nicht den Kopf ein – auch wenn der Impuls einen kurzen Moment da war. Es war kein ‚Wir sollten reden‘, kein ‚Wir müssen reden‘, nicht mal ein ‚Hast du kurz Zeit?‘ – sie redeten. Jetzt sofort. Keine Wahl.

Entsprechend bemühte er sich noch immer, ihre Anwesenheit zu ignorieren. Seine Arbeit war wichtig. Er musste hochkonzentriert sein und durfte sich nicht ablenken. Der kleinste Irrtum könnte fatale Folgen haben und-

„Legst du bitte den Würfel weg? Thilias Geburtstag ist erst in einer Woche und wenn ich mich nicht irre… bist du mit Anmalen seit vorgestern fertig.“

Er war nicht ertappt. Überhaupt nicht. Man konnte ihn nicht ertappen. Sie sowieso nicht. Dennoch war es an diesem Punkt wohl ratsamer, einfach grundsätzlich gesünder, den Würfel wegzulegen und aufzuschauen. Und ja – sie wirkte ein wenig… verstimmt. „Was ist?“, fragte er bemüht höflich. Vielleicht nicht die ideale Wortwahl, um auch tatsächlich höflich zu wirken, aber sie kannte ihn gut und lange.

„Du hast Eathor erzählt, er sei eine Maschine“, meinte sie und stemmte die Hände in die Hüften.

„Ich… was?“ Etwas verdutzt starrte er sie an. Wie kam der Bengel denn auf diesen Blödsinn…? Die Stirn in Falten legend, sann er nach. Worüber hatten sie geredet? „Er kam her. War neugierig. Wollte wissen, wo er hergekommen war“, begann er sich zu erinnern.

Schon an dieser Stelle seufzte Arien. Erstmals. „Und dir kam nicht in den Sinn, gerade bei einer Frage wie dieser, ihn zu uns zu schicken?!“

Der Gnom zuckte mit den Schultern. „Warum? Ich bin mit eurem Reproduktionsprozess sehr vertraut“, erwiderte er und nein – er genoss überhaupt nicht, wie sie kurz sehr rot wurde und Anzeichen zeigte, das Thema ganz grundsätzlich fallen lassen zu wollen und die Werkstatt fluchtartig zu verlassen. Er hätte damit leben können. Gut leben können. Wirklich.

Aber Arien hatte eine Mission und solche nahm sie immer bitterlich ernst. Auch diesmal, unweigerlich – und sehr zu seinem Verdruss.

„Was hast du ihm erzählt?“, hakte sie nach.

„Alles. Vom gestellten Problem über die diversen Lösungsansätze bis hin zu Feldversuchen und letztlich der Idee, die am Ende funktioniert hat, einschließlich Entwicklungsphase, Produktionsphase, Umsetzung und Ergebnisformung. Oh… ich habe vergessen, ihm von der Geburt zu erzählen, da haben sich noch ein paar wichtige Rückschlüsse ergeben. Er sollte jetzt eigentlich sehr viel mehr über Nanitentechnologie wissen und verstehen.“ Er nickte, zufrieden mit sich selbst. Er hatte seine Erklärungen gut und sauber gehalten, war nicht abgedriftet, hatte keine seltsamen Ideen zwischendrin gehabt, die unbedingt sofort aufgeschrieben oder gar umgesetzt werden mussten… es war wirklich ein Bilderbuchgespräch gewesen. Und Eathor hatte so brav und artig da gesessen und zugehört.

„Eresthenes…“, hob Arien fassungslos starrend an.

„… ja?“, meinte der nach einem Moment stirnrunzelnd.

„Er ist neun. Nicht neunzig, nicht neunhundert, nein. Einfach nur neun. Jahre. Nicht Dekaden oder Generationen, Jahre!“ Sie schien schon wieder ein wenig aufgebracht und insgeheim fragte er sich, ob er den Blutdrucktest nicht doch nochmal wiederholen sollte. Er hatte die Vermutung, dass Eltern gerade in der ersten Lebensphase ihres Nachwuchses sehr viel anfälliger für diesbezügliche Veränderungen und Leiden waren. Bei Artemis ließ sich sowas nur denkbar schlecht messen.

„Ich weiß“, gab er bemüht zurück, „Amdiriel versteht das alles prima.“

Abermals starrte sie ihn einen langen Augenblick fassungslos an. „Du hast es ihr auch erzählt?!“

„Natürlich. Die zwei sind untrennbar. Außerdem konnte sie bestens verstehen, wie der Plasmagenerator versteht – und das, nachdem ich ihr die Teslaspule erklärt habe, nicht den Generator selbst. Sie abstrahiert schnell.“ Er war – obwohl es nicht sein Nachwuchs war und er nach diesem ganzen Theater sicherlich niemals Nachwuchs haben würde – durchaus sehr stolz auf das Mädchen. Einen klugen Kopf wusste er immer zu schätzen. Und sie bemühte sich wirklich, ihrer Mutter nachzueifern. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie sich nicht nur ein bemerkenswertes Basisverständnis für höhere Technologie zugelegt, nein. Sie hatte die phamazeutischen Grundzüge von Rik gelernt, die Basis für magische Bauprozesse von Ariens Großvater und Faelon aufgesaugt und bemühte sich, genauso an ihren bislang zugegeben noch etwas flauen und halbgaren ‚Prinzipien‘ festzuhalten. Beispielsweise, keine Leute zu hauen. Das wurde nur gelegentlich bei ihrem Bruder außer Kraft gesetzt. Üblicherweise dann, wenn er getroffene Abkommen über die Aufteilung erbeuteter zusätzlicher Nachspeisen zu ignorieren versuchte.

„Aber du kannst doch nicht einfach-“, setzte Arien wieder an, „Sie ist noch… du… urgh!“ Sie warf hilflos die Hände in die Luft und wirklich, Eresthenes hätte ihr sogar helfen wollen, es definitiv versucht… hätte er gewusst, was nun eigentlich das Problem war.

„Wäre es dir lieber, ich würde sie nicht fördern?“, versuchte er vorsichtig die mögliche Wurzel auszukundschaften.

„Nein“, gab sie durchaus glaubwürdig zügig zurück, „Es ist nur…“ Sie seufzte tief. „Ich weiß, dass du nicht völlig unempathisch bist. Ich musste gerade eine halbe Stunde auf meinen Jungen einreden, damit er sich von Tick Tack löste und mir sagte, was eigentlich das Problem ist. Er saß völlig aufgelöst in der Box und klammerte sich an ihn, als sei er sein letzter verbliebener Freund auf der Welt. Du hast ihm eine fürchterliche Angst eingejagt. Und ich hoffe einfach, dass du das verstehst. Und daraus lernst. Und dich in Zukunft bei sowas besser verhältst. Eathor und Amdiriel sind nicht gleichauf. Nimm ein wenig Rücksicht auf ihn, ja? Bitte.“

Er hätte ihr durchaus zustimmen wollen. Nein, sie waren nicht gleichauf. Wirklich nicht. Das Unvorstellbare war geschehen. Eathor war wirklich nicht dumm, nein. Er war nur nicht… nun, brillant. Er war nicht so überragend klug wie seine Schwester. Oder seine Mutter. Oder sein Vater. Oder Eresthenes. Oder… nun, andere.

Nach Eresthenes ersten Schätzungen war er dem Durchschnitt immer noch minimal überlegen. Minimal.

Arien war zu klug, um nicht zu sehen, wohin das früher oder später einfach würde führen müssen. Egal, wie nah die Geschwister einander standen und wie freundlich und akzeptierend die Eltern das Umfeld auch schufen. Früher oder später würde die Selbsterkenntnis einsetzen und das Verstehen, aus der Reihe zu fallen. Nicht dazu zu gehören. Nicht völlig, allemal. Egal, wie sehr sich alle bemühen würden, ihm das Gegenteil zu sagen und zu zeigen. Damit würde unweigerlich auch der Punkt kommen, an dem er sich distanzieren würde. Versuchen würde, sich zu beweisen. Zunächst anderen, vermutlich. Seinen Wert zu demonstrieren. Dass er trotz ‚minderen‘ Intellekts das Gleiche oder mehr sogar zu leisten fähig wäre, aufgewogen durch Mut, Entschlossenheit, Tatkraft und andere irrwitzige Ideale. Aber irgendwann würde er einsehen, dass er letztlich nur sich selbst hatte beweisen wollen, würdig zu sein. Würdig, dass man ihn akzeptierte. Würdig all der Liebe und Anerkennung, die ihm mit völliger Selbstverständlichkeit und allzeit kostenlos zuteil geworden war. Und dann würde es nochmals dauern, bis er eben jene Bedingungslosigkeit zu sehen und zu akzeptieren fähig wäre. An jenem Punkt würde er zurückkehren, sich seiner Familie wieder anschließen und alles war gut.

Es wäre einfach nur ein anderer Entwicklungsprozess, als Arien sich für ihn gewünscht hatte. Oder wünschen würde. So vermutete Eresthenes jedenfalls.

Er nickte zunächst nur und wog seine nächsten Worte sorgfältig ab. „Er wird seinen Weg finden. Egal, welche Worte ich wähle.“

 

„Eathor! Sie sind über die linke Flanke eingebrochen!“, rief einer der Offiziere.

Der Angesprochene zog sich den Helm vom blonden Schopf und wischte sich mit dem Handrücken jene Mischung aus Schmutz und Blut aus der Platzwunde an der Stirn vom Gesicht. Oder vielmehr, verschmierte alles nur noch mehr. Wie sein Untergebener es erklärt hatte, erspähten seine geschlitzten Augen im Westen einen Durchbruch. Eine Reihe von Kältekegeln und Feuerbällen pulverisierte die dortigen Truppen. Schilde und Rüstungen allein konnten wenig gegen die Wut der Elemente ausrichten.

„Was machen wir jetzt?“, verlangte der Offizier mit leichter Panik in der Stimme seine nächsten Befehle zu erfahren.

„Wir können nicht gewinnen“, erklärte der frustriert, „Die Front kann gerade so standhalten – wenn sie die Flanke nehmen, können sie unsere Leute an der Front einkesseln und ein Keil in unsere Reihen treiben. Gib das Signal zum Rückzug, wir gruppieren uns im Heerlager!“ Die gewaltigen blauen Schwingen öffneten sich und Eathor hob mit wuchtigen, kräftigen Schlägen ab. Ein kleiner Schubs Windmagie beförderte ihn rasch auf die nötige Geschwindigkeit und in aller Eile stürmte er der westlichen Flanke zu Hilfe. Die Magier hatten allerhand beschworene Bestien entfesselt, um den vor den Elementen flüchtenden Soldaten den Rest zu geben.

„Folgt mir!“, rief er über ihre Reihen fliegend, „Folgt mir!“

Er landete in knapper Entfernung und die zuvor noch kopflos Flüchtenden sammelten sich hinter der Kraftbarriere, die er schuf. Feuerbälle, Kältekegel, Blitzstürme und Säurebomben prallten wirkungslos an der Mauer ab. Seine Männer konnten kurz durchatmen, ihre Waffen aufsammeln, ihre Rüstungen straffen – aber die Atempause würde nicht lange währen. In wenigen Augenblicken würde die Barriere kollabieren und er musste mit den Verbliebenen den Rückzug antreten. Und versuchen, so viele von ihnen hier lebendig heraus zu bringen, wie ihm möglich war.

„Kapituliert und ihr-“, begann soeben einer der Magier mit seltsam näselnder Stimme. Unter anderen Umständen hätte er zum Wohl der Moral seiner Männer einen Witz darüber gerissen – das Kapitulationsangebot war ohnehin den Atem nicht wert, der dafür verschwendet worden war, es auszusprechen.

Doch dann stieß etwas aus dem Himmel nieder. Sonne brach sich an stählernen Schwingen. Mehrere Plasmaladungen rissen beachtliche Löcher in die frisch aufgeschlossenen Reihen der Magier und ihrer Kriegsbestien. „Wuhuuu~!“, kam der wenig einschüchternde ‚Kriegsschrei‘ von oben, als mitten in ihren Reihen eine weitere Zauberfänger landete. Die Sensoren ihrer Flügel operierten makellos in Zusammenarbeit mit ihren Gedanken und was eben noch dazu diente, sie in der Luft zu halten, wurde zu einem Ersatz für noch ein Paar Schwerter.

Als die Magier sich am Flankendurchbruch zurückzogen, ohne Kommandanten zunächst orientierungslos und zersprengt, konnte Eathor die Barriere fallen lassen. Erleichtert auf eine Weise, die er nicht auszudrücken vermochte, trat er an seine Retterin heran und fiel ihr um den Hals. „Es tut gut, dich zu sehen, Schwester! Wie hast du mich gefunden?“

„Du hast Flügel. Sie sind blau“, scherzte sie schief grinsend und wich der eigentlichen Frage damit vorläufig aus.

Eathor hingegen verschob ein Nachhaken auf später. Die Front lag dennoch unter massiver Anstrengung und er hatte Tausende, die er bevorzugt mit weniger als mehr Wunden zurückbringen würde. „Du hast uns etwas Zeit verschafft, aber wir werden dennoch Schwierigkeiten bekommen. Kannst du vielleicht ein bisschen Unterstützung leisten? Vielleicht die Front entlasten? Dann kann ich den Rückzug organisieren und-“

Amdiriel lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. „Keine Sorge – darum hab ich mich schon gekümmert. Du wirst dir allerdings nachher eine ziemliche Predigt anhören dürfen.“

Ihm schwante Übles. Nicht, das er nicht dennoch dankbar war – aber trotzdem verzog er dezent das Gesicht, als er zwei riesige Schatten über das Schlachtfeld fegen sah. „Du hast Mutter und Großvater mitgebracht…?“, fragte er kleinlaut, über den Kampflärm hinweg kaum hörbar. Rhetorisch obendrein. Die Sonne brach sich am satten Blau ihrer Schuppen und jegliche noch verbliebene Zweifel wurden ausgeräumt, als Sekunden später unter dem dualen, tiefen Aufbrüllen zweier Kehlen gewaltige Kegel aus Magie auf den Boden trafen und ganze Landstriche leerfegten.

Zeitverschoben um wenige Minuten nur – aber das war mehr als genug.

Eathor wirkte einen Zauber, der seine Stimme auf Meilen tragen würde. Auch an das Ohr seiner Mutter, wie er befürchtete, aber das ließ sich nun nicht wirklich ändern. Großvater hatte ihm glücklicherweise nie wirklich Probleme bereitet und würde ihm vermutlich eher den Rücken stärken für das, was er hier tat… nur hatte Amdiriel die Predigt nicht grundlos in Aussicht gestellt.

Eigentlich… sollte er nicht wirklich hier sein. Im Gegenteil. Offiziell saß er in einer Schule und lernte fleißig.

„Rückzug zum abgesprochenen Treffpunkt!“, donnerte seine Stimme um ein Hundertfaches gewaltiger über das Feld hinweg, „Rückzug!“

Die Schlacht endete in einem Patt. Verluste auf beiden Seiten. Beachtliche, aber sie hätten weitaus schlimmer ausfallen können. Und keine Seite konnte den Sieg für sich beanspruchen. Angesichts dessen, womit er hatte arbeiten müssen… ein passabler Ausgang. Er war nicht zufrieden, wusste, dass es mehr hätte sein, er mehr hätte erreichen können.

„Junger Mann!“, donnerte Arien, kaum dass sie im Heerlager sein Zelt betrat.

Eathor zuckte fürchterlich zusammen und sandte die Offiziere mit einem möglichst professionell wirkenden und darin kläglich scheiternden „Bitte lasst uns allein“ hinaus.

Vetus trat nicht ein, sondern begnügte sich damit, breit grinsend den Kopf durch den Eingang des Zeltes zu stecken und damit gleich noch den einzigen potenziellen Fluchtweg zu blockieren. Wobei Eathor sich durchaus zu fragen begann, wie es wohl ausgehen würde, wenn er Vetus einen starken Luftstoß ins Gesicht blies. Möglicherweise überrascht, würde er dann den Kopf hochreißen, um auszuweichen – und damit das gesamte Zelt vom Boden heben. Was ihm Fluchtrouten in alle anderen Richtungen eröffnen würde. Nur… wäre das nicht nur kindisch, nein, schlimmer noch.

Seine Mutter würde ihn einfach zurück teleportieren.

„Wo ist Vater?“, erkundigte Eathor sich hoffnungsvoll. Er konnte wirklich alle Rückendeckung brauchen, die es gab.

„Nachdem der sich bereits dahingehend geäußert hatte, dass du zweifellos gut genug erzogen worden bist, um dich niemals selbst zu überschätzen und ich dir etwas Freiraum lassen solle, hielt ich es für angemessen, ihn dort zu lassen, wo er sich zu jenem Zeitpunkt befand“, erwiderte Arien bemerkenswert… feinfühlig? Eathor witterte seine Chance und hakte vorsichtig ein.

„Und das wäre… wo?“

Nur leicht verzog seine Mutter das Gesicht. „Ans Bett gefesselt.“

„Das wollte wirklich keiner wissen“, krähte Vetus seitens des Eingangs und sein Enkel pflichtete ihm das Gesicht verziehend bei.

„Dann stellt keine Fragen, wenn ihr die Antwort nicht wollt!“, murrte Arien verdrossen, straffte dann ihre Haltung wieder und trat an ihren Sohn heran. „Wir reden.“

Abermals verzog er das Gesicht. „Vor diesen Worten und diesem Ton hat mich Onkel immer gewarnt…“

Ex iniuria ius non oritur

Es war tiefste Nacht. Natürlich hieß das längst nicht, dass alle Lichter der Hauptstadt gelöscht waren. Varnasse schlief nie. Ähnlich, wenn auch nicht völlig gleich zu Carastawar und Thethys. Doch die Straßen waren nahezu leer, verwaist vom Licht des Tages und seinen Gästen, den Kauflustigen und Schaulustigen, den Marktschreiern und Reisenden, den Taschendieben und Handwerkern. Eine kühle Brise war tagelang von Osten her angetrieben worden, trug nur noch wenig der Note von Salzluft, mit der sie ihre Reise an der Ostküste startete. Es genügte, um in den Straßen Staub und Dreck ein wenig aufzuwirbeln, hier und da winzigste Windhosen zu formen und den im Schatten schleichenden Männern etwas mehr Deckung zu geben. Oder ihnen bei den gelegentlichen Richtungswechseln direkt ins Gesicht zu pusten, was immer sie zuvor vom Pflaster hatten reißen können.

Dennoch waren nur wenige Wolken am Himmel. Keine großen, hoch aufragenden Türme aus Weiß, die wie Watte wirkten. Nur dünnste Schleier, feinste Stoffe, die die Blöße des Firmaments kaum bedeckten. Zahllose Sterne hier und da, doch ihr Licht gedämpft von eben jenem Schleier. Einen Mond gab es heute nicht. Neumond, so hatte das mehrheitlich beschlossene Urteil gelautet, war die perfekte Nacht. Noch weniger Licht, noch weniger aufmerksame Augen. Natürlich hieß das auch, dass noch mehr gestolpert wurde.

„Das war eine beschissene Idee!“, zischte einer leise, als er in einer weiteren Gasse fast über die Müllkiste des Schusters fiel, an dessen Laden sie sich vorbei zwängten.

„Wäre dir helllichter Tag lieber gewesen?“, zischte ein anderer zurück.

Das unweigerliche „Nein“ kam geradezu kleinlaut.

„Schnauze da hinten. Wir sind fast da“, kam die Weisung von vorne. Die Männer sammelten sich dichter in einer letzten Gasse, das Ziel vor Augen. „Alles wie abgesprochen!“, hieß es dann. Nicken von allen. Eine Gruppe schlich über die große Hauptstraße zur anderen Seite, unbemerkt. Auf beiden Seiten kletterten je zwei eifrig die raue Fassade hinauf und positionierten sich leise auf den Dächern. Sie konnten, durften, einfach nicht riskieren, die Bewohner unter ihren Füßen durch ihr Getrampel auf dem Dach zu wecken.

Bögen wurden gezogen, Pfeile gespannt.

Ihr Anführer atmete nochmals tief durch. „Gut… alle anderen bereit?“ Nicken bei jenen hinter ihm. „Gut, wollen wir mal.“ Mit einem raschen Schritt trat er um die Ecke, direkt auf die Straße und ins mögliche Sichtfeld der zwei Wachen am großen Tor. Keine unmittelbare Reaktion. Erst als er näher kam schien einer der Männer ihn überhaupt zu bemerken. Er tippte seinem Kumpan auf die Schulter, deutete in seine Richtung. Die Hellebarden hielten sie ohnehin eher zu Demonstrationszwecken. Oh, sie waren durchaus daran geübt und konnten damit umgehen. Aber üblicherweise kam der Gegner sehr viel näher ran, als das man die Lanzenwaffen noch effektiv hätte nutzen können. Dafür hatten sie ja noch Armbrüste auf dem Rücken – für größere Distanzen, Flüchtende beispielsweise – und ein Breitschwert am Gürtel.

„Guten Abend, meine Herren“, grüßte er, „Ich würde gerne passieren.“

Die Soldaten wechselten einen alarmierten Blick und richteten die Waffen auf ihn. „Sehr witzig“, meinte einer.

„Nun, seht ihr… ich habe da ein paar Worte mit dem gegenwärtigen… Bewohner zu wechseln. Und würde wirklich vorziehen, wenn ich das ohne jedweden Kampf hinbekäme. Das versteht ihr sicherlich, oder? Den Wunsch, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden?“ Er hatte keine wirkliche Hoffnung, dass diese Zwei einlenken würden. Sie waren zu loyal, zu ergeben, zu gläubig und hörig und verseucht von der Propaganda.

„Bürger… in eurem eigenen Interesse – schert euch!“, warnte der Soldat.

Seufzend schüttelte er den Kopf. „Sehr bedauerlich. Ich möchte euch eines versichern: Eure Namen wird man nicht beschmutzen und ihr werdet nicht vergessen werden. Ihr habt eure Pflicht getan. Geblendet von Lügen, aber loyal bis zuletzt.“ Beklommen blickten beide Wachen sich an, sich um, sahen keine heranstürmende Armee, sahen nichts – hörten nur. Hörten, als der Fremde die Hand hob. Das Zischen von Pfeilen in der Luft. Spürten den Aufschlag in ihren Leibern. Spürten das Leben aus ihm rinnen. Zwei Pfeile pro Mann.

Rasch war der Fremde heran, fing die Sterbenden auf. Nicht nur des Lärms wegen, den ihr Umkippen verursacht hätte. Für ihn war es eine Frage des Respekts. Er fing sie auf, alle beide, und bemühte sich, sie gegen die Mauer zu lehnen. Einer der Männer atmete noch. Erstickte langsam am eigenen Blut. „Lass los“, bat er ihn, „Es ist vorbei. Möge der Herr des Lichts sich deiner in Gnade annehmen für den guten Dienst, den du geleistet hast. Und so du es in deinem Herzen findest, vergib mir.“ Mehr als ein halb ersticktes Röcheln kam, natürlich, nicht hervor, ehe der Mann starb.

Er schloss ihm die Augen. „Gehe in Frieden.“

Seine Männer schlossen rasch wieder zu ihm auf. „Azazel, nehmt die zwei und versteckt sie irgendwo in den Gärten. Niemand darf sie finden, bevor wir weg sind.“ Ein Nicken. Ein Teil der größeren Gruppe brach ab, nahm sich der beiden gefallenen Landsmänner an, der beiden Brüder, und schleppte sie vorsichtig und so respektvoll wie angesichts der Umstände möglich mit sich hinein.

Der Haupttross näherte sich dem nächsten großen Tor. Dem des Palastes.

 

Die schäbige kleine Hütte eines verarmten Zimmermanns war der perfekte Ort gewesen. In den Geschichtsbüchern hatte das, was sie zu erreichen versuchten, stets so angefangen. Verschwörerische Treffen in den niedersten, ärmsten Orten. Denn eine Revolution von unten war eine gerechte Sache, musste aber – wie der Name es schon sagte – von unten beginnen. Eine Bedingung, die ihr kleiner Kreis vorzüglich erfüllte. Sie hatten Töpfer. Schreiner. Totengräber. Schuster. Schreiber. Steinmetze. Selbst Bauern und Tagelöhner. Ihre Zahl war nicht groß… aber groß genug. Größer allemal, als man ihnen zuzutrauen schien.

Seit Wochen wurden sie gejagt. Einige aus ihren Reihen hatten es als Lob empfunden. Man nahm sie ernst!

Kaleb sah es als Hürde.

Ihre Pläne wurden durch das ständige Herumstochern der Wache gefährdet. Immer wieder wurden ihre Männer aufgegriffen. Manchmal kamen sie mangels Beweisen davon. Meist nicht. Und ihre Zahl schrumpfte schneller, als die Gefolgschaft wachsen konnte, ohne mehr Öffentlichkeitsarbeit zu investieren. Was sie wiederum stärkeren Risiken aussetzen würde. Es war ein verdammter Kreislauf und Kaleb war klar: Sie mussten handeln, bevor es brenzlig wurde.

Deshalb fanden sie sich an diesem Abend ein.

„Wie sieht es aus?“, erkundigte sich Kaleb. Einer Gewohnheit folgend, kratzte er etwas an der Narbe herum, die sich über sein halbes Gesicht zog. Sie juckte, behauptete er meist. Er bilde sich das ein, erwiderte Juria stets – ihre Kräuterkundige. Das Gewebe sei tot und vernarbt, nicht mehr fähig, etwas zu empfinden. Sein Verstand aber würde ihm diesen Unsinn einreden, um Erinnerungen frisch zu halten. Als würde er diesen konstanten Schmerz brauchen, um seinen Antrieb für die Sache nicht zu verlieren…

„Ich habe die Karten“, begann Azazel. Als Hilfskraft für die Gärtner, die sich im Palast um die Grünanlagen kümmerten, hatte er nicht einfach nur Zugang zum Gelände gehabt. Er war herumgekommen. Er war jemand, der jemanden kannte, der jemanden kannte. Und kannte damit irgendwie, in der Regel, die ganze Stadt. Er konnte Dinge auftreiben und Sachen erledigen und kannte Freunde für so ziemlich jede Aufgabe. Früher, so erzählten sich ihre Gefolgsleute am Feuer, war er zudem ein echter Spaßvogel gewesen. Das war, natürlich, vor dem Krieg gewesen.

Azazel breitete die erwähnten Karten auf dem Tisch aus. Präzise eingezeichnet waren, auf dieser zumindest, die Gärten des Schlosses. Jede Hecke, jeder Torbogen, jede Figur. Wo sich Kieswege befanden, wo Ausgänge waren. Selbst die Geheimen.

„Juria?“

Die Angesprochene seufzte, drängte sich durch die paar Mann vorbei und näher zum Tisch. Sie löste einen Beutel von ihrem Gürtel und kippte den Inhalt aus. Kleine, runde Steine. Sie dienten als Markierung für die Position der Wachen. „Sie patrouillieren zu zweit. Die Muster ändern sich häufig. Falls wir schnell genug zuschlagen: Aktuell sind’s wohl zwei gegenläufige Spiralen. Aber in spätestens zwei Tagen werde ich mich nochmal umhören müssen.“

Kaleb schüttelte den Kopf. „Nein. Sie haben heute Morgen Anton aufgegriffen. Bei Jasir und Galahad mache ich mir keine Sorgen, das sie quatschen. Aber Anton war schon immer… feinfühligerer Natur. Sie werden ihn vermutlich bearbeiten und spätestens übermorgen wissen sie genug, um uns alle dran zu kriegen. Wir müssen zuschlagen. Noch heute.“

„Nein. Nein, Kaleb, überleg doch mal! Wir haben nicht die Zahlen, die dafür nötig sind!“, wandte Azazel ein, „Wir haben nicht mal genug Waffen und Rüstungen für die Leute, die wir bisher haben!“

„Dann müssen wir mit weniger Leuten reingehen“, schoss Kaleb gereizt zurück.

„Ich kann helfen“, warf Juria in dem Versuch ein, die angespannte Stimmung zu entschärfen. Alle Blicke im Raum glitten langsam zu ihr. „Ich kenne da jemanden. Er verleiht Geld. Ist der reinste Halsabschneider. Aber… wir werden aus der Sache sowieso nicht wirklich unbeschadet zurückkommen. Und ob ich nun am Galgen hänge oder in einer Gasse verblute, was für einen Unterschied macht das schon. Das Geld könnte uns helfen, noch ein bisschen Material ranzuschaffen. Wird nicht viel werden, aber vielleicht… vier weitere Rüstungen, einfaches Leder nur, und ein paar Waffen. Kurzschwerter, schätze ich. Wäre das etwas? Ich bräuchte dafür allerdings ein wenig Zeit. Morgen, schätze ich.“ Ihr suchender Blick glitt durch die Gesichter. Was sie fand, war Chaos. Dankbarkeit bei einigen. Entschlossenheit. Zustimmung. Und Respekt für das Schicksal, dass sie sich selbst aufzuladen bereit schien.

Natürlich hatte Juria nicht vor, kampflos unterzugehen. Sie würde diesem Bastard die Kehle aufzuschneiden versuchen, mit der Waffe, die sie sich dank seines Geldes geliehen hatte, ehe der zu ihr kommen konnte. Aber das war etwas für den Fall, dass sie es lebendig aus dem Palast schafften. Denn falls dem nicht so wäre… wären weitere Pläne ohnehin hinfällig. Sie konnte sich nur einfach nicht vorstellen, dass das noch nie einer versucht hatte.

Und dann war da, im Zweifelsfall, noch der Umstand, dass sie schlicht wirklich schnell laufen konnte. Wenn sie schnell genug weit genug weg kam… vielleicht war ihm der Aufwand die paar Münzen dann auch nicht mehr wert.

„Das hilft“, entschloss Kaleb schließlich.

 

Zwei weitere Wachen am Haupttor wurden auf die gleiche Weise niedergestreckt. Kaleb spielte selbst den Köder, bat sie, aufzugeben. Sie taten es nicht, einmal mehr. Und ernteten für ihre Verweigerung je zwei Pfeile. Danach stand ihnen der Weg ins Innere offen.

„Hier stimmt was nicht“, merkte Juria an, kaum, dass sie eingetreten waren.

„Was meinst du?“, flüsterte Kaleb leise und warf einen Blick den Korridor hinab. Er hob die Lampe etwas höher, um mehr sehen zu können.

„Genau das. Deine Lampe. Du brauchst sie. Warum sind die Kerzen nicht erleuchtet?“, schoss Juria leise zurück.

Kaleb stutzte und spähte nochmals den Korridor herab. Sie hatte Recht. Es schien keinerlei Lichtquellen zu geben. Und auch von außen hatte das Schloss dunkel dagelegen, nicht wahr?

„Was, wenn niemand da ist? Vielleicht haben sie den Braten gerochen?“, setzte Juria nach.

In einem unüberlegten Versuch, sie zu besänftigen, streckte er die Hand nach ihrer aus. Für die Dauer eines Herzschlages strichen seine Finger über ihre Hand. Feinste Härchen, die raue Haut einer Färberin, Ring- und Mittelfinger fehlten. Dann verflog der Moment der Idiotie – und er begriff. Nur nicht rechtzeitig.

Juria zuckte fürchterlich zusammen, ließ fast ihre Lampe fallen und zog rasch die Hand fort. Für die Dauer eines Wimpernschlages lag so viel Schmerz in ihren Augen. Gebrochenes Vertrauen, stille Anklage und nackte, unbeschönigte Angst.

„Verzeih“, bat er leise.

Sie schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Sehen wir zu, das wir weiter kommen.“

Ihr Einwand war berechtigt. Die Lichter hätten an sein müssen. Aber was blieb ihnen schon zu tun? Sie hatten bereits vier Soldaten der Krone auf dem Gewissen. Und morgen würden ihre Gesichter und Namen mit ein paar hübschen Zahlen verknüpft an den Anschlagstafeln hängen, in jeder Taverne und Wachstube. Sie mussten glauben. Vertrauen. Sie hatten nur diesen einen Versuch.

Vorsichtig drangen sie immer weiter und tiefer in den Palast vor. Wenn man einmal begann, vorsichtig um jede Ecke zu schleichen, statt gewöhnlichen Schrittes zu Laufen oder im Eifer eines Gefechtes gar zu sprinten, dann wurden die Korridore plötzlich so viel länger, die Hallen so viel größer und der Palast wuchs sich in seiner Gesamtheit zu einer beeindruckenden, kräfte- und nervenzehrenden Dimension aus.

Schließlich aber erreichten sie zumindest den nächsten Bruchpunkt. Eine für sich selbst betrachtet reichlich unscheinbare Kreuzung zweier Korridore.

„Die Bibliothek ist den Gang runter, dritte-“, setzte Kaleb an, wurde jedoch von Juria unterbrochen.

„Dritte Abzweigung links, erste rechts. Ich weiß. Ich habe mir die Karten eingeprägt. Besser als du, möchte ich meinen.“

Unsicher, was es noch zu sagen gab, seufzte Kaleb einen Moment und sah sich um. Weiterhin waren alle Gänge unbeleuchtet. Und mehr noch: Unbewacht. Über die Patrouillen im Inneren des Palastes hatte sich ohne enormen Aufwand oder Mittel, die ihnen einfach nicht zur Verfügung standen, einfach nichts herausfinden lassen. Aber er vermutete, dass sie inzwischen in irgendwen hätten hineinrennen müssen.

Sie hatten vorhin eine Wachstube passiert. Hinter der Tür war es still und unter der Tür drang kein Licht hindurch. Sie hatten die ersten Bediensteten-Quartiere passiert, jedoch der Versuchung widerstanden, nachzuschauen, ob dort jemand wach war. Oder überhaupt jemand war. Allmählich jedoch konnte auch Kaleb sich nicht mehr des Eindrucks erwehren, dass sie hier in etwas hineingeraten waren. Was, wenn jemand anders bereits den gleichen Plan ersonnen hatte? Was, wenn jemand anders – jemand mit mehr Macht und deutlich besserer Vorbereitung – sich just diese Nacht gewählt hatte, um seinen Plan umzusetzen? Was, wenn sie ein bereits stattfindendes Attentat unterbrachen?

Natürlich war da auch immer noch die Option, dass die Wache tatsächlich von ihren Plänen Wind bekommen hatte. Dass sie hier gerade schnurstracks in eine Falle liefen. Möglich war das. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass das nicht auch Juria und den anderen bewusst war. Dennoch waren sie hier. Vertrauten auf seine Führung, sein Kommando. Sie hätten fliehen können. Den Rückzug antreten können, allesamt. Und was dann?

Morgen würde man überall ihre Gesichter kennen. Ganz Symmarion würde ihre Namen wissen. Und wie viel sie wert waren, jeder einzelne. Er würde nicht den Ort verlassen, an dem er seine zwei Söhne zu Grabe getragen hatte. An dem sich sein Heim befand, arm und heruntergekommen wie es auch sein mochte. Sein Vater und dessen Vater vor ihm hatten schon in diesem Haus gewohnt und es mit gutem Willen und Fleiß zusammenhalten können!

Vielleicht ging es den anderen ja ebenso.

„Für unsere Söhne,“ hob Kaleb an, „Für-

 

„- unsere Töchter. Für unsere Brüder und Schwestern. Für unsere Väter und Mütter. Unsere Freunde. Für unsere Landsleute – und unser Land. Dafür tun wir das. Dafür stehen wir ein. Dort draußen gibt es Hunderte wie uns. Tausende. Aber sie haben nicht den Mut, die Fesseln aus Lügen und Unterdrückung abzuwerfen! Sich gegen das zu stellen, was man ihnen als die große neue Wahrheit zu verkaufen versucht. Wir müssen das selbst in die Hand nehmen.“

Kalebs Ansprachen hatten immer einen etwas überdramatisierten Ton gehabt, doch man konnte ihnen selten die gut gezielte Wirkung absprechen. Azazel wirkte dennoch... skeptisch. Sein Blick glitt über all die Waffen und Rüstungen. Der Stahl in seiner Hand wog schwer. Er schien sich erstmals bewusst zu werden, dass das hier mehr als nur Planung war. Dass seine Worte und Taten sehr wohl dazu führen könnten, dazu führen würden, dass Blut vergossen wurde. Vielleicht das Ihre. Vielleicht das der Wache. Vielleicht das der Krone. Vielleicht sogar seines.

„Du hast die Ansprache auch gehört, Kaleb“, erwiderte Azazel zögerlich, „Die bisherigen Aufrührer sind allesamt im Gefängnis gelandet. Aber ihnen geht die Geduld mit uns aus. Mir ist egal, ob sie unser Anliegen ernst nehmen oder nicht. Ich nehme es ernst. Aber ich weiß einfach nicht, ob es das Risiko wert ist. Du hast eine Tochter und ein bildschönes Weib. Juria, du hast immer noch Verwandte drüben in Bregol, oder nicht?“

Kaleb verzog das Gesicht. Nicht aus purem Trotz oder Widerwillen, nicht aus Abneigung. Sondern aus Kummer. „Wir tun das hier für sie, Azazel! Für sie! Ich leugne nicht, dass ich das auch für meine Söhne tue. Aber hier geht es mehr um die Zukunft Symmarions als um seine Vergangenheit. Mehr um unsere Zukunft, als unsere Vergangenheit. Unsere Brüder und Schwestern, die gefangen wurden, werden wir befreien. Sobald wir im Palast fertig sind, können wir das Chaos, das danach entstehen wird, für einen Ausbruchsversuch nutzen. Aber wir können nicht Schritt B vor Schritt A setzen.“

„Es wurde gesagt, dass sie keine Gnade mehr zeigen werden“, wandte Azazel kleinlaut ein, „Dass an den nächsten, die man aufgreift, ein Exempel statuiert werden würde. Was, wenn wir die nächsten sind?“

Jetzt verzog Kaleb das Gesicht in Widerwillen und Unglauben. „Das ist es? Du hast Angst? Angst davor, dass man dich hinrichten könnte? Ist es das, Azazel? Schau mir in die Augen, wenn ich mit dir rede! Ist es das? Falls wir scheitern – und das werden wir nicht -, falls sie uns erwischen, falls sie uns hinzurichten versuchen… dann erinnere dich. Frage dich: Wo sind dein Weib und dein ungeborenes Kind jetzt? Wie sah die letzte Stunde im Leben deiner Mutter aus? Und wenn du dort auf dem Podest am Galgen stehst und die Meute jault wie räudige wilde Tiere, dann kratze deinen verdammten Stolz zusammen und rufe diese deine Fragen auch zu ihnen hinaus, damit sie begreifen, dass sie auf der falschen Seite stehen. Damit ein paar von ihnen vielleicht erwachen, die Lügen durchschauen und die Waffen aufnehmen, die wir an diesem Tag fallen lassen müssen.“ Kaleb redete sich mehr und mehr in Rage. Trat um den Tisch herum auf Azazel zu. „Doch all das, das ist für diesen Tag, der nicht kommen wird. Hier und heute ist nur eines wichtig: Großes Übel ist geschehen. Jene, denen wir vertraut haben, setzten die Krone einer Schlange auf. Und die reichte dem Teufel die Hand zum Gruß. Wirst du also an meiner Seite stehen, als Landsmann, als Bruder, wenn wir dieser Schlange den Kopf abschlagen?“

Azazel zögerte. Er wich Kalebs Blick aus, senkte ihn herab auf das Schwert in seiner Hand. Es wog schwer. Als würde die Bürde der Verantwortung noch so viel mehr aufladen als nur das Metall selbst. Dieses Ding war ein Werkzeug, bestimmt zu töten. Aber hatte seine Mutter selbst, Schmiedin von jüngsten Jahren an, nicht stets gesagt, dass ein Werkzeug seine Bestimmung stets und allzeit nur durch den Willen dessen fände, der es führen würde?

Das Schwert musste nicht töten. Es konnte verletzen. Es konnte verteidigen. Es konnte aufhalten.

Und falls man ihn tatsächlich aufknüpfte? Nun… sein ganzes Leben lang hatte er nach der Devise zugebracht, dass er nicht wirklich etwas zu verlieren hatte – außer eben seinem Leben selbst. Warum jetzt also anfangen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob er dieses verlieren könnte?

„Ich bin bei dir“, antwortete Azazel nach einem Moment des Sinnierens.

„Gut“, gab Kaleb zurück, tatsächlich erfreut, lächelnd. Er zog ihn in eine kurze Umarmung, klopfte ihm auf die Schulter. „Das ist gut. Wir hätten das ohne dich nicht gekonnt.“ Danach löste er sich und zog ihn zum Tisch heran. „Wir werden es so tief in der Nacht mit zwei Wachen am Grundstückstor und zwei am Haupttor zu tun haben. Ich will ihnen die Gelegenheit bieten, sich zu ergeben. Das heißt auch, dass ich zugleich als Köder fungiere, damit sie lange genug am gleichen Ort still stehen. Falls ich das Zeichen gebe, erschießt ihr sie. Danach müssen wir uns schleunigst um die Körper kümmern. Du kennst das umliegende Gelände wie kein anderer von uns. Such dir fünf unserer Männer zusammen. Du wirst sie in die Gärten führen. Dort weicht ihr den Patrouillen aus, versteckt die Leichen und haltet euch bereit. Wenn wir rauskommen, dann werdet ihr unseren Rückzug decken müssen. Nimm dir also mehr fähige Schützen als Nahkämpfer mit, hörst du? Sobald wir die halbe Strecke passiert haben, gibst du deinen Leuten Befehl zum Rückzug und wir verschwinden alle in der Stadt. An dem Punkt hier teilen wir uns auf und zerstreuen uns. Da heißt es dann erstmal: Jeder für sich. Zumindest für eine Weile. Ich gebe euch über die üblichen Wege Bescheid, wann wir uns wieder treffen.“

 

Etwas stimmte hier nicht.

Azazel konnte es regelrecht spüren. Und das war, bevor ihnen auffiel, dass das Gelände komplett im Dunkeln lag und sie ihre Laternen herausholten. Vier seiner Männer schleppten die zwei gefallenen Torwachen mit sich, während sie die Hauptallee herunter marschierten, als wären sie eine ausziehende Streitmacht. Es gab kein Licht, obwohl hier und da Fackeln in den Hecken steckten oder Ölschalen am Rand standen, hübsch aufgebahrt auf Podesten.

Auf dem Kiesweg ließ sich gut stolpern. Vielleicht hätten sie sich das Leben leichter machen können, indem sie daneben auf der Grasnarbe laufen würden oder hätten sie die Ölschalen angezündet, doch Azazel befand es für unklug, irgendetwas zu verändern. Das hätte zu viel Aufmerksamkeit auf sie gezogen.

„Was denkst du, was hier los ist?“, erkundigte sich Lantos, einer ihrer jüngsten Gefolgsleute.

„Keine Ahnung. Sieht aus, als hätten sie das Gelände aufgegeben. Oder geräumt. Vielleicht feiern sie irgendwas oder die Königin ist auswärtig? Falls dem so ist, sollte das alles ziemlich schnell vorbei sein“, gab Azazel zurück und unterschlug bewusst, dass es da durchaus noch andere Optionen gab. Lantos war ein guter Junge, aber ein wenig flau im Kopf. Es würde Stunden dauern, Tage, vielleicht würde ihm sogar nie auffallen, dass es da noch Alternativen gab, die Azazel zufällig übersehen hatte. Denn selbst wenn sie ihm dann doch bewusst werden würden, würde er ihm niemals böswillige Absicht unterstellen. Der Junge war einfach zu gutmütig. Er unterstellte nie irgendwem böswillige Absichten.

Azazels Blick dagegen klebte an den hübsch getrimmten Büschen, die zu Figuren modelliert die Hauptallee säumten. Die Nadelmeister und ihre Verbündeten.

Zwischen Rikhard Euphemios Diodorus Arkúnez und Arien Zauberfänger blieb er kurz stehen. Er schnaubte amüsiert, als er die Namensplatte bei Meister Arkúnez las. Man hatte eine zweite Platte darunter anbringen müssen, damit der Name vollständig darauf passte. „Magier“, meinte er mit einem Lächeln und schüttelte den Kopf. Dann aber wandte er sich der Statue Ariens zu. Sein Blick blieb deutlich länger an ihrer Form hängen. Das junge, fast schon unschuldige Gesicht, das den Tod Tausender bezeugt hatte. Verursacht von ihrem eigenen Schwert. Mehr aber faszinierte ihn stets der Rest ihres Leibes. Die Flügel, die Klauen, der Schwanz, die Schuppen. Es hatte etwas Bestialisches. Als hätte Phylia selbst eingegriffen, um die monströse Seite, die das unschuldige Gesicht sonst so gut verstecken wusste, für alle Welt zu sehen nach außen kehrte.

Es hatte eines Monsters bedurft, um ein Monster zu töten. Er konnte die Logik der Götter dahinter nachvollziehen – und für göttliches Wirken und Handeln war so etwas für einen gewöhnlichen Sterblichen wie ihn sicherlich schon selten genug. Aber ob die Götter gewusst hatten, was sie damit auf die Welt losließen, als sie ihr all diese Macht gaben? Oder war ihnen das nur völlig egal?

„Die Elben werden nie wirklich unsere Verbündeten sein, oder?“, erkundigte sich Lantos leise. Er wusste nur zu gut, dass viele allergisch auf das Thema reagierten. Auch Azazel selbst widerstrebte es, darüber zu reden. Aber er konnte dem naiven Jungen seine Neugier nicht übelnehmen.

„Nein, werden sie nicht. Aber es ist nicht deren Schuld. Es ist auch nicht unsere. Die Dinge sind, wie sie nunmal sind. Das lässt sich einfach nicht ändern, ganz egal, wie viel guten Willen man zeigt.“ Er hatte es versucht und wusste daher, wovon er sprach. Er hatte versucht, freundlich zu sein. Zu verstehen. Geduld und Nachsicht zu zeigen. Aber Elben waren und blieben einfach arrogante Bastarde, die auf alles und jeden herabblickten. Das würde sich einfach nie ändern.

„Königin Sinya meinte, dass es Zeit braucht, damit solche Sachen passieren“, wandte Lantos leise ein.

„Lass dich davon nicht irreführen. Und ‚Sinya‘ ist nicht ihr Name. Ist einfach nur ein elbisches Wort. Bedeutet ‚neu‘ oder sowas. Sie heißt Natalia. Ein Waldschrat und Wildfang aus’m Süden. Sie ist genau zur richtigen Zeit mit genau den richtigen Worten und genau den richtigen Freunden aufgetaucht. Hätten die Nadelmeister sie nicht eingesetzt, hätte sie nie eine Chance gehabt. Die Elben gegen die Untoten mit einzuspannen war ein geschickter Schachzug. Keiner kann bestreiten, dass sie sich im Krieg gut gehalten hat. Und sie hat ja auch durchaus ein paar kluge und gute Sachen getan, auch das will ihr keiner abstreiten. Aber sie hat auch Fehler gemacht. Ziemlich offensichtliche. Diesen Kuschelkurs mit den Elben nach dem Krieg aufrecht zu erhalten… ist einer der Größten davon.“

„Aber warum will sie dann, dass-“, setzte Lantos an, doch Azazel hob die Hand. Rasch schloss der Bursche den Mund. Das Signal war eindeutig: Still, jetzt.

„Wo sind Peter und Lissa?“, flüsterte er den verbliebenen vier zu. Alle sahen sich mit einem Schlag hektisch um.

Als der Tross mit Azazel zum Stehen gekommen war, hatten sie die zwei Gefallenen abgelegt, wo sie eben standen. Doch von dem Duo fehlte jede Spur – nur der Leichnam des Torwächters lag noch dort.

„Peter? Lissa? Schert eure verdammten Ärsche hierher!“, zischte Azazel erbost.

Keine Antwort.

„Maran, schau dir die Umgebung an!“, wies Azazel an. Er zog seinen Bogen, legte einen Pfeil an. „Lantos, leuchte mir.“ Wie gewiesen fiel ein Lichtkegel auf Maran, der sich zunächst zum zweiten Torwächter zurück begab.

„Hier ist Blut“, merkte der an.

„Frisches? Also… von dem Toten?“, hakte Azazel nach.

Maran, seinerseits Töpfer, hatte von Heilkunde keinen Schimmer und zuckte hilflos mit den Schultern. Dann richtete er seine Lampe ein Stück entfernt aus. „Ich… glaube nicht…“, setzte er verspätet nach und folgte einer winzigen Spur aus Rot. Er blickte nochmals zu den anderen zurück, Azazel nickte ihm zu und näherte sich langsam, den Bogen weiterhin gespannt, Schritt für Schritt. Maran trat hinter eine Hecke und binnen eines Wimpernschlages fuchtelte plötzlich der Lichtkegel seiner Lampe wild herum, in die Hecke und zum Himmel, ehe es dunkel wurde.

Kein Laut war zu hören gewesen.

„Maran? Scheiße, Maran!“ Azazel schloss auf, ohne den Kiesweg zu verlassen, Lantos an der Seite, Licht voraus, den Bogen gespannt. Dort lag, ein gutes Stück entfernt und direkt hinter dem ersten Meter der Hecke, Marans Lampe auf dem Boden. Von dem Mann selbst fehlte jede Spur. „Scheiße! Marianne, komm her! Waffen ziehen!“

Lantos befestigte seine Lampe am Gürtel und zog sein Kurzschwert. Azazel blieb zunächst beim Bogen und Marianne holte eine geschärfte Sichel hervor. Rücken an Rücken an Rücken harrten sie zunächst einen Moment auf dem Weg aus. Nichts war zu sehen. Nichts zu hören.

Wirklich gar nichts zu hören.

Es war… gespenstisch still.

„Was… ist das?!“, tönte Mariannes Stimme. Sie hob die an ihrem Gürtel baumelnde Lampe ein Stück und noch bevor Azazel sich hatte umdrehen können, preschte etwas direkt in ihre Reihen hinein. Gewaltig und wuchtig riss es die Gruppe vollständig zu Boden. Marianne gab ein ersticktes Würgen von sich, ein leises Gurgeln folgte und Azazel begriff, dass sie nicht einfach nur angegriffen wurden. Sie wurden gejagt.

„Lantos, lauf! Lauf, Junge, lauf!“, brüllte Azazel alle Vorsicht aufgebend. Er rappelte sich auf, ließ den Bogen liegen, warf keinen Blick auf ihren Angreifer und rannte. Rannte, so schnell seine Beine es hergaben. Das Tor war nicht weit, wie er wusste. Er würde in die Stadt flüchten können. Sollten Juria und Kaleb ihren Rückzug selber decken – das hier war nicht zu gewinnen!

Lantos hatte den Befehl angenommen, rannte um sein Leben, nur… war der Junge nicht so schnell wie Azazel selbst. Sie waren gleichauf und Azazel überholte leicht. Dadurch sah er nur aus dem Augenwinkel, wie sich die Augen des Jungen plötzlich vor Schrecken weiteten, ehe er mit einem kraftvollen Ruck und Panik in seinem jungen Gesicht zurückgerissen wurde. Sein einsetzender Schrei wurde entsetzlich schnell lautlos.

Azazel rannte weiter. Rannte, so schnell er konnte. Ignorierte das Brennen in seinen Oberschenkeln. Die Taubheit in seiner Flanke. Das Stechen in seinen Lungen. Zur Hölle mit alledem, er wollte einfach nur noch raus hier!

Eine Biegung, hinter der er schon den Tod lauernd erwartete… doch er nahm sie dennoch, sprintete um die Ecke und… jagte einfach weiter. Da war nichts. Niemand hatte ihm aufgelauert. Vielleicht hatte er den Tod tatsächlich abgehängt, war ihm entkommen. Einfach davongerannt. Und dort vorne war das Tor, keine zwanzig Meter entfernt und-

Azazel stoppte abrupt.

Etwas war gerade über den überwucherten Zaun geklettert. Und kam ihm aus Richtung des Tores entgegen. Er konnte es nicht sehen, es war… schnell gewesen. Und nun irgendwo zwischen den gestutzten Figuren-Büschen und irrgartenartigen Hecken verschwunden. Aber es war da. Zwischen ihm und der Freiheit.

Er würde hier nicht lebend rauskommen.

Die Erkenntnis war… zerschmetternd. Nicht einmal wirklich schmerzhaft, nur… bedrückend. Alle Hoffnung fahrenlassend, sank Azazel auf die Knie. Seine Lunge brannte. Seine Schenkel schmerzten. Es war zu spät. Er hätte nicht mehr aufstehen können, hätte er es gewollt.

Er hörte den Kies knirschen. Etwas machte sich auch keine Mühe mehr mit dem Versteckspiel. Warum auch. Er war der Letzte. Und er hatte soeben kapituliert. Langsam hob er das Haupt, hob seinen Blick. Er wollte seinen Mörder sehen. Ihm ins Gesicht sehen. Ein letztes bisschen Trotz. Vielleicht würde sein Gesicht sich seinem Mörder einbrennen und ihn auf Jahre in seinen Alpträumen verfolgen.

Azazel spürte nicht, wie Tränen haltlos über seine Wangen rannen. Er hatte hier nicht sterben wollen.

Er blinzelte das verschwommene Bild vor sich an.

Die Konturen wurden etwas schärfer. Und seine Haut etwas blasser. Und ihm wurde klar: Es würde keine Alpträume geben.

 

„Juria, du nimmst dir drei Mann. Bevorzuge Nahkämpfer – sobald wir erstmal drin sind, wirst du nicht viel Rangierraum haben, dafür aber viele enge Gänge“, setzte Kaleb die Planung fort.

„Wieso eng? Die Hauptkorridore sind mindestens zwanzig Fuß breit!“, erwiderte sie stirnrunzelnd.

„Die Hauptkorridore, ja. Aber du sollst dich zur Bibliothek durchschlagen. Die Nebenkorridore sind nur noch zehn bis fünfzehn Fuß und in der Bibliothek wird’s nochmal enger. Räum mit deinen Leuten die Wachstube aus, da dürften so spät in der Nacht nur zwei, höchstens drei Mann sein. danach sicherst du die Bibliothek. Die Wachpatrouillen im Erdgeschoss kommen da regelmäßig durch, es ist ein Knotenpunkt für die Routinen und dort lässt sich am besten ein Hinterhalt legen. Sieh zu, dass möglichst keine Schäden entstehen – das könnte sonst verhindern, dass du die Falle einfach immer wieder zuschnappen lässt. Außerdem musst du den Raum halten, bis wir kommen. Von der Bibliothek führt der kürzeste Weg zur Nebenküche und da ist unser Hintertürchen nach draußen in die Gärten.“ Kaleb unterstrich seine Taktik mit den kleinen Steinen, indem er sie in ausreichender Anzahl im Wachraum drapierte, durch die Bibliothek schob, zur Bedienstetenküche und schließlich von der Karte herunter – in den Garten.

„Ich nehme Alexander mit“, überlegte sie laut, erhielt jedoch sofort Einspruch.

„Alexander? Wozu? Du sollst dich um Unauffälligkeit bemühen!“, wandte Azazel ein.

„Er ist geschickter, als du ihm zutraust“, schoss sie zurück.

„Juria, der Mann ist ein Riese! Er schiebt Mühlsteine! Allein!“, wandte Azazel ein, das Gesicht bei der bloßen Vorstellung verziehend.

„Und ich sage dir: Du unterschätzt ihn! Ich nehme ihn mit. Das ist meine Entscheidung.“ Ihr Blick wanderte, wie auch der Azazels, zu Kaleb.

„Sie hat Recht. Es ist ihre Entscheidung“, befand der schließlich nach kurzem Abwägen. Sie nickte, lächelte ihm kurz zu.

Und Azazel warf die Hände in die Luft. „Fein.“

„Ich nehme außerdem Nadia und Lucinda mit“, führte sie weiter aus.

„Nahkämpfer, Juria“, mahnte Kaleb diesmal jedoch.

„Sie können mit ihren Klingen auf beide Arten umgehen. Außerdem sind sie schneller als du oder ich und können sich nahezu lautlos bewegen“, verteidigte sie ihre Wahl.

„Meinetwegen. Vergiss nur nicht, das sie die Bibliothek auch halten können müssen, wenn es hart auf hart kommt“, erwiderte Kaleb.

 

Die Bibliothek aufzusuchen war ein Kinderspiel. Und das war letztlich nur ein weiterer Punkt, der zu ihrem generellen Unbehagen beitrug. Das hier war bislang alles viel zu einfach gewesen. Es hatte nicht nur keinen nennenswerten Widerstand gegeben, es hatte schlicht gar keinen Widerstand gegeben. Keine Patrouillen im Inneren. Keine Lichter. Keinerlei Lärm von… nun, irgendwo. Was ihr das Echo der eigenen Schritte nur umso deutlicher und lauter in den Ohren wiederhallen ließ. Manches Mal zuckte sie regelrecht zusammen, erwartete nun von allen Seiten angesprungen zu werden, doch… nichts geschah.

Einfach gar nichts.

Sie rückten mühelos in die Bibliothek ein. Gewaltige Regale voller Bücher. Leitern an jeder Seite, um auch die absurd hohen Bereiche erklimmen zu können. Auch hier… war kein Licht an. Sie verließen die Bibliothek zunächst ungestört auf der anderen Seite und traten nach einer Biegung an den Wachraum heran. Kein Licht fiel unter der Tür durch. Kein Geräusch war daran zu hören.

Mit Zeichensprache verdeutlichte sie Alexander, Nadia und Lucinda ihr gewünschtes Vorgehen. Nadia würde die Tür aufreißen, Alexander als größter von ihnen und physisch beeindruckend würde vortreten und versuchen, den Erstschlag zu führen. Lucinda und sie selbst würden als Verstärkung in der zweiten Welle den Raum betreten. Doch als Nadia die Tür aufriss, ließ Alexander den gehobenen Hammer sinken.

Der Raum lag tatsächlich im Dunkel. Und war leer. Sogar recht kalt, also seit Stunden unbeheizt.

Das ergab einfach alles keinen Sinn.

„Was machen wir jetzt?“, erkundigte Nadia sich.

Juria überlegte einen Moment, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Weiter nach Plan. Wir gehen zur Bibliothek zurück und warten auf Kaleb, Janos und Lester. Was schaust du so? Willst du lieber zu den Barracken gehen? Ein paar Wächter wachrütteln und bitten, ob sie sich nicht waschen, anziehen, ausrüsten und die Stube bemannen können, damit wir sie niederschlagen können?“

„Mir gefällt einfach nur nicht, wie das hier läuft“, erwiderte Nadia deutlich defensiver. Auch von Lucinda fing sich Juria einen rügenden, mahnenden Blick. Sie seufzte. Hoffte, damit ein klein wenig Anspannung ablassen zu können.

„Mir auch nicht“, gestand sie ein, „Aber wir haben wenig Wahl. Also kommt schon.“

Alexander trat wieder heraus und schloss vorsichtig und leise die Tür, ehe er sich abwandte und den drei Frauen folgte. Sie hatten die Bibliothek fast erreicht, als er stehen blieb. Sein Blick haftete an Jurias Rücken. An dem Abstand von wenigen Metern, der immer größer wurde, je länger sein Zurückbleiben nicht auffiel.

Da hatte etwas in seinen Nacken geatmet.

Er konnte die warme Luft spüren. Stoßweise. Er spürte die Hitze, die von einem fremden Körper ausging. Unmittelbar hinter sich. Er hatte nicht gehört, wie es sich näherte.

Alexander erwog, zu schreien. Um Hilfe zu rufen. Aber… war das wirklich eine kluge Idee? Sobald sie die wenigen Meter in die Bibliothek zurückgelegt hätten, würde Juria sein Fehlen auffallen. Sie würde Nadia und Lucinda zur Vorsicht ermahnen. Vielleicht würden sie sich sogar zurückziehen. Falls er aber schrie, hier, jetzt… worauf dieses Etwas möglicherweise nur wartete… dann würde er sterben. Das würde er so oder so. Aber dann würden Kämpfe ausbrechen. Und das eindeutig zu seinen Bedingungen, nicht zu ihren.

Ein Laut nur und er würde seinen Mitstreitern alles so viel schwerer machen. Und selbst wenn sie gegen diesen Feind keine Chance hatten… war es dann nicht besser, wenn sie noch ein paar Sekunden länger arglos sein und an ihren Erfolg glauben konnten…?

Er schloss die Augen. Spürte, obwohl es keinen Windhauch gab, keinen visuellen Input, kein Geräusch, wie etwas von hinten an seiner Seite vorbei kam. Ein Arm vielleicht. Denn noch immer spürte er den Atem in seinem Nacken.

Er war zwei Meter und etwas über zwanzig Zentimeter groß. Man hatte ihn immer den Riesen genannt. Als Kind hatte er sich beleidigt gefühlt. Aber die harte Feldarbeit hatte einen wirklich beeindruckenden und überaus wehrhaften Mann aus ihm gemacht. Was immer da hinter ihm stand, musste riesig sein. Und hatte sich dennoch unbemerkt anschleichen können.

Was nützte ihm all seine Kraft jetzt noch…?

 

„Wo ist Alexander?“, zischte Juria fluchend, kaum dass sie sich in der Bibliothek umwandte, um die Verteilung im Raum abzusprechen.

Nadia und Lucinda wandten sich um. „Er… er war direkt hinter uns… das… das ist unmöglich, wir hätten etwas hören müssen!“

„Wir werden ihn nicht hier zurücklassen!“, fluchte Juria leise, trat entschlossenen Schrittes an die selbstständig geschlossene Bibliothekstür und zog beide Flügel mit einem kräftigen Ruck auf.

Um Haaresbreite wäre sie in etwas hineingelaufen. Sie stoppte gerade rechtzeitig, um den Schlag gegen ihren Brustkorb abzubekommen. Die Wucht brach ihr mehrere Rippen und schleuderte sie regelrecht ein ganzes Stück durch den Raum zurück. Sie donnerte beim Aufprall gegen ein Bücherregal mit dem Schädel an das Holz, stürzte zu Boden und konnte nur auf Basis von Instinkt und Reflex diesmal ihren Kopf schützen. Irgendwo am entfernten Rand ihrer Wahrnehmung wurde sie sich darüber bewusst, dass Nadia und Lucinda kämpften. Mit etwas. Oder gegen etwas…? Etwas, das schnell war. Und groß. Und stark. Und an den Wänden entlang jagte. Bücherregale hoch kletterte.

Sie hörte den Kampf mehr, als das sie ihn sah. Hörte, aus welchen Richtungen die Stimmen kamen. Verstand, trotz klarer Akustik, nur langsam und teilweise, was gesagt, geschrien worden war. Nadias Kampf endete, als sie zu zappeln aufhörte. Und wenige Sekunden darauf wurde sie auch losgelassen, mit kräftigen Würgemalen am Hals. Sie sank wie ein Sack Mehl in sich zusammen. Lucinda kämpfte hartnäckiger. Sie war von beiden die Schnellere, die Geschicktere, die Wendigere.

Doch was nützte ihr das, wenn sie keine Waffen mehr hatte…? Also klammerte sie sich verzweifelt an diesen letzten Dolch, den sie hatte. Ein Zahnstocher verglichen mit den Waffen, denen sie sich gegenübersah.

In dem Glauben, dass ihre Zeit gekommen sei, stürzte sie sich voran. Sie hätte die Klinge weglegen sollen. Sie hätte aufgeben sollen. Sie hätte sich unterwerfen sollen. Stattdessen wurde ihre Offensive angemessen gewürdigt. Wuchtige Schläge zertrümmerten ihre Hände, ihre Arme, brachen ihre Nase mehrfach, ihren Kiefer. Eine aufgequollene, schmerzende Masse Fleisch und Splitter, die ächzend zu Boden sank. Dort lag sie. Nicht mehr fähig, ihren Dolch zu umschließen, obwohl sein Griff doch in ihrer Handfläche ruhte. Alle Kraft, die sie noch hatte, bemühte sie dazu, sich selbst wach zu halten.

Und auch das war letztlich ein armseliges Bemühen, von Beginn an zum Scheitern verdammt.

Juria dagegen richtete sich langsam auf. Sie zog ihr Schwert nicht. Was immer sie da gerade angegriffen hatte, es war ihnen überlegen. Weit überlegen. Dass sie blindlings in eine Falle gelaufen waren, hätte nicht offensichtlicher sein können. Aber hier nun endlich zeigte es sich. Zeigte sich die ach so gnadenvolle, ach so gütige Regentschaft von Natalia der Ersten, Natalia der Eisernen, Natalia der Unbeugsamen. Was für Monster hatte sie in ihrem eigenen Schloss entfesselt? Wie viele Männer hatte sie mit ihnen hier zurückgelassen, dem Fraß vorgeworfen?

Vor ihr baute sich eine gewaltige Gestalt auf. Juria fürchtete sich nicht länger. Sie waren im Recht. Sie waren die ganze Zeit schon im Recht gewesen! Es konnte jetzt keine Zweifel mehr geben. Und morgen früh, wenn die Bediensteten das Blut aus den Korridoren wischten und man ihre Leichen zu verstecken versuchte, dann würde irgendwie, irgendwo, die Wahrheit durchsickern. Von den Opferlämmern an den Toren und den grässlich zugerichteten Kadavern. So oder so hatten sie gewonnen. Vielleicht errangen sie nicht den Sieg, den sie wünschten, aber gewonnen hatten sie dennoch!

„Komm schon!“, brüllte sie das Monster an, „Zeig was du kannst! Komm schon, du Missgeburt!“

Das Wesen hatte sie kritisch gemustert. Als würde es abwägen, ob sie seiner Zeit überhaupt würdig wäre. Doch dieser Titel… den schien es nicht zu mögen. Ein Schnaufen, ehe eine Pranke gehoben wurde, sich mühelos ihren Kopf umfassend auf ihr Gesicht legte. Juria begriff nicht. Wollte es sie ersticken? Wollte es ihr nicht mit diesen Klauen das Fleisch vom Knochen wetzen? Wozu-

Dann wurde ihr Schädel ein Stück vorgerissen, ruckartig, und ebenso rasch und hart zurückgestoßen. Der Aufschlag mit dem Hinterkopf gegen das massive Eichenholz des Bücherregals… löschte alle Lichter.

 

„Ich übernehme den letzten Teil. Ich werde Janos als Rückendeckung mitnehmen, aber je weniger wir sind, wenn wir uns tief in den Palast vorwagen, umso besser. Wir schleichen zu ihrer Schlafkammer, überwältigen hoffentlich leise die Wachen und dringen ins Innere vor. Wir töten sie in ihrem Bett. Das ist nicht sonderlich nobel und gebührt einer Königin anders, aber… wir wissen nicht, wozu sie fähig ist, wenn wir sie aufwachen lassen. Sie war angeblich lange Zeit im Torwald. Wir können nicht riskieren, das sie irgendwelche Magie gegen uns aufbringt“, erklärte Kaleb.

„Nimm Lester mit“, merkte Azazel an.

„Lester? Bist du irre? Der Mann ist ein Monster“, erwiderte Kaleb empört.

„Und ein Arschloch“, erklang es aus den Reihen der anderen.

„Ein Bastard“, zischte selbst Juria leise.

„Ich weiß, ich weiß, ich weiß. Aber er ist auch… eine mögliche Problemquelle“, seufzte Azazel unwillig. Das Thema, das nun unweigerlich folgen würde, behagte ihm gar nicht. Man verkaufte keine früheren Geschäftspartner.

„Erklär dich“, kam natürlich unweigerlich.

Azazel blickte in die Runde und seufzte. „Er hat gequatscht. Ich konnte die Schäden eindämmen. Aber er hat einfach keine Kontrolle über seine Zunge.“

„Er hat keine Kontrolle über diverse Körperteile“, zischte Juria boshaft und schauderte, ihren Umhang etwas fester um sich ziehend.

„Deshalb sage ich: Nimm ihn mit. Auf Mission war er immer konzentriert und einfallsreich. Und das hier ist… wichtig. Eine kleine Gruppe kannst du besser unbemerkt durchschleusen, das ist mir klar. Aber wenn es Schlag auf Schlag geht? Er ist ein guter Kämpfer. Und falls du zufällig entscheiden musst, wer bei dieser Sache draufgeht…“

Azazel brauchte den Satz nicht beenden. Kaleb war es lieber, dass er ihn nicht beendete. Allen war das lieber. Denn sie alle hatten sich durch eine Idee gefunden. Sie hatten sich für ein Ideal stark gemacht. Einen Wunsch, einen Traum, eine Vision für die Zukunft Symmarions. Der bloße Gedanke, Kaleb könne irgendwen von ihnen als Opferlamm betrachten, war widerwärtig.

Und doch war allen in diesem Raum klar, warum dem so war… und das es nicht falsch wäre.

„Ich verstehe“, erklärte Kaleb leise. Azazel nickte und damit war, obgleich niemand wirklich etwas Definitives gesagt hatte, die Sache beschlossen.

„Wie willst du’s machen?“, erkundigte sich Azazel nach einem Moment beklommenen Schweigens im Raum.

„Mit der Klinge die Kehle öffnen, falls sie schläft. Falls nicht… beten, dass Jurias Gift an der Klinge reichen wird. Angeblich ist das Zeug stark genug, einen Ochsen einzuschläfern, also sollte das Gift allein sie töten können. Etwas zum Hacken und Stechen dabei zu haben, nur für den Fall der Fälle, ist mir dennoch lieber.“ Ein schlechter Witz. Bemüht, aber schlecht. Alle lächelten. Bemüht, aber schlecht. „Denkt daran, für wen wir das tun. Vergesst es nicht. Niemals. In keiner Minute, die diese Nacht kommen wird.“

Generelles Nicken. Rüstungen wurden gegriffen. Man half sich gegenseitig, die Lederriemen straff zu ziehen. Schwerter wurden gegriffen, poliert, geschärft, in Scheiden verstaut, am Gürtel festgeknüpft. Lampen wurden auf ausreichend Öl kontrolliert. Feuersteine ausgeteilt.

Geschäftiges Treiben, bis alle ein letztes Mal um den Tisch zusammenkamen.

Kalebs Blick ging in die Runde. „Heute Nacht… verändern wir den Lauf der Geschichte. Zum Besseren. Vielleicht nicht für uns – aber für alle anderen!“

 

„Was denkt ihr? Ob wir ihre Kronjuwelen mitnehmen können?“, erkundigte sich Lester glucksend.

„Halt die Fresse“, zischte Janos zurück.

Kaleb machte sich die Mühe nicht, ihn zurechtweisen zu wollen. Denn so traurig es war: Lester hatte Recht. Nicht mit den Kronjuwelen natürlich. Sie waren keine gewöhnlichen Diebe.

Aber warum sollten sie nicht offen sprechen können? Sie waren tief in den Palast vorgedrungen und hatten… nichts gefunden. Es war unheimlich. Als hätte man entschieden, den gesamten Palast einfach stehen zu lassen und vollständig zu räumen. Warum, das erschloss sich ihnen nicht. Nur das dem so war, das war inzwischen ziemlich offensichtlich geworden.

Keine Lichter, nirgendwo. Keine Patrouillen. Sie hatten sogar todesverachtend einen Blick in einen der Schlafsäle geworfen. Nichts und niemand. Damit schwand, zumindest für Kaleb, natürlich auch die Hoffnung, heute Nacht erfolgreich sein zu können. Wenn man alle Wachen abgezogen hatte, dann hieß das eigentlich nur, dass es nichts zu bewachen gab. Also war keine Königin hier, die zu töten sie gekommen waren.

Dennoch mussten sie sich versichern. Auch auf die Gefahr hin, in eine Falle zu laufen. Denn morgen würde die Stadt die Jagd auf sie eröffnen und wenige treue Seelen würden angesichts der zweifellos hohen Kopfgelder auch weiterhin treu bleiben.

„Wir sind nicht des Schmucks wegen hier“, erklärte Kaleb leise.

„Klar, klar. Sind wir nicht. Aber da wir ja jetzt schonmal hier sind, und sie quasi nur ein paar Räume weiter liegen sollten und es hier keinerlei Wachen zu geben scheint… naja, schadet ja nicht, mal einen Blick zu riskieren, oder? Einfach nur kurz reinschauen, ob sie zufällig herumliegen?“

Kaleb erwog. Und allein, das er ernsthaft darüber nachdachte, grämte ihn ungemein. Ihm war nicht klar, wie Lester es einfach immer wieder schaffte, in jedem, aber auch wirklich jedem, das bodenlos Schlimmste zutage zu fördern. Es regelrecht wach zu kitzeln. Kaleb hatte nicht viel, aber es hatte immer genügt. Er brauchte nicht mehr. Er war kein grundsätzlich gieriger Mann. Woher also jetzt dieser Unsinn? Noch dazu: Was sollten sie mit den Kronjuwelen anfangen? In Symmarion, Akkara und Elvoran würde jeder Idiot sie sofort erkennen. Also würden sie sie irgendwo im Ausland verkaufen müssen. Und keiner von ihnen hatte seines Wissens nach genug Geld, überhaupt erst einmal ins Ausland zu kommen!

„Nein“, meinte er schließlich entschlossen und verwarf Lesters Idee nicht nur dem gegenüber, sondern auch in seinem Kopf. Es war töricht. Es war nieder. Es war unter ihrer Würde und hätte beschmutzt, wozu sie hier waren.

„Gut, fein“, meinte Lester und weder Janos noch Kaleb glaubten auch nur einen Moment, dass er das Thema darauf beruhen ließ. Wenig überraschend war also, dass er nach nicht einmal zwei Minuten wieder ansetzte. „Wir töten sie, richtig?“

„Ja“, erwiderte Kaleb, noch immer entschlossen. Er erinnerte sich jedoch schmerzlich an die Zeiten, als er davor zurückgeschreckt hatte, sein Vorhaben in direkte, klare Worte zu kleiden.

„Naja, dann können wir ja vielleicht vorher… du weißt schon… mit ihren Kronjuwelen spielen?“ Schlechte Idee. Kaleb versuchte angesichts der leeren Korridore nicht einmal, Janos aufzuhalten. Der zog sein Kurzschwert, griff sich Lester und presste ihn mit dem Rücken an die Wand, die Schwertspitze an seiner Kehle angesetzt. „Sag das nochmal!“, forderte Janos ihn auf.

„Hey, ganz ruhig, Kurzer. Wenn du unbedingt willst… du kannst vor mir…“ Das Grinsen Lesters sorgte mühelos dafür, dass selbst Kaleb sich plötzlich seltsam dreckig fühlte und sich wirklich dringlichst zu waschen wünschte. „Oder willst du lieber danach, wenn sie nicht mehr zuckt und zappelt?“

„Ein weiteres Wort und ich steche dich ab wie Vieh…“, zischte Janos leise.

„Er macht keine Späße“, warf nun auch Kaleb ein, um Lester davor zu warnen, sein dämliches Spiel zu weit zu treiben. Und wie inständig er hoffte und betete, dass es nur ein Spiel war… „Er verlor Sohn und Bruder im Krieg. Seine Schwester wurde von den Untoten verwandelt. Und seine Mutter starb in den Unruhen danach.“

Der anklagende Blick, den Kaleb sich von Janos‘ Seite dafür fing, seine privaten Geschichten so banal hinauszuwerfen, ertrug Kaleb mit Fassung. Er tat es nicht gern, aber was nützte es ihnen, Lester los zu werden, hier, jetzt? Sein Tod hätte keinerlei Gewicht, keine Bedeutung, keinen Nutzen.

Als Janos sich wieder Lester zuwandte und Anstalten machte, die Klinge doch noch ins Fleisch sinken zu lassen, trat Kaleb einen Schritt näher und legte Janos die Hand auf die Schulter. „Ex iniuria ius non oritur. Erinnere dich.“

„Äh… was?“, kam es aus Lesters ungebildetem Maul.

Janos und Kaleb dagegen blickten einander an, ein langer, direkter Kontakt, ehe Janos von Lester abließ und ihm zum Abschied das Knie in die Leistengegend rammte. Der Getroffene krümmte sich leise aufjaulend. „Scheiße tut das weh…“, jammerte er.

„Aus Unrecht entsteht kein Recht“, übersetzte Kaleb. Nicht, das er wusste, welcher Sprache das entstammte oder das er diese Sprache tatsächlich hätte sprechen können. Aber das war einer der wenigen Sätze, die er sich aus dem Unterricht im Tempel damals hatte merken können. Einfach, weil ihm die Bedeutung dahinter so imponierte und seinen damals jugendlichen Verstand formte. So, wie es auch mit seinem Klassenkameraden Janos geschehen war.

Auf dem weiteren Weg griff Lester sich immer wieder kurz stehenbleibend in den Schritt. „Das ist alles taub, du Arsch. Dämlicher Bastard… was soll ich Jennifer jetzt sagen?“

„Das du morgen erst wieder ihr bester Kunde bist“, warf Janos ohne wirkliches Interesse an irgendeiner Form von Gespräch mit Lester zurück.

Der wiederum blieb abermals stehen, beugte die Knie ein wenig, um etwas genauer herumtasten zu können. Er kicherte leicht, als ihn etwas kitzelte – und stockte, kreidebleich, als ihm klar wurde, dass irgendetwas anderes sein Gemächt umschloss.

Einen kräftigen Ruck später… spürte er nur noch Blut, wie es über und über strömte. Unter einem horrenden Aufschrei brach Lester zu Boden und binnen Sekunden waren Janos und Kaleb die wenigen Meter zu ihm zurückgerannt. Janos hielt ihm bestmöglich den Mund zu und sah sich hektisch in alle Richtungen um, während Kaleb einen Moment brauchte, um festzustellen, was überhaupt das Problem war. Als er dann jedoch sah, wie schnell das Blut kam, wie viel davon, und… woher… stockte ihm kurz der Atem.

„Das Tuch weg!“, verlangte er von Janos. Kaum dem Befehl gehorcht, jaulte Lester wieder vor Schmerzen, obwohl Kaleb sich sicher war, das er bereits deutlich an Kraft verloren hatte. „Was ist passiert?! Lester, wer war das?“

Unter Tränen schüttelte der den Kopf. Er hatte seinen Angreifer nicht gesehen, nicht gehört, nicht bemerkt… und sah sich nicht in der Lage, ihnen das einzige Detail mitzugeben, das ihm aufgefallen war. Das waren Pranken gewesen, große Klauen. Kein einfacher Mensch, sondern irgendeine Bestie…

Er nahm dieses Wissen mit ins Grab.

Kaleb erhob sich langsam, als Lester zu zucken aufhörte. Seine Knie waren mit warmem Blut durchtränkt. Seine Hände regelrecht darin gebadet. „Wir… wir müssen… weiter, wir… wir sollten weiter…“, stammelte Kaleb zusammen.

Janos konnte den Blick nicht von Lester lösen. Erst, als der initiale Schock nach wenigen Minuten des Starrens und Stammelns bei beiden allmählich nachließ, wandte sich Janos ab und konnte Kaleb an der Schulter fortziehen, bis Lesters Leiche außer Sicht geriet.

„Wer… wer tut so etwas…?!“, fluchte Kaleb leise, nur langsam wieder zu Sinnen kommend.

„Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht eher ein ‚was‘ war…“, erwiderte Janos noch immer bis in die Grundfesten erschüttert.

Vor der Tür der königlichen Schlafkammer… fanden sich keine Wachen. Wie auch sonst nirgendwo im Gebäude.

Sie öffneten die Tür langsam, Janos schloss sie wieder. Das Bett war leer. „Scheiße“, fluchte Kaleb leise.

Der Laut genügte.

Etwas bäumte sich hinter dem Bett auf, wo es gelauert hatte. Riesig, bestialisch, fellig. Mit einem gewaltigen Satz sprang das Monster über das Bett hinweg. Kaleb sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, sodass die Pranke ihm die Seite aufriss, statt ihn mitzuzerren. Janos hatte weniger Glück. Gewaltige Kiefer rissen sich auf, packten seine Kehle und quetschten zu. Die Wucht des Ansprungs und die schiere Masse der Kreatur ließ Janos voran die Tür bersten, beide schmetterten gegen die Wand und der Aufständische verlor nahezu augenblicklich das Bewusstsein. Mit schlaffen Gliedern im Maul der Bestie hängend, wurde er rasend davongeschleppt.

„Janos!“, brachte Kaleb geradezu flehend hervor, als er sich seine Seite haltend aus dem Schlafzimmer schleppte. Doch von seinem Mitstreiter fehlte jede Spur. Wie auch von der gewaltigen Bestie.

Kaleb kehrte in das Schlafzimmer zurück und setzte sich auf das Bett. Die Wunde blutete nicht schlecht. Er hatte nur wenig Ahnung von Wundversorgung und weder Nadel noch Faden oder Feuer zur Hand. Außer dass der Lampe und die brauchte er noch. Dachte er jedenfalls.

Wie nicht anders erwartet, kehrte nunmehr stapfend und schnaufend wenige Minuten später die Monstrosität zurück. Kaleb erhob sich in aller Ruhe, richtete seine Lampe auf das Monstrum. Ein Wolf, so riesig, dass er seine Existenz geleugnet hätte, hätte jemand ihm davon erzählt.

„Ex iniuria ius non oritur“, knurrte ihm der Wolf tief und kehlig entgegen.

Kaleb ließ die Lampe auf dem Bett stehen und zog sein Schwert. Der Wolf ließ es geschehen. „Ich werde nicht kampflos untergehen.“

„Doch untergehen wirst du. Und niemand wird von deinem Kampf erfahren. Nicht so, wie du es dir wünschst. Kam dir je in den Sinn, dass es keine Ausnahmen gibt? Das auch das Unrecht, das du zur Korrektur eines von dir empfundenen, anderen Unrechts zu begehen versuchtest, ebenfalls ein Unrecht ist – und damit deinem eigenen Leitspruch folgen muss?“ Wie befremdlich es doch war. Einen Wolf sprechen zu hören. Ein solch gewaltiges Wesen, obendrein. Die Stimme vibrierte regelrecht, ging durch und durch. Jagte ihm einen Schauer den Rücken herab, weil er begriff.

Sie war tiefer als sonst, verzerrter als sonst, animalischer als sonst – unweigerlich -, doch er erkannte die Sprechweise und, nicht zuletzt, den Dialekt. Er hatte ihn bei so vielen Reden gehört. Wie viele seiner Landsleute, so hatte auch Kaleb ihre Auftritte verfolgt. Hatte für eine Besserung gehofft. Auf eine neue, strahlende Zukunft, ein Wiederaufblühen Symmarions. Er hatte Natalia die Eiserne oft genug öffentlich reden hören, um sie in diesem Wolf zu erkennen.

Und die Implikationen waren unvorstellbar.

Symmarion hatte ein Monster auf den Thron gesetzt.

Die Nadelmeister hatten eine Bestie über dieses Land entfesselt, in dem es nach seinem Gutdünken nun toben konnte, mit dem und dessen Schicksal, dessen Einwohnern, es spielen konnte. Die Nadelmeister hatten sie alle verraten. Sie hatten sie einer Bestie zum Fraß vorgeworfen.

Der Wolf preschte vor. Kaleb riss die Klinge herauf und durchbohrte das Wesen. Zielgenau ins Herz, da war er sich sicher. Er hatte darauf gewartet, gehofft. Das Problem war nur: Es war zu einfach gewesen. Kaleb war zu klug, um nicht zu wissen, dass man seinen Gegner niemals unterschätzen sollte. Und Natalia die Erste war ein versierter, gerissener Gegner gewesen. Auf dem politischen Parkett und, zweifellos, auch im Kampf. Es gab Geschichten davon, wie sie auf dem Schlachtfeld geglänzt hatte, die einen guten Teil ihrer bisherigen Legende ausmachten.

Sie hatte nicht auszuweichen versucht, sondern sich regelrecht demonstrativ in seine Klinge geworfen. Nun lag er mit dem Rücken auf dem Boden, mit beiden Händen am Heft, das Gewicht des Wolfes von sich stemmen wollend, während der auf ihn herabblickte. Eine der gewaltigen Klauen hob sich und spritzte irgendetwas aus einem Zylinder in den anderen Vorderlauf. Und Kaleb konnte zusehen, wie die Wunde sich zu schließen begann.

„Was bist du…?“, keuchte er ungläubig, während die Dosis Hemochem ihre Arbeit verrichtete.

Kehlig knurrend, während die Schmerzen nachließen, richtete sich Natalia auf und bereitete einen letzten, finalen Prankenhieb vor. Doch die Frage ihres Gegners hatte eine angemessene Antwort verdient, wie sie befand.

„Gut vorbereitet.“

 

Die großen Glocken des Palastes von Varnasse schlugen am nächsten Morgen. Das Zeichen, dass die Königin Symmarions eine Ankündigung hatte und man sich auf dem großen Marktplatz im Westen des Palastes einfinden solle. In regelrechten Heerscharen strömten sie herbei.

Das Podium war von Soldaten umringt. Darauf knieten zwölf Männer und Frauen. In ihrer Reihe war zudem ein Dreizehnter aufgebahrt, wie es sich für einen Toten gehörte, dem man das Mindestmaß an Respekt erwies. Weiter hinten waren vier weitere Leichen aufgebahrt.

„Heute Nacht“, begann Natalia, „war eine Traurige. Ohne, das ihr es wusstet. Ohne, das ihr es geahnt habt. Haben einige wenige von euch versucht, meine Regentschaft zu beenden. Und einmal mehr endete dieser Versuch in einer Tragödie. Denn ich bin es, die nun nicht nur vier Familien erklären muss, dass ihre Männer, Brüder, Söhne und Väter in Ausübung ihrer Pflicht und bei der Verteidigung des Palastes tapfer ihr Leben ließen. Ich muss auch einer Familie erklären, dass jener, der dort aufgebahrt liegt, nicht der stolze und edle Mann war, den sie kannten – sondern ein Verräter an Symmarion. Ein Verräter an seinem eigenen Volk. Und an seiner eigenen Familie. Ich bin es, die zwölf Familien erklären muss, warum ihre Angehörigen ins Gefängnis gehen werden, warum sie jahrelang dort ihre Strafen verbüßen werden. Ein letztes Mal mahne ich all jene, die mit meiner Regentschaft unzufrieden sind: Sprecht offen mit mir. Kommt zum Palast und erbittet Audienz. Bringt keine Waffen, bringt keinen Groll – und bringt nicht die Hoffnung, dass ich euch nach dem Mund reden werde. Was ihr bringen sollt, das sind eure Sorgen. Eure Hoffnungen. Eure Vision. Denn eine Führung zu stürzen bringt euch nur Chaos und Kummer, solange ihr sie nicht durch eine Bessere ersetzen könnt. Und bei dem Thron, der mir vom Volk zugeschrieben worden ist, schwöre ich euch allen hier, dass ich die Krone freiwillig niederlegen und abtreten werde, sobald mir jemand einen solchen Plan zeigt, oder einen solchen Kandidaten.“

 

Natalias Rede dauerte noch eine Weile länger an, ehe sie vom Podium herab trat und von ihrer stets bemerkenswert kleinen Eskorte weitergeführt wurde. Zunächst begleitete sie höchstselbst die Aufständischen zum Gefängnis und dann den Leichenzug der fünf Toten zum Friedhof.

Die Beisetzung wurde feierlich ausgeführt, zumindest für vier der fünf Toten. An jener Stelle erlaubte Natalia sogar jene in ihren Kreis, die ihr nahe standen. „Du weißt, dass es Gerede geben wird, oder? Wenn du sie ständig am Leben lässt, wird irgendwann wer auf die Idee kommen, eine Klinge mit Silber zu bestreichen“, erklärte Ithildalin grinsend.

„Um das Problem kann ich mich kümmern“, warf Eresthenes von hinten ein, ohne auch nur den Blick von seiner neusten Apparatur zu heben, an der er natürlich selbst jetzt, hier, während einer Beisetzung, unbedingt herumspielen musste.

„Es gibt eine Grenze“, begann Natalia leise zu erwidern, „an der Gnade nicht länger die beste Option ist und es notwendig wird, mit Härte durchzugreifen. Die Geschichtsbücher sind voll davon. Voll von der Suche nach dieser Grenze. Von denen, die zu lange zu nachsichtig waren und jenen, die zu schnell zu hart wurden. Ich werde mich dieser Suche nach Balance anschließen müssen wie alle Staatsoberhäupter vor mir. Aber noch sehe ich die Grenze nicht gekommen.“

„Falls es dich beruhigt – du stehst damit nicht allein da“, meinte Arien leicht lächelnd und legte der Königin die Hand auf den Unterarm. Eine Geste, die Natalia noch immer schwer fiel zu akzeptieren – aber immerhin war es bei ihr leichter als bei irgendwem sonst.

„Danke.“

Einen Moment herrschte Schweigen, verfolgten alle Anwesenden die Beisetzung still, ehe Elesil aus der zweiten Reihe das Wort hob. „Was wollten sie eigentlich diesmal?“

Natalia seufzte schwer. Was? Das war eine gute Frage.

Freiheit, weil sie sich nicht frei fühlten? Den Krieg gegen die Elben fortsetzen? Das Bündnis mit den heimtückischen Magiern auflösen, das ohnehin nur noch auf dem Papier bestand? Symmarion und Akkara wiedervereinen? Ganz Arvum unter ein Banner stellen? Es hatte so viele Attentatsversuche mit so vielen Hintergründen gegeben. Sie hatte stets gefragt. Stets zu lernen versucht. Aber inzwischen war es schwierig geworden, noch lernen zu wollen, noch zuhören zu wollen. Es gab so viele Gründe wie ihr Land Bewohner hatte. Mehr vermutlich sogar.

Was war diesmal also die richtige Antwort?

„Mit meinen Kronjuwelen spielen“, erwiderte Natalia einer Laune folgend mit schiefem Lächeln.

Alle stutzten.

Alle starrten.

Und mancher musste sich bemühen, sein Glucksen und Grinsen nicht zu auffällig geraten zu lassen…

Die wahre Geschichte

Zog ein Mensch aus, mit Titanen zu ringen – welche Chancen sollte er sich ausmalen, heil aus dieser Sache herauszukommen? Wie sehr sollte er hoffen, dass alles nach Plan verliefe? Dass es überhaupt einen Plan gäbe? Mit wie vielen Abweichungen, wahrscheinlich und unwahrscheinlich, sollte er rechnen? Wie häufig einplanen, dass unmöglich Geglaubte wahr werden zu sehen und das Unschaffbare zu vollbringen?

Ithildalin war zufrieden.

Die Dinge könnten besser sein, wirklich. Aber ihm war mehr als nur bewusst, um wie viel schlechter sie auch hätten sein können.

Ja, es schmerzte. Sehr.

Jeder Atemzug brannte in seinen Lungen. Vielleicht, weil sein Verstand noch nicht ganz realisiert hatte, das Atmen wieder eine Notwendigkeit war. Weil sein Körper ringend und würgend und krampfend ihm die einzelnen Schritte aufzeigen, sie ihm neu lehren musste. Selbst, wenn es nur für diese letzten paar Stunden sei.

Seine Muskeln schmerzten. Vielleicht, weil er in all den Jahrhunderten seiner Existenz keinerlei Körpergefühl mehr gehabt hatte, das jenseits von Belastung lag. Keine Freude über die greifbareren Genüsse, kein Schmerz, keine Wohltaten bei dessen Linderung. Vielleicht mussten seine Muskeln einfach schmerzen. Um ihn daran zu erinnern, dass sie da waren.  Vielleicht aber lag ihr Aufbegehren auch in dem Umstand begründet, dass sie in den letzten Stunden, Tagen gar, so viel Arbeit hatten leisten müssen. Rennen, ducken, Streich auf Streich. Parade, Abwehr, Entwaffnen, Finale.

Seine Augen brannten vom Licht. Und sie tränten. Er spürte die Flüssigkeit in seinem Augenwinkel, wie sie sich sammelte, sein Sichtfeld am Randbereich schwammig machte, unscharf. Als würde man die versunkenen Schätze am Grund eines klaren Sees betrachten. Es machte die Barriere zwischen seinem Bewusstsein und dem Rest der Welt so deutlich, wie sie seit langer, langer Zeit nicht mehr gewesen.

Jedes Härchen konnte er spüren, glaubte es jedenfalls, als einzelne Tränen sich lösten. Über seine Schläfe wanderten. In den Haaransatz einsickerten. Irgendwann diesen genug durchtränkt hatten, damit neue Perlen salzigen Wassers sich unangenehm in sein Ohr vorarbeiten konnten.

Ein Tuch wischte darüber und erlöste ihn von dieser Lästigkeit.

Ein Teil der Tränen mochte aus den Schmerzen geboren worden sein. Ein Teil aus dem Bewusstsein, das es zu Ende ging und wie alles, das lebte oder je gelebt hatte, fürchtete auch er das Ende. Doch er entschied sich, etwas anderes zum Fokus seiner Gedanken zu machen. Zweierlei sogar – denn wenn er etwas in seiner Zeit hier in Arvum gelernt hatte, dann wie man sich adäquat auf zwei Dinge zugleich konzentrierte, ohne eines von beidem zu vernachlässigen.

Zum einen war da das warme Gefühl von Wachstum, irgendwo weit, weit weg. Beruhigend auf eine Weise, die er nicht in Worte zu fassen fähig gewesen wäre, selbst hätte er es gewünscht und versucht. Zum anderen war da jene vorsichtige, zögerliche Hand, die das Tuch über sein Gesicht geführt hatte. Ihm nun in den Nacken griff und ihn aufrichtete. Ihm den Tonkrug an die Lippen setzte und ihm half, ein paar Schlucke Wasser herunter zu würgen, ehe er vorsichtig wieder auf dem Kissen abgelegt wurde.

Und an der Hand hing eine Arien. Der jene Hand gehörte.

Was für ein Zufall.

„Ich… ich verstehe das einfach nicht“, flüsterte sie beklommen.

Er konnte ihr den Ton schlecht verübeln. Ebenso wie ihre eigenen Tränen – auch wenn er nicht für möglich gehalten hatte, das jemals wieder irgendwer ihm nachweinen würde. Nicht nach allem, was er getan hatte. Nicht nach allem, wozu er fähig geworden war. Nicht nach allem, was er sich angeeignet, wozu er geworden war.

Und dennoch saß sie dort. Weinte um ihn in ihrer Hilflosigkeit. Gebadet in ihrer Hoffnungslosigkeit. Ertrinkend im Gefühl der fehlenden Macht. Sie, die über die letzten Monate hinweg Sprünge hingelegt hatte, die für nichts Lebendiges möglich sein sollten. Sie, die wider aller Chancen und Wahrscheinlichkeiten Getreue gesammelt, Widerstände überwunden oder schlicht gebrochen hatte. Sie, die hier saß, obwohl sie dutzendfach unter der Erde von Würmern zerfressen hätte werden müssen.

Sie, die es in so kurzer Zeit in die Riege der Mächtigsten geschafft hatte, hatte trotz allem einfach nicht genug. Nicht genug Wissen, nicht genug Macht, nicht genug Hilfe, nicht genug Verständnis. Sie wusste ja nicht einmal, was ihr eigentlich fehlte.

Und Ithildalin wusste es. Er spürte, dass es Zeit war. Zeit für eine letzte Geschichte.

„Lass mich dir erzählen“, setzte er krächzend an. Er brach kurz ab, räusperte sich. Bemühte sich mit Ariens Hilfe nochmals, ein paar Schluck Wasser zu trinken. Dann, ein oder zwei Minuten später, fuhr er der Schmerzen ungerührt fort. Wie hätte er auch nicht gekonnt? Jahrhunderte der Ignoranz ließen sich nicht einfach abschalten. Und dankbar sollte er sein und war er auch, sich von den Leiden seines eigenen Leibes so wenig beeindrucken oder hindern zu lassen. „Lass mich dir erzählen“, wiederholte er bemüht, „wie ich vor langer, langer Zeit die Erste ihrer Art fand…“

 

Grüneburg hieß das Kaff. Du würdest es nicht kennen, wärst du selbst in Ceryddwin geboren worden. Es war so bekannt, so berühmt und berüchtigt, dass wir selbst Leuten aus den Nachbardörfern üblicherweise auf die Frage, woher wir kämen, mit dem Namen der nächstgrößeren Stadt antworteten. Das machte es für alle Beteiligten leichter, trug aber natürlich nicht gerade dazu bei, dass meine Heimat bekannter wurde.

In Grüneburg war das Leben, wie ich gerne behaupten würde, eigentlich ganz in Ordnung. Wir hatten die tiefe Ruhe ländlicher Gegenden, mit dem Blöken von Vieh und dem Fluchen der Leute, die in Kuhfladen getreten waren. Oh, und Hähne. Diese verdammten, mistigen Hähne.

Aber auch, wenn uns die Hektik der größeren Städte erspart blieb, wir sogar von vielen Neuigkeiten des Landes und manchem seltsamen Wandel verschont wurden, spürten wir doch selbst dort, was seinerzeit vor sich ging.

Ceryddwin lag im Krieg.

Um ehrlich zu sein… diese ganze Angelegenheit ist wirklich bei weitem zu lange her, als das ich noch sonderlich gut wüsste, gegen wen wir eigentlich kämpften. Oder für wen. Oder weshalb überhaupt.

Es war kein Kampf, der auf unserem Grund und Boden geführt wurde. Junge Männer – und weil Ceryddwin nunmal Ceryddwin war – auch allerhand hitzköpfige junge Frauen zogen scharenweise zu den größeren Städten, bekamen frisch geschmiedete Schwerter und Lanzen, frisch gebeizte Bögen und frisch beschlagene Lederrüstungen, ehe sie auf frisch zusammengeworfene Schiffe verladen worden, um irgendwo jenseits der Meere in den Kampf zu rennen. Und für die meisten hieß das auch, in den Tod zu rennen. Das hielt natürlich, wie immer schon, die Jugend nicht davon ab, nach Ruhm und Reichtum zu trachten, nach Glorie und danach, sich einen Namen in der Welt zu machen, der irgendwann groß genug wäre, selbst in Geschichtsbüchern und Statuen verewigt zu werden.

Ich? Ich war keiner von denen.

Ich war nicht nur damals schon zu alt, um als Jungspund zu gelten, nein. Ich war zudem bodenständig. Denn solche Leute brachte Grüneburg hervor. Trotzige, sture, ehrliche, aufrechte, bodenständige Knaben und Mädels. Wir hätten auch Zwerge sein können, wirklich.

Das hieß nur nicht, dass wirklich alle so waren. Selbst innerhalb jener gewissen, überschaubaren Konformität gab es natürlich Extreme. Und da wiederum gehörte ich sehr wohl dazu. Denn ich, ich war meines Zeichens Abenteurer. Jedenfalls befand ich das so. Üblicherweise hieß das, dass ich mir meine Flöte, eine Viola und eine Trommel schnappte und mit ein paar Freunden aus der Umgebung einen Abenteurertross formte. Alle paar Jahre zogen wir für ein paar Monate quer durch Ceryddwin und versuchten, uns nicht mit unserer eigenen Dummheit umzubringen.

Verglichen mit allem, was wir hier in Arvum durchhaben, ist das damals wirklich harmloses Geplänkel gewesen. Auch wenn’s uns natürlich nicht so vorkam. Wir hatten ausgehungerte Wolfsrudel, die in Dorfnähe getrieben worden waren. Warum? Na weil die Riesen sie verdrängten. Und was hatten die im Vorgebirge so weit unten zu suchen? Na weil eine Lawine den Pass zu ihren Höhlen versperrt hatte. Also hieß es, die Wölfe von den Schafsherden fern zu halten, mit Riesen zu verhandeln und, der lästigste Teil überhaupt, mit Schaufeln in Schnee herumzubuddeln.

Wirklich, es war eine glorreiche Zeit. Wir haben viel Gutes geleistet, rede ich mir selbst heute noch gerne ein. Im großen Kontext gesehen immer noch nur Tropfen auf den heißen Stein, wirklich. Probleme sind wir Unkraut: Sie wachsen dort nach, wo du sie herausreißt. Aber wir waren ein klein wenig idealistisch und überzeugt, dass wir das Richtige taten. Das hieß allerdings nicht, dass wir Chorknaben gewesen wären.

Uralte zwergische Ruine, angeblich verlassen? Na suchen wir doch mal nach ein paar halb vermoderten Flinten, die man an irgendeinen Schmied oder Mechaniker verkaufen könnte!

Seltsame, angeblich verfluchte elbische Grabstätte? Verflucht heißt nur, dass da lange keiner mehr nachzusehen gewagt hat – also dürfte da sicherlich noch was zu holen sein!

Es gibt nicht immer nur Schwarz und Weiß. Aber wenigstens begnügten wir uns damit, die Vergangenheit und die Toten zu plündern, statt die Gegenwart mit ihren Lebenden.

Es war im Sommer, denke ich. Ich kehrte auf unseren Hof zurück, hatte frisch einen kleinen Teil meines kürzlich erworbenen Vermögens in einen stattlichen Vorrat an Antidot investiert. Man wird paranoid, wenn man nur oft genug von irgendwelchen giftigen Spinnen in uralten Grüften attackiert worden ist. Und das, das war nicht irgendeine alchemische Mixtur, wirksam gegen Kreuzspinnen-, Altweiberspinnen- und Blutmondspinnengift. Nein, das war die magische Version, potent und fähig, einfach alle Gifte zu kurieren. Ich war regelrecht stolz auf diese kluge und vorausschauende Investition in mein zukünftiges Überleben.

Jasmin war weniger begeistert.

Sie war… die schönste Frau, die mir je unter die Augen trat. Ich weiß, sowas sagt jeder dritte Kerl von seinem Weib. Und ich bin ehrlich genug mit mir selbst und ihr, um zu wissen, dass diese Schönheit nicht von ihrem Aussehen allein herrührte. Sie war klug. Gewitzt. Schnippisch, oftmals. Und vielleicht die wichtigste Qualität, die ich an ihr festzustellen vermochte und die mich letztlich dazu brachte, sie zu heiraten? Sie hielt es mit mir aus. Mir, einem Freizeit-Vagabunden. Dem der Hof und Grüneburg zu eng war und der ständig mit ein paar anderen Holzköpfen auszog, sich der Gefahr in den Rachen zu werfen, in der Hoffnung, auch verdreckt bis zur Unsäglichkeit, aber lebendig und in einem Stück am anderen Ende wieder herauszukommen.

Äußerlich war sie ein hübscher Fang, da will ich wirklich nicht meckern. Lange, braune Haare, die ihr in sanften Wellen bis zu ihrem hübschen, üppigen Hintern reichten. Eisblaue Augen. Schmale Lippen. Ein schlanker Hals und die schönsten Schultern, die mir je unterkamen. Ich wusste nie, wie attraktiv Hälse und Schultern sein können, bis ich sie das erste Mal tanzen sah. Im Gegenzug war ihre Brust nicht so üppig, wie ich es mir erhofft hätte und sie hatte wirklich lange Finger, es gereichte mir oft genug zu kleinen Neckereien. Beides.

Und ich liebte sie wie niemanden zuvor oder seither.

Jasmin schenkte mir im Laufe der Jahre zwei Töchter. Sie beschwerte sich scherzhaft, dass ich ihr einfach den Sohn verwehren würde, den sie sich gewünscht habe. Ich erwiderte üblicherweise, dass ich auf meine drei Töchter bestünde, ehe sie ihren Sohn haben dürfe. So viele Zicklein ertrüge sie aber nicht, konterte sie dann meist und- oh, nun, du kannst es dir sicherlich ausmalen.

Yennefer und Mila lagen drei Jahre auseinander. Yennefer war dreizehn. Und ständig musste ich die Jungs von ihr fern halten. Also… ständig, wenn ich denn dann mal da war.

In ihren Augen war ich ein Held. Eine makellose Ikone. Retter ganz Ceryddwins.

Mir war immer klar, dass der Tag kommen würde – einfach kommen musste -, an dem sie anfangen würden, das zu hinterfragen. Zu zweifeln. Die Augen zu öffnen und selbstständig zu denken. Aber ich schätze, ich habe mich dahingehend ein wenig schuldig gemacht. Ich liebte es. Ich liebte sie. Ich liebte, wie sie mich vergötterten. Wie ich jedes Mal, wenn ich zurückkehrte und am Abendbrottisch von meinem Ausflug erzählte, zum Dreh- und Angelpunkt ihrer ganzen Welt wurde.

Sie wurden der Geschichten nie müde. Maßlose kleine Monster. Also erzählte ich und erzählte ich und erzählte ich. Und wenn mir die tatsächlichen Geschichten ausgingen, dann erfand ich einfach welche dazu.

Ich denke, Yennefer war alt und klug genug, um begriffen zu haben, dass längst nicht alles, was ihr alter Herr ihr erzählte, den Tatsachen entsprach. Aber statt mich bloßzustellen, mir Lügen vorzuwerfen oder mich aus Trotz und Kränkung heraus zu sabotieren… stimmte sie mit ein. Warf mir den Ball zu, mit kleinen Fragen, Kommentaren am Rande. Wir machten die Erzählungen für Mila noch so viel spannender.

Ah, verzeih. Da sieht man die Schwäche des Lebendigen: Ich verfalle plötzlich in Nostalgie.

Dabei geht es hier gar nicht um Grüneburg oder meine Familie. Nun, Letzteres schon irgendwie. Also, wo waren wir? Ah ja, genau. Jasmin war nicht sonderlich begeistert, als ich diesmal zurückkehrte. Nun, von der Rückkehr selbst schon – von den Tränken weniger. Sie fragte mich eindringlich, wieviel die wohl gekostet haben mochten. Ob die schlecht werden würden wie Milch, die man zu lange stehen ließ. Woher ich wissen wolle, ob der verdammte Wandermagier mich nicht übers Ohr gehauen hätte. Vielleicht war das ja einfach nur blaue Pisse mit draufgezaubertem Licht.

Aber ich war Abenteurer. Und Barde. Und wusste und kannte manches. Viel meines arkanen Wissens entzog sich ihr völlig. Klug wie sie auch war, das war eine Welt, die ihr verschlossen blieb. Verglichen mit dem heutigen Stand erscheint mir mein damaliges Wissen lächerlich gering – und dennoch war ich in unserer Gruppe der angesehene Experte für arkane Dinge und Angelegenheiten. Ganz zu schweigen davon, dass ich die Moral hoch hielt – und die möglicher Gegner unten.

Ein paar Tage der üblichen, wundervollen Routine waren mir beschieden. Ich jagte Jasmin jede Nacht durch die Laken – irgendwann würde ich ja wohl sicherlich noch meine dritte Tochter bekommen! Am Tag ging ich ihr auf dem Hof zur Hand. Ich hatte zwei linke Pfoten, wie sie mich gerne und oft wissen ließ. Aber das hieß nicht, dass ich nicht immerhin fähig wäre, Dinge von A nach B zu tragen. Balken C einfach nur lange genug in Position zu halten, bis sie Handgriff D erledigt hatte. Ich verstand vom Vieh nichts und vom Acker noch viel weniger. Mein Beitrag dazu, uns in gutem Mittelstand zu halten, waren eben jene Ausflüge, die sie mir selten nur ernsthaft zum Vorwurf machte. Ich war vielleicht monatelang weg – aber ich brachte hübsche kleine Beutel mit, wenn ich zurückkehrte. Gefüllt nicht mit Kupfer oder Silber, sondern Goldmünzen. Stets genug, um ein paar Wochen oder Monate über die Runden zu kommen – und meist zog ich vorher schon wieder los.

Ein paar Tage der Rückkehr in den Himmel. Ich wusste sie zu nutzen und zu genießen. Und dennoch zweifle ich, bis heute, ob ich nicht vielleicht irgendwo etwas hätte anders machen können. Vielleicht mehr Zeit mit Yennefer und Mila verbringen. Vielleicht Jasmin einmal öfter sagen, dass ich sie liebe, als ich es tat. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Spielt keine Rolle mehr. Nicht jetzt.

Grüneburg sah selten Soldaten.

Wenn der Steuereintreiber kam, dann in der Regel mit zwei Mann, die oft genug nicht mal ihre Rüstungen trugen. Auf das Pferd geschnallt, sicherlich. Aber das war eine gute, ruhige Gegend. Sie hatten die Schwerter in den Satteltaschen, sie hatten die Rüstungen in den Satteltaschen. Manchmal trugen sie die Armbrüste und gelegentlich auch den Helm. Das sah wirklich absurd aus, so ganz ohne den Rest – aber es genügte, deutlich zu machen, dass man pöbeln und anmaulen könne, wen immer man wolle… aber bei denen sollte man’s vielleicht nicht gerade übertreiben.

Der Rekrutierer kam natürlich auch gelegentlich durch. Unregelmäßig, je nach Bedarf. Zwei Jahre zuvor hatte er uns besucht und ein paar der jungen Leute mitgenommen. Wir erwarteten also bis zum Herbst niemanden mehr. Und sie kamen dennoch. Ein Bote mit einer Eskorte von sechs Mann. Schwer gerüstete Soldaten, leichtfüßige, belastbare Pferde. Der Bote kaum an die zwanzig Jahre alt, aber die Miene so ernst und vom Wetter gezeichnet, dass man ihn gut für dreißig hätte halten können.

Dass sie ins Dorf einritten wie Eroberer sorgte schon für genug Furore und Gerede. Dass sie sich dann auch noch bis zu mir durchfragten, nun… für ein paar wenige Stunden galt ich bei manchem als Schwerverbrecher, möcht‘ ich meinen. Ich lud ihn natürlich ein, ich bin nicht lebensmüde. Wenn die Eskorte des Steuereintreibers schon bemüht war, ernst drein zu schauen – diese Kerle waren es. Sie sicherten den Eingang, die Hintertür. Zwei Mann blieben immer im gleichen Raum wie wir.

Er verlangte, dass ich Jasmin rausschicken würde. Sie war natürlich besorgt. Sehr. Ich hatte bis dahin nur teilweise erzählt, was auf meiner letzten Reise geschehen war. Zugegeben wirklich nichts, das Aufsehen erregt hätte. Schon gar nichts in einer Preisklasse, dass so etwas rechtfertigen würde. Aber woher hätte sie das wissen sollen? In ihren Augen war deutlich, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Und weil ich so ein charmantes Großmaul bin – damals schon war -, konnte ich ihr den Gedankensprung schlecht vorwerfen.

Sie wollte bleiben. Wollte es erfahren, hören, selbst sehen. Sie ging soweit, sich mit einem Boten anzulegen, der eine ziemlich offizielle Tasche trug, auf einem ziemlich wappenträchtigen Pferd daher kam und mit einigen gut gerüsteten und grimmig drein schauenden Männern unser Haus umstellt hatte.

Ihr Haus sei das, meinte sie. Sie würde sich nicht darin herumkommandieren lassen. Er sei lediglich Gast und lasse es in jener Rolle gerade gehörig an Manieren mangeln.

Ich liebe ceryddwin’sche Frauen. Ein Teufel könnte sich vor ihnen aus dem Boden heben und sie würden ihn beim Ohrläppchen packen und für die Dreistigkeit, ihren Rasen anzuzünden, durch die Gegend ziehen – bis er eingestand, den Schaden zu reparieren.

Der Bote schien dennoch überrascht, wie wenig Bedeutung sein Stand und Status in unserem Haus zu haben schien. Und wie wenig Einspruch ich erhob. Erst als er betonte, wirklich nachdrücklich betonte, dass es nicht gut sei, diese Sache aufzuschieben oder sich ihm zu widersetzen, schritt ich ein.

Irgendwas an dem Kerl gefiel mir einfach nicht. Ich wollte ihn aus dem Haus haben, schnellstmöglich. Und wenn dazu Jasmins Abwesenheit nötig war – dann musste sie eben kurz nach den Kindern schauen gehen.

Das wiederum gefiel ihr natürlich nicht, aber sie vertraute mir. So wie ich ihr.

Unter acht Augen erzählte er mir dann, weshalb er da sei. Offenbar hatte ich mir ein klein wenig einen Ruf außerhalb unserer Gegend gemacht. Wie gesagt – wir zogen quer durchs Land. Mein Name musste oft genug irgendwo hängen geblieben sein.

Er hätte einen Auftrag für mich. Einen Auftrag für Ceryddwin selbst. Er verzog natürlich reichlich das Gesicht, als ich fragte, ob das bedeuten würde, dass es zwar jede Menge Nationalstolz, aber ganz sicher keine einzige Münze zum Lohn gäbe. Leute wie er hoffen immer auf ein gutes Geschäft. Und ein gutes Geschäft ist nur eines, das nicht bezahlt werden muss und widerstandslos einseitig funktioniert. Aber ich war kein Dummkopf. Ich hatte eine Familie zu ernähren.

Abseits dessen… ich war gerade erst zurückgekehrt. Mir war klar, dass ich seinen Auftrag nicht ablehnen können würde. Er würde versuchen, mich zu kaufen. Er würde im Dorf bleiben, um weitere Überzeugungsversuche starten zu können. Wir hatten kein Gasthaus. Also würde er seine Männer bei anderen Leuten einquartieren, die sicherlich begeistert gewesen wären – oder hätte sie auf unserem Land lagern lassen, wovon Jasmin sicherlich begeistert gewesen wäre. Über kurz oder lang hätte es Unruhe geben können. Ganz zu schweigen von der Aussicht, dass er mich einfach von einem seiner Männer packen lassen, über den Pferderücken werfen lassen und mich verschleppen würde.

Dem Land zu dienen ist nicht immer ein Privileg – wenn die Tiere, die hoch genug waren, es für nötig befanden, dann wurde daraus gelegentlich eine Bürgerpflicht.

Zu meinem Glück war er auf eine gierige Seele besser vorbereitet als auf eine Störrische. Jeder andere in Grüneburg hätte ihm den Marsch geblasen und sich mit ihm angelegt. So waren wir eben.

Er bot mir ein Ledersäckchen an. Ich nahm es, öffnete es und hätte lachen wollen. Ein Haufen Silbermünzen. Ob er mich für einen Grünschnabel halte, verlangte ich amüsiert zu wissen. Völlig humorlos forderte er mich auf, die Münzen genauer zu inspizieren. Und siehe einer da: Das war kein Silber. Das war Platin.

Ich hatte bis zu diesem Tag nicht mal eine Platinmünze gesehen, ganz zu schweigen davon, eine zu besitzen.

Das sei die Vorkasse, meinte er. Zur Vorbereitung auf die Reise. Es gäbe nochmal dreimal so viel, wenn ich erfolgreich zurückkehren würde. Bei dieser Formulierung schwante mir schon Übles, aber ich beließ es erstmal dabei. Das war… eine Menge Geld. Ich würde für Jahre das Reisen bleiben lassen können. Ich würde endlich mal ein ganzes Jahr bei meinem wundervoll vorlauten Weib und meinen zwei angemessen verzogenen Engeln bleiben können. Es war verlockend – und viel Wahl hatte ich eh nicht.

Ich fragte, ob ich andere mitnehmen dürfe. Immerhin hatte ich da schon ein paar Kandidaten im Hinterkopf – meine Truppe eben. Er teilte mir unumwunden mit, dass ich das vergessen könne… offenbar hatten sie die alle vor mir schon gefragt. Allesamt wollten sie lieber bei ihren Familien bleiben.

Einen Moment fragte ich mich, ob das hieße, dass ich auch einfach ablehnen könne. Aber ich dachte nach und besann mich. Haggard war zwar unser Mann fürs Grobe, aber seit diesem Pfeil im Knie hatte er Schwierigkeiten, ordentlich zu laufen. Treppensteigen war eine Hürde und bei kaltem Wetter schmerzte sein Bein. Brunhilde verstand sich zwar prächtig auf Fallen, aber als wir sie in Andergast abgeliefert hatten, sah sie wie eine wandelnde Leiche aus. Lungenentzündung, wahrscheinlich. Bertram war unehrenhaft entlassener Offizier – dem Braten traute man also nicht über den Weg. Und Maximilian kam nach allem, was wir wussten, gerade rechtzeitig zurück, um die Geburt seines dritten Kindes mitzuverfolgen. Nur ein herzloser Bastard hätte ihn da weggerissen.

Ich dagegen? Jasmin kam prima zurecht, das bewies sie mühelos. Yennefer und Mila waren in keinem kritischen Alter. Und dann sagte mir da auch das Bauchgefühl, dass dieser Kerl es leid war, vertröstet, abgelehnt und weitergeschickt zu werden. Also hakte ich erstmal nach, was ich nun für Ceryddwin machen solle.

In eine Krypta einbrechen. Wirklich kein großes Ding – hatten wir dutzendfach getan. Für den Preis allerdings… musste da was seltsam sein. Also bohrte ich.

Offenbar befand sich darin irgendein unglaublich mächtiges magisches Dingsda. Meine Worte, nicht seine. Er wusste nicht, was es war. Wirklich und aufrichtig. Er hatte keinen Schimmer. Man hatte ihn ausgesandt, jemanden zu finden, der was-auch-immer barg. Und man erhoffte sich von was-auch-immer, dass es den Krieg zu Ceryddwins Gunsten entscheiden würde. Oder unseren Sieg beschleunigen würde. Oder irgendwie sowas.

Gefunden worden und möglicher Fallen wegen nur oberflächlich untersucht worden sei das Ding wohl kürzlich erst von einem Wandermagier und irgendwie musste ich an Ludolf denken. Der alte Drecksack hatte mir die Antidot-Tränke verkauft. Er hätte sicherlich auch für zwei, drei Kupfer mehr seine Großmutter verschachert. Aber so zwielichtig er auch war, er hatte Expertise. Wenn er also meinte, dass da was hochgradig Magisches war, dann war es wahrscheinlich dort. Wenn er sagte, dass da keine Wächter wären – keine Lebendigen, jedenfalls -, dann waren da keine.

Ich ließ meinen Verdacht kurz von einer Beschreibung des Magiers bestätigen und konnte mich des Gedankens nicht erwehren: Ceryddwin war ein verdammtes Dorf.

Das hieß, dass ich Haggard nicht bräuchte, nicht unbedingt. Ein wuchtiger Hammer in einer labilen Ruine – unglückliche Kombination. Brunhildes Bogen war auch nicht nötig. Ihre Gebete hätten vielleicht was ausrichten können, aber da würde ich wohl ohne auskommen. Und Maximilian, naja. Nichts gegen den guten Maximilian, aber bei vielen Fallen kann man den Bastler gut und gerne mit einem Stock ersetzen, solange der nur lang genug ist.

Und um magischen Schnickschnack konnte ich mich ja durchaus selbst kümmern.

Das letzte Detail, der letzte Nagel im Sarg, war die Gegend. Kaum eine halbe Woche zu Pferd entfernt. Das war quasi ein Katzensprung.

Die ganze Sache – einschließlich meiner Beschlüsse – Jasmin zu verkaufen, das war der knifflige Teil. Dieser Bote, der nahm nach meiner Zusage einfach meine Unterschrift auf das Dokument auf und zog mit seinen Männern ab. Drei Wochen hätte ich Zeit, so meinte er, um das Ding in Andergast abzuliefern. Halbe Woche hin, eine Woche nach Andergast – wenn alles gut lief, würde ich nicht mal die Hälfte der Zeit brauchen.

Also verabschiedete ich mich von Jasmin am Tag darauf. Yennefer und Mila waren traurig, klar – aber ich konnte sie leicht damit aufheitern, dass es nur ein kurzer Ausflug wäre. Ich wäre schnell wieder da und dann… dann würde ich ganz lange bleiben. Und hätte wieder ein paar neue, spannende Geschichten.

Jasmin ließ sich leider nicht so leicht mit Geschichten ködern. Sie war unzufrieden. Und besorgt. Ihr gefiel die ganze Sache nicht. Nicht zuletzt, weil wir so wenig wussten. Was für eine Krypta war das? Woher wussten sie, dass es eine Krypta war? Wer lag da begraben? Gab es Fallen? Was für Fallen? Warum hatte Ludolf sich das nicht vollständig angeschaut oder das Ding gleich selbst geborgen? Warum gab es so viel Geld, wenn so wenig zu tun war? Und natürlich, nicht zuletzt: Was war es eigentlich genau, was ich von dort unten holten sollte?

Ich tat, was jedes Arschloch an der Stelle tun würde. Ich bitte um Verzeihung – was jeder gute, aufrechte Ehemann täte.

Ich bat sie, mir zu vertrauen.

Eine Fangfrage, wie dir sicherlich klar ist. Entweder kündigst du das Vertrauen auf – dann ist alles scheiße. Oder du vertraust und musst den Mund halten – was auch scheiße ist, aber wenigstens nur für einen von beiden. Und wie das nun zu erwarten war… entschied sie sich, den Mund zu halten.

Zugegeben, das lag mir auf der Reise auch ziemlich im Magen. Ich trieb sie ungern so in die Ecke. Aber gerade, wenn es um Vernunft ging, war ich ihr argumentativ üblicherweise schlicht unterlegen und ausgeliefert. Meist ließ sie mich einfach davon kommen. Wie ein Löwe, der die Gazelle eher aus Langeweile gefangen hatte und sie wieder frei ließ, weil er keinen wirklichen Hunger hatte. Aber an diesem Punkt, das wusste ich, spürte es einfach, da hätte sie mir die Hölle heiß gemacht, hätte ich sie gelassen. Sie hätte meine Idiotie zerpflückt und in der Luft zerrissen.

Dabei gab es doch überhaupt keine Wahl. Ich wusste es. Sie wusste es. Und sie hätte mich ebenso in die Ecke gedrängt. Ich war letztlich einfach nur schneller gewesen.

Die Reise dorthin war bemerkenswert unbemerkenswert. Keine merkwürdigen Begegnungen mit Fremden, keine randalierenden Söldner, keine Räuber und Taschendiebe, keine wilden Wölfe, nichts. Wirklich gar nichts. Ich weiß nicht ganz, was ich erwartet hatte. Vielleicht, dass das Land selbst irgendwas verlauten ließe. Dünneres, strohiges Gras. Abgestorbene Bäume. Rissige Erde trotz des guten, feuchten Klimas. Aber nein, da war einfach… nichts. Grünes Land, satt und saftig, so weit das Auge reichte.

Ich kam schlicht und ergreifend an.

Der Eingang war ebenfalls ziemlich unscheinbar. Ein Erdrutsch, schätzte ich, musste den ungleichmäßigen Steilhang freigelegt haben. Ein Seil am nächsten Baum befestigt und runter ging es. Es waren nur ein paar Meter bis zum Eingang der Anlage. Kruder, ausgespülter Tunnel, bis es in behauenen Fels überging.

Und über dem Torbogen waren Zeichen eingraviert. Keine magische Signatur, wie ich sicherstellte. Ich musste für die verdammten Krakeleien tief in meinem Hirn wühlen. Dass ich drakonisch gelernt hatte, war gefühlte Ewigkeiten her und das damals auch eher aus Jux und Dollerei. Es dauerte eine Weile, bis ich es übersetzt hatte.

Wer eintritt, versagt seinem Leben ein Licht.

Ich werde diesen Satz nie vergessen. Damals klang das alles sehr hochtrabend philosophisch. Als würde mir einer seine Pseudoweisheiten füttern wollen. Denk positiv und Gutes soll dir widerfahren! Oder wie wäre es mit ‚Nutze den Tag!‘?

Es war nicht magisch und selbst, nachdem ich die Gravuren aus der Nähe – Leiter sei Dank – genau untersucht hatte, fand ich keine Spuren einer Mechanik. Keine Falle also.

Wie also erklärt man sich dann die Toten direkt darunter?

Das waren nicht die ersten Leichen, die ich gesehen hatte, wirklich nicht. Man kommt als Abenteurer nicht darum herum, immer mal wieder Tote zu sehen. In unterschiedlichen Stadien des Zerfalls. Und selbst ein paar Leute in diese ersten Zerfallsstadien zu befördern.

Die Leichen dort waren auch querbeet. Knochen, dünnste Staubschichten ehemaliger Knochen und Leichen, die so unheimlich frisch wirkten, das ich schätzte, sie konnten nur wenige Tage dort liegen. Ich war also nicht der erste arme Tropf, den sie da runter geschickt hatten. Wenig überraschend.

Wie ging ich also vor? Nun, ich tat, was ein kluger Mann mit Erfahrung in solch einer Lage tun würde… ich zog ein paar der Leichen mit einem gut gezielten Seilwurf raus und baute mir aus dem einen Rundschild und diversen Rüstungsteilen einen kleinen Kokon. Den Schild nahm ich als Unterlage. Ich positionierte ihn am Boden auf den ersten Steinen, räumte den Weg frei, hielt meine Konstruktion fest und nahm Anlauf. Auf den umgekehrt gelegten Schild gesprungen und mit dem Ding funkenschlagend durch den Torbogen geschlittert, während geflickte Rüstungsteile mich nach links, rechts, vorne und oben absicherten. Es sah zweifellos völlig und absolut lächerlich aus.

Ich hatte zwar bei den Leichen keine Projektile gefunden, aber wer weiß, nicht?

Tatsächlich wurde ich auch nicht beschossen. Keine Pfeile oder Bolzen. Keine Blitze zuckten im Gang, keine Feuerbälle kamen fauchend angerauscht. Nichts. Es geschah einfach schlicht und ergreifend… nichts. War wirklich seltsam.

In den nächsten Stunden erkundete ich die Krypta. Hallen mit großen Särgen, bis zur Unlesbarkeit zerstörte Reliefs und Gravuren, von der Zeit zerfressene Statuen. Alles in ziemlich üblem Zustand. Aber zumindest wurde gut deutlich, dass das irgendeine alte, drakonische Anlage sein musste. Ich meine… die langen Schnauzen und Schwänze waren ein ziemlich gutes Indiz. Von den übergroßen Särgen und den Fetzen drakonischer Schrift ganz zu schweigen.

Ich hatte bis zu dem Tag nicht gehört, dass es in Ceryddwin je Drakoiden gegeben hätte. Aber gut, dann wiederum – Ceryddwin war als Gefangenenlager gegründet worden. Vielleicht hatte es Drakoiden vor unserer Ankunft gegeben, vielleicht hatten wir sie in der Anfangszeit einfach ausradiert. Mir war’s ziemlich einerlei. Wichtig war für mich nur: Ich hatte so gut wie keinen Widerstand.

Keine Wächter, keine Konstrukte, keine Untoten, keine beschworenen Monster aus alter Zeit, nein. Ein paar Fallen, zugegeben. Aber wie ich schon sagte: Stock.

Ich schwor mir damals, es Maximilian nie zu erzählen. Also, dass ich ihn mittels eines Stocks ersetzt hatte. Ich mochte den Kerl. Klein und knubbelig, kahlköpfig und irgendwie immer schwer am schnaufen. Aber ein wunderbarer Koch und mit verdammt scharfem Blick fürs Detail. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihn zu ersetzen, hätte die Situation es mir nicht abverlangt.

Der Stock dagegen? Der war der Grünschnabel der etwas geschrumpften Gruppe, nicht sehr gesprächig und generell recht unflexibel. Aber was er leisten sollte, das konnte er auch leisten. Wie ein Blinder tippte und tappte ich durch die Gegend. Ein paar schwingende Äxte, ein paar Sensen in den Wänden. Die Äxte fehlten teilweise. Die Sensen waren verrostet und setzten sich zwar in Bewegung, klemmten dann aber auf halber Strecke fest. Hier und da waren die Knochen und Leichen gute Indikatoren, wo man etwas aufpassen sollte.

Die Grube mit der Säure hätte mich als Einziges fast erwischt. War eine gewitzte Kombination. Der falsche Boden darüber war mit irgendeiner Steinmechanik verbunden, sodass das Ding bei Belastung nicht direkt aufklappt. Nein, man geht erstmal ein paar Schritte weiter und läuft auf die Druckplatte. Da kommt einem dann von vorne eine Statue entgegen, mit einem wuchtigen steinernen Schild vor sich. Sie macht nicht wirklich was. Schiebt nur – einen in die Grube, die sich dann hinter einem geöffnet hat, bevor man bemerkt, dass die Statue sich bewegt.

Gerettet hat mich, dass die Schienen voller Dreck waren. Dadurch bewegte sich das Gewicht langsamer. Außerdem hatte der Zahn der Zeit dem Ding kräftig zugesetzt und ich konnte mich an die linke Seite stellen, in der Hoffnung, mich dann vorbeiquetschen zu können. Der Plan ging so weit auch ganz gut auf – bis ich den Fehler machte, mich an der Statue vorbeibewegen zu wollen, indem ich mich an ihr festhielt und durchzog.

Festhalten. An zerfressenem, porösen Stein. Blöde Idee.

Ich ruderte gehörig mit den Armen und fand mein Gleichgewicht wieder, bevor ich rücklings in die Grube stürzte. Aber das Zischen des reingefallenen Steins ließ mich nur zu genau wissen, was mir da gerade entgangen war – die beste Reinigungskur für meinen Teint, seit es Häutungen gab.

Nach ein paar Stunden fand ich dann auch die Hauptkammer. Und wieder dieser seltsame Spruch über dem Torbogen.

Wer eintritt, versagt seinem Leben ein Licht.

Diesmal gab ich mir Mühe. Wirklich viel. Nicht nur, weil da wieder ein ansehnlicher Berg Toter lag. Ich hörte jemanden dort drinnen. Vielleicht hatte es irgendwer rein geschafft, fein, gut genug. Ich war nicht wirklich gierig. Dann hatte ich eben eine Woche verschwendet und würde nicht demnächst im Geld schwimmen, auch gut. Aber konnte ich wirklich darauf vertrauen, dass derjenige mich nicht als Bedrohung für seinen Reichtum sehen würde? Und was, wenn die Person da drinnen Hilfe brauchte? Oder… war es doch ein Wächter und Ludolf hatte nur nicht so tief reinschauen können? Magie war schließlich eine komische Sache, nicht immer sonderlich zuverlässig. Vielleicht handelte es sich aber auch um eine Falle, eine Illusion, einen… Untoten. Hey, es war immerhin eine Krypta, oder nicht?

Ich untersuchte den Torbogen also vorsichtig, leise. Schlich durch die Gegend, ich mit meiner Leiter und meinem Lehrling, dem Stock. Wieder keine erkennbare Falle. Aber als ich da so auf der Leiter stand, sah ich ein paar der Leichen aus einer anderen Perspektive und die, die hatten Spuren. Kampfspuren. Klar, nicht alle. Aber ein paar. Hauptsächlich von Klingen oder Krallen oder sowas.

Und was ich von drinnen hörte, klang wie Schluchzen.

Ich ließ mich davon aber nicht beirren. Es gibt Geister, die sowas als Köder abziehen. Also werfe ich kopfüber halb auf dem Torbogen klemmend einen Blick in den Raum und sehe da diese wirklich beeindruckende Rothaarige – mit einem verdammt blutigen Schwert. Außerdem noch mehr Leichen mit sicherlich passgenauen Stichwunden. Sie torkelt durch die Gegend wie Haggard nach einem Fingerhut Zwergenschnaps und lallt und mault irgendwas vor sich hin. Außerdem sucht sie immer wieder nach irgendwas und flucht aufbrausend, dass sie es nicht finden könne.

Wer lange genug in einer Taverne saß, der weiß ganz gut, was Betrunkene suchen: Noch mehr zu trinken.

Und anders als sie, deren Verstand sichtlich umnebelt war, konnte ich ihren Trinkschlauch ganz gut da liegen sehen. In einer Lache frischen Blutes.

Sie schleuderte das Schwert von sich, packte einen unangenehm spitzen und wuchtigen Morgenstern und fluchte abermals herum, weil sie den verdammten Schlauch nicht fand. Und zertrümmerte einem der Toten den Schädel. Spätestens jetzt war er wirklich tot. Ich hatte nur nicht vor, seinem Beispiel zu folgen. Leiter und Stock pflichteten mir da bei – schlechte Idee.

Also packte ich per Magie ihren Trinkschlauch und holte den vorsichtig und erfolgreich unbemerkt zu mir. Nun kann man über mich sagen, was immer man will, aber ich hätte niemals von mir selbst behauptet, dass ich ein netter Kerl sei. Jasmin auch nicht. Yennefer und Mila sicherlich, aber wie gesagt – die wussten’s auch einfach noch nicht besser.

Ich hatte keine Rückendeckung. Haggard war nicht dabei, der hätte mit ihr sicherlich klarkommen können. Ich hatte aber auch nicht vor, da noch Stunden zu warten. Wer wusste schon, wie betrunken sie tatsächlich war und wieviel davon möglicherweise nur Bühnenspiel, um irgendwen – mich beispielsweise – reinzulegen? Dazu kam, das Betrunkene unberechenbar sind.

Als Maximilian mich nach dem letzten Ausflug zum Heiler geschleppt hatte, des verdammten Spinnengiftes wegen, hatte er sich extra die Mühe gemacht, eines der Biester umzubringen und sein Gift in eine Ampulle zu zapfen. Damit der Heiler wusste, wogegen er vorzugehen hatte. Erwies sich zwar als unnötig, war aber ein wirklicher, wahrer Liebesbeweis – und bedeutete für mich, dass ich eine Dosis wirklich fiesen Spinnengiftes dabei hatte.

Und ihren heiß ersehnten Trinkschlauch in der Hand.

Also denke ich mir so: Das tut mir wirklich leid für dich, hübsche Rothaarige, aber du bist mir eindeutig zu gruselig und ich habe eindeutig zu wenig Mumm, um mich jetzt offen mit dir zu befassen.

Mir war natürlich klar, was ich da tat. Der Heiler hatte mir gesagt, dass das Gift mich in kürzester Zeit getötet hätte. Dass ich überlebte, verdankte ich Brunhilde. Sie konnte die verdammte Schriftrolle zwar nicht lesen, hatte aber für Notfälle eine dabei – und ich, ich konnte sie sehr wohl lesen. Ich hatte uns unter Krämpfen zurück teleportiert. Und ich hatte nur einen Biss abbekommen. Die Ampulle fasste das Doppelte oder Dreifache. Ich tötete sie gerade. Das wusste ich und ich akzeptierte es – nicht zum ersten Mal.

Danach ließ ich den Schlauch auf den großen, zentralen Sarg sinken. Sie bemerkte es nicht, fand ihn aber nach ein paar weiteren Minuten, binnen derer sie mit dem Morgenstern ein gutes Stück aus einer der Säulen herausschlug, die meines Erachtens die Decke trugen. Was mich wirklich nur darin bestärkte, mir gerade einen Gefallen erwiesen zu haben.

Sie trank, des Blutes am Schlauch ungeachtet. Sie bemerkte offenbar das Gift auch nicht. Und keine halbe Stunde später lag sie am Boden. Ich wartete trotzdem noch ein wenig, nur zur Sicherheit, und schlich mich dann hinein. Ich bin nicht wahnsinnig – und nicht dumm. Klar, ich hätte ihr vielleicht einen Bolzen in den Kopf setzen sollen. Nur zur Sicherheit. Aber sie hatte Steinbrocken mit einem Morgenstern aus einer massiven Granitsäule geschlagen. Wollte ich wirklich riskieren, dass sie das Gift einfach weggesteckt hatte, lediglich vom Alkohol eingeschlafen war und den Bolzen möglicherweise irgendwie, auf wundersame Weise, auch noch überlebte, um dann aufzustehen und auszutesten, ob dieses ‚Stückchen aus etwas herausdreschen‘ nur bei Säulen klappt?

Nein. Entschiedenes nein.

Als ich mich hier dann nach Magie umsah, hätte es mich um Haaresbreite umgehauen. Glücklicherweise sah ich zum Ausgang der Krypta und bemerkte so nur die überragende, schier unglaubliche Aura in meinem Rücken. Wo, natürlich, der verdammte Sarg stand. Denn warum sollte das seltsame Dingsda, das ich bergen sollte, auch irgendwo sonst sein. Es hätte natürlich nicht einfach in der Besenkammer nebenan rumliegen können oder das Gemälde im Korridor am Eingang sein können, nein. Es musste in der letzten, hintersten, zentralsten Kammer sein. Im Sarg.

Und auch am Sarg wieder:

Wer eintritt, versagt seinem Leben ein Licht.

Ich öffnete mit einigem Ächzen, Hebeln und Mühen den Sarg ein Stück weit. Kein mieser Geruch, keine gruselig-matschige Leiche, die aufspringt und mich zu erwürgen versucht, nein. Auch keine Falle mit tödlichem Gas oder Giftnebel. Einfach nur ein toter Drakoide, längst auf Knochen und Staub reduziert. Und mittendrin eine Violine.

Da schaute ich zugegeben erstmal nicht schlecht. Ich meine… ein Barde erkennt eine Violine, wenn er sie sieht. Aber jeder andere an meiner Stelle müsste sich kaputt gelacht haben. Ich, ich war einfach nur verdutzt. Das wundersame Dingsda, das mächtige Relikt alter Tage, die Waffe, die Ceryddwin zum Sieg führen würde… war eine verdammte Violine.

Naja. Meinetwegen. Warum auch nicht, was?

Also nehme ich das Ding. Ich besitze sogar genug Anstand, den Sargdeckel wieder ein Stück weit zuzuschieben. Man soll den Ruhenden ja auch ihre Ruhe gönnen. Außerdem: Sollte er sich doch noch entscheiden, aufzuspringen und mir untot nachjagen zu wollen, dann hätte ich mehr Vorsprung.

Und während ich an der Platte so rumschiebe, fällt mein Blick auf die namenlose Rothaarige und mir bleibt fast das Herz stehen.

Sie starrt mich an.

Sie liegt da und starrt mich an.

Ich rutsche natürlich sofort ab, taste auf dem Boden nach der erstbesten Waffe, die mir zufällt und gedenke mich womit zu verteidigen? Einem Rippenknochen. Warum auch nicht.

Aber sie regt sich nicht. Und ich merke schnell, warum. Sie kann sich bewegen, aber es kostet sie unglaublich viel Kraft und Mühe und es geschieht extrem langsam. Mit einer Dosis, die einen verdammten, gestandenen Ochsen binnen weniger Herzschläge hätte töten müssen, hatte ich sie gerade mal paralysiert. Und nicht mal das wirklich vollständig.

Für mich war dass das deutlichste Zeichen, da zu verschwinden. Ich entschuldigte mich sogar bei ihr. Ich überlegte natürlich kurz, ob ich die Vergiftung aufheben sollte. Ich hätte es gekonnt, so ist’s ja nicht. Aber… was hätte sie dann wohl mit meinem strohdürren Hälschen getan, hm?

Nein. Es hatte sich nichts geändert. Wenn es hieß: Sie oder ich… dann wählte ich immer noch mich.

Mit meiner frisch erbeuteten Violine kehrte ich also nach oben zurück, ins Tageslicht und zu meinem Rastplatz. Um ein paar Dinge vorweg zu nehmen: Ja, das war die Erste. Ja, ich hatte auch so einen lustigen Wissensschub. Aber nein – zu dem Zeitpunkt… war mir das schlicht nicht klar gewesen. Ich hatte sie und ich verstand und ich ignorierte. Der Verstand ist ein wundersames, konfuses Ding.

Aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht mehr recht welcher, entschied ich, zunächst nach Grüneburg zurück zu reiten. Das Ding abgeben konnte ich dann später immer noch, so war’s ja nicht. Drei Wochen hatten sie mir immerhin gegeben.

Eine Woche nach meiner Abreise kehrte ich heim.

Nur um festzustellen, dass es kein Heim mehr gab.

Sie waren tot. Jasmin, Yennefer, Mila. Alle drei. Ich… erspare dir an der Stelle die detaillierten Beschreibungen, wie ich zusammenbrach. Ich tat es. Mehrfach.

Ich ließ mir beschreiben, sehr detailliert, was geschehen war. Ich denke, das war ebenso mein Wunsch, es zu verstehen, wie auch das Bedürfnis, mich zu bestrafen. Als es geschehen war, war ich nicht da. Ich hätte da sein müssen.

Jasmin war bei der Feldarbeit zusammengebrochen. Yennefer und Mila hatten fürchterliche Angst bekommen und waren schreiend losgerannt, um Hilfe zu holen. Frederick vom Nachbarhof kam zuerst an, aber Jasmin war tot. Keine Wunden, keine Krämpfe, nichts. Einfach  tot.

Er nahm meine Töchter erstmal mit zu sich. Lydia, seine Frau, kümmerte sich ein wenig um sie. Ein paar Stunden, nachdem Jasmin zusammengebrochen war, geschah es wieder. Yennefer saß am Tisch, weinte und… brach zusammen. Lydia bekam den Schreck ihres Lebens und egal, was sie versuchte – Yennefer war fort. Tot, wie ihre Mutter.

Mila hatte fürchterliche Angst. Sie war völlig aufgelöst und… und flehte. Sie rief. Nach mir.

Keine halbe Stunde, dann brach Mila zusammen.

Und, hast du das Rätsel schon gelüftet?

Wer eintritt, versagt seinem Leben ein Licht.

Es ist keine Pseudophilosophie. Kein Verkaufsgespräch. Kein Typ, der wirklich klug klingen wollte, während er nichts Relevantes von sich gab. Es war eine Warnung. Sie bezieht sich – wie ich viele Jahre später erfuhr – auf ein uraltes drakonisches Sprichwort. Eines, das heute nur noch die Drachen kennen. Sinngemäß geht es darum, dass du mehr geben solltest, als du nimmst. Das geht wiederum auf die Überzeugung zurück, dass man vieles geben kann, das über materielle Güter hinausgeht. Bestimmung. Dankbarkeit. Freundschaft. Güte. Liebe.

Dieser Satz ist ein Fluch. Oder vielmehr, beinhaltete einen. Für alle, die die Warnung ignorierten oder nicht verstanden. Ihn zu umgehen ist… grausam simpel. Zünde eine gottverdammte Kerze an. Und dein Leben enthält ein Licht. Gehe durch und die Kerze erlischt. Es ist fast schon etwas Rituelles. Ein Teil der drakonischen Kultur.

Es ist nicht immer was Gutes, in den Gebeinen alter, längst vergessener Zivilisationen herumzustochern.

Ich hatte keine Kerze. Also wurde meinem Leben ein anderes Licht genommen. Drei Mal. Und danach? Danach war es tatsächlich ziemlich finster. Weißt du jetzt, warum da so viele Tote herumlagen? Die Rothaarige hat die nicht erwischt. Ein paar in der Hauptkammer, klar. Aber der große Rest? Die hat sie nicht mal zu Gesicht bekommen.

Das Abenteurerleben ist schwierig. Vor allem für den eigenen, persönlichen Hintergrund. Nicht viele sind so nachsichtig, geduldig, haben so viel Liebe übrig und so viel Vertrauen wie Jasmin. Tatsächlich sind das die Wenigsten. Früher oder später werden die meisten, die an ihrem Dasein als Abenteurer zu lange festhalten, einfach verlassen. Ihre Weiber und Männer wenden sich ab. Ihre Kinder werden zu Fremden. Ihre Freunde verblassen – oder sterben an ihrer Seite auf Abenteuern.

Man kann es drehen und wenden, wie man will. Viele Abenteurer sind allein. Sie haben keine Lichter in ihren Leben, die sie verlieren könnten. Keines außer dem Letzten: Ihrem eigenen Leben.

Wer sich diesen Fluch ausgedacht hat, diese ganze Ritualnummer… war ein cleverer kleiner, herzloser Bastard.

Ich war sturzbetrunken. Ich weiß nicht, für wie viele Tage. Oder Wochen. Ich versetzte den Hof. Ich versetzte meine Ausrüstung. Ich versetzte einen Großteil meiner Tränke. Alle bis auf einen. Die beschissene Violine hatte ich noch. Aus irgendeinem Grund konnte ich sie einfach nicht weggeben. Meine ganze Welt lag in Trümmern, wegen diesem Ding. Aber ich brachte es nicht über mich, sie zu zerstören. Oder zumindest, es zu versuchen.

Stattdessen… weil ich zu feige war, es selbst zu tun… wollte ich jemand anderem meine Drecksarbeit zukommen lassen. Ich behielt den einen Trank, den ich noch hatte und lief los. Stumpf tagein, tagaus. Ich schlief, wenn die Erschöpfung mich irgendwo zusammenbrechen ließ. Und stand auf und lief weiter, sobald ich wieder wach wurde. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich irgendwann was gegessen oder getrunken habe. Ich denke, ich schreibe mein diesbezügliches Überleben der Ersten zu. Irgendwie.

Als ich an der Anlage ankam, machte ich mir nicht die Mühe mit dem Seil meinen Abstieg zu sichern. Wozu auch. Ich hatte ja sowieso nicht mal mehr ein Seil. Und ich kehrte in die Krypta zurück, ohne selbst zu sterben. Ich weiß bis heute nicht, wie genau das funktioniert. Ob jeder nur einmal von einem Fluch getroffen werden kann. Oder ob eine bestimmte Zeit vergehen muss, ehe man vom gleichen Fluch nochmal angerührt werden kann. Kein Schimmer.

Aber siehe da: Meine neue beste Freundin, die namenlose Rothaarige, war noch immer da. In der ganzen Zeit hatte sie es wirklich weit geschafft. Sie hatte sich mit dem Rücken an eine Säule gehievt und saß dort. Als ich reinkam, starrte sie mich finster an. Da brannte solch eine Wut in ihren Augen, es war fast schon ein Grund für mich, vor Freude zu jauchzen. Ich warf das verdammte Instrument neben ihr auf den Boden und trat nochmal demonstrativ dagegen.

Das solle ich lieber lassen, meinte sie dann. Die Paralyse hatte sich ein wenig gelockert, aber nicht genug, um ihre Bewegungsabläufe zu vereinfachen. Ich zog den Trank und trat an sie heran, aber sie wehrte mich ab. Nein, ernsthaft – sie, fast vollständig paralysiert, schaffte es, mich abzulehnen. Der Grund war simpel. Ich war unkonzentriert und deutlich geschwächt. Wir waren gleichauf, irgendwie.

Also brülle ich sie an, dass sie das verdammte Zeug schlucken soll, damit sie mir endlich den Schädel einschlagen kann. Das wiederum gibt ihr irgendwie zu denken. Und plötzlich will sie wissen, warum ich das wolle. Die Frage wirft mich aus der Bahn. Darüber nachzudenken… alle Dämme brechen. Ich falle auf meinen Arsch, heule wie ein Mädchen und erzähle. Erzähle ihr alles. Vom Urschleim bis zu meiner Rückkehr. Erzähle, welche Löcher in meinen Erinnerungen sind, warum und wie groß. Was ich vorhabe. Was ich von ihr erwarte.

Und sie, sie erzählt mir von ihrem Kind. Sie hatte ein Licht dabei. Eines. Sie dachte, dass sie nur eines bräuchte, war doch jeder Torbogen identisch. Sie stand in telepathischem Kontakt mit ihrem Kind. Sie spürte, wie es starb. Als es starb.

Und nichts hätte mich in dem Moment weniger interessieren können.

Anders als ich, wünschte sie nicht zu sterben. Sie war hier, um das verflixte Ding zu bergen. Und an einen neuen, sichereren Ort zu bringen. Also meinte ich, sie könne es meinetwegen ruhig zurückhaben. Sie verweigert, es anzunehmen. Und erklärt mir, was es damit auf sich hat. Sie erzählt mir dabei nichts Neues – ich habe diese Sachen noch nie zuvor gehört, aber trotzdem sind sie in meinem Kopf. Ich habe mich dem Wissen verweigert. Der Erkenntnis.

Denn mal ehrlich – eine Geschichte wie die der Ersten? Das ist nichts für schwache Geister. Und solch einen hatte ich damals.

Aber aus der bitteren Erkenntnis wurde Zorn geboren. Es würde Jahrzehnte dauern, bis dieser Zorn tatsächliche Form annahm und Ziele fand. Aber in diesem Moment genügte es für einen einzigen Entschluss. Ich hatte ein Artefakt gefunden. Ein mächtiges Werkzeug, gesegnet und beachtet von den Göttern selbst. Und ich wusste aus Legenden – Barde und all das -, dass Wiedergeburten und Wiederauferstehungen nicht unmöglich waren. Selten, sicherlich. Aber nicht unmöglich.

Sie war von meiner neuen, plötzlichen Entschlossenheit ziemlich amüsiert. Was ich nun zu tun gedachte, verlangte sie zu wissen. Also sagte ich es ihr. Spie voller Verachtung das Erstbeste hinaus, was mir auf diese dämliche Frage einfiel. Ich, Ithildalin, Barde und Abenteurer, Nichtsnutz aus einem Kaff, das nicht mal die Nachbardörfer namentlich kannten… würde die Götter herausfordern. Ihnen und ihrem Willen trotzen. Ich würde sie zwingen, Jasmin, Yennefer und Mila zurückzuholen. Ich würde sie zwingen, auch ihr Kind zurückzuholen.

Sie waren nicht allmächtig. Sie waren nicht allwissend. Durch all die Geschichten war ich bestens mit ihren Charakterschwächen vertraut, mit ihrer Willkür, ihrer Arroganz. Ich war ihrer überdrüssig. Kleine Leute, die sich gegen großes Übel durchsetzten… vielleicht obsiegten sie nicht immer, aber sie trugen Erfolge davon schon dadurch, dass sie es überhaupt versuchten. Das waren meine Geschichten. Das waren die Geschichten, die alle Welt hören und sehen wollte. Die Hoffnung, dass doch, irgendwie, jeder einzelne etwas Großes zu leisten fähig wäre. Etwas von Bedeutung.

Und wie hätte ich den Göttern mein Elend auch nicht anlasten sollen?

Alles, was war, war Schöpfung ihrer Hand. So zumindest mein damaliger Wissensstand. Sie hatten auch die Drakoiden geformt. Sie hatten sie Flüche entwickeln und Torbögen damit bekritzeln lassen. Sie hatten nicht hinter ihrer Schöpfung aufgeräumt, als deren Kultur zugrunde ging und ihre Fallen und Gefahren unbewacht zurückließ. Eltern sind für die Taten ihrer Kinder verantwortlich, bis diese selbst Verantwortung übernehmen können. Und selbst dann, bis zu ihrem Ende, stehen Eltern noch immer ein Stück weit in der Verantwortung. Das ist ihr Recht, ihr Privileg, ihre Pflicht.

Sie war natürlich erstmal verdutzt. Sichtlich amüsiert, auf boshafte Weise, von meiner leicht derangierten Rede. Aber wortlos angesichts des Umstandes, dass ich auch ihr Kind zurückzuholen geschworen hatte. Sie verlangte zu wissen, wie ich dazu käme, so etwas zu wollen. Und einmal mehr plapperte ich das Erstbeste daher: Weil sie mir, selbstverständlich, dabei helfen würde.

Sie entschied dort unten an jenem Tag, dass sie mir niemals helfen würde. Zumindest… nicht direkt. Und nicht direkt dabei, den Göttern die Stirn zu bieten. Sie wolle, sie könne das einfach nicht. Außerdem hatte sie zugegeben überaus verständliche Zweifel daran, dass ich – der ich damals war – überhaupt fähig wäre, auch nur ansatzweise in die Nähe des Ziels zu kommen, das ich mir da gesteckt hatte.

Aber ich liebte meine Frau. Und ich liebte meine Töchter.

Ich liebte sie wie nie etwas zuvor und nie etwas seither. Und ich hätte alles für sie getan. Und ich würde alles für sie tun. Bedingungslos.

Etwas an diesem Eifer muss sie umgestimmt haben, rede ich mir gern ein. Etwas in meinem Blick, in meiner Stimme, meinem Gesicht. Irgendetwas an mir. Ich will nicht, dass es einfach nur eine Laune war. Der Gedanke: Ja, warum eigentlich nicht? Warum ihn nicht machen, es ihn nicht zumindest einfach mal probieren lassen?

Ich verabreichte ihr das Antidot und sie erholte sich binnen weniger Stunden von der Paralyse. Ich begann dagegen nahezu augenblicklich fieberhaft nach Plänen zu suchen. Ich hatte ein Götterartefakt. Ich hatte ein verdammtes Stück Holz, das göttliche Beachtung gefunden hatte! Das musste doch zu irgendwas gut sein! Mehr als Platinmünzen, allemal.

Als ihre Paralyse nachließ, hätte sie mich angreifen und töten können. Sie hatte ihr Kind verloren, um so weit zu kommen. Und ich hatte es für sie aus dem Sarg gehoben. Sie hätte es nehmen, mich töten und gehen können. Aber das tat sie nicht. Und ich glaube zu wissen, warum. Denn wir teilten den gleichen Schmerz. Und er war unerträglich. Unerträglich und frisch. In unser beider Herzen. Unser beider Welten waren zerstört worden. Was sie aufrecht und zusammen hielt, war ihr bodenloses Pflichtbewusstsein ihrer ominösen Aufgabe gegenüber. Was mich aufrecht und zusammen hielt, war die absurde Hoffnung, das Unmögliche möglich zu machen.

Ich war der Barde aus Grüneburg, der ein Götterartefakt fand und auszog, die Götter zu bezwingen.

Wäre ihre Situation damals eine andere gewesen, Ira hätte sich zweifellos prächtig amüsiert. So jedoch? So zeigte ich entweder grenzenlose Dummheit, oder tiefstes Vertrauen in ihre Loyalität, als ich ihr die Erste gab. Nicht in die Hand natürlich, das hätte sie potenziell töten können. Aber in ihre Obhut. Zur Verwahrung, bis mir klar werden würde, was ich mir ihr anzustellen gedachte. Im Gegenzug pflanzte sie mir irgendeinen seltsamen Zauber in den Verstand, der uns erlaubte, auch in Zukunft miteinander verbunden zu sein, in Kontakt zu bleiben. Es war etwas kompliziert, dauerte Stunden und setzte tiefe Meditation voraus, diese Verbindung zu nutzen, darauf zuzugreifen. Aber es war besser als nichts. Auch wenn ich dazu nicht nur lernen musste, wie man meditierte, sondern auch… nun ja. Die Umstände waren nicht unbedingt ideal für Balance und Ausgeglichenheit.

Wir verließen die Krypta Seite an Seite. Sie nahm die Erste mit, um sie zu verwahren. Und ich, ich zog los. Ziellos und doch getrieben. Jahre zogen vorbei. Selten sprach ich mit ihr. Ceryddwin bot mir nicht, was ich suchte. Ulthwe war meine nächste Station. Vielversprechender. Ich lernte neue Zauber, lernte neue Techniken, erweiterte meinen Horizont. Ich streifte die Haut des Barden ein gutes Stück weit ab. Was nützte es mir noch? Wie willst du andere erheitern und zum Lachen bringen, wenn du dich im Inneren leer, kalt und tot fühlst? Aus nichts kann nichts entstehen.

Doch auch Ulthwe bot mir nicht das Richtige. Wohl aber gab es mir eine Richtung vor. Einen Vorgeschmack dessen, was es benötigen würde. Die reichhaltige Folklore des Landes machte eines überdeutlich: Jeder Versuch in der Vergangenheit, die Götter irgendwie zu irgendetwas zu zwingen, endete für den, der es wagte, nicht gut. Jeder.

So ungern ich es zugab: Meine Chancen, Artefakt hin oder her, standen noch viel lausiger, als ich es mir dachte.

Aber es gab auch einen Lichtblick. Denn die gleiche Folklore legte nahe, dass es möglich war, mit den Göttern zu verhandeln. Dazu… brauchte man nur dummerweise etwas, das sie wollten. Thesiates der Dritte hatte mit Mermerus handeln können, weil der Gott der Sonne ums Verrecken bei dessen Volk keinen Fuß in die Tür bekam und Thesiates ihm anbot, das für ihn zu erledigen. Etwas zu leisten, dass der Gott allein nicht zu leisten fähig war. Hekate bot Pales etwas so Schlichtes wie ein Portrait an. Die bis dahin formlose Göttin der Kunst, der endlich Form und Abbild verschafft werden würde – etwas, das Pales aufgrund ihrer kritischen Natur nie selbst für sich hatte bewerkstelligen können. Die Märchenbücher sind voll solcher Beispiele.

Ich brauchte also etwas Großes.

Etwas, das alle Götter wollten, oder zumindest viele.

Die Antwort fiel mir auf, als ich in Zivah Elmas war und die Stadt von einer neuen Belagerungswelle erfasst wurde. Nur ging diesmal etwas schief. Ein mächtiger Schwarznekromant hatte die unzähligen Toten der leeren Zone gehoben, um sie gegen die Stadt marschieren zu lassen. Nur waren sie dazu nicht willens. Denn Xarak hatte andere Pläne mit ihnen. Und als der Magier seine frisch gehobene Armee zu zerstören drohte, da zerfetzten die Untoten ihn.

Wie bringt man einen König zu Fall, dessen Macht der eines Gottes nahe kommt? Die Frage beschäftigte mich die nächsten Jahre und mir wurde zweierlei klar. Zum einen: Ich brauchte mehr Zeit. Und zum anderen: Indem man dafür Sorge trägt, dass er sich selbst zu Fall bringt.

Keine Macht ist der eines Gottes gewachsen – außer die Macht eines Gottes selbst. Xarak wäre bestens in der Lage, Xarak auszuradieren. Man müsste ihn nur entsprechend motivieren. Irreführen, besser gesagt. Der Plan war… verwegen. Und ich brauchte die Hilfe meiner rothaarigen Verbündeten. Deren Namen ich in all den Jahren tatsächlich nie erfragt hatte. Sie kapselte mich ab. Versiegelte meinen Verstand in meinem Verstand. Irgendwie.

Der kleinste Funke freier Wille. Genug, um entscheiden zu können. Aber nicht genug, um aufzufallen.

Dann galt es nur noch, für meine Rekrutierung zu sorgen. Und das war wiederum ein Kinderspiel. Ich hatte schließlich die Erste ihrer Art. Ich hätte mich vermutlich darauf verlassen können, Aufsehen zu erregen, weil sich so ein fantastischer Spieler war. Aber ich war mir nicht mehr sicher, ob ich das noch wäre. Ob gutes Musizieren dafür gut genug gewesen wäre.

Nein. Entweder ich tat das ganz, oder ich ließ es besser gleich bleiben.

Ich werde nicht ins Detail gehen. Du weißt selbst, wozu die Erste fähig ist. Ich nutzte sie. Jedes Stück davon. Jeden Fetzen Macht. Und ich tat alles, was ich für nötig hielt, um die Aufmerksamkeit eines Königs auf mich zu ziehen. Ich bescherte ihm Leichenberge jenseits seiner Vorstellungskraft, verwüstete Landstriche, rottete Dörfer aus, verführte Magier zur Schöpfung neuer Wiedergänger und Kadaver-Armeen.

Sie kam und holte die Erste zur Verwahrung ab, Stunden bevor ich aufgegriffen wurde. Ich leistete gehörigen Widerstand. Etwas, das man einem Barden nicht zutrauen mochte, aber ich war ja nicht länger ein Barde. Nicht mehr, nicht nur.

Man räderte mich und ich überlebte.

Man ertränkte mich und ich überlebte. Ehrlich – wie sie zu blöd waren, mich zu ertränken, ist mir bis heute ein Rätsel.

Schließlich verbrannte man mich. Das… funktionierte. Das funktioniert immer.

Und beging dann den erhofften Fehler. Ich war ein Monster geworden. Nicht nur machte ich mir selbst keine Illusionen darüber – es tat auch niemand sonst. Sie wollten mich nicht auf ihren ordentlichen, aufgeräumten Friedhöfen. Sie wollten mich nicht in ihrer feinen, geweihten Erde, direkt neben all den anständigen Leuten.

Sie wollten, dass ich wie ein Monster zugrunde ging. Kadaverteile, verscharrt in einer Grube, namenlos, grabsteinlos.

Perfekt, um dort gefunden zu werden.

 

„Ich kann sie spüren“, erklärte Ithildalin mit einem schwachen Lächeln.

Mehrere Minuten hatte er nach seiner Erzählung schweigen müssen. Kräfte sammeln, die letzten Reserven zusammenkratzen müssen. Glücklicherweise ging sein Dahinscheiden nicht mit Hustenkrämpfen einher – das hätte der Geschichte doch gehörig den Rhythmus geraubt. Nein, er schwand. Schwand dahin und wurde schwächer und schwächer und damit unweigerlich auch immer leiser. Arien hatte zweifellos schon gefürchtet, er sei bereits hinüber geglitten.

„Wen?“, fragte sie nach, obwohl sie die Antwort kannte.

„Sie sind dort draußen. Irgendwo in Ceryddwin geschieht gerade ein Wunder. Oder vier, vielmehr. Arien, versprich mir etwas. Finde sie. Finde sie und lass sie entscheiden, wieviel sie wissen will. Erzähl ihr, was immer sie wissen will. Und kümmere dich um sie. Es ist lange her und vieles hat sich verändert. Sie wird Schwierigkeiten haben.“ Es war fast vollbracht. Ein merkwürdiger Gedanke und ein noch merkwürdigeres Empfinden. Er hatte den Prozess ihrer Wiedergeburt gespürt, ihn verfolgen können. Horchte er in sich hinein, glaubte er Bilder zu sehen, vage Eindrücke eines weit entfernten Ortes, Schnipsel eines Gesamtbildes, doch erkennbare Details darin. Braunes, langes Haar in sanften Wellen. Eisblaue Augen, noch geschlossen.

„Ich… i-ich verspreche es…“, hauchte Arien leise und ergriff seine Hand, als er nach der Ihren tastete.

„Du bist ein gutes Mädchen“, ließ er sie wissen, rang sich ein Lächeln ab, „Ich bin stolz, an deiner Seite gekämpft zu haben. Stolz auf das, was wir erreicht haben. Stolz, zu wem du geworden bist. Aber diese eine Sache musst du verstehen…“

Sie schluckte schwer, drängte mit aller Willenskraft – eine nicht unerhebliche Macht – die Tränen zurück und nickte, jenen Kampf doch langsam verlierend. „Was…?“, flüsterte sie mit halb erstickter Stimme.

Ein letztes Lächeln schlich sich auf Ithildalins Züge. Der Druck seiner Hand um die Ihre wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer. Er konnte, weit entfernt, ihren Herzschlag einsetzen spüren. Es war Zeit.

„In dem Handel, den ich schloss, ging es nie darum, alle zu retten. Ich bin ein Monster geworden. Was noch zu retten da war, das hast du gerettet… es… es ging immer nur um sie…“

Schlaflos in Bervenia

Vetus gähnte. Ihm taten die Füße weh. Und die Augen brannten. Er hatte leichten Druck auf den Schläfen. Und ihm war warm. Und kalt. Und Hunger hatte er allmählich auch. Es war einfach ganz grundsätzlich zu spät. Zu spät, um noch durch die Gegend zu wandern. Aber natürlich hütete er sich, das zu sagen. Oder zu zeigen. Denn trotz allem hatte er Pläne.

Seit Tagen schon zogen Ahillea und er am Rande eines beeindruckend hoch gewachsenen, dichten Waldes entlang. Immer ein paar Dutzend Meter von der Baumgrenze entfernt. Er hatte sich als Späher bemüht, dann und wann – und wusste von einem hübsch hoch aufragenden, sanft  geschwungenen Hügel ganz in der Nähe. Sie konnten ihn noch erreichen, würden ihn heute noch erreichen. Wenn er doch nur nicht so viel Zeit beim Frühstück vertrödelt hätte…!

Dabei wurde es auch irgendwie immer schwerer, zu laufen. Einen Fuß vor den anderen zu setzen. Seufzend und schnaufend bemerkte er die Umgebung kaum noch, konzentrierte sich darauf, wie bleischwer seine Beine waren, wie ungelenk sie sich anfühlten. Entsprechend zuckte er fürchterlich zusammen, als er einen Zeigefinger grausam und skrupellos in die Seite gerammt bekam. Einen halben Meter fortspringend, versuchte er seine Einkehr rasch umzustülpen, versuchte sich seiner Umgebung wieder gewahr zu werden und vernahm, wie könnte es auch anders sein, als erstes ihr helles, ansteckendes Glucksen und Kichern, das schließlich in ein leises Lachen überging.

„Unfair“, maulte er.

„Du warst schon wieder in deiner eigenen kleinen Welt. Ich wollte dich nur darauf hinweisen, dass diese unsere Welt hier draußen auch noch existiert – nicht, das du gleich auf der anderen Seite wieder runterläufst“, erwiderte Ahillea mit einem schelmischen Lächeln auf den hübschen Lippen und nickte zur Seite.

Vetus‘ Blick folgte ihr und er bemerkte nun auch, warum die so grausam gewesen war. Natürlich wurden die Schritte schwerer, tatsächlich wortwörtlich schwerer, wenn man bergauf ging. Sie hatten die Hügelkuppe bereits erreicht, auf der ein einzelner, seltsam gewundener Baum aufragte. Der Gedanke, wie der weit geschwungene Hügel mit diesem Baum im Zentrum, diesem andersfarbigen Fleck, wohl von oben wirken mochte, entlockte Vetus ein vollkommen erwachsenes, keineswegs peinliches Grinsen. Er war ein Genießer hübscher Landschaften, jawohl. Das war eine ernste Sache.

Vollkommen ernst.

Abermals riss ihn seine Begleitung aus den Gedanken heraus. Unlängst hatte sie mit wenigen Handgriffen das Lager aufgeschlagen. Diese Verzauberung hatte sich tatsächlich gelohnt. Eine Bettrolle, die – löste man erst die Schnallen und rollte sie schwungvoll auf – ein ganzes Camp ausspuckte. Ein fertig aufgebautes Zelt, ein mit Steinen begrenztes Lagerfeuer, ein kleiner Holzvorrat, die Flammen züngelten auch schon über das Holz… es sparte so immens viel Zeit.

Er konnte den Nutzen einsehen, natürlich. Vetus war immerhin kein Dummkopf. Er bedauerte trotzdem, die Schwertscheide zurückgelassen zu haben, die eine epische Hymne anstimmte, sobald man seine Klinge zog. Aber Ahillea hatte wohl Recht – irgendwann würde es langweilig werden, jeden Kampf mit der immer gleichen Hymne zu beginnen. Die anderen, zahlreichen Argumente dagegen, die waren… unbedeutend. Nicht wert, in die Rechnung einbezogen zu werden. Sie mochte vielleicht überzeugt sein, das es unepische Kämpfe gab oder man manchmal auch nur einschüchterte. Aber zum Einschüchtern war es so viel eindrucksvoller, wenn eine Hymne erklang! Und Kämpfe wurden nur unepisch, wenn man sich nicht darum bemühte, sie episch zu machen! Und was das Herumschleichen mit gezogenen Waffen anbelangte, nun ja… er hatte neben seinem Schwert noch einen Dolch? Wenn es denn unbedingt leise sein musste, dann käme er damit sicherlich auch zurecht…

Langsam ließ sich Vetus bei Ahillea nieder, die es sich mit dem Rücken zum Feuer auf einem Tuch bequem gemacht hatte und in den Sternenhimmel aufsah. Er musterte die feinen, grazilen Tätowierungen auf ihrem Gesicht. Verschlungene Linien, Ranken gleich, die sich über ihren schlanken Hals und ihre Schulter den Arm herab zog. Er hatte sie ihr spendiert, gewissermaßen. Als Erinnerungsstück an ihre erste Begegnung mit einer Dryade. Einer echten, von Phylia selbst berufenen, mit Tieren redenden, Pflanzen kommandierenden, Ehrfurcht gebietenden… Leute beschnüffelnden… Dryade.

Die Erinnerung ließ ihn heute noch schmunzeln. Das kam davon, wenn man in Wäldern aufwuchs. Dann wiederum: Ahilleas Gesichtsausdruck war prächtig gewesen! Vielleicht war das Tattoo auch die Entschuldigung dafür, wie sehr er damals gelacht hatte.

Die schlichten, blaugrünen Ohrringe waren ihre Wahl. Sie hatten sie nach Lichtenstein geholt. Gruseliges kleines Dorf. Angeblich ein beliebter Treffpunkt des Adels und es gab so manches seltsame Gerücht darüber, was dort vor sich gehen mochte. Jeden Abend prächtige Bälle, so hieß es. Aber Leute in der Umgebung verschwanden und den Adel schien es nicht zu kümmern. Nun einerseits mochte man meinen, dass es Adel nie kümmerte, wenn einfache Leute verschwanden. Es war der Adel. Und der Rest war Pöbel. Und Pöbel gab es genug. Aber Lichtenstein war ein Dorf. Allein die hohe Konzentration an Adel dort war schon suspekt gewesen.

Letztlich hatten sie sich selbst zu einem Maskenball eingeladen. Und siehe da – Kultisten. Es ging doch wirklich nichts über Adlige, die vor lauter Langeweile irgendwelche mordlüsternen Teufel anzubeten begannen. Und nachdem sie den zumindest ein paar der tragisch Verschwundenen zur Flucht hatten verhelfen können, galt es ja auch nur noch, mit den Mörder-Idioten fertig zu werden.

Kinderspiel, wirklich.

Vielleicht hätte sie eine aus massivem Saphir geschlagene Kutsche nehmen sollen. Alternativ zu einem hübschen paar Ohrringe.

„Weißt du, was es mit dem Wald auf sich hat?“, erkundigte sich Ahillea und durchbrach damit einmal mehr Vetus‘ sich fortwährend verselbstständigende Gedanken. Ein wirklich seltsamer Effekt, der ihn irgendwie in aller Regel in ihrer Gegenwart zu schaffen machte. Hastig zog er die Hand aus ihren Haaren. Er hatte schon wieder Locken um seine Finger gewickelt. Sie quittierte seine diesbezügliche Eile mit einem warmen Lächeln, sagte aber kein Wort. Wie immer.

Dann folgte sein Blick ihrem Fingerdeut hinaus. Der wundervolle Nachthimmel mit vereinzelten, grauen Schleierwolken war von hier oben atemberaubend schön – aber nein, sie interessierte der Gruselwald darunter. Ein seltsamer Anblick war er. Als hätte Phylia einen Pinsel genommen, sich die Leinwand der hiesigen Landschaft angeschaut und mit einem sehr düsteren Grün einmal einen Punkt dorthin gemalt. Nicht ein Strich, nicht ein zerfasertes Etwas, nein – ein perfekter, kreisrunder, übergangsloser Punkt. Es gab Wiese und Landschaft drumherum und dann gab es die Baumgrenze, die den harten Übergang in den Wald markierte. Und im Zentrum dieses Gruselwaldes stand – wie hätte es schließlich auch anders sein können – ein Schloss.

„Japp…“, erklärte er zunächst und überlegte bereits, wie er ihr deutlich machen sollte, dass sie nicht – auf gar keinen Fall! – zu dieser verdammten Burg gehen würden, nur weil sie in den Tavernen auf dem Weg hierher wieder irgendwelchen Unsinn aufgeschnappt hatte über entführte Leute, vergessene Schätze oder dergleichen. Er spürte jedoch ihren erwartungsvoll-überraschten Blick auf sich und hob daher lächelnd an, seine Rede mit lebhaftem Gestikulieren unterstützend, „Weißt du, als Wald bezeichnet man eine große Ansammlung von Bäumen, die-“ Sie boxte ihn auflachend spielerisch gegen die Schulter und er rang einen Moment um Gleichgewicht. „Nicht? Gut, dann wie wäre es damit: Das ist der verdammte Fleck auf der Landkarte, wegen dem wir zwei Wochen Umweg in Kauf nehmen müssen…?“

Zunächst nickte sie nur. Und hätte er sie nicht besser gekannt, hätte er an dieser Stelle wohl nachgefragt. Doch er kannte sie besser. Vielleicht ein klein wenig zu gut, inzwischen. Sie sammelte sich, überlegte, ordnete, bereitete vor. Er liebte ihre Geschichten…

„Das ist der Wald, den keiner will. Es gibt einen hübschen elbischen Namen dafür, aber du verunstaltest ihn nur wieder und brichst dir dabei die Zunge.“ Sie schmunzelte, als er sich vorsichtig etwas näher an sie heranwagte und leicht gegen sie lehnte, während sein Blick tatsächlich am Wald und der Burg im Zentrum klebte. „Die großen Adelshäuser Bervenias – die zumindest, die Grundbesitz haben – wissen alle von diesem Wald. Und obgleich er direkt an einem Punkt liegt, dass drei Häuser sich eigentlich um seine Zugehörigkeit streiten müssten, hat keines davon Interesse daran. Die Leute meiden den Wald, gehen Meilen und Meilen drum herum. Er ist verflucht, heißt es. Geister und Untote und schreckliche Monster sollen darin hausen. Keine Tiere, keine Vögel und Insekten – es herrscht Tag und Nacht Totenstille. Die Bäume selbst sollen mit ihren Wurzeln Eindringlinge greifen und unter die Erde ziehen, wo sie sie aufspießen und den Baum von ihrem Blut ernähren. Man sagt, die Schatten dort drinnen seien lebendig, mit glühenden Augen und Krallen. Eine gute Laterne mag gegen sie helfen, sie auf Abstand bringen, vielleicht sogar verletzen – aber selbst der Wind spielt einem dort böse Streiche. Das Schloss selbst ist ein Mysterium. Es führt keine Straße dorthin. Es gibt keine Unterlagen über seinen Bau. Niemandem scheint es zu gehören. Aber ein paar Gnome, die mit Ferngläsern viele Wochen und Monate die Burg studiert haben, erzählten ängstlich, dass sie Lichter durch die Mauerspalten schleichen sahen. Jemand mit einem Kerzenhalter oder einer Lampe vielleicht. Wer immer dort lebt, hat mit dem Wald und seinen Bewohnern offenbar keinen Streit. Was nahelegt, das man diesem Herrn oder dieser Dame nicht begegnen möchte.“

Einen Moment wartete er ab, zeigte sich geduldig und nein, er schauderte nicht, ganz sicher nicht. Und wenn, dann lag das nur am kühlen Nachtwind. Der nicht aus dem Gruselwald kam. Und ihm Fingernägeln gleich den Rücken herabging. Und nein, er schaute sich ganz sicher nicht um, ob wirklich irgendwer mir Fingernägeln auf seinem Rücken herumkratzte. Und sei’s nur Ahillea selbst, die sich einen Spaß erlaubte.

Doch als sie nicht weitersprach, seufzte Vetus leise. „Du willst da hin, nicht?“

Er erinnerte sich noch deutlich zu gut an Lichtenstein. An die Vorbereitungen, insbesondere. Wie breit grinsend sie ihn auf eben diese Frage umarmte und meinte, dass sie schon geglaubt habe, er würde nie fragen. Damals hatte er sich von ihrer Nähe, ihrer Wärme, ihrer weichen Haut und ihrem verlockenden Duft betören lassen.

Würde er vermutlich noch immer. Es würde immer funktionieren… immer

Doch Ahillea schüttelte leicht den Kopf, nachdem sie selbst etwas entrückt gewirkt hatte, den Wald und seine Burg anstarrend. Etwas war hierbei anders. Sie war abenteuerlustig, neugierig, wollte die Welt sehen und war sich weder zu fein für Blut und Dreck, noch zu schüchtern bei all ihren gruseligen, boshaften und düsteren Winkeln. Aber hier zögerte sie. Sein fragender Blick brachte sie zwar zum Reden, aber das gab ihm nur wenig Antwort. „Es gibt Geschichten, die unangerührt bleiben sollten.“

Er nickte, ohne zu begreifen. Das hier war… gruselig genug gewesen. Es bedurfte eines Bruches mit der Stimmung. Er hatte diesen Hügel angesteuert. Er hatte diese Route festgelegt. Er… hatte Pläne. Die keine Schauergeschichten beinhalteten. „Wart‘ mal kurz hier, bin gleich zurück!“, meinte er grinsend und legte noch ein paar Holzscheite ins Feuer, damit es wärmer, vor allem aber heller wurde, ehe er davonschlich.

Von Süden waren sie gekommen und von Süden war der Anstieg des Hügels steiler. Kürzer, aber steiler. Auf der Nordseite lief er langsam und gemäßigt ins Land hinaus aus – und war bewachsen mit einer wundervollen Sorte magischer Blumen. Man nannte sie Nachtschatten oder so ähnlich. Am Tag waren ihre Blüten geschlossen. Bei Nacht dagegen öffneten sie sich in einem beeindruckenden, nächtlichen Blauschwarz, voller kleiner, konzentrierter Punkte von Lumineszenz. Als würde der Nachthimmel selbst aus dem Gewächs erblühen. Dazu kam ihr betörender Geruch.

Ahillea hätte ihm möglicherweise erklären können, warum dieses Grünzeug nur hier in Bervenia zu finden war. Oder warum hier auf der Nordseite dieses Hügels ein ganzer Schwung davon wuchs, aber nicht auf dem Hügel selbst oder der Westseite. Er selbst verstand davon eigentlich nur: Sie waren hübsch, sie rochen gut. Entsprechend klaubte er sich ein paar der Pflanzen zusammen, sog probehalber nochmals ihren Duft kurz ein und nickte sich selbst zu.

Mit den ersten Schritten zurück kam jedoch das Zögern. Er verweilte. Tigerte wenig später auf und ab, ging seine Rede nochmals durch. Sein Herz schlug ihm von den Knien, in die es gerutscht schien, bis zum Halse herauf. Vielleicht versuchte es seine Kehle als Startrampe für seine Flucht zu nutzen. Seine Hände waren schwitzig, seine Stirn fühlte sich heiß brennend an und schlimmer noch war es an seinen Ohren, die sicherlich inzwischen als Signallicht für einfliegende Magier dienen könnten…

Wie oft hatte er ihr jetzt schon zu sagen versucht, was er für sie empfand?

Es hatte viele Gelegenheiten gegeben. So manche davon war von ihm selbst arrangiert worden. Und Vetus bezweifelte nicht, das Ahillea es wusste. Aber sie wartete ab, überließ es ihm. Seinem Tempo. Und er wusste nicht, ob er ihr dafür grollen oder danken sollte. Heute aber, heute würde er es ihr endlich sagen. Er würde. Er musste. Musste einfach.

„Alles nicht so schwer“, sprach er sich selbst zu, „Gib ihr Blumen, sag „Ich liebe dich“, fertig. Kein Ding, wirklich.“ Nochmals sich zunickend und schwer schluckend, trat er nun doch seinen Rückweg an.

Kaum an der Hügelspitze angelangt, erstarrte er jedoch abrupt. Der Blumenstrauß fiel ins weiche Gras und ganz ohne die Untermalung einer epischen Hymne glitt die Klinge in einer rasanten Bewegung aus der Scheide, während Vetus bereits auf Ahillea und den Fremden zustürmte.

An sich gab es keinen Grund zu sofortiger Aggression. Ahillea schien nicht verletzt. Äußerlich. Doch da saß dieser sehr mit sich selbst zufrieden wirkende Elb und strich ihr über Stirn und Haare, ihren Kopf auf seinen Schoß gebettet. Sie konnte – konnte – einfach nicht schlafen. Also hatte er etwas getan. Irgendwas.

Geistmagie war unter Elben extrem selten. Aber es war möglich. Und was immer sie gerade durchleiden mochte, würde mit seinem Tod enden! Er stürmte auf den Angreifer zu, wie er dort am Boden kniete, ihm zulächelte, die Hand hob, ihn… von den Füßen riss? Vetus begriff zunächst selbst kaum, was vor sich ging, als er zurückgeschleudert wurde. Mit solcher Wucht traf ihn die unsichtbare Kraft, dass alle Luft aus seinen Lungen gepresst wurde und er die Klinge fallen ließ.

„Tapfer und mutig, keine Frage“, erklang die Stimme des Elb, „Aber ich muss mich doch fragen, ob einfach ganz grundsätzlich jeder so behandelt wird, der unverhofft auftaucht.“ Vetus wartete keine Erklärung ab. Den Dolch gezogen, versuchte er es erneut und unter dem Kopfschütteln des Spitzohrs wurde er abermals von dieser seltsamen Kraft getroffen und zurückgeschleudert. Und das, obwohl er die Handgeste kommen sah, sich gegen die Kraft zu wappnen, ihr sogar auszuweichen versuchte. Abermals landete er ein paar Meter weiter hinten im Dreck, hatte den Dolch nun auch irgendwo im Flug verloren. „Wir können dieses Spiel die ganze Nacht treiben, natürlich. Aber um ehrlich zu sein, ich habe kein Interesse daran. Sollen wir also zur Sache kommen?“

„Lass sie frei!“, verlangte Vetus aufgewühlt, die Worte des Elb ignorierend.

„Nein“, erwiderte der schlicht.

Verdutzt blieb Vetus einen Moment stehen, hielt inne. Lange genug, um die früher gesprochenen Worte zu begreifen. Dieses simple „Nein“ hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Es klang nicht wie eine Drohung. Darin lag kein Trotz. Keine Herausforderung. Es war so… seltsam neutral. „Wer-“, hob er an, besah sich dann jedoch den Eindringling erstmals näher. Die Ohren waren spitz, sicherlich – doch das Gesicht war zu markant. Nicht weich genug für einen Elb. Die Schultern zu breit. Die Oberarme zu kräftig. Natürlich gab es Elben, die sich körperlich fit hielten, nur… waren die wiederum selten in schicke, auffällig gefärbte und eindeutig aus sündhaft teuren, hochwertigen Stoffen gewebte Roben gekleidet.

Ein halbelbischer Magier also? „Was seid ihr?“, korrigierte Vetus nach einem Moment, einer dumpfen Ahnung folgend.

Der Fremde schmunzelte sichtlich amüsiert. „Gut, ausgezeichnet! Leute mit Verstand. Genau, was ich brauche. Ihr wart entgegenkommend, das weiß ich natürlich zu schätzen und diese amüsante kleine Anekdote über den Wald war auch erfrischend.“ Vetus gefror ein wenig das Blut in den Adern. Wie lange war dieser Bastard schon hier und hatte sie belauscht…? Wozu das alles überhaupt?

Die Fragen wurden sehr zu seinem Unbehagen kurz darauf beantwortet, als der Halbelb sich ein wenig gerader aufsetzte und dann… einen Teil der Illusion fallen ließ. Haut blätterte von seinem Gesicht. Was noch an Haut blieb, wurde aschfahl. Seine Augen fielen ein, seine Haare verfärbten sich von ihrem Dunkelbraun in ein fahles Weiß. Nur für kurze Zeit, wenige Sekunden, erhaschte Vetus einen Blick auf die vom Verfall gezeichnete Fratze des Untoten. Er hoffte inständig, dass es sich um einen Nekromanten im Endstadium handelte – denn die Robe ließ, falls das nicht zutraf, nur eine einzige andere Option zu… die deutlich unangenehmer und weit gefährlicher wäre: Ein Lich.

„Erlaubt mir, mich vorzustellen. Ihr dürft mich Ithildalin nennen. Erlaubt mir weiterhin, ein paar Fragen vorwegzunehmen. Nein, eure Angebetete hier ist nicht tot – noch nicht. Ja, sie steht aktuell unter einem Schlafzauber. Ja, ich sagte ‚noch‘. Sie ist von mir vergiftet worden. Das Gift ist magischer Natur und wird sie binnen einer Woche dahinraffen. Im Anschluss wird sie als eine der Unseren wiederauferstehen. Vielleicht mache ich sie ja zu meiner Konkubine? Mal sehen.“ Unweigerlich wanderte Vetus Blick umher, auf der Suche nach den Waffen. Natürlich könnte er sich auch einfach verwandeln. Könnte seine wahre Form annehmen und dieses Monster angreifen.

Aber er war ein Lich. Und die waren mächtig. Unterschiedlich mächtig, gewiss, aber mächtig allesamt. Selbst in seiner wahren Gestalt hätte er ihm vermutlich nicht viel entgegen zu setzen. Dann jedoch wusste sein Gegner, womit er es zu tun hatte und konnte ihn, schlimmstenfalls, einfangen. Das durfte nicht geschehen. Aber er konnte auch Ahillea nicht zurücklassen. Zerrissen zwischen dem Widerspruch harrte er aus. „Es gibt natürlich einen Grund, warum sie noch lebt. Genauso, wie es einen Grund für die äußerst spezifische Art ihres Dahinsiechens gibt. Es dauert einige Tage, den Wald zu durchqueren und ich rechne innerhalb des Hains mit gehörigem Widerstand. Ich habe euch also sogar, freundlich und zuvorkommend, wie ich bin, einen großzügigen Puffer eingerechnet. Ihr werdet euch zu diesem Schloss begeben und mir ein Buch beschaffen.“

Fassungslos starrte Vetus ihn an. Er fing sich jedoch rasch. Er hatte keine Zeit zu vertrödeln. Nur mit Mühe konnte er seinen Blick von Ahillea losreißen und ließ ihn abermals über den Wald schweifen. Kein Grusel, keine Gänsehaut. Diesmal nur Pragmatismus. Kühle Berechnung. Marschgeschwindigkeit, Entfernung abschätzen, Widerstand einkalkulieren. „In einer Woche schaffen wir es rein – aber ehe wir wieder draußen sind, wäre sie tot.“ Untot, korrigierte er in Gedanken und verzog das Gesicht.

„Oh aber keineswegs. Sobald ihr das Buch beschafft habt, werde ich uns wieder hinaus teleportieren“, gab der Lich gut gelaunt zurück.

„Wenn ihr das könnt, warum dann dieses Schauspiel? Warum nicht einfach hinein teleportieren?“, schoss Vetus sofort zurück.

„Glaubt ihr, dass ich das nicht längst getan hätte, wenn es so einfach wäre?“ Es gab also Grenzen. Irgendwelche Grenzen, unbekannte, nicht näher definierte Grenzen, aber es gab sie. Das war ein Anfang.

„Dann sollen wir euch ins Schloss bringen?“, widmete sich Vetus zunächst wieder der naheliegenden Zielsetzung.

„Nein. Ich kann das liebreizende Gemäuer nicht betreten. Ich begleite euch zum Schloss. Dort warte ich darauf, dass ihr mir das Buch heraus bringt. Dann bringe ich uns hierher zurück und alles wird gut für euch zwei Turteltauben.“ Diese Zufriedenheit, die Selbstgefälligkeit, das herzliche Lächeln, Vetus wurde aggressiv davon allein, ihn nur anzuschauen, ihm zuzuhören.

Grimmiger als zuvor nickte er. „Woran erkennen wir das Buch?“

„Es hat einen Einband und Seiten. Also wirklich, stellt euch nicht so an! Glaubt ihr, ich würde unpräzise von einem Buch sprechen, wenn es auch nur die geringste Möglichkeit gäbe, das ihr mir stattdessen aus Versehen das Kochbuch anschleppt?“

Der Spott reizte ihn weiter, doch Vetus beherrschte sich. Hielt sich mit Blick auf Ahillea vor Augen, worum es hierbei tatsächlich ging. In diesem ganzen, beeindruckenden Gemäuer gab es also genau ein Buch. Ein einziges. Ithildalin schien bemerkenswert gut über das Bauwerk informiert zu sein, dafür, dass er nicht einfach hineinteleportieren oder es offenbar überhaupt auch nur betreten konnte…

„Mit was müssen wir im Schloss rechnen? Und im Wald?“ Die Fragen waren naheliegend, nicht? Er schien sich sehr gut auszukennen. Also wusste er höchstwahrscheinlich weit mehr, als er sagte und es war Vetus‘ Aufgabe, die richtigen Fragen zu stellen…

„Im Schloss selbst sollten sich eigentlich nur Wilhelm und Mor’nan aufhalten“, rätselte der Lich zunächst und seufzte auf Vetus‘ drängenden Blick hin, „Ein anderer Lich und sein Wiedergänger.“

Das wiederum… verwirrte Vetus. Über Untote war wenig bekannt, sehr wenig. Und je höher man in der Hierarchie kletterte, desto weniger wusste die Welt darüber. Wiedergänger waren Geister, gebunden an Rüstungen. Ein Lich war ein mächtiger, untoter Zauberer. Aber… „Ein Lich bestiehlt den anderen? Ist das… normal?“ Vielleicht gab es deshalb immer wieder zum Scheitern verdammtes Aufbegehren der Untoten? Vielleicht war König Xaraks Regentschaft gar nicht so unangefochten und einheitlich, wie man glaubte?

„Ich stehle nicht“, beharrte Ithildalin plötzlich etwas erbost, „Ich leihe es mir aus.“

„Und dann?“, hakte Vetus sofort nach.

„Dann ist dein Mädchen tot, weil du es für eine brillante Idee gehalten hast, unser aller Zeit mit überflüssigen Fragen zu verschwenden! Wenn du dann soweit wärst, lasse ich sie aufwachen.“ Da… hatte er offenbar einen Nerv getroffen. Vetus nickte langsam. Egal, was geschah – er würde Ahillea nicht in Gefahr bringen. Nicht noch mehr, verstand sich. Oh hätte er den Gerüchten und diesen verflixten Wald doch nur mehr Beachtung geschenkt…! Sie hätten nie in die Nähe kommen sollen.

Ithildalin beruhigte sich wieder und sprach eine Zauberformel, ehe er Ahillea über das Gesicht strich. Er bettete ihren Kopf auf dem Grund, erhob sich und trat einige Schritte zurück. Vetus… nickte ihm dankbar zu. Er hasste und verachtete diese Kreatur aus tiefstem Herzen, er wollte ihn in Stücke reißen, er wollte seinesgleichen von der Welt tilgen, aber… dennoch besaß er genug Manieren, zu erkennen, das Ithildalin gerade etwas getan hatte, dass er nicht hätte tun müssen.

Hastig stürzte er zu Ahillea, die sich langsam unter einem Ächzen wandte und aufzurichten begann. „Vorsichtig. Mach langsam“, wies er sie zurecht. Der besorgte Tonfall in seiner Stimme, der Ernst in seinem Gesicht – das musste es sein, was sie zunächst die Umgebung ignorierend ihn sehr eindringlich mustern ließ. Erst auf die Frage hin, was geschehen sei, erst auf sein Nicken in Richtung des Lichs hin, schien sie ihre Umgebung auch wieder zu registrieren.

Es dauerte nicht lange, ihr zu erklären, was vorgefallen war. „Er war hier, wissen die Götter wie lange schon. Er hat uns belauscht und entschieden, dass wir gut genug für seinen kleinen Botengang sind. Also hat er dich per Magie eingeschläfert und vergiftet. Er ist ein Lich. Und du wirst binnen einiger Tage-“

„Exakt sieben Tage“, warf Ithildalin mahnend ein. Vetus nickte.

„-binnen sieben Tagen ebenfalls zu einer Untoten. Es sei denn, wir schaffen es durch den Wald. Auf der Strecke begleitet er uns. Dann zum Schloss, wo er warten wird. Wir gehen hinein, müssen uns vermutlich mit einem anderen Lich und einem Wiedergänger anlegen und ihnen ein Buch abjagen. Das bringen wir zu ihm raus. Er teleportiert uns hierher zurück und hebt das Gift auf. Und keine Macht dieser oder anderer Welten wird ihn retten können, wenn er das nicht tut“, mahnte Vetus wenig subtil in Ithildalins Richtung starrend, brennenden Blickes. Der zuckte lediglich unbekümmert mit den Schultern und ließ die Drohung an sich abprallen.

Was daraufhin ein wenig dauerte war, bis Ahillea die neue Situation begriffen hatte. Vetus hätte gerne bei ihr gesessen. Hätte sie im Arm gehalten, beruhigend auf sie einwirken wollen. Als sie tatsächlich zu weinen begann – still, doch das Beben ihrer Schultern verriet sie dennoch -, war er bei ihr. Hielt sie, so lange er konnte, so fest er konnte. Ithildalin rollte mit den Augen und Vetus ignorierte die Geste bestmöglich. Er hatte, bis zu diesem Punkt, stattdessen das Lager abgebrochen.

Und bereute mehr denn je, in den letzten Nächten immer wieder die nächsten paar Meilen ausgespäht zu haben, im Flug hoch über dem Boden, während Ahillea schlief und er… eigentlich auch hätte schlafen sollen. Dadurch waren seine Nächte die letzte Zeit ohnehin schon deutlich kürzer gewesen und nun musste er wohl oder übel eine ganze Weile komplett darauf verzichten. Im Wald zu rasten kam gar nicht in Frage. Nicht, wenn es dort tatsächlich vor Untoten wimmelte. Ithildalin musste nicht schlafen, doch was hieß das schon? Würde der Lich sie wirklich im Angriffsfall warnen? Untote hatten Zeit. Starben sie, würde er eben auf die nächsten Lakaien warten, die er anwerben konnte. Zumal weder er noch Ahillea sich auf seine Hilfe tatsächlich verlassen würden.

Eine Woche ohne Schlaf. War das überhaupt möglich?

Nachdem Ahillea sich beruhigt hatte, half er ihr auf. Redete auf sie ein. Erklärte ihr Unsinnigkeiten. Dass das Lager abgebrochen war. Dass sie noch ihre Sachen einsammeln musste. Redete einfach immer weiter, damit sie seine Stimme hörte. Und bemühte sich, ihre Gedanken auf die Aufgabe zu konzentrieren. Er ahnte, wohin sie schweifen würden, sollte er ihr genug Zeit und Gelegenheit dafür geben. Und so waren nicht einmal zwei Stunden vergangen, vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an der Hügelspitze an bis zu ihrer Abreise zu dritt.

 

Vor der Baumgrenze stehend, starrten sie in die Dunkelheit unterhalb der Kronen. Ithildalin hielt sich zurück, sagte nichts, lief ein Stück hinter ihnen. Sie waren beide dankbar dafür, wenngleich keiner das äußerte. Ihren Mut zusammenkratzend, traten sie ein und… wurden nicht sofort gefressen.

Lange dauerte es jedoch auch nicht, ehe man genau das versuchte.

Die Orientierung im Wald zu behalten war schwierig genug, aber für so etwas gab es den Kompass in ihrem Gepäck und Vetus war dankbar für so allerhand magisch verzauberten Schnickschnack, den sie hatten – die endlosen Wasserflaschen, beispielsweise. Denn obgleich Ithildalin kurz nach Eintritt in den Wald erklärte, das er Wasser herbeizaubern könne, das seinem Ehrenwort nach sauber und genießbar war, waren doch weder Ahillea noch er selbst geneigt, irgendetwas auf sein Wort zu geben. Nur den Proviant würden sie sich sehr knapp einteilen müssen. Eigentlich hatte er mit einem Gasthaus nach zwei weiteren Tagesreisen gerechnet…

Die Baumgrenze und das freie Land dahinter waren außer Sicht geraten, die Schatten um sie herum wurden scheinbar dunkler, lebendiger – vermutlich eine Täuschung, Einbildung aufgrund der Geschichte – als tatsächlich ein Angriff erfolgte. Ganz wie man es von den meisten Untoten erwartete, konnte man ihn gut kommen sehen. Kadaver, die in ihre Richtung wankten. Eine Weile gelang es Vetus und Ahillea, sie schlicht zu umgehen, ihnen auszuweichen. Manche der verrotteten Leichname trug noch immer Teile von Rüstungen oder verkommene Waffen und Schilde. Die Mehrheit wirkte alt, sehr alt. Doch ein paar wenige waren sehr viel frischer, als Vetus zu bedenken lieb war.

Sie wirkten wie Abenteurer.

Wie lange trieb Ithildalin dieses Spiel schon? Wie viele hatte er schon hier hinein begleitet? Ging es wirklich um die Beschaffung eines Buches oder… war das nur seine Version, seine Legionen mit neuen Kadavern zu bestärken?

Doch Vetus bemühte sich, sich nicht darüber den Kopf zu zerbrechen. Konzentrierte sich stattdessen darauf, Ahillea gut im Auge zu behalten. Sie wirkte… desorientiert? Tief in Gedanken und unaufmerksam. Ungewöhnlich still für sie. Angesichts der Umstände vermochte er ihr das schwerlich vorzuwerfen. Als jedoch der Kreis der Leichen sich um sie herum zu eng zog, zeigte sich auf schmerzliche und erschreckende Weise, was für ihn in diesem Wald die tatsächlich schwierigste Herausforderung werden würde: Ahillea am Leben zu halten.

Ohne Rücksicht auf das eigene Wohl warf sie sich mit ihren Dolchen dem Feind entgegen.

„Ah, das würde ich lassen“, merkte Ithildalin im Hintergrund an, als Vetus seine Klinge zog und seiner Liebsten zur Seite eilte. Es zeigte sich rasch, worin der Ratschlag begründet lag. Die Untoten machten keinerlei Anstalten, zuzuschlagen. Sie hoben die Arme, sicherlich, und diese Arme waren gelegentlich mit Waffen bestückt. Aber im Grunde mimten sie nur Angriffsverhalten. Die wahre Gefahr bestand darin, seinerseits sie zu attackieren.

Die dünne, fast schon pergamentartig wirkende Haut stand unter Druck. Erst als Vetus den ersten Streich führte, als etwas aufplatzte und unzählige Spritzer ihn an Hand und Arm trafen, wie Feuer brannten und seine Haut versehrten, wurde es ihm klar und er wagte einen genaueren Blick auf den Gegner. Das waren keine gewöhnlichen Untoten, keine herumwankenden Kadaver wie man sie aus den Geschichten kannte.

Ihre Leiber waren über und über mit Taschen verstehen, knapp unter der Haut, umhüllt von verrottendem, fauligem Fleisch, das offenkundig irgendwie magisch sein musste. Anders ließ sich nicht erklären, warum die in diesen Taschen gespeicherte Säure ihre eigenen Körper nicht zerfraß. Doch jeder Schlag auf die Leiber ließ mehrere der unter Druck stehenden Taschen aufplatzen. Nicht nur er bekam das zu spüren – Ahillea kämpfte mit Dolchen. Die eine sehr viel kürzere Reichweite hatten. Hastig zog er ihre Hand fort, sie gleich mit, und gab ihr während der Flucht um einige Schritte einen der letzten Heiltränke, die sie noch hatten.

Der Trank hätte die Verätzungen an ihrer Hand vollständig schließen sollen. Stattdessen schien das Gewebe lediglich zu vernarben. Als wäre es eine alte Wunde, keine Frische. Seine Klinge hatte Vetus indes fallen gelassen und angesichts der stetig und langsam nachrückenden Legionen war sie inzwischen auch schlicht  verloren, lag irgendwo unter den achtlos darüber hinwegtretenden Füßen. „Was sind die?!“, verlangte Vetus zu wissen, während er sich mit Ahillea weiter flüchtete.

„Eine Neukreation“, kam es aus einer anderen Richtung. Vetus blickte sich nach deren Quelle um und sah, sehr zu seiner maßlosen Frustration, Ithildalin seelenruhig – oder wohl eher seelenlos – zwischen den Untoten herumspazieren. „Der gewöhnliche Kadaver, wie ihr ihn nennt, ist nicht sehr effektiv, nicht? Aber stell dir nur vor, man würde ihn mit etwas Effektiverem kombinieren. Beides sieht identisch aus. Simple, nahezu geistlose Kreaturen, die daher schlurfen und beide machen ja auch Anstalten, anzugreifen, nicht? Also lieber schnell zuschlagen und schon hat man das Gesicht voller Säure.“

Vetus war schlichtweg angeekelt. Von den Untoten ein wenig, sicherlich – der Geruch, der von ihnen ausging, förderte seinen Brechreiz in einem schwer zu ertragenden Maß. Doch mehr noch von Ithildalins sichtlicher, hörbarer Begeisterung ob dieser Weiterentwicklung. „Wie schön für euch!“, spuckte Vetus erbost aus, „Wie wäre es aber, wenn ihr uns helft?! Ihr wollt doch dieses dämliche Buch, oder nicht?!“

Ithildalin schloss zu ihnen auf, nach wie vor ohne auch nur von den anderen Untoten beachtet worden zu sein. „Oh ich fürchte, das kann ich nicht. Meine Kräfte hier im Wald sind ein klein wenig eingeschränkter als zuvor und selbst wenn ich im Vollbesitz meiner Mächte wäre, so kann ich nicht willentlich die Hand gegen einen anderen Untoten heben. Naja allemal nicht gegen die, die nicht unter meinem Kommando stehen. Hat was mit der Hierarchie zu tun.“

Vetus nickte verstimmt, verbuchte es einmal mehr unter der Sparte für interessante Details über Untote – und zumindest vorläufig unter unnütz. „Hättet ihr uns nicht vorwarnen können, das ihr nicht einen Finger krümmen werdet?!“

„Hätte ich vermutlich, ja…“, erwog der Halbelb, zuckte dann jedoch mit den Schultern, „Hab ich vergessen.“

Selbst ohne die ohnehin katastrophalen Umstände, selbst ohne sein Dasein als Lich, selbst ohne den Wald und die Vergiftung und all das hätte Vetus ihm an dieser Stelle nur zu gern die Hände um den Hals gelegt und ihn zumindest ein klitzeklein wenig erwürgen wollen…

Er hielt Ahilleas Hand noch immer fest umschlossen, lief mit ihr Seite an Seite unter ‚angreifenden‘ Untoten hinwegduckend, während Ithildalin sich offenkundig nicht dazu überwinden konnte, zu rennen. Da er jedoch einen sehr viel direkteren Weg einfach laufen konnte, war generell für ihn kaum ein Problem, nicht zu weit zurückzufallen. Dann jedoch blieb Vetus abrupt stehen. Etwas stimmte nicht. Etwas mit dem Boden ein paar Dutzend Meter vor ihnen stimmte nicht…

„Warum-… was ist das?“, verlangte Vetus zu wissen.

Ithildalin hingegen stieß zu ihnen auf und besah sich, wie der gesamte Boden scheinbar in Bewegung zu sein schien. „Hm. Gute Frage“, lautete zunächst seine Antwort, während die seltsame Bewegung immer näher und näher zu kommen schien. Erst als sie bis auf wenige Meter heran war und Vetus abermals begonnen hatte, zurückzuweichen und mit Ahillea einen Umweg zu suchen – dabei war die Front der Bewegung viele Meter breit -, schien sich der Lich zu entsinnen. „Ah natürlich! Das werden dann vermutlich die Madenschwärme sein.“

„Die… die was?!“, brachte Vetus ungläubig hervor. Ithildalin trat vorsichtig zwischen das Gewusel und schien abermals ignoriert zu werden, während Vetus mit Ahillea einen großen Umweg gehen musste. Schon wieder. Dabei schien das Gewusel ihnen folgen zu wollen – wie auch die Kadaver um sie herum und… wussten die Götter, was noch alles. Allmählich wurde es enger und schwieriger, Auswege und Fluchtpfade zu finden.

„Nun, wir beziehen viele unserer untersten Truppen aus Leichen, die schon ganz grundsätzlich nicht mehr so wirklich… frisch sind. Maden sind da sehr weit verbreitet. Also dachte ich mir: Warum sie nicht nutzbar machen, hm? Ich habe ein wenig mit Schwarmintelligenzen herumgespielt und versucht, herauszufinden, ob man Maden eigentlich untot machen kann. Ich kann dir sagen: Es war eine verflixt kleinliche Arbeit. Jedes dieser kleinen Biester einzeln umdrehen… da wird man wahnsinnig. Glücklicherweise sind mir ein paar Gnome mit Ferngläsern in die Arme gerannt, gewissermaßen. Die Linsen waren ihr Gewicht in Diamant wert! Man weiß gar nicht, wie sehr so kleine, feine Arbeiten auf die Augen gehen, bevor sie einem tränen… würden… schätze ich.“

Die Vorstellung, wie Ithildalin mit Lupen an einem Arbeitstisch saß, einen gewaltigen Korb voller sich windender Maden neben sich stehend, während er mit der Pinzette eine heraus pickte, damit was-auch-immer tat und sie in einen noch fast leeren Korb auf der anderen Seite fallen ließ, war… absurd. Absurd und verwirrend und lächerlich. Aber von alledem gewiss nicht genug, um über ein Detail hinwegzutäuschen.

Du hast diese Dinger gebaut?!“, fauchte Vetus der Raserei näher als ihm lieb war.

„Ich weiß nicht, ob ich wirklich von bauen sprechen wollen würde, aber sie sind meine Kreationen“, erwiderte Ithildalin mit einem gewissen, selbstzufriedenen Stolz in der Stimme. Er wich überdies mühelos dem Dolch aus, den Ahillea nach ihm warf und schien ihr das nicht einmal weiter übelzunehmen – immerhin ging er mit keiner Silbe oder auch nur irgendeiner Geste darauf ein.

„Sonst noch etwas, wovon wir wissen sollten?“, fluchte Vetus, während er seinen Fuß aus dem Gewimmel zog. Die Maden waren untot oder auch nicht, das spielte letztlich kaum eine Rolle. Verfressen waren sie. Sie brachen in großer Zahl aus der Schicht toter Blätter und anderen Unrates hervor, die dünn den Waldboden bedeckte und türmten sich rasch zu beeindruckenden Größen auf. Sie hatten versucht, ihn zu fressen – hunderte winzigster Bissspuren am Leder seines Schuhs konnten das bezeugen. Doch im Moment hatte Vetus dafür keinen Nerv übrig, eilte stattdessen weiter und hoffte, betete insgeheim, das Ithildalin einfach sagen würde: Nein, nein – das war’s, mehr gibt es hier nicht.

Stattdessen jedoch…

„Nun, da du es erwähnst…“

Was?“, fauchte Vetus herrisch.

„Deine Herzallerliebste hat doch dieses Messerchen nach mir geworfen. Das ist da drüben in der Baumrinde gelandet. Und besagter Baum ist jetzt sauer“, erwiderte der Lich unter einem heiteren Glucksen und lief einfach weiter. Vetus dagegen starrte in die gewiesene Richtung und sah tatsächlich, wie der Baum seine Wurzeln aus dem Erdreich riss und begann, sich kriechend langsam in ihre Richtung zu bewegen.

„Was ist das?!“ Er begann diese Frage zu hassen. Vor allem, weil ihm allmählich ahnte, dass er sie nicht zum letzten Mal stellen würde.

„Ich nenne sie Henkersbäume. Schlingpflanzen haben ganz bemerkenswerte parasitäre Eigenschaften. Sie können Bäume regelrecht erdrosseln, sich in sie hineinwachsen lassen. Entgegen dem, was man glauben mag, sind Henkersbäume keine untoten Bäume, nein – viel zu trivial. Ich habe Schlingpflanzen in unsere Truppen einbringen können, die die Bäume erdrosseln und übernehmen. Und sich dann von den Ästen hängen lassen. Siehst du die da?“ Ithildalin wies auf die Leichen hin, die von manchem Ast baumelten. Mit Schlingpflanzen um den Hals, als hätte man sie aufgeknüpft. „Das sind Zombies. Zugegeben keine sonderlich hochwertige Schöpfung. Nein, eher entbehrlich und primitiv. Aber jeder Henkersbaum kann im Grunde so viele Zombies herumschleppen, wie er starke Äste und ausreichend Schlingpflanzen hat. Und solange sie am Baum hängen, hängen sie zwar auch an der Leine und haben begrenzte Reichweite, aaaber sie regenerieren auch ihre Wunden! Stell dir nur all die Möglichkeiten vor! Nahe des Dorfes den tatsächlichen, echten Henkersbaum ersetzen – und kostenlosen Vorrat bekommen, weil das Dorf seine Mörder aufknüpfen möchte. Oder das Liebespaar am See wegfangen. So viele amüsante Optionen…!“

Vetus war, einmal mehr in erstaunlich kurzer Zeit, angewidert. Von der schieren Begeisterung, die Ithildalin seinen Projekten entgegen brachte. Vom Eifer, der in seiner Stimme mitschwang, als er über die Möglichkeiten sprach. Und Vetus konnte sich obendrein nicht einer Gänsehaut erwehren, als er andeutete, Paare zu überraschen. Dieser Lich war auf eine der grässlichsten nur vorstellbaren Arten kreativ und es war beängstigend, was seine Schöpfungen vermochten. Doch warum waren diese Kreaturen nicht so weit verbreitet? Warum waren sie nur hier zu treffen? Warum gab es keine Geschichten über die platzenden Kadaver und die Leute erdrosselnden Bäume?

Mehrere Stunden flohen sie. Vetus zog es vor, kein Wort mehr zu verlieren, damit er den Lich nicht doch noch anfallen würde. Ahillea brauchte ihn. Sie mussten es rechtzeitig zum Schloss und wieder heraus schaffen. Doch obgleich er in dieser Zeit die Elbe mit allerhand Geschichten und Rekapitulationen eigener Erlebnisse bei Laune und abgelenkt zu halten versuchte, gelang es ihm nicht, seine eigenen Gedanken zu fokussieren. Immer wieder sann er über dieses Rätsel nach – bis ihm die Erkenntnis kam, als er just eine Geschichte anstimmte, die ihnen vor einigen Wochen passiert war.

Keine große Sache, wirklich. Ein Zwerg und ein Gnom hatten einen Straßenzug in Weißburg in ein Schlachtfeld verwandelt. Sie wohnten auf gegenüberliegender Seite und bewarfen und befeuerten sich mit Granaten und Musketen und allerhand anderem Zeug – was die Straße sehr gefährlich machte. Ahillea hatte, nach einigem hin und her, mit beiden reden und einen Waffenstillstand aushandeln können. Sie brachten beide an einen Tisch und räumten deren Differenzen aus. Es war nicht Vetus‘ liebste Art von Abenteuer, aber ein Abenteuer war es nichtsdestotrotz gewesen.

Was ihn stocken ließ, war die Erinnerung an die Wohnung des Zwergs. Einer der Oberflächler. Krusi oder Kruxi oder so ähnlich nannte man dergleichen wohl. Er hatte einen Arbeitstisch voller Skizzen und Zeichenutensilien gehabt, eine Werkbank  voller Späne aus Holz und Metall, mit einem Schraubstock daran und einer Lötlampe daneben – wobei Vetus nach wie vor nicht wusste, was eine Lötlampe überhaupt war.

Er hatte große Schiefertafeln gehabt, beschrieben in Kreide mit seltsamen Formeln. Kleine, halbfertige Apparaturen standen überall herum, surrten, klickten, klirrten. Es war die Werkstatt eines Erfinders gewesen, eines Schöpfers.

Ithildalin war Erfinder.

Er erfand neue Untote.

Dieser Wald war voller neuer, fremdartiger Untoter – seiner Untoter.

Was sagte das über das Schloss im Zentrum aus? War es seins? Und das Buch? Sofern er nicht gelogen hatte, besaß er keine Macht, Untote anzugreifen, die ihm nicht unterstellt waren. Wieso aber unterstanden ihm seine eigenen Schöpfungen nicht? Oder nicht mehr? Vielleicht war das Buch der Schlüssel, um die Kontrolle über sie zu erlangen?

„Dieses Buch“, hob Vetus einer Überlegung folgend an, „Es ist deins, nicht wahr?“

„Kluges Köpfchen.“ Und das war’s. Mehr kam nicht. Keine Erklärungen, keine schnippischen Kommentare, keine Selbstverherrlichung. Er hatte also ins Schwarze getroffen. Und zumindest für den Moment war Vetus nicht geneigt, sein Glück und Ithildalins Geduld weiter zu strapazieren. Er konnte die Grenzen des Lichs nicht ansatzweise gut genug einschätzen. Und egal, wie neugierig er war, egal, wie wichtig diese Informationen für die Welt dort draußen und ihren ewigen Kampf gegen den Untod sein konnten – hier ging es um Ahillea. Darum, ihr Leben zu retten. Selbst wenn er dafür diesem Bastard helfen musste, einen Hausbesetzer rauszuwerfen und seine Spielwiese zurückzubekommen…

 

Vier Tage. Der Wald kostete sie vier endlos scheinende Tage.

Irgendwann wurde jeder Schritt schwerer. Wurde es nahezu unmöglich, die Augen offen zu halten. Ahillea taumelte, strauchelte, stolperte. Er ebenso. Meist fingen sie einander ab. Warfen sich müde Entschuldigungen zu, wie einen Ball – hin und her und wieder zurück. Lehnten aneinander. Fanden die notwendige Kraft, weiterzugehen, nur in der Präsenz des anderen. Ihre Muskeln lahmten, ihre Geister zerfaserten. Alles, was sie aufrecht und im Gehen hielt, war der Gedanke, was andernfalls drohen würde.

Sie durften nicht aufgeben. Sie konnten es einfach nicht. Ahillea hatte ab und an kleinere Zusammenbrüche. Sie schluchzte nicht, sie schrie nicht, sie riss sich nicht dramatisch los oder brüllte Ithildalin und den Wald zusammen. Aber er spürte das Zittern in ihrem Körper, sah die Tränen haltlos über ihre Wangen laufen und jedes einzelne Mal brach es ihm das Herz, warf er sich mit neu belebter Intensität vor, nicht genug getan zu haben. Er hatte nicht genug auf sie aufgepasst. War nicht schnell genug gewesen. Hatte sie nicht genug abgelenkt. Nicht genug, nicht genug, nicht genug!

Doch er verbiss sich Kommentare. Schluckte sein Selbstmitleid herunter. Kämpfte um seine Konzentration, seinen Fokus. Darum, wach zu bleiben und sich in jeder Minute mit jedem Herzschlag vor Augen zu halten: Es ging um sie. Er würde sie verlieren, wenn er aufgab. Die ganze Welt würde sie verlieren. Und es wäre ein Verlust. Irgendwie, auf instinktiver Basis, spürte er es. Spürte, dass es ein bedeutsamer Verlust für die Welt wäre… nicht nur für ihn allein. Obwohl das, so kurios es ihm dann und wann vorkam, für ihn sehr viel bedeutsamer war.

Die Welt war die Welt. Groß und weit und unvorstellbar. Er hingegen war hier, nah, greifbar und hatte… Probleme. Spürbare Probleme mit emotionalen Konsequenzen. In manchen Tagträumen, während sie dicht beisammen dahin stolperten, glaubte er sich anders zu fühlen. Als wäre er noch immer Vetus, aber ein anderer Vetus. Ein weit entfernter Vetus. Der kaum noch Begrifflichkeiten für so etwas wie Wut hatte. Oder Ekel. Der kaum noch Verständnis für Liebe oder die Verlockung eines angenehmen Blumenduftes hatte. Und jedes Mal, wenn er aus diesen Tagträumen aufschreckte, fand er sich mit genug Kraft für ein paar resolut gesetzte Schritte, für ein paar entschlossene, tapfere, kraftvolle Minuten, ehe er wieder im Leerlauf dahinstolperte. Denn diese Tagträume waren Horrorvisionen einer Facette seiner selbst, die er nicht werden wollte, um der Götter willen bloß niemals werden wollte!

Er brauchte Ahillea.

Sie durfte nicht sterben.

 

Als sie am fünften Tag das Schloss erreichten, war es… befremdlich. Das hoch aufragende Gemäuer war irgendwann zwischen den vereinzelten Löchern in den Baumkronen sichtbar geworden, natürlich – aber es hatte sich nicht angefühlt, als kämen sie ihm näher. Und wie schon bei Betreten des Waldes setzten sie irgendwann einfach einen Fuß aus der Baumgrenze heraus und plötzlich stand es dort.

„Nun, das war eine wirklich liebreizende Reisegesellschaft. Ich mochte insbesondere den Teil, an dem ihr einander Trost zuzusprechen versucht habt. War alles wirklich sehr dramatisch. Dennoch: So sehr ich eure Gesellschaft auch geschätzt habe und schätze, so muss ich doch von euch scheiden. Husch, husch, ins Körbchen – und viel Erfolg.“ Ithildalin scheuchte sie in Richtung des Burgtores und tatsächlich widersprachen weder Ahillea, noch er selbst. Stattdessen wandte sich Vetus schlicht von dem Lich ab und trat mit der Elbe in das deutlich kühlere Gemäuer ein.

Er glaubte irgendwo in dem riesigen Bauwerk einen Alarm zu hören. Vielleicht war das nur wieder Teil der Einbildungen, die ihn seit vorgestern plagten. Vielleicht klingelte tatsächlich irgendwo eine Warnung und sie würden bald Gesellschaft haben. Es fiel ihm… zunehmend schwerer, sich darum zu sorgen. All seine Gedanken kreisten um Ahillea. Darum, dass sie ein verdammtes Buch brauchte, um weiterzuleben.

Er spürte, wie ihm seine Gedanken immer häufiger entglitten. Wie sich Löcher in seiner Erinnerung auftaten, in denen man dieses Schloss hätte versenken können. Er spürte auch seine mangelnde Wachsamkeit, seine generelle Unaufmerksamkeit. Sie sagte etwas, er nickte – ohne es gehört oder verstanden zu haben.

Ahillea übernahm die Führung. Die verstand vom Herumschleichen sehr viel mehr als er und nach dem Desaster am Lagerplatz und im Wald… nun, sie waren schlicht darauf angewiesen, zu schleichen. Sie waren inzwischen beide unbewaffnet und so talentiert Ahillea im Umgang mit ihrer Magie auch war – in ihrem gegenwärtigen Zustand vermochte sie nicht einmal die primitivsten und simpelsten Zauber zustande zu bringen. Nicht mit jenen rasenden Kopfschmerzen, nicht mit jenem völlig unnütz zerstreuten Fokus.

Also waren sie wehrlos.

Und stolperten in die Höhle eines Lich, der von einem Wiedergänger bewacht wurde. Und hatten prompt den Eingangsalarm ausgelöst. Denn dass das keineswegs Teil einer Einbildung war, wurde spätestens klar, als ein fahles Leuchten die finsteren Gänge erhellte. Ahillea taumelte zu einem der Bücherregale und zog Vetus mit sich, presste ihn dicht an die Wand und sich selbst gegen das Holz des Regals. Keine zwei Meter entfernt schwebte die Geisterrüstung vorbei, ein wirklich eindrucksvoll großes Schwert im gepanzerten Handschuh, der Helm von Stacheln und Hörnern besetzt – ebenso wie die Schulterstücke und Panzerstiefel.

Einige Sekunden zögerte sie, ehe sie Vetus am Kragen seines Hemdes griff und mit sich aus dem Versteck zog. Nur um einige Meter weiter vorne in einen offenen Türrahmen zu schlüpfen, obwohl keiner von ihnen wusste, was jenseits wartete. Der Raum entpuppte sich als ehemalige Küche, nunmehr unbeachtet und verwaist. Dennoch war sie in bemerkenswert gutem Zustand, schien gepflegt… vielleicht sogar gelegentlich benutzt?

Der Grund für das erneute Versteckspiel erschloss sich Vetus erst, als ein maulender, fluchender Lich den Gang herabkam. Er verstand kein Wort des Gesagten, doch die Sprache allein ging durch und durch. Wie ein gespenstisches Wispern, das einem die Knochen zu Eis erstarren ließ.

Auch Ahillea schüttelte sich, rieb sich über die Gänsehaut auf ihren Unterarmen. Nachdem der Lich vorbei war, lösten sie sich abermals und folgten dem Pfad, den die Gegner gekommen waren. Wenn es in dieser ganzen Burg tatsächlich nur dieses eine Buch gäbe… dann würde es höchstwahrscheinlich dort sein, wo der Lich arbeitete – oder nicht? Zumindest erschien ihnen das gegenwärtig die vernünftigste Vermutung unter all dem Kauderwelsch und Wirrwarr, welches ihre Köpfe anfüllte.

Sie fanden dadurch immerhin den Treppenaufgang in die höheren Stockwerke – doch dort angelangt, mussten sie abermals rätseln und raten. Letztlich spielten sie Katz und Maus mit dem Lich und seinem Lakai und das über Stunden hinweg. Schlichen von einem Raum in den nächsten. Duckten sich unter ihren Blicken hindurch, krochen unter Tischen entlang, versteckten sich in alten Schränken und unter Bettgerippen. Es hätte lächerlich anmuten müssen. Zwei der mächtigsten untoten Kreaturen, magisch versiert und physisch imposant, unanrührbar, unbezwingbar… und sie krochen ihnen vor der Nase unter Tischen davon.

Dabei war es nicht einmal die Angst, die sie trieb oder das Wissen um die tatsächliche Realität, die ihnen das Amüsement vergällte. Es war der simple Umstand, das sich über irgendetwas zu amüsieren Energie erforderte, die keiner von ihnen mehr hatte. Jede Form von Mimik war der Anstrengung zu viel.

Erst am Ende des Tages, viele Stunden später, fanden sie endlich in das scheinbare Studierzimmer des Lichs. Das Problem war nur… hier gab es keinen Schrank zum Verstecken. Kein Bett, um flink darunter zu kriechen. Hier gab es einen Arbeitstisch, der nicht ansatzweise tief genug war, um sich erfolgreich darunter verbergen zu können. Und einen Stuhl, den man bestenfalls seiner Beine berauben und als Knüppelspender hätte umfunktionieren können. Der Raum war so eindrucksvoll karg und leer, das Vetus einen Moment brauchte, um die Fatalität der Situation zu realisieren.

Ja, dort lag ein Buch auf dem Tisch. Vermutlich, wahrscheinlich, hoffentlich, das Buch. Aber ihre zwei Gegner waren im Flur direkt vor dem Zimmer. Die Tür hierher lag am Flurende und sie würden unmöglich rauslaufen und in eine andere Tür schlüpfen können, ohne bemerkt zu werden. Dass er die Stimme hören konnte, hieß ohnehin, das der Lich bereits nah war – und auf dem Weg hierher. Es gab zwei Mauerspalte, sicherlich. Aber die waren eben genau das. Spalten im Stein. Sie ließen Licht und Luft ein, waren aber bei weitem zu schmal, um auch nur im Ansatz als Fluchtoption bedacht zu werden. Es gab auch keine weiteren Türen.

Sie saßen schlicht und ergreifend in der Falle.

Mit zunehmender Panik sah sich Vetus um. Es gab keine Waffen. Ohnehin wäre ein Kampf sinnlos gewesen. Es gab keine Flucht. Es gab nichts, sie waren erledigt, es war vorbei. Dann jedoch… blieb sein Blick an Ahillea hängen. Nicht nur stürzte das Mantra abermals auf ihn ein, das er in der einen oder anderen Form seit Tagen im Kopf hatte, sich ständig wiederholend, um ihn irgendwie am Laufen zu halten, auf den Beinen zu halten, wachsam genug zu halten, das die Gegner sie nicht einkreisen konnten, dass sie Ahillea nicht in die Finger bekamen. Nein, sein Blick erfasste die Szene in einer Klarheit, die angesichts seines geistigen Zustandes beängstigend war. Sie stand dort, seine hübsche Geschichtenerzählerin, begeistert von der großen weiten Welt und all ihren Wundern und Schrecken. Mit ihren hübschen roten Haaren, leicht strähnig von der Vernachlässigung der letzten Tage, mit dem einen oder anderen Blatt oder Zweig darin. Sie wirkte erschöpft. Tief eingegrabene Augenringe. Ihr Lächeln war verblasst, fort, geflohen. Ihre Schultern hingen herab. Ihre Kleidung war an manchen Stellen von Säure versehrt, an anderer Stelle vom Unterwuchs des Waldes aufgerissen. Ihre Hand war vernarbt.

Doch mit der Kraft eines Bären umklammerte sie dieses gottverdammte Buch.

Sie drückte es an sich, als gäbe es kein Morgen. Der Gedanke, dem Lich damit zu drohen, man würde es über die Kerzenflamme halten und anzünden, war verlockend. Aber riskant – und Risiko konnten sie nicht gebrauchen. Nicht, wenn es noch eine Option gab. Ein letztes Ass im Ärmel.

Hastig trat er zu ihr heran, griff ihre Schultern und zwang ihren Blick, den seinen zu treffen. „Vertraust du mir?“, spielte er die hässlichste, unfairste Karte aus, die es in sozialer Interaktion jedweder Art geben mochte. Sie zögerte nicht, weil sie nachdenken musste. Sie zögerte, weil das Verstehen der Worte schwer geworden war. Ihr Kopf selbst zäh, träge, schwer. Als sie nickte, fuhr er fort. „Wir werden hier herauskommen, hörst du? Ich bringe dich hier raus. Aber du musst mir vertrauen. Du musst genau tun, was ich sage! Ich habe noch einen letzten Trumpf und dann… dann ist dieser Wahnsinn hier vorbei. Wir suchen uns irgendwo ein hübsches, ruhiges Gasthaus und… und essen und trinken und schlafen so lange und viel, wie wir wollen, ja?“

Tränen perlten abermals über ihre Wangen. Es brach ihm, wie schon zuvor jedes einzelne Mal, das Herz. Sie nickte mit solcher Verbissenheit, dass ihre Kopfschmerzen vermutlich gerade explodieren mochten. Verdenken konnte er es ihr nicht. Diese Rede, die er schwang, musste nach Abschied klingen. Sich wie Abschied anfühlen. Und selbst Vetus wusste nicht ganz zu sagen, ob es nicht möglicherweise sogar ein Abschied war… nur für den Fall der Fälle…

Kurz erwog er, es ihr zu sagen. Das, was er damals, vor dieser gefühlten Ewigkeit, an jenem weit, weit entfernten Hügel vorbereitet hatte. Diese paar kleinen, einfachen Worte. Aber er widerstand dem Drang. Schluckte jenen Impuls herunter. Wenn er hier nicht mehr heraus kam, sie aber schon – warum es ihr dann noch schwerer machen? Sie wusste es ohnehin, musste es wissen. Und falls sie es doch beide herausschafften… nun, dann… würde es sicherlich bessere Gelegenheiten geben als das hier.

„Wenn ich dich rufe, läufst du. Du rennst so schnell du nur kannst zum Ausgang, klar? Sieh nicht zurück, schau dich nicht um, renn!“ Der Tränenschleier in ihren Augen wurde schlimmer, dichter, die feuchten Striemen auf ihren Wangen unübersehbar. Feinste Tropfen perlten von ihrem Kinn, zerschellten am Boden des kargen Zimmers. So gerne wollte er sie trösten. Ihr sagen, dass alles gut werden würde. Dass er direkt hinter ihr wäre. Aber er brachte es nicht übers Herz, sie anzulügen. Die Chancen standen dagegen, dass er hinter ihr wäre…

Als sie abermals nickte, zögerlich, die Arme noch fester um das Buch schlang, erwiderte er die Geste. Um sich selbst Mut zuzusprechen. Ehe er sie losließ. Vetus kannte keine Worte dafür, wie schwer es ihm fiel. Wie schwer es war, einfach nur die Hände von ihren Schultern zu nehmen. Sie nicht zu küssen. Ihr keine letzten, liebevollen Worte angedeihen zu lassen.

Stattdessen wandte er sich um. Die Stimme des Lichs war inzwischen nah, sehr nah.

Er trat neben die Tür, presste sich mit dem Rücken an die Wand, versuchte, den Abstand zu schätzen.

Nah…

Näher…

Jetzt!

Mit einem Schlag wirbelte er herum, trat mit einem großen Satz aus Ahilleas Sichtbereich hinaus, dem Feind entgegen. Der Lich erstarrte überrascht in der Bewegung, der Wiedergänger direkt an seiner Seite. Perfekt. Vetus riss den Mund auf, soweit er konnte und ein Strahl erfasste einen kleinen Teil des Ganges. Eine sichtbare Verzerrung aus Licht und Farben, die den Lich und den Wiedergänger traf. Als der Effekt abklang, schmerzte ihm der Kiefer fürchterlich. Vom Lich aber fehlte jede Spur. Natürlich würde das nur wenige Sekunden anhalten und was noch schlimmer war, der verdammte Wiedergänger war immer noch da.

„Ahillea, jetzt!“, rief er dennoch. Sie würden keine bessere Chance bekommen und konnten es sich nicht leisten, Zeit zu verschwenden.

Wie angewiesen, kam die Elbe aus dem Raum geschossen. Sie sah den Wiedergänger, der – für einen Geist – merkwürdig benommen strauchelte. Er schwang sein Großschwert, als sie angerannt kam, doch die Elbe duckte sich halbwegs geschickt unter dem Streich hinfort. Vetus folgte dichtauf und sah tatsächlich erstmals die Wahrscheinlichkeit in die Höhe schnellen, das er vielleicht doch direkt hinter ihr sein würde…

Zumindest, bis sie die Treppe hinunter ins Erdgeschoss gestürzt kamen und Ahillea eher zufällig stolpernd abermals unter einem Schwertstreich hinfort duckte. Der Lich stand direkt neben ihr und hielt offenbar irgendeinen Zauber vorbereitet. Die beiden hatten sich also ein Stück vorausteleportiert, ihre Route abschätzend. „Renn, renn weiter!“, wies Vetus scharf an und wandte sich abermals den zwei Untoten zu. Ein zweites Mal spie er sie mit einem Strom purer, chaotisch wirbelnder Zeit an und diesmal vermochte keiner von beiden, dem Effekt zu widerstehen. Doch das würde abermals nur wenige Sekunden anhalten. Wie lange, bis ihm die Puste ausging? Jedes einzelne Mal erschöpfte ihn merklich mehr und mehr – und er war auf dem Zahnfleisch kriechend überhaupt erst hier hineingeraten.

Doch tatsächlich schafften sie es bis zur Eingangshalle, das Tor in Sicht. Seite an Seite hielten sie hastig darauf zu. Ahilleas Beine schwächelten, sie stolperte immer mehr. Also griff er sie, stützte sie und zog sie mit aller Kraft weiter. Viel hatte er nicht mehr übrig, aber jedes Quäntchen davon schenkte er ihr.

Und dann tauchten die zwei wieder vor ihnen auf. Unvermittelt. Keine großen Lichteffekte, nichts. Sie waren plötzlich einfach da.

Es war purer Reflex, der ihn erneut speien ließ. Er hatte sich bemüht, Ahillea nichts sehen zu lassen, nichts wissen zu lassen. Sie durfte seine wahre Natur nicht kennen, schon allein um ihrer eigenen Sicherheit willen. Aber in diesem Moment? In diesem Moment war das Tor so nahe und sie standen so kurz davor. Er stand so kurz davor, sie lebend dort raus zu bringen…

Also spie er. Und sie sah es.

Und beide Untoten widerstanden dem Zeitmahlstrom. Dennoch, sie waren benommen und das erlaubte ihnen wie schon zuvor eine kleine Lücke. Gerade genug. Ahillea entkam, von ihm getragen, gezogen, gedrückt, gestoßen – während seine eigenen Beine nun, völlig entkräftet, aufgaben. Sie taumelte, stürzte, rollte unter ächzen und Schmerzlaufen die Treppenstufen der Burg herab, das Buch noch immer fest umklammert und vor die Brust gepresst.

Vetus hingegen lag auf der Torschwelle. Er versuchte, den Kopf zu heben. Sie zu sehen. Aber Ahillea war fort.

Stattdessen spürte er den Stiefel des Wiedergängers, der sich auf seinen Rücken setzte. Gleich käme das Schwert und würde ihn aufspießen, er ahnte es – und wer konnte sagen, was dann erst noch alles auf ihn zukäme?

 

Am Treppenabsatz dagegen trat Ithildalin an Ahillea vorbei. Kurz nur besah er sich das Buch. „Ausgezeichnet“, meinte er und schritt zunächst die Stufen weiter herauf. Vetus sah den Lich in sein Sichtfeld treten, wie er aus den Treppen herauszuwachsen schien, mit jedem ruckartigen Schritt. Er trat bis vor das Tor, aber nicht ein. „Festhalten bitte“, ermahnte der Halbelb mit einem freundlichen Lächeln. Vetus packte blindlings in die Robe hinein, umschloss dessen Knöchel – und plötzlich waren sie einige Meter weiter, grub sich der Stein der Treppenstufen unangenehm in seinen Magen, seine Brust, seine Beine, war seine ganze Perspektive seltsam verändert, wurde ihm speiübel von der Verschiebung. Der Lich hingegen griff nach Ahillea…

… und kaum einen Wimpernschlag später waren sie auf der Hügelspitze.

Ithildalin löste sich aus Vetus‘ Griff und zog am Buch, bis Ahillea es widerwillig freigab. Vorsichtig und sorgfältig öffnete er es und blätterte in den Seiten, ehe er eine kleine Phiole herauszog, offenbar mit Blut gefüllt. „Schlampig, mein Freund, wirklich schlampig…“, seufzte der Halbelb den Kopf leicht schüttelnd.

Er sah sich auf der Hügelkuppe um, zog das verzauberte Fertigcamp aus Vetus‘ Gepäck und öffnete ein neues Lager. Dann zog er Vetus‘ Schwert unter seiner Robe hervor. Einfach so. Und so sehr er es gewollt hätte, Vetus vermochte sich weder darüber zu wundern, woher er es hatte, noch konnte er wirklich die nötige Kraft und Energie aufbringen, um wütend zu sein.

Ahillea war hier. Lag direkt neben ihm.

Er zog sie dicht an sich, spürte ihren Körper beben. Wusste nicht, ob er sie schluchzen oder lachen hörte. Vielleicht beides. Sie hatten es geschafft. Hatten es hinaus geschafft. Waren noch am Leben. Beide. Noch immer vereint. Und es fiel ihm von Atemzug zu Atemzug schwerer, wach zu bleiben. Gerade jetzt und hier, da ihre Nähe ihn einlullte, ihre Wärme ihn so sehr besänftigte. Er würde-

„Ah, ah, ah. Noch nicht“, mahnte der Lich und trat Vetus gegen dessen Gesäß, „Eine letzte Aufgabe. Aber ich denke, die wird deine Zustimmung finden.“ Er zog Vetus am Hemdkragen ein Stück von Ahillea fort und drückte ihm stattdessen sein Schwert in die Hände. Er zerrte ihn sogar auf die Füße und half ihm, zu stehen, nachdem seine Beine sofort wieder nachgeben wollten.

„Was… was denn nur noch?!“, hakte Vetus nach. Nicht aus wirklichem Interesse. Er konnte sich einfach nicht mehr interessieren. Aber es war wichtig, zu wissen, was von ihm erwartet wurde – nicht wahr? Immerhin galt noch immer: Es ging um Ahillea. Sie war gerettet, aber sie war noch nicht… gerettet.

„Sobald ich sein Phylakterion ins Feuer werfe, wird ein von meinem guten alten Freund Moru’nan leichtfertig daraufgelegter Zauber getriggert und er wird zur Position seines Phylakterions teleportiert. Sobald er hier ankommt, wirst du ihn töten. Ich empfehle, den Kopf abzuschlagen. Der dürfte sich ungefähr auf dieser Höhe befinden.“ Ithildalin wies ihn an, demonstrierte, deutete. Vetus begriff nur die Hälfte und nickte dennoch.

Er sollte sein Schwert schwingen. In einer Horizontalen. Mit so viel Kraft, wie möglich. Um Ahillea zu retten.

Das würde er sicherlich noch irgendwie können.

Und als der Halbelb die Phiole ins Feuer warf und der Lich tatsächlich auf die Hügelspitze teleportiert wurde, da funktionierte Vetus nur noch. Mechanisch und steif und ohne nachzudenken. Er holte in einer weiten Drehung aus, während der Lich schockiert Ithildalin anstarrte, der ihm – genüsslich grinsend – zuwinkte. Und dann schlug er ihm den Schädel ab. Was sein Schwert schon immer so… rasiermesserscharf gewesen?

„Vielen Dank“, erklärte Ithildalin höflich, nachdem er sichergestellt hatte, dass das Phylakterion tatsächlich zerstört war und Moru’nan nicht zurückkehren würde. Nie wieder.

Der Halbelb trat daraufhin zu Ahillea herab und zauberte erneut etwas. Vetus besaß genug Geistesgegenwart, zuzuhören und erkannte es tatsächlich als irgendeine seltsam abgewandelte Form der Zauber, die Jebiskleriker üblicherweise zum Neutralisieren von Giften verwendeten – offenbar vermischt mit einer Formel, die normalerweise zum Brechen von Flüchen angewandt wurde.

„Wenn ihr das nächste Mal durch schreckliche, schreckliche Dinge hindurchstolpert“, begann der Lich, während er sich wieder aufrichtete, „dann erzählt einander vielleicht hiervon, hm? Wie ihr euch stolpernd und Geschichten erzählend durch den Wald gerettet habt und der böse, fiese Lich euch irreführte und wie ihr ihn am Ende geköpft habt. Schmückt es ein wenig aus, ja? Keiner mag glanzlose Geschichten.“ Vetus nickte langsam. Ja… ja, dieser Lich musste wahnsinnig sein. Ithildalin war vermutlich aufgrund seiner Existenzform und der Ewigkeit, die ihm blühte, schlicht wahnsinnig geworden. Ja. Er nickte. „Gut, schön. Nachdem das geklärt ist, wünsche ich euch zwei Turteltauben noch viel Vergnügen. Und sei versichert, Vetus – deine Tochter und ich, wir werden mal die besten Freunde werden. Oh wie viel Spaß und Abenteuer wir haben werden…! Also wirklich kein Grund, nachtragend zu sein, eh? Dann habt noch einen schönen Abend.“

„… was?“

Natürlich kam die Nachfrage zu spät. Genau genommen, fast anderthalb Minuten, nachdem Ithildalin sich bereits davon teleportiert hatte. Ahillea war indes auf die Beine gekommen und wankte noch immer am Rande des Zusammenbruchs tänzelnd zu ihm herüber. Sie… zog ihn zunächst schlicht mit ins Zelt. Wo sie aufgab.

Vor ihrem Zelt lagen die Reste eines zerstörten Phylakterions im Feuer. Ein geköpfter Lich lag direkt neben ihrem Lager. Sein Kopf war irgendwo den Hügel heruntergerollt. Und Ithildalin, für den sie diesen ganzen Wahnsinn hatten erledigen müssen, hatte ihm… ja was eigentlich? Gedroht?

Kurzum: Vetus konnte nicht schlafen. Sein Körper schrie und kreischte, aber er war schlicht unfähig, dem nachzugeben. Ahillea verlor kein Wort dazu. Am nächsten Morgen war sie alles andere als wach, weit davon entfernt, sich erholt zu haben. Vetus dagegen lag die Nacht wach. Dachte nach. Wälzte Horrorszenario nach Horrorszenario. Seine Tochter… er würde eine Tochter haben? Woher wusste dieser Bastard sowas? Und was hatte er mit ihr zu schaffen? Spielte er mit ihm? Wusste er überhaupt etwas? Rätselte er? Aber was, wenn er doch etwas wusste? Woher konnte er so etwas wissen? Seine Gedanken waren zäh, langsam, drehten sich immer wieder im Kreis – aber die schiere Angst, die sie heraufbeschworen, hielt ihn davon ab, von seiner Erschöpfung übermannt zu werden.

Also packten sie am Morgen ihr Lager ein. Ignorierten alles um sie herum. Ließen den grässlichen Hügel hinter sich. Und liefen. Langsam und stolpernd und aneinander gelehnt. Sie legten kaum ein Drittel dessen zurück, was sie sonst schafften. Eine weitere Nacht im Lager, eine weitere Nacht Wache. Ahillea hatte noch nicht vermocht, ein Wort zu sagen. Zu sehr hatte auch sie mit den Geschehnissen zu kämpfen.

Doch als sie am Ende des siebten Tages ein Gasthaus erreichten, hatte sich zumindest die Elbe weit genug gefangen. Sie orderte ein Zimmer für sie beide. Sie orderte Essen, Trinken, ein Bad. Sie bezahlte. Sie steckte ihn in den Zuber, wusch sie beide gründlich durch. Sie zog ihn in ihr Bett, obwohl es derer zwei gab. Sie schlug die Decke über sie beide. Drückte sich dicht an seinen Rücken. Und sie sang ihm leise ins Ohr.

Und Vetus… schlief ein.

Von Kieseln und Lawinen

„Sprich.“

Es war dieses eine Wort. Nur ein Wort, das ertönte. Gewiss, mancher – so ziemlich jeder andere als er selbst – hätte auf mehr als nur das gehofft. Auf Anerkennung, Verwirrung, Anweisung, irgendetwas. Irgendetwas, das weniger neutral war. Irgendetwas, das hilfreicher war. Doch es fiel ihm schwer, die für ihr Wesen so eigentümliche Gleichgültigkeit zu erkennen, die auch ihrer Stimme anhaftete wie ein schlechter Nachgeschmack, den man partout nicht los werden konnte, ganz gleich, womit man das Getränk mischte.

Er wusste einfach, dass sie verwirrt war. Wusste, dass sie ihn anerkannte – allein, indem sie auch nur dieses eine Wort an ihn richtete. Sie sprang hier und jetzt über ihren Schatten und das in einem nicht zu verachtenden Ausmaß. Er wusste das und respektierte sie umso mehr dafür. Konnte die Leistung anerkennen, die sie gerade vollbrachte.

Er hatte tagelang hier gesessen, reflektiert, gewartet. Gebetet. Es war, gelinde gesagt, befremdlich gewesen. Ein wenig erniedrigend gleich noch dazu. Mit etwas Glück war ihr ebenso peinlich und unangenehm, hier zu sein und mit ihm zu reden wie es ihm peinlich und unangenehm war. Mit etwas Glück.

In diesen Tagen hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Hatte reflektiert. Allem voran über die Natur von Gestein. Das mochte auf den ersten Blick nicht allzu erquicklich wirken, aber es half, die Nervosität zu bekämpfen. Und sich nicht schwer und oft genug einzureden, dass das alles hier Irrsinn war und er sich gefälligst davonmachen und diesen Wahn ziehen lassen sollte.

Also hatte er über ein Sprichwort nachgedacht. Er konnte sich an den exakten Wortlaut nicht einmal mehr erinnern. Irgendetwas über Lawinen, rollende Steine, Stein des Anstoßes, etwas in der Richtung. Aber die Analogie dahinter passte so wunderbar ins Bild. Hier war er. Eine Urgewalt in dieser Welt. Fähig, Nationen niederzureißen. Fähig, Schöpfer zu spielen und völlig neue Wesenheiten zu einem Bestandteil dieser Welt zu machen. Fähig, so vieles zu tun, zu leisten, zu vermitteln. Er war die Lawine? Nein. Nein, ganz gewiss nicht.

Er war… ein Teil davon. Ein Zwischenstand. Der Umstand, dass er hier war und betete und nun redete, war nicht die Lawine selbst. Aber falls alles gut lief? Dann würde die Lawine ihm dichtauf folgen. Und er, er würde fürchterlich eilen müssen. Zusehen, dass er nicht aus Versehen selbst von dem begraben werden würde, was er auslöste. Denn obgleich er ein Teil der Lawine war, ein Stadium davon, so war er doch gewissermaßen auch – ein Stück weit zumindest – Anstoß derer gewesen, oder nicht?

Letztlich kam alles runter zu der Frage: Wer war eigentlich schuldig? Auf seinem Weg bis hierher hatte ihn schließlich nichts dazu gezwungen, so zu entscheiden, wie er es getan hatte. Aber ebenso wenig waren andere gezwungen worden, die hieran Anteil trugen. Wem also die Hauptlast aufbürden? Wem den möglicherweise gefährlichsten Titel seit Zeitaltern geben: Kiesel?

Dabei hatte doch alles, wie so viele Geschichten, so simpel und bescheiden begonnen…

 

Viele, viele Jahre zuvor.

Es war später Abend. Andernorts hieß das: Fensterläden geschlossen, Lichter gelöscht, Türen verriegelt. Das Haus war still, die Betten warm, der Kamin glühte und glimmte vielleicht noch ein klein wenig vor sich hin, keine wirkliche Brandgefahr. Die Bewohner ruhten brav in ihren Bettchen, warm in die hübschen, dicken Federdecken eingekuschelt, und schliefen den sanftmütigen Schlaf der Gerechten. Oder Ahnungslosen. Oder Ignoranten.

Hier in der Taverne hieß das dagegen: Die Lichter brannten hell, ein warmes Feuer prasselte lautstark im Kamin gegen den geradezu ohrenbetäubenden Lärm des Schankraums an. Witze wurden erzählt und mit kehligem Lachen quittiert. Karten wurden gespielt und Mitspieler brüllend des Betrugs beschuldigt. Tische wurden umgeworfen, Krüge aneinander gestoßen, Messer schabten über Teller, gefüllt mit fettem Braten in dicken, dunklen Soßen ertränkt, zusammen mit Erbsen und kleinen Möhrenstückchen, gut gewürzt und fein geschnitten, Rettung auf den größeren Kartoffelscheiben suchend. In Öl angebraten. Und gespeist wurde mit solcher Wonne, als wäre es die erste und letzte Mahlzeit eines Lebens. Botenreiter, die breitbeinig auf ihren Stühlen saßen, weil ihnen die Hüften schlimmer schmerzten als es nach einem vollen Tag im Hurenhaus der Fall wäre. Abenteurer, die bei all dem, was ihre Abenteuer an Erfahrungen und Anblicken boten, schon vor Jahren perfekte Kontrolle über ihr Hungergefühl und ihren Würgereiz erlangt hatten und genau wussten, dass sie die Stärkung gut gebrauchen könnten, ehe sie wieder dort hinaus ziehen und ihren Hals für ein paar Münzen in Form von Relikten oder der mageren Belohnung eines Dorfes für die Bezwingung irgendeiner dahergelaufenen Bestie riskieren würden. Einfache Feldarbeiter, die das Ende ihres harten Arbeitstages mit einem schweren, umfangreichen Mal beendeten, da niemand zuhause auf sie wartete, mit liebevollem Lächeln, einer warmen Umarmung, kein Gelächter der eigenen Kinder. Nur ein Haus, kalt, dunkel, leer – in weiser Voraussicht und grausamer Fehlplanung groß genug errichtet, um eben jene fehlende Familie spürbar zu machen, die allseitige Leere nochmals richtig vor Augen zu führen.

Die Luft war dick und schwer. Roch nach dem Tabak, der an manchem Tisch in Pfeifen gestopft wurde. Roch nach der schweren, öligen Soße. Roch nach Schweiß. Roch nach Holz und Kohle und Rauch. Es war ein eigenwilliges Bouquet. Eines, das sich von Taverne zu Taverne, von Gasthaus zu Gasthaus und Schenke zu Schenke unterschied. In feinsten Nuancen. Aber doch immer erkennbar war als der Geruch solcher Häuser, generell gesprochen. Kein anderer Ort hatte diese eigenwillige, berauschende Zusammenstellung.

An seinem kleinen Rundtisch in der Ecke des Raumes sitzend, hatte er verhältnismäßige Ruhe. Er bereute diesen Umstand ein wenig. Mittendrin zu sein, zu spielen, zu feiern, zu lachen, zu scherzen, es war so viel verlockender als hier zu sitzen und zu warten. Doch ein paar unwillige, nachtragende Blicke streiften ihn dann und wann. Mahnten ihn, warum er eigentlich hier war und das nicht jeder alles auf sich bewenden ließ oder vergaß, nur weil er ihnen ein Freibier ausgab. Mahnten ihn, dass nicht jeder bereits heimgekehrt war, den er vorhin noch mit großen Tönen herausgefordert – und dann auch tatsächlich über den Tisch gezogen hatte.

Ein paar Abenteurer hatten den Anfang gemacht. Mit Messern gespielt. Die Hand auf den Tisch, die Finger gespreizt – wie schnell traute man sich, dazwischen zu stechen? Wie viele Runden, bis man sich schnitt? Für ihn war es ein langweiliges Spiel gewesen, aber ein guter Einstieg. Er konnte regelrecht sehen, wie das Adrenalin in den Adern der anderen in jede Ecke ihres Leibes jagte, als sie zusahen. Seine Reflexe waren gut. Nicht perfekt, aber gut. Der Trick war schlicht… nun, er blutete nicht. Er spürte keinen Schmerz. Und was vermutlich noch wichtiger war: Statt mit seinem rasanten Tempo Eindruck schinden zu wollen, blieb er gemäßigter und absolvierte dafür mehr Runden. Das irritierte seine Gegenspieler zwar, war aber keineswegs regelwidrig. Und damit hatte er die ersten paar Münzen des Abends gewonnen.

Weiter ging es beim Würfeln und Kartenspiel. Er hatte Glück, dann und wann. Manchmal Pech. Aber keiner – nicht ein einziger hier! – war fähig, seine Bluffs zu durchschauen. Das garantierte keinen Gewinn, aber es verbesserte seine Chancen auf einen maßgeblich. Und nachdem er auch dabei ein paar Münzen gewonnen hatte, widmete er sich noch dem Messerwerfen.

Ob den Besiegten und Verlierern eigentlich klar war, dass er so gut wie keine Münze des Gewonnenen für sich behielt? Die Mehrheit investierte er tatsächlich sofort wieder in neue Aufträge an den Wirt und seine eilfertigen Mägde, die in hübsch geschnürten Stoffkorsagen herumrannten, die Brüste hochgeschnürt wie die Auslagen beim Fleischer, der Hintern zur Schau gestellt wie das preisgekürte Schwein im Stall. Fleischeslust war eine witzige Sache und ihm gewiss nicht fremd, nur… hatte er für diesen Begriff ein deutlich anderes Verständnis als die Mehrheit der Leute in diesem Raum. Während die ihren Appetit von den Mägden angestachelt sahen – in jedweder Hinsicht – und mancher sich erdreistete, ihnen Geld für die Nacht anzubieten, die mit Geschichten, kurzen Sprüchen oder einem Klaps auf den Hintern einladen oder überzeugen zu wollen, gab er den Verlierern Speisen und Getränke aus. Mal einen Krug, mal einen Teller, mal eine Runde für den ganzen Tisch oder die Tafel. Wenn der Sieg besonders fett war, sogar eine Runde für den ganzen Schankraum.

Das hatte die vom Versagen und Verlieren erhitzten Gemüter auch wieder versöhnlich stimmen, herunterkühlen können. Aber eben dummerweise nicht alle. Entsprechend beließ er es dabei, hier zu sitzen, zu warten, zuzuschauen, wie das Leben sich vor ihm entfaltete, in all seiner primitiven, rüden, prächtigen, glorreichen Pracht. Wie sie auf Brüste gafften und dreckige Witze rissen, wie sie über Eroberungen prahlten – Weiber, Männer, Schätze gleichermaßen – und die Größen von Waffen, Genitalien und Fundgut verglichen.

Und der Abend sollte noch deutlich besser werden – so hoffte er zumindest – als sich die Tür öffnete. Jene magische Pforte in die tiefe, schwarze und inzwischen offenbar sogar regnerische Nacht hinaus, durch die sie kommen würde. Nur hatte sie ziemlich auf sich warten lassen.

Diesmal jedoch wurde er nicht enttäuscht. Die Tür schwang auf und einen kurzen Moment lang wurde es still im Schankraum. Einige Blicke wanderten zum Neuankömmling, so auch der Seine. Eine kleine, zierlich wirkende Gestalt. Helle Haut, hellbraune Haare, spitze Ohren… den Ersten lag zweifellos bereits der eine oder andere Kommentar auf der Zunge. Inzwischen war genug Alkohol im Umlauf – bei Lenikki, vermutlich in der Luft selbst! -, das man frech werden konnte und sich darüber würde entschuldigen können. Doch dann fielen eben die, nun, restlichen Merkmale ins Auge. Wobei Augen ein guter erster Punkt waren. Goldgelb schimmernd und vertikal geschlitzt. Die Rüstung markierte sie – eigentlich – als Abenteurer, interessierte jedoch keinen mehr, als erst einmal die regelmäßige Bewegung ihres Schwanzes deutlich wurde, passend zu den zwei gebogenen Hörnern, die ihrer Stirn entwuchsen.

Als Sierra eintrat, gab es eine Hand voll Leute, die sie erkannten. Irgendwelche Abenteurer und ein oder zwei ehemalige Mitglieder der Rebellion, so schätzte er. Die Goldene Gans war zugegeben nicht mehr ganz das, was sie früher mal gewesen war. Einige Zwischenfälle, Unfälle, hatten etwas an ihrem Ruf gekratzt. Aber sie war im Gegenzug besser besucht denn je. Und noch immer ein beliebter Treffpunkt für die einstigen Mitglieder der großen, ruhmreichen Revolution. Thorin Königsend, der tapfer die Axt schwingend den Wald der Tyrannei lichtete. Dergleichen und ähnlich peinliche Motivations- und Rekrutierungsposter hatte er seinerzeit dann und wann an Wänden hängen sehen. Manchmal hatte Sierra ihm sogar ein paar mitgebracht, damit sie sich gemeinsam darüber amüsieren konnten.

Relevant war damals letztlich nur der Erfolg gewesen, nicht das artistische Können dahinter.

Die Wenigen, die Sierra erkannten, grüßten sie. Verneigten sich oder nickten ihr zumindest zu. Die Mehrheit ignorierte sie und widmete sich wieder ihren Spielen, ihren Geschichten, ihren Wetten und den Mägden und natürlich auch ihren Mahlzeiten. Klöße in Pfeffersoße, angerichtet mit gedünstetem Spargel und Wildschweinfilet. Das war nicht gerade preiswert. Offenbar kämpfte der Wirt dann und wann noch immer – wenn ein Gast den besonderen Wunsch und das besondere Kleingeld mitbrachte – darum, als etwas für die höhere oder zumindest gehobene Gesellschaft anerkannt zu werden. Wildschwein war nicht schwer zu bekommen, aber Spargel? Und Pfeffer war auch nicht gerade Billigware und es roch köstlich! Er konnte regelrecht sehen, wie dem Herrn am Nachbartisch das Wasser im Munde zusammenlief, als er tief den Duft seiner Mahlzeit einsog, aufrichtig strahlenden Lächelns der Magd dankte, die nun ebenfalls etwas ehrlicher lächelte und beschwingter zur Theke zurückkehrte – solange zumindest, bis ihr unterwegs natürlich wieder irgendwer auf den Hintern klatschte.

Der erste Bissen musste köstlich gewesen sein. Eine Geschmacksexplosion, der Wirbel aus Schärfe und-

… und er hatte völlig verpasst, wie Sierra die Tür geschlossen, den Raum durchquert, eine Minute vor seinem Tisch gestanden, ihn angesprochen, geseufzt und sich schließlich einfach gesetzt hatte. Erst als sie sich nach einem Moment dezent räusperte, konnte er seinen Blick davon losreißen, wie die Kiefermuskulatur des Herrn sich um den ersten Bissen Wildschwein kümmerte, noch immer die Augen genießerisch geschlossen und die Gabel auf halbe Höhe gesenkt.

Wahre Leidenschaft.

„In all den Jahren, die wir uns jetzt schon kennen… das hat sich nie geändert“, merkte Sierra mit einem milden Grinsen an.

Langsam lehnte er sich zurück und bemühte sich, seine nach links abschweifende Aufmerksamkeit auf sie zu fokussieren. „Es liegt eine zutiefst primitive und doch zugleich erhabene Sinnlichkeit darin, findest du nicht?“

Einen Moment betrachtete sie stirnrunzelnd den Nebentisch, sah dann wieder zu ihm und zuckte lächelnd mit den Schultern. „Jedem seins, schätze ich. Tut mir leid wegen der Verzögerung. Politik.“

Er nickte. Dieses eine Wort war Erklärung genug. Sierra war jetzt immerhin Politikerin. Eine wichtige Figur auf dem Schachbrett der Weltbühne. Springer schlägt Turm, Bauer rückt nach D5 vor, Schach. Harpyien, Drow, Tieflinge. Dazu noch ein paar kleine Nester von Goblins und Gnomen, hier und da ein paar halbzivilisierte Orks, ja – sie hatte alle Hände voll zu tun. Wie sie diesen Sack Flöhe davon abhielt, ihr den Verstand zu rauben, Lumiél als Beutegrund zu überfallen oder in wilden Blutbädern einander zu dezimieren, war ihm schleierhaft. Er interessierte sich für viele der Vorgänge und Ereignisse in ihrem Leben und bewunderte viele ihrer Qualitäten, doch… Politik und deren verwobene, verworrene Mechanismen, davon hatte er selbst mehr als genug und sogar bei denen weigerte er sich trotz seiner direkten Beteiligung, sie zu verstehen und dauerhaft zu erlernen.

Wer mit Politik in Berührung kam, das war einfach ein gegebener Fakt, der verlor über kurz oder lang jeglichen Spaß am Leben.

In den wenigen Minuten darauf orderte er zunächst eine solide, gute Mahlzeit für sie, dazu einen Krug Traubensaft, der ausgezeichnet dazu passen sollte. Um diese Jahreszeit frisch geerntet, wie er sich schon lange vor ihrer Ankunft hatte versichern lassen. Das gab ihm genau das richtige Ausmaß an Säure, um zum Hauptgang zu passen.

„Ich muss gestehen, ich weiß unsere kleinen Treffen zu schätzen. Es ist so viel ungezwungener, wenn man sich einfach in einer Taverne zusammensetzt“, philosophierte er ohne rechtes Ziel vor sich hin, während er mit Wonne verfolgte, wie sie sich artig bei ihm und der Magd für den Teller bedankte und zu speisen begann.

„Ungezwungener als der Gefangene in einer Taschendimension zu sein, meinst du?“, erwiderte sie mit einem wissenden Grinsen.

„Oh ich hätte mich selbst damals keineswegs als Gefangenen betrachtet oder bezeichnet. Ich war… im Urlaub, gewissermaßen. Aber da wir nun schon gerade von Urlaub sprechen, ich bin zugegeben neugierig. Es ist nicht allzu häufig, dass du dieser Tage noch Zeit  für mich findest. Fast wäre ich ja geneigt, mich ein klein wenig gekränkt zu fühlen. Doch ebenso bin ich überrascht, von dir hierher zitiert worden zu sein. Gebeten, ja, gebeten – schon gut, keine Einwände nötig. Nichtsdestotrotz hast du eine gewisse Eile und Dringlichkeit durchscheinen lassen. Also sei so gut und spanne mich nicht zu lange auf die Folter: Was gibt es so Wichtiges? Du hast mich nie ohne guten Grund kontaktiert…“

Sie nickte, die Miene ernst. Selbst dieses milde, schwache Lächeln, das allzeit ihre Lippen umspielte und ihre Augen ein klein wenig heller strahlen ließ, wenn sie beisammen waren, schwand hinfort. Es war ernst, oh ja. So ernst sogar, dass sie Messer und Gabel bei Seite legte, sich zunächst in ihrem Stuhl zurücklehnte und ihn einen Moment bedachte, betrachtete, sich sammelte und überlegte, ehe sie ihre Worte sprach.

„Es… ist nicht das Schicksal der Welt oder Lumiéls, des Drachenvolkes oder Gewebes, das auf dem Spiel steht. Es ist… mir persönlich wichtig“, begann Sierra, als wäre das ein Grund, sofort aufzustehen und enttäuscht den Raum zu verlassen. Stattdessen von der Vorsicht ihres Tonfalls irritiert, nickte er lediglich um ein aufrichtiges Lächeln bemüht und bedeutete ihr, fortzufahren. „Ich werde heiraten, Ithildalin. Die Zeremonie findet in zwei Wochen in der Kreuzwegfeste statt. Ishara wird sie betreuen. Ich… ich hätte dich an diesem Tag gerne dort an meiner Seite.“

Der erste Moment war… war was eigentlich? Es gab ihn nicht. Es gab keinen ersten Moment. Es gab die Leere. Das Nichts.

Dann gab es einen zweiten Moment, in dem der komödiantische Teil zutage trat. Die Zunge schneller als der Rest seines Verstandes, wie immer. Nicht, das er tatsächlich etwas sagte – seine Gliedmaßen waren plötzlich bemerkenswert gelähmt, Kehle, Zunge, Lippen eingeschlossen. Aber in seinem Kopf zeigten sich viele Bilder von Ithildalin im hübschen, hellgrün-zartrosa Kleid eines Blumenmädchens oder den prächtigen, schneeweisen Gewändern einer Brautjungfer. Es war… auf die gute Art lächerlich. Es war amüsant-lächerlich. Genauer gesagt: Es war zum Schreien komisch!

Sie hätten einander davon erzählen können. Wie er ein Körbchen schwingend und einen Kinderreim trällernd überhaupt nicht gruselig vor dem Paar hinweg hüpfte und Blütenblätter verteilte. Und beide hätten sich darüber köstlich amüsiert und gelacht und einander damit aufgezogen, wie sie es unzählige Male zuvor mit anderen Absurditäten und Kleinigkeiten getan hatten.

Es hätte ein heiterer, erleichternder Moment sein können.

War es aber nicht.

Denn sie meinte das ernst.

Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, von vorn herein deutlich zu machen, wie ernst es ihr damit war, dass er einfach nicht wagte, es auch nur für den Bruchteil einer bewusst entschiedenen Sekunde nicht ernst zu nehmen. Damit zog, unweigerlich, die unbeschwerte Spanne des zweiten Momentes vorbei und der dritte Moment hielt Einzug. Bilder tot in den Bänken liegender Gesellschaft, in Krämpfen und Agonie verkrampft, blitzten vor seinem inneren Auge auf. Der Priester ausgeweidet, mit seinen Innereien die ehemals hübsche Dekoration ergänzt. Die Braut inmitten all des Horrors, starr, wortlos, unverletzt, ausdruckslos – weil er sich nicht vorstellen konnte, wie ihre Reaktion wäre. Und der Bräutigam? Nicht da. Nicht existent. Nicht in der Vorstellung. Weil sein Verstand nach etwas dürstete, das so boshaft war, so grausam war, so schmerzhaft war, das seine Fantasie daran scheiterte, ihn in angemessen erscheinende Umstände zu platzieren.

Mit dem dritten Moment kam so viel Wut und Hass heraufgekrochen, dass es sich unweigerlich durch die perfekte und lange Jahre einstudierte Maske seines makellosen Bluffs hindurch wiederspiegeln musste. Doch Sierra sagte nichts. Sie saß dort. Sie verschränkte nicht ablehnend oder abwehrend die Hände vor der Brust. Sie hatte die Hand nicht an der Waffe. Sie wirkte nicht einmal angespannt. Doch selbst diese Beobachtungen waren nur eine Randnotiz. Nicht weiter wichtig.

Der Hass zog ab, machte Bahn für den vierten Moment. Die Verwirrung. Die Entrüstung. Die Verstörung. Die Enttäuschung. Warum beschäftigte ihn das? Warum interessierte es ihn überhaupt? Warum sollte er irgendwem irgendwas antun? Warum nicht einfach zustimmen, ihr diesen Gefallen tun? Warum nicht einfach sie in ihrem Glauben lassen, welcher auch immer das sein mochte? Die Zeremonie ging ihn nichts an. Der Glaube dahinter, die Götter dahinter, ebenso wenig. Aber er könnte da sein. Eine Gelegenheit mehr, sie zu sehen, mit ihr zu reden, an ihrem Leben teilzuhaben.

Es war lange, lange her, dass er ihr von seiner Zeit als Herumtreiber mit einer Klampfe erzählt hatte. Später hatte er sein Repertoire erweitert, hatte mit verschiedenen anderen Streichinstrumenten zu spielen gelernt. Er war ein respektabler Abenteurer gewesen! Gut – so respektabel, wie ein Abenteurer eben werden konnte. Während andere mit Schwert, Schild und Axt in den Kampf zogen, bezwang er seine Feinde mit guter Musik – Übung machte den Meister – und geschickten Worten! Zugegeben, später hatte er sich den Umgang mit einem Rapier aneignen müssen, weil es in dieser Welt einfach Idioten gab, die nicht auf noch so hübsche Melodien oder Worte hören wollten. Aber nichtsdestotrotz hatte er eine tiefe Leidenschaft für das Musizieren entwickelt.

Deshalb verstand er das Sprichwort, welches ihm in diesem vierten Moment einfiel, auf so viel besserer, anderer, tiefergreifenderer Ebene als andere Leute:

Er fühlte sich plötzlich wie die zweite Geige.

Das hieße allerdings, dass er Interesse daran hegen würde, selbst im Rampenlicht zu stehen, selbst die besagte erste Geige zu spielen, selbst all ihre Aufmerksamkeit für sich zu horten. Und war es nicht genau das, was er in den letzten Jahren gewissermaßen getan hatte? Sicherlich, da gab es viele andere. Merril, von der Sierra dann und wann erzählt hatte. Doch nach anfänglichen Irrungen und Wirrungen, die beide zueinander standen, zueinander stehen sollten, hatte sich eher eine Art von… schwesterlichem Verhältnis etabliert? Merril war Sierra schlicht und ergreifend nicht gewachsen. Auf keiner Ebene. Und Sierra war unweigerlich in die Falle gelaufen, ihr helfen zu wollen. Sie hatte sie angeleitet. Tat es noch. Keine Idealbedingungen für, nun, irgendwas anderes als das, was vorherrschte. Da waren auch Thorin und Garwinn, Myron, Ishara, Saufkumpane, Freunde, Ersatzfamilie, viele, viele Namen, Leute und Bezeichnungen für ihre jeweiligen Positionen.

Aber keiner von denen war ihm jemals gefährlich geworden. Oder erschienen. Keiner von denen hatte, was er hatte. War, was er war. Konnte Sierra bieten, was er ihr bieten konnte. Die Gehörnte und er, sie waren brillant. Sie waren ein Team. Sie waren unschlagbar. Sie stichelten und witzelten, sie spielten einander aus, an die Wand, oder in die Hand. Sie begegneten einander auf Augenhöhe. Sie waren sich ebenbürtig. Sie waren…

gute Partner.

Die Erkenntnis schmerzte auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten hatte. Und dieser Schmerz läutete den fünften Moment ein.

Er wollte nicht. Er konnte nicht. Das war schlicht und ergreifend nicht richtig. Er hatte keinerlei Interesse an derlei, an ihr, an diesem ganzen Unsinn, konnte nicht haben, sollte nicht haben, durfte nicht haben. So einfach. Nein. Einfach nur… nein! Also raffte er sich zusammen, begegnete ihrem Blick mit neuer Härte und Entschlossenheit. „Eure Götter hassen meinesgleichen. Sie werden für mich keine Ausnahme machen. Und ich habe keinerlei Interesse an euren jämmerlichen, bedeutungslosen Zeremonien.“ Der… Schlag hatte gesessen. Er konnte es sehen. Wie sie kurz zusammenzuckte. Den Blick senkte. Und noch im gleichen Moment bereute er es, wollte sich entschuldigen. Er! Sich entschuldigen! Freiwillig! Er brachte es nicht fertig, brachte es nicht über sich. „Wofür überhaupt diese Farce? Mir wäre neu, dass du in den letzten zwei Jahren plötzlich jemanden aufgetrieben hättest, der deiner würdig wäre.“

Es dauerte, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. Und Ithildalin brauchte lange, um zu begreifen, wie sehr sie um Fassung kämpfen musste. Mit sich selbst rang. Ihn hierher zu bitten, ihm dies zu sagen, unter seinem Blick und seinen harschen Worten sitzen und zuhören… erst sehr viele Jahre später begriff er vollends, was dieser Moment für sie bedeutet haben musste.

„Es ist eine politische Heirat. Prinz Mubarak Ibadah von Ulthwe. Es… wird Lumiéls Anbindung an den Rest der Welt stärken. Es wird den Iustus-Bund stärken. Und er ist ein guter Mann, stolz, aufrecht, gerecht. Habe ich mir sagen lassen.“

Mit jedem weiteren Wort hätte er mehr um sich schlagen wollen. Der Tisch bekam unweigerlich seine Frustration zu spüren, doch das Holz war glücklicherweise schon tot. Viel toter konnte es nicht werden.

Mubarak. Lächerlicher Name. Bedeutete ‚gesegnet‘. Das machte es eigentlich nur schlimmer. War er tatsächlich ein Heiliger oder hatte seine gottverfluchte Mutter nur gehofft, er würde ganz zufällig mal einer werden und hatte ihn deshalb so genannt? Und ein Prinz? Was war dieser Titel schon wert! Politik! Noch mehr verdammte Politik! Sie hatte sich mit diesem wertlosen Warmfleisch noch nicht einmal unterhalten, wie es schien! Wusste sie überhaupt, wie er aussah? Wusste sie wenigstens das?!

Wen kümmerte Lumiéls Fortbestand! Nationen waren Kartenhäuser im Sand der Zeit, sie kamen und gingen, wurden errichtet und verwitterten wieder. Wen interessierte schon das Schicksal einzelner Nationen! Und genauso dieser verdammte Bund. Iustus. Wer hatte sich diesen dämlichen Namen wieder einfallen lassen?! Ein Bund für die Gerechtigkeit. Pff, Blödsinn! Es gab keine Gerechtigkeit. Schon gar nicht mit der Involvierung diverser Staaten. Das alles war Politik und Politik verdarb alles, womit es in Berührung kam – hatte sie das nur immer noch nicht begriffen?! Hatte sie das immer noch nicht am eigenen Leib zu spüren bekommen? Spürte sie es nicht jetzt, hier, in diesem Moment, in dem Politik einfach schier alles ruinierte, was wirklich von Bedeutung war?!

„Nein“, fauchte Ithildalin regelrecht und war selbst überrascht von der Aggressivität in seiner Stimme, „Nein, verdammt nochmal! Ich werde bei diesem Irrsinn ganz sicher nicht dabei sein und zusehen, wie du dein Leben wegwirfst, für irgendeinen dämlichen politischen Vorteil!“ Als er aufstand, geschah es ruckartig. Fast ein wenig zu energisch, hätte er doch beinahe noch den Tisch umgerissen – hätte er sich nicht ohnehin daran festgekrallt.

Die Nebentische und ihre Gäste hatten genug Anstand, so zu tun, als hätten sie kein einziges Wort gehört und würden sich auch generell nicht für die Gespräche anderer interessieren – weshalb auch sie kein brauchbares Ziel für den noch immer rasenden Zorn in seinen Adern waren, den er an den Erstbesten mit einer Zielscheibe auf Stirn, Brust oder Rücken zu entladen gedachte. Er hatte sich ganze drei Schritte weit bewegt, als Sierras Stimme erklang. Zittrig, brüchig, schwach und leise. „Ich… habe Schnaps dabei.“

Die Anmerkung war so absurd, dass sie ihn tatsächlich einen Moment aus seiner Raserei herausriss und innehalten ließ. Ihm für die Dauer eines Herzschlages genug Raum und Abstand verschaffte, um wahrzunehmen, zu erkennen, zu begreifen. Er war weit davon entfernt, zu verstehen, was er ihr gerade angetan hatte. Oder mit der konsequenten Umsetzung seiner Entscheidung weiterhin antun würde. Aber er bekam eine Ahnung dessen, was hier gerade geschah, geschehen würde, geschehen könnte.

Wenn er ging, würde sie ihn nicht mehr kontaktieren. Nie mehr. Und wenn er Informationen hätte… würde er sie denn noch kontaktieren? Direkt? Mit einem Treffen?

Die Treffen waren nie wirklich notwendig gewesen. Er hätte auf sicheren Kanälen andere Nachrichten schicken können. Informationen schicken können. Nachdem sie ihn aus der Taschendimension entlassen hatte, Dinge geklärt und vereinbart worden waren… sie hatten sich getroffen, weil sie es wollten. Weil es eine schöne Tradition geworden war. Angenehm.

Und jetzt? Sie würde heiraten. Irgendeinen wie-war-sein-Name-gleich-noch aus woher-auch-immer. Und er hasste ihn. Er hatte seinen Namen schon wieder vergessen, sein Herkunftsland, sein alles, ihn nie gesehen, nie kennengelernt und hoffte inständig, ihm nie zu begegnen. Es würde, ohne jeden Zweifel, die kürzeste Bekanntschaft aller Zeiten werden, beendet von einem vorzeitigen, unschönen Todeserlebnis.

Und in jeder Version, die ihm binnen dieses Herzschlages einfiel, stand diese Barriere zwischen ihnen. Die pure, unweigerliche Existenz der Möglichkeit, das sie nicht allein käme, nicht allein war, dass sein Name im Gespräch fiel oder sie sich früher verabschieden musste, um sich um die gemeinsamen Kinder zu kümmern. Egal wie er es drehte und wendete. Diese Missgeburt von einem Warmfleisch würde ihm immer wieder in die Quere kommen.

Und er konnte den Gedanken nicht ertragen.

Es würde keine Treffen mehr geben, nie mehr. Das wurde ihm schmerzlich bewusst. Er hatte diese Entscheidung getroffen und sie hatte diese Entscheidung getroffen. Und jetzt stand er hier, sie saß neben ihm und bot ihm Schnaps an. Sie musste, musste einfach, mit dem vollen Wissen und Bewusstsein hier hereingekommen sein, wie dieses Gespräch laufen würde. Oder zumindest, wie es laufen konnte. Hatte sie geahnt, wie die Chancen standen?

Wie lange hatte sie vor  der Tür im Regen gestanden, gezögert, die Hand an der Klinke, ehe sie sich überwinden konnte? Er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, in welchem Ausmaß ihre Kleidung durchnässt gewesen war, als sie hereinkam. Jetzt wünschte er sich, er könnte kurz zurück, nachschauen, sich vergewissern. Was die Erkenntnis geändert hätte, konnte er nicht sagen. Und dennoch erschien sie ihm so unendlich wichtig.

Sie saß hier und wusste, dass das ihr letztes Treffen war. Hatte es vielleicht nicht zu Beginn gewusst, aber zumindest gewusst, dass es möglich wäre. Das dieser Ausgang wahrscheinlich wäre. Nun war es an ihm, eine Entscheidung zu treffen. Eine weitere. Vielleicht eine Letzte in Bezug auf sie beide.

Wollte er wirklich, dass es so endete?

Er, der ihr all seinen Hass entgegenschleudernd aufsprang und zornig ein Loch in ihr Herz und Leben reißend davonstampfte, in die Nacht hinaus? Sie, die hier saß, um Fassung ringend, vielleicht zusammenbrechend, nachdem er gegangen war? Wünschte er sich das wirklich als das Ende ihrer Bekanntschaft?

Er zögerte lange. Sie hob den Kopf nicht, hob den Blick nicht, sprach nicht. Wartete einfach ab. Bis er sich, nach langer Weile, zurück auf seinen Platz begab und sich sinken ließ. Dies, so führte er sich in aller Bitterkeit vor Augen, war ihr letzter gemeinsamer Abend. Nein – er wollte ihn nicht in Streit, Hass und Geschrei enden lassen. Er bezweifelte, dass ein kleines Fässchen Schnaps daran viel ändern konnte, aber er war gewillt, ihrer Weisung zu Folgen. Ihrer Führung zu vertrauen, ein letztes Mal. Es wenigstens zu versuchen. Ihr zuliebe. Sich selbst zuliebe. Um ihrer beider Willen.

Zwei frische Krüge waren rasch gebracht und Sierra bemühte sich um ein aufrichtiges Lächeln, als sie den Kopf hob und wieder zu ihm zu blicken wagte. „Danke“, erklärte sie leise. Wofür auch immer sie dankte. Nichts war gerettet, im Gegenteil. Aber vielleicht war dieses Wort sehr viel bescheidener gemeint. Vielleicht dankte sie tatsächlich nur dafür, dass er ein anderes Ende gewählt hatte. Ein Milderes. Ithildalin nickte lediglich und verfolgte, wie sie das Fass öffnete und die Krüge befüllte.

Was folgte, war geradezu schmerzhaft.

Sierra bemühte sich, unbefangene Themen anzuschneiden, ein Gespräch wieder ins Rollen zu bringen. Doch so sehr er sich bemühte, er konnte sich nicht recht seiner selbst erwehren. Er schnitt sie ab, würgte die Gespräche ab, führte sie auf ihre bevorstehende Trauung zurück. Er versuchte es, gab sich wirklich Mühe, aber es wollte ihm einfach nicht recht gelingen, die Unbeschwertheit wiederherzustellen, von der ihr Umgang miteinander sonst geprägt war.

Er hatte seinen Krug nicht angerührt, sie ihren ebenso wenig, als sie nach kurzem Schweigen einen neuen, vielleicht letzten und eindeutig verzweifelten Versuch unternahm. „Was ist los, Häppchen – hast du den Mut verloren?“

Einen Moment wurde sie spürbar, sichtbar vorsichtig, als er den Kopf hob, ein bedrohliches, zorniges Funkeln in den Augen. Sie saßen hier, trotz allem, in einem Gasthaus mit dutzenden anderer Menschen, die Leben führten, Familien hatten und die er mit kaum mehr Zeit als einem Wimpernschlag würde töten können. Sie wurde sich im Angesicht dieses Anblickes des Umstandes schmerzlich bewusst.

Ithildalin dagegen zögerte. Sie stichelte, wie sie es früher getan hatte. Als wäre nichts passiert. Sie hatte ihn sogar bei jenem Namen genannt. Ein Kosename, den sie sich irgendwann überlegt hatte, um ihn aufzuziehen. Er hatte sein eigentliches Ziel verfehlt, war aber dennoch irgendwie… haften geblieben.

Er wog ab, sorgfältig. Er saß noch hier, weil er ihrem Versuch eine Chance hatte geben wollen. Weil er sich hatte bemühen wollen, ein weiteres, letztes Mal auf ihre Führung zu vertrauen. War das Heuchelei gewesen? Oder ehrlich? Denn wenn es ehrlich war… dann würde er das hier ebenso durchziehen müssen.

Nach einem Moment holte er Luft – ein nach wie vor seltener und ungewohnter Prozess – und seufzte sie wieder heraus. „Ich fürchte, unsereins ist nicht mit so ausladendem Mut der Dummheit gesegnet, wie ihr und euresgleichen es seid, oh Paladin der Paladine, oh Paragon des Warmfleisches, oh edle Jungfer.“ Trotz der Holprigkeit des Gespräches zuvor, trotz der Holprigkeit dieses Gespräches, ja sogar dieses Satzes, gelang es ihm ein wenig, in seine ‚alte Rolle‘ zurückzufinden und etwas mehr Schauspielkunst hineinzulegen. Es war noch immer kläglich und leicht zu durchschauen, aber… es war ein Anfang. Mehr, als sie den ganzen Abend bisher zustande gebracht hatten.

Und auf seine Erwiderung einsteigend, verzog sie das Gesicht. Er hatte sie sehr wohl damit aufziehen können, sie eine edle Jungfer zu nennen – in Anlehnung an eine berühmte Geschichte, in der ein einfaches Mädchen sich zur heiligen Kriegerin aufschwang, um ihre Heimat zu retten. Gesegnet von Mermerus höchstselbst und bewehrt mit Heiligenschein und schneeweißem Pegasus als Reittier. Zumindest Letzteres traf zu und der Heiligenschein fehlte vermutlich auch nur, weil Sierra sich im Zwiegespräch mit ihrer Gottheit sehr, sehr, sehr dagegen gewehrt haben musste.

„Komm schon“, meinte sie dann bescheidener, zurückhaltender, „Lass uns trinken. Du erinnerst dich an Reva? Ich habe dir mal von ihr erzählt. Ein paar Mal sogar. Sie ist Alchemistin. Sie hat Zwergenschnaps als Basis genommen und ein wenig herumexperimentiert. Theoretisch… solltest du dieses Zeug trinken können. Du solltest dich sogar damit betrinken können.“ Sie wagte ein vorsichtiges Grinsen, als würde sie mit dem Fuß voran das Eis eines gefrorenen Sees im Spätherbst prüfen.

Eine Braue skeptisch gehoben, blickte Ithildalin auf den Krug und dessen Inhalt. Es sah aus wie Schnaps, roch wie Schnaps und schwappte wie Schnaps. Wie gewöhnlicher Schnaps. Nicht wie eine Flüssigkeit, die ein Alchemist in den Händen gehabt hatte.

Nun – angesichts des Umstandes, dass es wirklich schwer war, ihn umzubringen… permanent jedenfalls… gab es kein allzu hohes Risiko für irgendwas und damit keinen Grund, seiner Neugier nicht zumindest ein Stück weit nachzugeben. „Fein. Dann lass uns trinken.“

Von diesen wohlgewählten, wohlbedachten Worten an dauerte es kaum zwei Stunden, ehe er mit Sierra Seite an Seite saß, die Stühle herumgerückt, und lachend Geschichten aus alten Zeiten austauschte. Von ihrem ersten Zusammentreffen in der Kreuzwegfeste über den Moment, als Sierra ‚heimkehrte‘ und ihn dabei auffand, wie er neugierig in ihrer Wäsche herumwühlte bis hin zu ihrem ersten Wetttrinken, das immerhin vier Tage andauerte, ehe irgendjemand zu fragen wagte, wer von beiden eigentlich schummelte… ihre gemeinsame Vergangenheit war eine Fundgrube prächtiger Geschichten, die sich mit ein wenig Alkohol und viel Fantasie noch farbenfroher ausschmücken ließen.

Entsprechend war es tief in der Nacht, als beide vom Wirt zusammen mit der letzten, kleinen Schar anderer Gäste hinausgekehrt wurden. Besagte Schar zerstob schnell in die vielen unterschiedlichen Richtungen von Samaras Straßen und auch sie beide fanden rasch ihren Weg abseits aller Hauptstraßen und damit fernab auch nur der geringsten Chance, auf nächtliche Gesellschaft zu treffen. Ihr Weg brachte sie ins Armenviertel der Stadt, nach Osten – zurück zu Ithildalins Teleportationspunkt.

Dort standen sie einander eine ganze Weile zunächst schweigsam gegenüber, blickten zum leicht bewölkten Sternenhimmel hinauf und kommentierten gelegentlich die Wolkenformen, Wettervoraussichten und sogar eine Sternschnuppe. Keiner von beiden war naiv genug, sich von Letzterer etwas zu wünschen – selbst wenn sie die ihnen angedichteten magischen Fähigkeiten besäßen, so wären sie gewiss nicht die Ersten, die sie zu Gesicht bekämen.

Der Abschied zog sich unweigerlich, sie zögerten ihn hinaus, doch konnten ihm ebenso wenig entgehen. Er wandte sich ihr dann zuerst zu. „Du weißt scho‘, das isch bäs-… bess-… guter bin als’n lausiger Prinz, nich?“

Sierra lächelte. Ein warmes, ehrliches, aufrichtiges Lächeln… und es war nur ein klein wenig traurig. „Ich weiß“, erwiderte sie.

In sich selbst bestätigt, nickte er kräftig. Na immerhin das wusste sie und erkannte sie an. „Warum dann er?!“, quengelte Ithildalin.

Die Traurigkeit in ihrem Lächeln wurde ein klein wenig prägnanter. „Weil du sehr, sehr… untot bist“, erwiderte sie noch leiser als zuvor.

Dennoch vernahm er sie ob der völligen Stille der Nacht – und des Armenviertels insbesondere – laut und deutlich. Und quittierte ihre Antwort mit einem frustrierten Schnaufen. „Das’s alles?“, maulte er, seufzte dann jedoch. Er erwartete keine Antwort – und sie gab auch keine. Stattdessen beugte er sich zu ihr herab. Er schwankte zwar einen Moment und Sierra musste heiter auflachen, als er mit der Hand gestikulierend sein Ziel per Daumen anpeilte – wortwörtlich -, doch sie wurde rasch still, als er ihr einen Kuss auf die Wange setzte. Und noch stiller, als er seine kalten Lippen nur kurzzeitig von ihrer warmen Haut löste, um sie, um wenige Millimeter verschoben, wieder aufzusetzen. In drei, vier kleinen Sprüngen, vorsichtigen Hüpfern, tastete er sich zur Mitte vor.

Sie stoppte ihn nicht. Sie wich nicht zurück oder aus, drehte den Kopf nicht fort… im Gegenteil. Sein letzter Sprung brachte ihn dazu, ihren Mundwinkel zu küssen und als er diesmal abhob, wandte Sierra sich ihm zu. Der Kuss, den sie teilten, war flüchtig. Kurz und knapp und oberflächlich und… er hätte keinen Sekundenbruchteil davon hergeben wollen. Ihre Lippen schmeckten nach Schnaps und Wärme. Nach Leben. Er wünschte sich, zur Not nachträglich der verdammten Sternschnuppe hinterhergeworfen, dass dieser Augenblick einfach einfrieren könnte. Als Untoter hatte er einige Erfahrung damit, in Situationen stecken zu bleiben und auf die geduldig und langsam arbeitenden Naturkräfte warten zu müssen. Er hätte diese Situation wiederum voll auszukosten gewünscht, doch nach nur kurzen Sekunden löste sich Sierra, hauchte ihm ein zittriges „Leb wohl, Häppchen“ zu und… war fort.

Teleportation war nicht fair.

 

Viele Jahre zuvor.

Er hatte immer gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Er hatte es gewusst und zu ignorieren versucht. Zu verleugnen versucht. Aber Zeit war unerbittlich. Und wie Sierra vor so vielen Jahren schon selbst treffend gesagt hatte: Er war der Untote… sie die Lebendige. Und es war das Schicksal allen Lebendigen, dem natürlichen Lauf der Dinge bis zu seinem unweigerlichen Ende zu folgen. Deshalb und deshalb allein lag sie auf diesem Bett, an dessen Seite er sich niederließ.

Kein Feind hatte sie im Kampf getötet. Kein Gift, von Attentätern in ihr Essen eingebracht, hatte sie letztlich bezwungen. Nein, es war ganz schlicht und ergreifend das Alter gewesen. Das Alter zwang Sierra in die Knie. Oder vielmehr: Auf ihr Sterbebett.

„Hey, holde Jungfer“, grüßte er sie.

Es kostete Sierra sichtlich Mühe, die Augen zu öffnen. Sie hatte genug Kissen in ihrem Rücken versammelt, um halb sitzen, halb liegen zu können und dennoch schien allein das Aufschlagen ihrer Lider sie viel Mühe zu kosten. Altersflecken zierten ihre helle Haut, ihre Hörner waren noch ein Stück größer geworden, dunkler. Noch immer flackerte Energie in ihren goldenen Katzenaugen, doch sie war gedimmt. Von einem Leben mit Familie und Kindern und Verantwortung und Politik herabgedämpft. Gedimmt bis zum Glühen eines sterbenden letzten Funkens.

Sie schnaufte amüsiert. „Hey, Häppchen“, erwiderte sie leise. Ihre Stimme klang rau, angestrengt. Er zog den Tonkrug mit Wasser vom Nachtschrank und gab ihr etwas zu trinken. „Woher wusstest du es?“, hakte sie nach. Nicht anklagend, sondern bemerkenswert… neutral.

„Du glaubst doch nicht, das ich dich aus den Augen lassen würde, hm? Irgendwer muss aufpassen, dass du nicht in schlechte Urlaubsgebiete stolperst.“ Sie nickte, lächelte. Unausgesprochener Dank, unausgesprochen ausgeschlagen.

„Ich habe etwas für dich“, flüsterte sie leise, „In dem Kasten unter dem Bett.“

Ihrer Anweisung folgend, zog er vorsichtig einen ziemlich eindeutig erkennbaren Instrumentenkasten hervor. Darin befand sich eine Violine, wie er feststellte, als er das Stück auf dem Schoß unter ihrem wachsamen Blick öffnete. „Ich… ich verstehe nicht ganz?“, hakte er nach, obwohl… das natürlich nicht völlig der Wahrheit entsprach, „Du konntest unmöglich wissen-“, hob er an und wurde von ihr jäh unterbrochen.

„Du glaubst doch nicht, das ich deine Wachsamkeit nie bemerkt hätte, hm?“, schoss sie unvermittelt zurück. Es entlockte Ithildalin ein Lächeln. Kein selbstgerechtes Grinsen, kein freches Schmunzeln. Ein simples, schlichtes Lächeln. „Ich habe… ich habe gelernt, wie man diese Dinger baut, weißt du? Das da ist… ist die Letzte. Die Beste. Sie hat ein paar Schnitzer hier und da im Holz, wenn ich abgerutscht bin und du müsstest ab und an nachbessern, aber-“

„Sie ist perfekt“, unterbrach Ithildalin sie nunmehr mit einem Kopfschütteln. War es nicht bemerkenswert, wie sich einem die Kehle zuschnüren konnte, obwohl man nicht mal mehr darauf angewiesen war, zu atmen? „Aber ich schwöre dir bei dem Wenigen, das mir heilig ist, hier und jetzt eines: Ich werde sie für dich spielen, und nur für dich. Ich werde auf deinem verkrüppelten kleinen Amateur-Ding spielen, solange du schief und schräg dazu krächzt und es als Gesang zu verkaufen versuchst, hm?“

Sie lachte. Dann hustete sie. Der Übergang war fließend und der Husten hielt sie eine Weile mit Krämpfen gefangen, denen gegenüber er sich machtlos sah. Hilflos. Er musste zusehen, bis sie sich gefangen hatte und mit rasselndem Atem lächelnd den Kopf schüttelte. „Das wäre Verschwendung und schade darum – denn dann wirst du sie nie spielen.“

Ithildalin hingegen schüttelte vehement den Kopf. „Das werden wir ja sehen“, beharrte er eisern.

Er blickte erst wieder auf, als ihre Hand sich auf seinen Unterarm legte. Schwach, zittrig, fleckig, faltig. „Mach keine Dummheiten“, bat sie ihn mit bemerkenswert durchdringendem Blick.

„Du kennst mich“, erwiderte er schlicht.

Sie nickte seufzend. „Eben drum.“ Einen Moment lang herrschte Ruhe. Keiner von ihnen schien wirklich sagen zu können, ob es eine betroffene, oder friedliche Stille war. „Ich wünschte“, begann sie nach einer Weile, „wir hätten einander unter anderen Umständen kennenlernen können. Ich glaube, ich hätte dich wirklich gemocht.“

Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Lüg nicht rum. Natürlich magst du mich. Du liebst mich. Abgöttisch. Du bist noch nie einem so gutaussehenden, charmanten, überwältigend intelligenten, gerissenen, dir ebenbürtigen… Lich begegnet wie mir.“

Wieder lachte sie. Wieder ging das Lachen rasch in Krämpfe und eine von Schmerzen verzogene Miene über. Wieder lächelte sie warm, als sie sich wieder entspannte. „Ja. Ja, das tue ich wohl“, merkte sie an. Und wieder senkte sich eine schwere, betroffene Stille über sie. Diesmal hatte Ithildalin es jedoch leichter, ihre Natur zu durchschauen. Es war die was-hätte-sein-können-Stille. Das gemeinsame Sinnieren über Möglichkeiten und Eventualitäten, die aufgrund der Umstände nie wirklich eine Chance gehabt hatten.

Wieder war Sierra es, die das Schweigen nach einer Weile brach. „Du… wirst sie wieder aus der Paralyse befreien, oder?“

Ithildalin folgte ihrem Blick über seine Schulter hinweg zum Eingang des Zimmers. Dort lagen ein paar Hausangestellte. So wie er sie zurückgelassen hatte. So wie alle im Haus. Ohnehin war es vermutlich nur noch eine Frage der Zeit, bis einige sehr wütende und namenhafte Leute hier hereinstürmen würden.

Dennoch zuckte er betont gelassen mit den Schultern. „Wenn du drauf bestehst, klar, warum eigentlich nicht.“ Sein Grinsen entlockte ihr ein Lächeln – und ein Kopfschütteln. Danach… schwiegen sie. Ihre Hand ruhte noch immer auf seinem Unterarm, als sie eingeschlafen war. Zwischenzeitlich hatte sie mit dem Daumen über seine Haut gestreichelt, als würde sie ihn beruhigen wollen. Vielleicht eine unbewusste Gestik. Sie spendeten einander Gesellschaft. Ruhe. Und Ithildalin vermutete, dass Sierra abschloss. Mit ihrem Leben. Mit jedem, der vorbei kam, um eine Weile hier an ihrem Sterbebett zu sitzen. Also auch mit ihm.

Nur war er nicht bereit, mit ihr abzuschließen. Nicht bereit, nicht fähig, nicht willens.

Es war, alles in allem, vielleicht dennoch nur knapp über eine Stunde, die er an ihrer Seite zubrachte, ehe er sich von ihr verabschiedete. Er gab Sierra einen Kuss auf die Stirn und die mühselige Arbeit begann, gut drei Dutzend Hausangestellte von den Folgen seines Eindringens zu befreien…

Sierra starb noch in jener Nacht, im Kreise ihrer Familie und engsten Freunde. Und er, er war nicht dabei. Durfte es nicht sein.

 

Stattdessen kehrte Ithildalin in seine Festung zurück. Zumindest eine seiner Festungen, oder vielmehr: Seiner Laboratorien, die aus Gründen der Erfahrung und des Pragmatismus heraus zufällig mit sehr dicken Wänden und diversen, potenziell irreführenden, weiteren Gebäuden umgeben waren.

Aramis, sein aktueller Leibwächter, informierte ihn eine Stunde nach Mitternacht über Sierras Dahinscheiden.

„Es ist soweit. Eure Nemesis ist endlich gefallen. Sie hat ihren Dienst als Informantin erfüllt und ist den Weg alles Niederen gegangen. Soll ich Vorbereitungen treffen, damit ihr Ersatz auftreiben könnt?“

Aramis war, wie viele Wiedergänger vor ihm, einst ein fähiger Kämpfer gewesen. Taktisch versiert. Kein Stratege, aber ein guter Offizier und ein außergewöhnlicher Krieger. Nicht sonderlich empathisch allerdings, wie sich zeigte. Es kostete Ithildalin kaum mehr als eine Handgeste, um die Existenz des Wiedergängers zu beenden. Der Geist wurde der Rüstung entlassen, die nunmehr unmagischen Metallteile klirrten und klapperten zu Boden und die Kreatur, zu der Aramis verkommen war, wurde Ereshkigal entgegen geschleudert. Ein ungnädiges, undankbares Ende für eine eigentlich loyale Kreatur wie ihn.

Vielleicht hätte er nicht ausgerechnet den Titel für Sierra verwenden sollen, den der ach so Hohe Rat der Lich ihr spottend zugedacht hatte, als man erstmals von Ithildalins Gefangennahme erfuhr. Er hatte dafür plädiert, Sierra am Leben zu lassen. Dafür, dass Xarak nicht von diesem misslichen kleinen Zwischenfall erfuhr. Denn immerhin war Sierra in politischen Geschehnissen involviert. Sie war eine aufstrebende Figur der Weltbühne, war eine gute Informationsquelle, war nützlich.

Für den Rat hatte das genügt. Aber Sierra war, ohne es zu wissen, diesen Beinamen niemals losgeworden. Sie war die Nemesis Ithildalins. Das Schicksal seines Scheiterns und Versagens. Der Makel auf seiner sonst weißen Weste. Der Fehler im Lauf seiner Existenz.

Schlechte Idee, Aramis…

 

Vor einigen Tagen.

Ein schweres Klopfen an den Toren weckte die Aufmerksamkeit von Schwester Brigitte, die bis dahin in Gedanken versunken Unkraut aus dem Hausgarten zupfte und darüber sinnierte, wie dieser verdammte Kinderreim doch gleich ging. Einer der Patienten hatte ihn angestimmt, aber sie konnte sich auf Gedeih und Verderb nicht mehr an die weiteren Verse erinnern – dabei gab es sogar drei ganze Strophen, falls sie sich nicht völlig irrte…!

Es gehörte zum Prozedere – der Sicherheit wegen, nur zur Sicherheit -, zunächst das Loch auf Kopfhöhe zu öffnen, um den Bittsteller sehen zu können. Nur für den Fall, das den Schwestern, die auf der Mauer als Spähposten fungierten, eine anrückende und eindeutig feindlich gesinnte Armee oder wilde magische Bestien irgendwie, irgendwie, entgangen waren. Schwester Brigitte war jedoch lange genug im Kloster Ilmwachts tätig, um zu wissen, dass das unnötig war. Die Bewohner des Dorfes waren friedliche Leute und sie lebten in guten, von Wohlstand geprägten Zeiten. Feindliche Armeen so tief im Sumpf… wozu? Und die Dörfler hätten ohnehin in solchem oder ähnlichem Falle längst Alarm geschlagen. Man hätte die Dorfglocke läuten hören, es wären verängstigte Flüchtlinge gekommen, vielleicht auch erste Verletzte.

Als sie das Tor einen kleinen Spalt aufzog, noch immer mit kraus gezogener Stirn und einem abwesenden, höflichen Lächeln auf den Lippen, ahnte sie nichts Böses. Dann jedoch schob sich plötzlich rasch ein solide wirkender Stiefel in den Spalt und blockierte eventuelle Versuche, es einfach wieder zuzuziehen. Das vertiefte die Furchen auf ihrer Stirn und lenkte ihre geistigen Kapazitäten rasch und effektiv um. Ihr Blick wanderte an einem Elb herauf, der mit seiner schlichten, hellbraunen Lederrüstung und dem darunter ersichtlichen grünen Blättergewandt eigentlich einen recht hübschen Eindruck machte, wie ein Abenteurer oder-

Dann aber ließ er kurzzeitig die Illusion fallen.

Und Schwester Brigitte erlitt beinahe einen Herzinfarkt. Kreidebleich und zitternd wich sie sofort ein ganzes Stück von jener grässlich entstellten Kreatur zurück, die sie… für die Dauer eines Herzschlages hatte sehen können.

„Schwester“, hob Ithildalin ernsten Tonfalls an, „Ich bin nicht hier, um euch zu verletzen. Versteht ihr das soweit?“ Sie nickte sichtlich verängstigt und entlockte ihm ein schweres Seufzen. Das würde nicht so leicht werden wie erhofft. „Ich könnte euch, eure gesamte Schwesternschaft, jeden Dörfler und sogar einschließlich den Magier in seinem Türmchen da drüben umbringen. Und es würde mich nicht einmal viel Mühe kosten. Versteht ihr das?“ Sie gab ein Wimmern von sich, nickte abermals. „Gut. Aber das will und werde ich nicht tun. Denn dafür bin ich nicht hier. Ich will und ich werde keinem etwas tun, solange mich keiner angreift und ich in Ruhe gelassen werde. Verstanden?“ Wieder ein Wimmern und ein Nicken. Er seufzte, fuhr jedoch fort. „Fein. Ich werde jetzt reinkommen. Ihr werdet mich zu einem eurer Altäre bringen. Oder Schreine. Oder Kultstätten. Oder was immer ihr zu Ereshkigals Gunsten errichtet habt, hm? Und dort werde ich mich hinsetzen und zu eurer Göttin beten. Ich habe etwas mit ihr zu besprechen. Und ich würde mir wirklich wünschen, dieses Gespräch im Privaten führen zu können. Ich wäre im Zuge dessen dankbar, wenn ihr mir eines eurer Gebetsbücher ausleihen könntet und wenn niemand auf die Idee käme, mich mit heiligem Wasser übergießen, anzünden, aufspießen, aufschneiden, zertrümmern, wegbeten oder sonstwie meiner kostbaren Nerven und Geduld berauben zu wollen. Ist das etwas, das ihr zunächst mit eurer Oberin besprechen wollt?“ Völlig verwirrt kombinierte sie zunächst Nicken und Kopfschütteln, einigte sich dann jedoch auf ein weiteres Nicken. „Fein. Dann werde ich hier solange warten, bis ihr zurück seid. Und glaubt mir: Ich habe Geduld.“ Sie nickte abermals… und Ithildalin zog den Stiefel aus dem Tor und drückte es zu.

Es vergingen Stunden, ehe das Tor sich wieder öffnete.

Oh er hatte Geduld, ja. Dennoch drang ein gequältes „Na endlich!“ leise aus seiner Kehle, als er sich vom kalten Steinboden erhob, sich den Hintern kurz abklopfte und wieder zum Tor trat. Die gesamte Schwesternschaft stand dort im Hof versammelt, mit Wasserkrügen neben sich, hinter Steinsäulen in Deckung, mit Armbrüsten im Anschlag und… das waren die lächerlichsten Rüstungen, die er je gesehen hatte.

„Ihr seid die Oberin?“, erkundigte er sich bei der Dame in auffällig anders  geschnittener Robe. Sie nickte ihm kommentarlos zu und wirkte generell sehr… ernst. Nun, wirklich verdenken konnte er es ihr nicht. „Ist euch meine Bitte überbracht worden?“

„Eure Drohung, vielmehr“, schoss sie zurück.

„Nein – Bitte. Darauf bestehe ich. Ich bitte euch um ein Gebetsbuch und einen eurer Schreine, an dem ich mich ungestört zurückziehen und mit eurer Herrin Zwiesprache halten kann.“ Es klang so absurd. So lächerlich. So peinlich! Wenn Sierra je davon erführe… doch Sierra war tot. Seit Jahren schon.

„Ihr hofft also unser Kloster zu entweihen?“, warf die Oberin ihm prompt vor.

So viel Engstirnigkeit war wirklich bemerkenswert – und frustrierend. „Wie ich eurer Schwester schon sagte: Wenn das meine Absicht wäre, hätte ich nicht die Höflichkeit, hier zu klopfen, um Einlass zu bitten, mich euch vorzustellen und dann ein paar Stunden zu warten, um die ganze Prozedur zu wiederholen.“

„Bereut ihr also eure Sünden, eure frevelhafte Existenz und wünscht sie zu beenden?“, stieß die Oberin direkt nach.

Das… brachte ihn kurz ins Stocken. Natürlich war es die passiv-aggressive Andeutung, dass sie ihm da mit sehr viel Weihwasser und Bolzen nachhelfen könnten, sie täten es sogar wirklich gerne. Selbstlos, wie sie waren. Doch darum ging es nicht. „Vielleicht. Das wird sich zeigen. Für den Moment nur das, worum ich bat.“

„Und welche Garantie habe ich, das ihr euch nicht-“

„Keine, natürlich!“, unterbrach er frustriert, „Ihr habt keine Garantie, ihr bekommt keine Garantie und überhaupt ist mein guter Wille alles, was aktuell zwischen euch und einem Scheiterhaufen steht, weil man sich nicht traut, euch in Massengräber zu schaufeln – ihr könntet ja wieder aufstehen! Hört zu: Ich habe etwas mit eurer Herrin zu klären. Ich habe zu ihr zu sprechen versucht, aber oh Wunder: Sie scheint mir irgendwie nicht zuzuhören. Also würde ich es gerne hier mit eurer Unterstützung versuchen. Bis zu diesem Moment sollte euch bewusst geworden sein, das ich nicht unbedingt der gewöhnliche Untote bin, das hier nicht unbedingt gewöhnliches Untoten-Verhalten ist und damit sich vielleicht, aber auch nur vielleicht, die einmalige Chance für euch und eure Schwesternschaft bietet, bei etwas Großem und Gutem teilzuhaben! Lasst ihr mich jetzt wohl gottverdammt nochmal endlich rein, damit ich beten kann?!“

Eine ganze Weile bedachte die Oberin ihn kritisch und sichtlich unbegeistert, ehe sie ein Buch hervorzog und ihm reichte. „Kein Fluchen auf die Götter“, mahnte sie ihn strengen Tones. Und kurz darauf wurde er tatsächlich zu einem Altar begleitet. Von jeder einzelnen Schwester des Klosters, wie es schien. Alle bewaffnet und gerüstet. Ob der gesamte Korridor vor seinem Betraum nun voller Kriegsnonnen war…? Die Vorstellung amüsierte ihn einen Moment.

Dann jedoch kniete er sich hin. Glücklicherweise brachte es seine Vorteile mit sich, untot zu sein. Er spürte keine Schmerzen und konnte sich schlecht das Blut abdrücken. Also konnte er knien, so unbequem und lange er nur wollte.

Ithildalin schlug das Buch auf und begann zu lesen. Bei diversen Reimen verzog er gehörig das Gesicht und entschied, sie zu überspringen und lieber andere Strophen zu rezitieren. Er wollte sich nicht bekehren lassen oder bekehrt geben. Die Götter hassten ihn, er hasste die Götter, das war alles fein und völlig in Ordnung so. Aber er hasste es noch mehr, ignoriert zu werden. Er wollte verdammt nochmal reden – und sie würde zuhören und sie würde antworten!

Er hatte Geduld. Zur Not hatte sie seine Gebete für den Rest der Ewigkeit im Ohr, jawohl!

 

„Sprich.“

Das Wort war körperlos. Klang gleichgültig, auch wenn es das ganz gewiss nicht war. Und erklang schon wenige Tage, nachdem er zu beten begonnen hatte. Endlich, endlich, endlich hatte sie ihn erhört. Unter einem Seufzen richtete sich Ithildalin auf, klappte das Buch zu und legte es tatsächlich sogar recht behutsam auf dem Schrein ab.

„Gut, um eins klarzustellen: Du magst mich nicht, ich mag dich nicht, fein. Aber du wirst mir bei etwas helfen. Genauer gesagt: Du wirst etwas für mich tun.“ Vielleicht war es nicht unbedingt seine beste Idee gewesen, seine Eröffnungsrede damit zu beginnen, das er Forderungen an eine Gottheit stellte, die ein sehr spezielles Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte, wie man so schön sagte.

„Sprich“, wiederholte sie dagegen nur.

„Du wirst es den aktuellen Anführern des Iustus-Bundes ermöglichen, mit Sierra zu sprechen. Sie haben ein paar talentierte schwarznekromantische Hexer in ihren Reihen, die das schon versuchen, seit sie gestorben ist. Der Bund… er zerfällt nicht, noch nicht. Aber er bekommt gerade ziemlich den Arsch versohlt. Sie brauchen Sierras Führung und Anleitung. Das mag dich nicht sonderlich interessieren, klar, Göttin des Todes, Gleichgültigkeit und so weiter. Aber es interessiert mich. Was wirklich traurig genug ist. Zweitens: Du wirst Sierra zu einem späteren Zeitpunkt wieder zum Leben erwecken. Du holst sie aus dem Totenreich zurück, bastelst ihr irgendwie ihren knackigen, frisch hundertjährigen Körper zurück und steckst ihre Seele da wieder rein! Und drittens: Keine Angst, ich will nicht, dass das für alle Ewigkeit ist. Ich kenne dich und deine Predigten gut genug, um zu wissen, dass du auf alles allergisch reagierst, was das Wort ‚ewig‘ enthält. Also machen wir’s stattdessen so: Du holst Sierra zurück, mit ihrem eigenen Körper, allem drum und dran. Und du belebst mich wieder. Du zerrst meine Seele aus dem Abyss zurück. Du regenerierst meinen Körper ebenso und steckst meine Seele wieder hinein. Und du gibst uns beiden einhundert Jahre, die wir ganz normal leben können. Gut, meinetwegen auch sterben, falls wir uns von Löwen durchkauen lassen oder es für eine gute Idee befinden, in Lavagruben zu springen. Aber kein natürlicher Tod wird eintreten vor der Marke von einhundert Jahren!“

Eine ganze Weile herrschte bemerkenswert gespenstische Stille, ehe Ereshkigals körperlose Stimme sich erneut meldete. „Und warum sollte ich dergleichen tun?“

Mit einem Schlag wuchs ein unerträglich breites, selbstsicheres, vor allem aber selbstzufriedenes Grinsen auf den Lippen des Lichs. Sie hatte angebissen! Der Preis, den er forderte, war vermessen. Regelrecht unverschämt. Ithildalin wusste nicht einmal, ob die Göttin des Todes überhaupt fähig war, eine Seele aus dem Nachleben zurückzubringen. Ob sie fähig war, einen Körper zu formen, wie er schon einmal bestanden hatte. Ob sie fähig war, einen Untoten seiner Preisklasse wieder zurückzubringen, zu regenerieren, Xaraks Einfluss zu entreißen. Er wusste nicht, ob sie zu irgendetwas davon fähig war. Das war natürlich ein Risiko – die Götter waren sich, glaubte man diversen Erzählungen, im Zweifelsfall nicht zu fein, um einfach zu lügen.

Aber Absicherungen konnten geschaffen werden. Und hier und jetzt ging es erst einmal nur darum, die Verhandlungen zu beginnen. Und das hatte er offenbar soeben geschafft. Sie hatte angebissen, sie war von der Vermessenheit seiner Forderungen beeindruckt und war nun neugierig, wollte wissen, was er dafür bieten konnte und… oh, nun, Ithildalin war sich sehr sicher, dass das, was er zu bieten hatte, diesen Preis wert war. Diesen Preis und eigentlich noch weit, weit mehr.

„König Xaraks Kopf auf einem Silbertablett“, platzte er breit grinsend hervor, ehe er ein nervöses „sprichwörtlich“ nachschob.

„Erkläre!“, verlangte Ereshkigal daraufhin sehr viel drängender und weit weniger gleichgültig als zuvor.

Oh und wie sie angebissen hatte…!

„Ich gehöre vielleicht nicht zum Hohen Rat – aber ich bin der, der die Entwicklungen in seiner Armee maßgeblich vorantreibt. Ich bin die treibende Kraft geworden, die neue Schöpfungen hervorbringt. Ich bin der, an den man mit kritischen Projekten und neuen Anforderungen herantritt. Ich habe meine Konkurrenten ausgemerzt, ausgestochen, übertrumpft und ausgespielt. Ich bin der brillante Verstand hinter zahllosen Neuschöpfungen untoter Kreaturen, die dir und allen anderen auch das Leben so schwer machen. Und gerade weil ich so gut darin bin und meine Schöpfungen euch das Leben so schwer machen, habe ich mir eine unikate Position erarbeiten können. Der Hohe Rat delegiert, er berät, er intrigiert, aber sie können sich nicht gegen Xarak richten – so wenig, wie sie es je versuchen oder auch nur wollen würden. Ich dagegen bin kein Teil des Hohen Rates, aber ich habe eine Vertrauensposition inne. Mein Rat wird nicht nur gehört, er wird erbeten. Ich kann ihn in eine Situation bringen, die es euch ermöglicht, ihm, seiner Existenz, seinem Reich, seiner Armee, einfach jedem Untoten unter seinem Einfluss, ein Ende zu bereiten. Endgültig.“

„Wie?“, verlangte die Göttin natürlich sofort zu wissen.

Und das Grinsen wurde breiter. Er hatte seinen Preis so gut wie in der Tasche. Sierra, ich sagte es dir doch: Wir werden sehen! „Oh, hast du schon mal von den Flüsterklippen in Arvum gehört? Bemerkenswerte arkane Eigenschaften. Lass mich dir eine lustige kleine Anekdote dazu erzählen und dann können wir darüber reden, wie sehr ich mich gerade von dir über den Tisch ziehen lasse, weil alles, was ich im Gegenzug fordere, ein paar läppische und ohnehin begrenzte Jahre mit einem einzelnen, obendrein tief respektvollen und gläubigen Tiefling sind…!“

Schutzgeist

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Manal-Khesin, vielleicht?

 „Du willst… was? Nein. Nein! Vetus, wir jagen den gefährlichsten Untoten der gesamten Welt, wir haben keine Zeit für sowas!“

Irgendwo hatte er einen Fehler begangen. Er wusste es. War ja zugegeben auch schwer zu übersehen. Vielleicht hatte es daran gelegen, das Gespräch mit „Arien, wir müssen reden“ zu beginnen. Das hatte möglicherweise bereits erste Warnglocken geläutet, erste Abwehrmaßnahmen in Position gebracht und eine zumindest unbewusste, unterschwellige Erwartungshaltung etabliert. Genau. Daran musste es liegen.

Dann wiederum hatte er auch selbst eine Erwartungshaltung, sobald es um Gespräche mit Arien ging. Erst recht, wenn er Mist gebaut hatte und ihn wider ihres überragenden Intellekts gestehen musste, weil sie nicht zufällig selbst darüber gestolpert war oder die Konsequenzen sich selbst veröffentlichten – oder, weil er etwas wollte und wünschte, das ihren Vorstellungen und Zielen widersprach. Beides waren Dinge, die häufig zu dieser Einleitung eines Gesprächs führten. Ein Warnschuss, gewissermaßen – damit sie wusste, worauf sie sich einstellen sollte.

So betrachtet, war der bisherige Gesprächsverlauf nicht ganz so überraschend wie er ihm zunächst vorgekommen war. Überraschend – aber mehr noch, frustrierend. Nun, da die Erkenntnis stand, galt es die Frage zu beantworten: Wie ging es von hier an weiter? Wie liefen diese Gespräche üblicherweise weiter?

Er rechtfertigte sich, erklärte sich und sein Vorgehen, bekam hier und da ein wenig Verständnis oder Nachsicht, wieselte sich über die deutlich vorhandene Sympathie heraus. Das war natürlich nicht immer so. Nicht einmal wirklich oft – aber heute würde er diese Route nicht gehen. Nicht gehen können. Also entschloss Vetus sich, zu tun, was er am besten konnte: Arien verwirren und ihre Verwirrung ausnutzen, um ihre Zustimmung zu erlangen. Denn das hatte ja bisher immer sooo gut geklappt…

„Es nennt sich Manal-Khesin!“, erklärte er in stolzem Brustton und bemühte sich um sein überzeugendstes Lächeln. Vielleicht wiederum war gerade dieses Lächeln das Problem gewesen…?

„Manal-Khesin?“, wiederholte Arien mit skeptisch gehobener Braue. Etwas unsicherer als zuvor bemühte sich Vetus dennoch, zu nicken und dabei die gleiche Überzeugung auszustrahlen – an Letzterem scheiterte er gnadenlos. „Papa, ich kann Drakonisch. Ich spreche es. Fließend. Auch Alt-Drakonisch!“

Ach ja… ups…?

„Und nach dem Wenigen, was du mir bisher erzählt hast, ist der Tag, an dem man Dinge weggibt einer der schlechtesten Namen, den ich je gehört habe – und scheint mir auch nicht recht zum alten, ehrwürdigen Volk der Erstgeborenen zu passen. Also?“

Also? Also was? Also… alsooo… oh – sie wartete auf eine Erklärung des Namens! Na das war doch perfekt. Das hieß, die Ablenkung hatte funktioniert. Er hatte quasi die Klaue in der Tür. Ausgezeichnet! „Also möglicherweise ist das drakonische Volk nicht immer sehr präzise. Oder sich in allem einig. Möglicherweise empfanden ein paar von uns, gerade von den Älteren, dass nicht immer alles einen Namen braucht, weil ja ohnehin selbstverständlich ist, was man meint. Und möglicherweise versuche ich seit Ewigkeiten, das zu ändern. Zugegeben, ist vielleicht nicht der beste Name, aber wenn man des Drakonischen nicht mächtig ist, dann klingt er ganz hübsch, oder nicht? Mir ist einfach noch kein Name eingefallen, der im Drakonischen eine sinnvolle Bedeutung hat, in anderen Sprachen aber nicht völlig absurd klingt.“

Das hatte aus der Bahn geworfen. Irgendwie.

Arien dachte eine ganze Weile nach, ehe sie langsam den Kopf hob und ihn musterte. „Du willst dem einen Namen geben, den auch andere kennen sollen? Du willst das zu einem Bestandteil anderer Kulturen machen?“

Vetus stockte. Wollte er? „Naja… nein… ja… weiß nicht. Es ist ein Fest. Ein großes Fest. Eines, das meiner, ich meine, unserer Kultur entspringt. Und für uns wichtig ist. Und wir sind ja angeblich für die Welt so wichtig. Ira und andere haben inzwischen mehrfach bewiesen, dass sie Verbindungen zu anderen Rassen haben. Dass sie Freunde haben, die selbst keine Drachen sind. Und schau uns an. Wir haben Familie, die nicht zum Drachenvolk gehört. Der Rest der Welt soll davon wissen. Soll es kennen. Und irgendwann, vielleicht, mit uns feiern.“

Wieder musterte sie ihn eine Weile. „Das ist ein scheußlicher Name“, lautete ihr Urteil. Jedenfalls glaubte er, dass es ein Urteil war, ein recht Finales obendrein. Dann aber lächelte sie ihm leicht zu und schaffte es, die Verwirrungstaktik umzudrehen. „Erzähl mir mehr davon.“

Was genau sie dazu bewogen hatte, ihre Meinung zu ändern, wusste er nicht. Vetus hatte sich bereits felsenfest überzeugt vom weiteren Ablauf des Gespräches darauf eingestellt, die immer gleiche Diskussion mit Arien durchgehen zu müssen, ein inzwischen altvertrauter Tanz: Sie eröffnete damit, was sie taten. Was auf dem Spiel stand. Was sie noch alles zu tun und zu erledigen, zu bewältigen und zu meistern hatten. Er hielt dagegen, dass sie und Rik Personen waren, fehlbar, nicht-maschinell, mit Persönlichkeiten. Sie brauchten Ruhephasen, Erholung. Nicht nur Schlaf, um ihre körperlichen Bedürfnisse zu erfüllen – und Essen, wenn man schon mal dabei war -, sondern auch Entspannung und zumindest dann und wann etwas Freude, um auch dem Verstand die Möglichkeit zur Regeneration einzuräumen. Sie würde in einem verzweifelten Versuch dagegenhalten, dass das aber alles Zeit kosten würde und sie sich sehr wohl entspannen könne, während sie nützliche Dinge tat – woraufhin er all die Gelegenheiten aufzählen musste, zu denen eben genau das nicht funktioniert hatte.

Eine beständig wachsende Liste, überdies, was ihm diesen ganz speziellen Diskussionsablauf mit den Tagen und Wochen immer leichter und leichter gemacht hatte. Nicht, das er darüber sonderlich erfreut war. Er zog keinerlei Genugtuung daraus, sie scheitern zu sehen oder dabeistehen zu müssen, wenn sie sich – mal wieder – in Grund und Boden spielte und ihm die Rolle zufiel, die Tage zu zählen, wie lange sie das noch durchhalten könne, ehe einmal mehr ein weiteres Beispiel auf seiner Liste landen würde.

Aber Arien tat sich unglaublich schwer, aus bestimmten ihr eigenen Verhaltensmustern herauszukommen. Die diesbezügliche, charaktergebundene Sturheit war dem drakonischen Volk sehr zu eigen und vielleicht hatte er demgemäß eine gewisse Mitschuld daran – immerhin war er ihr Vater. Und allein an dem Umstand, dass er maßlos verfressen war und, sofern man ihn ließ, träge bis zur Sündenhaftigkeit hin, den Großteil seines Tages bereitwillig verschlafend, zeigte deutlich genug, dass auch er davor nicht gefeit war.

Diesen Tanz heute nicht aufführen zu müssen war… eine angenehme Erleichterung.

„Das Fest geht über drei Tage. Der vorletzte Tag des Jahres, der letzte Tag des Jahres und schließlich der erste Tag des neuen Jahres. Ich könnte versuchen, mir eine lustige Geschichte über Herkunft und Entstehung des Festes einfallen zu lassen, über seine weitreichende Bedeutung und was sich die ersten Drachen dabei dachten, aber… ich fürchte, das gehört mit zu dem Teil, der einfach nie wirklich einer Erklärung oder Erwähnung wert war und deshalb irgendwo in der Geschichte abhandenkam. Das Fest ist einfach.“

Es war… seltsam, sich so verwundbar zu fühlen. Er hatte mit Arien ein Risiko bewusst in Kauf genommen – das hatte er wieder und wieder und wieder getan. Jedes Mal, wenn er sich als ihr Vater zu etablieren versuchte. Wenn er ihr ein Freund sein wollte. Wenn er ihr seine eigenen Probleme anvertraute. Wenn er sich ihr gegenüber irgendwie nahbarer machte. Denn nur allzu oft ging das damit einher, verletzlich zu werden.

Aber sie standen längst nicht mehr am Anfang. Sie waren weit darüber hinaus. Er war ihr Vater. Er war ihr Freund. Er war für sie da. Und sie für ihn. Dieses plötzliche Empfinden von Verwundbarkeit war eine merkwürdige Erinnerung an frühere Zeiten und machte ihm mit einem Mal sehr deutlich, wie viel ihm das hier eigentlich bedeutete.

„In den letzten Wochen und Monaten hast du dich auf meine Ideen und Vorschläge immer mal wieder eingelassen. Du hast begonnen, dein kulturelles Erbe zu akzeptieren, dich damit auseinander zu setzen. Und ich bin stolz auf dich. Sehr. Dieses Fest ist… ein weiterer Teil davon. Ein Großer. Und ehe jetzt die Frage kommt, warum du dann jetzt erst davon erfährst – vorher war es einfach nicht relevant. Es hat dieses spezifische Datum, es wird niemals an irgendeinem anderen Tag gefeiert werden und… um ehrlich zu sein, ich denke, letztes Jahr warst du noch nicht so weit, die Tragweite dessen zu begreifen. Jetzt schau nicht so! Ich beleidige nicht deinen Verstand, das solltest du besser wissen. Aber inzwischen hast du ein völlig anderes Verständnis für drakonische Kultur, für unsere Sichtweisen, unsere Lebensweise. Oder nicht?“ Eine kurze Weile überlegte sie und ihr Nicken beruhigte ihn schließlich. „Gut, fein. Ich denke nämlich, dass das Fest für uns zwei nochmals eine ganz andere Bedeutung und Wertigkeit haben kann als für den Rest unseres Volkes.“

Zufrieden setzte er sich endlich wieder zu ihr auf das Sofa und begriff da erst, wie aufgewühlt er die ganze Zeit in Ariens Wohnzimmer herumgetigert war. Seine Beine waren schwer und müde. Seine Flügel ebenfalls – hatte er wieder mit ihnen herumgestikuliert?

„Der erste Tag ist der Vergangenheit gewidmet. Dabei spielt es keine Rolle, ob man von letztem Jahr spricht oder von vor fünftausend Jahren. Gefeiert wird das Gemeisterte und das, woran man scheiterte. Denn jeder Moment, der zurückliegt, formte den Weg, den man ging – und einen selbst. Es ist ein Tag der Besinnung. Am zweiten Tag feiert man die Gegenwart, das Vorhandene, die Herausforderungen, denen man gegenübersteht – weil sie die Möglichkeit bieten, daran zu wachsen. Und am dritten Tag dann das Zukünftige. Für Drachen ist das Fest so wichtig, weil wir einen völlig anderen Bezug zur Zeit haben, zu unseren Ursprüngen und dem Weltgeschehen. Es ist ein Mahnmal, eine Entscheidungshilfe, eine Gedächtnisstütze und eine Gelegenheit. Wie du schon festgestellt hast: Wir kommen selten genug zusammen. Das Fest wird aber auch nicht jährlich begangen, falls du jetzt darauf hoffst. Tatsächlich ist das ziemlich… unregelmäßig. Immer zur selben Zeit, ja, aber nicht jedes Jahr. Oder, schon, aber… warte – von vorne. Drachen sind so ganz grundsätzlich zeitlos, das weißt du schon. Sie altern und wachsen, aber sie sterben niemals nur am Verstreichen der Zeit. Junge Drachen sind häufig ziemlich… enthusiastisch, gerade aus Sicht der Älteren. Voller Tatendrang und so schrecklich ungeduldig. Sie wollen die Welt retten und Monster besiegen und Gutes tun – kommt dir vielleicht vage bekannt vor.“ Unter seinem breiten Grinsen und Zwinkern wurde sie zumindest ein klein wenig rot. Das funktionierte nach wie vor. „Junge Drachen legen auch einen Hort an, aber was sie horten, das wechselt häufig. Und meist fangen sie klein an. Münzen, Edelsteine, gewöhnliche Steine, Spielzeug, Kleidung, uhm… Hüte. Nein, kein Scherz – ich kannte mal einen Wasserdrachen, der Hüte sammelte! Oder werde kennen? Na jedenfalls: Wasserdrache. Federn und tolle Stoffe und alles ständig nass. Muss frustrierend gewesen sein, die sauber zu halten. All die Algen und was immer da unten noch wächst… äh, Fokus! Zum Fest wird am zweiten Tag üblicherweise demonstriert, dass man Drache ist, mit Stolz, sich aber der damit einhergehenden Schwächen durchaus bewusst ist und nicht nur fähig, sondern auch willens ist, sich mit ihnen auseinander zu setzen, sie zu konfrontieren – und sie, letztlich, zu überkommen. Das macht man, indem man ein Stück aus seinem Hort aufgibt und es dem Hort eines anderen Festteilnehmers anvertraut. Mit diesem Teil des Hortes gibt man ein Stück von sich selbst auf – und im Gegenzug akzeptiert man etwas von jemandem. Das ist alles sehr… persönlich.“

Das wiederum hatte sie sehr schnell begriffen, wie ihm klar wurde. Arien wirkte sehr… unbegeistert. Ihr Hort war die Nadel. Oder vielmehr: Die Leute darin. Aber wie so viele junge Drachen wechselte das, was sie hortete häufig und sie hortete nicht nur eine Sache. Glücklicherweise. Leute als Besitztümer zu überreichen hätte… schwierig werden können. Abbas mit einem hübschen roten Schleifchen am Oberarm, wie er von Arien langsam in Elesils Richtung geschoben wurde und sich stocksteif dagegen aufzulehnen versuchte. Ein amüsantes Bild in seinem Kopf, aber Vetus konzentrierte sich rasch wieder auf das Notwendige.

„Du sammelst nicht nur Familie. Vergiss das nicht“, mahnte er entsprechend zügig. Sie wirkte verdutzt, irritiert, entspannte dann jedoch merklich – nur, um sich sofort wieder ein Stück weit anzuspannen. Nun, zumindest war es nicht so schlimm wie zuvor. Denn obgleich nicht so schlimm wie das Verschenken einer Person, war für einen Drachen doch jeglicher Verlust aus seinem Hort spürbar und schmerzhaft. Und sei es nur ein paar Ohrringe, ein Armreif oder ein Fußkettchen.

„Junge Drachen feiern das Fest aufgrund ihrer ungeduldigen Natur und ihres meist größeren Hortes, der aus vielen kleinen Einzelteilen besteht und dessen Bestandteile oft wechseln, häufiger. Sie kämpfen aber auch stärker mit ihrer Natur und haben damit mehr Probleme, sich im Griff zu halten. Je älter ein Drache wird, umso stärker ist sein Wille. Umso besser kennt er sich aus. Ist mehr im Einklang mit sich, seinem Sein und seinen Instinkten. Was aber vielleicht auch nicht ganz unwichtig ist: Der Hort eines älteren Drachen wird entgegen der großen Legenden von überragenden Schätzen und vollkommen ausgehöhlten Bergen voller Gold tatsächlich eher kleiner als größer. Also, meist zumindest. Diese wenigen, überschaubareren Stücke sind dann aber meist phänomenal kostbar. Oder mächtig. Deshalb feiern Drachen das Fest meist auch in ihrer gleichen Altersgruppe. Für einen alten Drachen ist die bloße Vorstellung grausig, er würde im Rahmen des Festes eine Sphäre der Vernichtung verschenken – an einen jungen Drachen, der entweder genug Willen hat, sich gegen sie durchzusetzen und sie tatsächlich einzusetzen, oder eben nicht – und mit dem Versuch, sie einzusetzen, sich selbst umbringt. Ältere Drachen horten zudem auch Dinge, die sich mitunter einfach wirklich schwierig verschenken lassen. Ich kannte mal diesen Astraldrachen… oder werde kennen… der sammelt Taschendimensionen. Klar, so einen bodenlosen Beutel kannst du problemlos jemandem in die Klauen drücken. Oder Hände. Ein tragbares Loch geht auch noch. Aber ein Demiplane? Und wie schon gesagt: Der Hort eines älteren Drachen wird meist kleiner, überschaubarer, aber häufig wertvoller und mächtiger. Ich bezweifle, dass der sowas wie bodenlose Beutel und tragbare Löcher überhaupt noch hatte.“

Breit grinsend saß Vetus einen Moment stillschweigend dort, hing seinen Gedanken nach. Fetzen von Erinnerungen aus einem anderen Leben. Seinem, schon – aber es ließ sich, wie so oft, schwer sagen, ob es ein früheres, späteres oder grundsätzlich anders verlaufenes Leben war. Er genoss schlicht die Vertrautheit einer engen Freundschaft, die er darin sah. Genoss Erinnerungen an ein gefeiertes Fest, bei dem ihm unter stundenlanger Predigt zum sicheren Umgang damit eine Taschendimension übergeben worden war. Wo die wohl gerade herumschwirrte? Ob sie auch mit ihm einen Zeitsprung gemacht hatte? Ob es sie irgendwo gab und er nur nicht mehr wusste, wo und wie man sie betrat?

Erst nach einer ganzen Weile fand er ins Hier und Jetzt zurück. Arien wirkte nachdenklich. Wussten die Götter, worüber sie sich den Kopf zerbrach – er empfand es nicht als störend, ihr hinein zu quatschen und wusste inzwischen aus Erfahrung, dass sie klug genug war, damit zurechtzukommen. „Wir sind jung. Wir haben viel. Und jetzt… da du soweit bist… würde ich gerne unser erstes gemeinsames Fest feiern. Du und ich – und der Rest der Chaoten hier.“

Offenbar hatte er einen Punkt erraten, der gegenwärtig in ihrem Kopf diskutiert wurde. Überrascht blickte Arien auf und lächelte nach einem Moment. Oh sie hatte doch nicht etwa wirklich geglaubt, dass das ein Zwei-Personen-Fest werden würde?!

„Ist es denn in Ordnung? Wenn der Rest davon erfährt? So wichtig, wie es ist, wirst du sie nicht einfach mitfeiern lassen, ohne ihnen zu erklären, was sie eigentlich feiern, oder?“, hakte Arien etwas unsicher nach.

Vetus dagegen grinste breit. „Manal-Khesin“, gab er lediglich zurück.

Sie nickte, deutlich das Gesicht verziehend. „Die Grammatik ist schrecklich“, erklärte sie. Aber zumindest hatte er deutlich machen können, was er hatte deutlich machen wollen: Das Fest war ein Fest der Drachen, eine Tradition ihres Volkes. Das hieß nicht, dass man es nicht anderen Völkern nahe bringen konnte.

Oder eben vielleicht sogar sollte.

Denn wer konnte wirklich bestreiten, dass es da draußen nicht mehr Raum für Verbesserung gab? Wer konnte sagen, das nicht genug Menschen, Elben, Zwerge, Tieflinge, Aasimare, Halblinge und wie sie noch alle hießen, unter Gier litten, unter Geiz, unter Egoismus und Missgunst? Das Fest war ein Fest des Gebens. Des Besinnens, Wertschätzens, Hoffens. Nicht zuletzt war es ein Fest der Liebe: Man überreichte, was einem wert und teuer war. Und das tat man ganz gewiss nicht einfach an irgendwen. Man feierte im Kreis der Familie. Vielleicht sogar der Freunde. Was man gab, wollte man sicher wissen, gut behütet und wertgeschätzt, wohlwissend, dass die Wertschätzung des neuen Besitzers niemals an die Eigene heranreichen würde – aber deshalb nahm man ja auch etwas von jemand anderem in Obhut.

„Das heißt, du bist dabei?“, hakte Vetus nach einer Weile vorsichtig nach.

Eher geistesabwesend nickte Arien. „Ja, natürlich… wir müssen nur…“ Sie nuschelte, leise, den Blick weit schweifen lassend. Er durchdrang das Textil des Stuhls, das Holz des Tisches, den Stein des Bodens und vermutlich auch die Existenzebene, in der sich dieser Raum befand.

Seufzend tippte Vetus sie gegen die Schulter und wartete, bis sie sich vom unweigerlichen Zusammenzucken erholt hatte und ihn entrückt anstarrte. „Wir müssen gar nichts. Ich muss. Du dagegen hast grünes Licht gegeben und ich kann jetzt anfangen. Und um ehrlich zu sein: Das habe ich sogar längst. Die anderen wissen bereits, was das Fest ist, wann es ist und was es dazu bedarf. Viele haben sich bereit erklärt, zu helfen. Auch wenn es nicht wirklich viel zu erledigen gibt.“

Grünes Licht… seltsam, wie schnell sich die Redewendung eingeprägt hatte…

„Vasilla fand den Namen übrigens sehr wohlklingend!“

Abermals verzog Arien das Gesicht. „Sie spricht kein Alt-Drakonisch, oder?“

„Nicht, das ich wüsste.“

„Dann versteht sie nicht, was du der Sprache antust. Das zählt nicht. Hast du Rik gefragt?“

„Natürlich. Er zierte sich wieder ziemlich, aber nach der sechsundsiebzigsten Frage in einer Stunde sagte er seine Beteiligung zu“, erklärte Vetus stolz. Er hatte Rik überzeugt, an einem sozialen Ereignis teilzuhaben. Im Kreise aller. Mit vielen Leuten. Und Gesprächen. In denen er teilnehmen würde. Dabei ließ er gekonnt unter den Tisch fallen, das er in dieser einen Stunde nur sechsundsiebzig Mal gefragt hatte – Thilia dagegen geschätzt doppelt so oft. Fünfmal so oft, falls man ihre mentale Brücke zu Rik mit einbezog.

„Ich-… was? Nein, warte. Ich meine wegen des Namens“, korrigierte Arien zunächst etwas verwirrt.

„Was? Ach so. Uh… nö?“ Zugegeben, das kam etwas kleinlauter heraus, als es beabsichtigt gewesen war.

„Dachte ich mir irgendwie“, schoss Arien sofort auf die offengelegte Schwäche los. Rik beherrschte Alt-Drakonisch und verstand damit umso besser, was der Name bedeutete. Aber verstand sie denn nicht, das Rik nunmal Rik war und Rik-Dinge tat und dachte und sagte? Das war kein fairer Maßstab für einen normalen Verstand! Rik war immer so… penibel, wenn es um Sprachen ging…!

„Was… muss ich dann jetzt eigentlich machen?“, erkundigte sich Arien nach einem Moment wieder, deutlich unsicherer als eben.

Vetus dagegen zuckte mit den Schultern. „Nichts wirklich. Wobei – du könntest dir schon mal Gedanken darum machen, wovon du dich trennen würdest.“ Wieder spannte sie sich etwas an, nickte jedoch. Die Frage dagegen, wer denn ihr Stück bekäme, irritierte ihn und zeigte nur zu deutlich auf, dass er zu tief in der Sache drin steckte, um immer alle Details vor Augen zu haben. „Oh, uhm, das weißt du nicht. Das weiß niemand vorher. Es ist kein personalisiertes Geschenk, nicht auf den Empfänger zugeschnitten. Dreh den Spieß stattdessen um: Was bedeutet dir wie viel und wovon wärst du bereit, dich zu trennen? Wer was bekommt, das wird ausgelost. Aber jedes Stück hat eine Geschichte. In der oft deutlich wird, warum es einem so viel bedeutet. Du hast viel Schmuck – aber mancher davon ist dir mehr wert als anderer. Denk dran: Es geht um Überwindung. Klar, du könntest dich vom kleinsten Stück trennen, das wegzugeben dir am einfachsten fällt. Aber was hättest du damit wirklich demonstriert? Eine Fähigkeit, dich selbst im Zaum zu halten, oder letztlich doch nur, wie sehr Geiz dich führt und leitet? Du solltest aber auch nicht ins andere Extrem umschwenken und deinen kostbarsten Besitz herausrücken – denn das ist, äh, naja… dein kostbarster Besitz eben. Du bekommst ihn nicht zurück. Die anderen werden vermutlich Schwierigkeiten haben, deine Geschichte zu verstehen, wie viel wirklich für dich dran hängt. Hm dann wiederum, in letzter Zeit haben sie oft genug erlebt, wie es dir geht, wenn dein Hort bedroht wird – vielleicht verstehen sie’s ja doch. Werden wir dann wohl sehen.“

Vetus wusste sehr wohl, dass das nicht sonderlich hilfreich gewesen war. Sie sollte nicht das Stück nehmen, von dem sie sich am leichtesten trennen konnte, weil es die Botschaft des Festes untergraben würde. Aber auch nicht, was am kostbarsten wäre – weil es ein tatsächlicher Verlust wäre. Das Zweitkostbarste also? Warum hatte er nicht einfach auf ein paar Ohrringe deuten und „die da“ sagen können? Sie hätte sich damit abfinden müssen, sich überwinden müssen. Aber es wäre klar und eindeutig gewesen. Warum hätte sie nicht vorher wissen können, für wen es war? Dann hätte sich möglicherweise etwas finden lassen, das dem Empfänger auch Freude bereitete. Etwas bedeutete. Mehr war als Tand, der auf einem Regal verstaubte.

Aber darum ging es nicht. Es ging nicht um den Gegenstand – oder den nassen Hut oder die Taschendimension -, sondern um den ideellen Wert. Um die Geschichte. Darum, was es dem Vorbesitzer bedeutet hatte. Es ging darum, sich der Vergänglichkeit aller Habe bewusst zu werden. Sich damit zu konfrontieren. Und im Angesicht dessen zu überdauern. Sich nicht von falscher Vorsicht im Genuss des Vorhandenen beeinträchtigen zu lassen, sich nicht an alles zu klammern oder davor zurückzuschrecken. Es war eine Lektion in Mäßigung. Etwas, dass das Drachenvolk – jedes einzelne Mitglied – dann und wann gut gebrauchen konnte.

Arien stand eine interessante und teils schwierige zweite Monatshälfte bevor, ehe die Stille zu ihrem Ausklang kommen und das Fest tatsächlich stattfinden würde…

 

„Oh gute Götter…“, seufzte Lisa zutiefst selig. Vasilla trug entsprechend das stolzeste Lächeln zur Schau, das sie mustern konnte, während Elesil zu kichern begann und Scherze darüber riss, dass das nicht unbedingt nach dem klang, was tatsächlich vor sich ging. Aus dem Zusammenhang gerissen, hätte man ganz andere Dinge annehmen können und nicht, das Lisa soeben etwas so simples genoss wie einen Vanillepudding.

Der kleine Löffel verweilte zwischen ihren Lippen, bis auch das letzte Bisschen der Süßspeise zur Gänze in ihrem Mund zerschmolzen war. „Das ist so unverschämt gut…“, seufzte sie abermals leise, ehe sie den Löffel, frisch befreit, in die Schale zurückgleiten ließ, um das nächste Bisschen heraufzuholen.

Arthur dagegen lachte herzlich auf. Immerhin hieß das, dass seine Tipps und Tricks sich gelohnt und ausgezahlt hatten. Vasilla mochte vor Stolz gleich platzen, immerhin hatte sie den Pudding gemacht, aber letztlich hatten unzählige Hände ihr bei der Zubereitung geholfen. Denn es bedurfte einiges an Zutaten und Küchenfinesse, war das doch kein gewöhnlicher Vanillepudding und einige Ideen zur Verarbeitung kamen von Arthur.

„Das erste Mal gegessen habe ich den vor… uff, ich weiß nicht mal mehr, wie lange das her ist. Es war die erste wirkliche Süßspeise, die ich kennenlernte. In meiner ersten Inkarnation. Scheint mir eine Ewigkeit her – ist’s vielleicht sogar auch“, erklärte Lisa mit einem verträumten Lächeln, ehe sie den zweiten Löffel zwischen ihre Lippen schob und einmal mehr jenseits der hiesigen Existenz war.

Der erste Tag des Festes war der Vergangenheit gewidmet.

Worauf Vetus Arien nicht vorbereitet hatte, war das Essen und Erzählen. Die zwei zentralen Hauptbestandteile jedes einzelnen Tages. Vielleicht hatte das auch irgendwie seine Gründe gehabt, angesichts ihrer wirklich lausigen Angewohnheit, mit maximal einer bis zwei Mahlzeiten am Tag zurechtkommen zu wollen. Gerade bei ihrem Stoffwechsel als Verwandler. Und Drache.

Zur Wertschätzung der Vergangenheit gehörte mehr als nur das Erzählen von Anekdoten aus alten Tagen – wobei auch dieser Teil wahrlich nicht zu kurz kam. Die gesamte Nadelgemeinschaft, oder inzwischen wohl vielmehr besser als Nadelfamilie bezeichnet, hatte sich im Gasthaus eingefunden. Die zwei großen Tafeln waren zusammengerückt worden und generell hatte der Raum doch deutlich sein Gesicht verändert. Einer der Kamine fungierte vorübergehend als Herdstelle, diverse Töpfe, Pfannen und Schälchen rotierten, Mehl und Zucker bedeckte an einer Ecke in einer dünnen Schicht die dunkelrote Holzplatte. Gearbeitet wurde heute nicht in der Küche – die war zu klein. Und obgleich Lisa sich zweifellos gerne erbarmt hätte, all die zahllosen Rezepte zuzubereiten, galt es nicht einfach nur, Leibspeisen aus Kinder- und Jugendtagen zu essen. Es ging um die Gemeinschaft. Um das Beisammensein. Und das Teilen.

Also packten alle mit an, jeder auf seine Weise. Um Lisas Vanillepudding genau richtig hinzubekommen.

Um Arthur einen Lammbraten zu machen.

Oder Elesil einen Hummer zuzubereiten.

Elesil mochte Hummer nicht. Dieser Tage zumindest nicht mehr, weshalb sie zwar bei der Zubereitung fleißig half und sich auch ein kleines Stück nahm – immerhin ging es ja genau darum -, den Großteil aber der Gemeinschaft überließ. Nicht jeder mochte, was er damals mochte. Dinge änderten sich, ganz zwangsläufig. Arthur aß dieser Tage so gut wie kein Lamm mehr. Er konnte selbst nicht recht erklären, warum eigentlich. Es war kein sonderlich exotisches Gericht. Es war nicht selten oder schwer zu bekommen, nicht übermäßig teuer oder schwer zuzubereiten. Aber er aß es einfach so gut wie gar nicht mehr.

Diesen Lammbraten jedoch wusste er zu schätzen. Sehr. Und beging den Fehler, den viele begingen – und über den sich Vetus gnadenlos amüsierte, zumindest innerlich: Er aß. Viel.

Die Nadelgemeinschaft war jedoch groß. Und an diesem Tag sollte jeder eine Geschichte erzählen. Jeder sich in seine frühen oder früheren Tage zurückversetzen. Jeder ein wenig in Nostalgie schwelgen. Eresthenes bastelte mit Hilfe der anderen einen Marmorkuchen. Obwohl er ihn als Kind bereits gehasst hatte. Und er fand ihn noch immer absolut widerlich. Der Rest genoss ihn, natürlich – begleitet von seiner Geschichte, wie er erstmals in ein Dorf laufend das Erstbeste sich hatte aufschwatzen lassen, das ihm als ein wahrer Genuss und ein Meisterwerk menschlicher Zivilisation angedreht worden war.

Andere, wie Artemis und Lady Rasska, ergänzten das Mahl mit entsprechenden Getränken. Lady Rasska war verantwortlich für die drei großen Karaffen aus Kristall, in denen sich im Grunde einfach nur Wasser befand. Doch selbstverständlich war es nicht irgendein Wasser. Es war Wasser aus der Quelle im Heiligtum von Eumenes.

So gut wie niemand wusste, dass es im Heiligtum überhaupt eine Quelle gab. Rasska bezweifelte sogar, ob Eumenes selbst das wusste. Wie lange mochte es her sein, dass jemand in den Vorratsräumen all die Kisten geleert, die Truhen bei Seite geschoben, die Körbe fortgehoben haben mochte? In jener Kammer existierte ein Brunnen, auch wenn die Konstruktion nicht wirklich mit dem Steinzylinder vergleichbar war, den man an der Oberfläche kennen mochte.

Sie erinnerte sich noch sehr gut und lebhaft an ihre ersten Tage im Heiligtum. An ihre Priesterschaft und wie schrecklich überfordert sie sich gefühlt hatte. Vor so vielen hochrangigen Vertretern ihres Volkes offen und frei reden zu müssen, stolz das Kinn gehoben zu halten, während so mancher Blick Bände davon sprach, wo man sie wirklich sah und glaubte. Sie hatte einen schwierigen Start gehabt, hatte sich in diese Dinge einleben müssen. Es fand sich alles, nach und nach. Heute war es schwierig, sich an diese Zeiten überhaupt noch zu erinnern. Das Wasser… half dabei. Es war sehr kühl und schien grundsätzlich eine etwas niedrigere Temperatur zu haben als die Umgebung, egal wie lange man es im Raum stehen ließ. Es schmeckte mineralisch, wie aus einer Bergquelle, mit einer leichten, säuerlichen Note. Es war rundherum erfrischend. Belebend sogar, eine Wohltat nach schwerer Arbeit oder einem erschöpfenden Tag.

Nichtsdestotrotz war es einfach nur Wasser.

Und kein Gericht, dass die Nadelgemeinde zuzubereiten fähig gewesen wäre, hätte ihr besser helfen können, sich in die Vergangenheit einzufinden und in früheren Begebenheiten zu schwelgen.

Die Priesterin der Mutter hatte schon einige Monate gedient, ehe sie in ihr Amt berufen worden war. Was sich zunächst als merkwürdige Mentor-Schüler-Verbindung etablierte, war – natürlich – der Beginn von mehr. Auch wenn das unerwähnt blieb. Und bis zum heutigen Tage hatte Rasska nicht ein Wort bezüglich der Quelle verloren, zu niemandem. Sie hatte sie jedoch auch selbst in all der Zeit nicht mehr aufgesucht, seit sie aus dem Exil zurückgekehrt war.

Artemis dagegen mischte alchemische Reagenzien. Mit Riks Hilfe, da dessen Blick voller Horror Bände gesprochen hatte. Jetzt war er zu konzentriert auf die Vorgänge, darauf, die Effekte und Mischungen zu verstehen, um sich über mögliche Explosionen im Gasthaus Gedanken machen zu können. Eresthenes hatte zwar seine Hilfe angeboten, aber die wurde großzügig abgelehnt – er verstand nicht, wieso.

Was Artemis mit Hilfe zusammenmischte, war ein Geschmackstest. Die Reagenz hatte keinen wirklichen Namen und wirkte giftig – weshalb alle zuvor ein Antidot tranken und Rik mit einem Zauber genau im Blick behielt, wer das Gebräu nicht so gut verkraftete. Einer seiner früheren Meister, ein früherer Nadelmeister damit, hatte sich völlig in seiner Paranoia verrannt und war zu der Überzeugung gelangt, dass man ihn bereits vergiftet haben müsse – nur so ließ sich erklären, warum niemand ihn angriff: Sie warteten einfach darauf, dass das Gift ihnen die Arbeit abnahm. Also mischte er dieses Zeug zusammen und gab es seinem Konstrukt zu trinken. Zunächst, ohne zu begreifen, dass es keinen Effekt hatte. Nicht haben konnte.

Also brachte er Monate damit zu, Artemis‘ Kernfunktionen zu erweitern, bis er ihn wieder in Betrieb nahm. Um die Fähigkeit erweitert, zu schmecken. Glaubte er jedenfalls.

Der Nadelmeister indes war sehr viel blasser geworden, dürrer, schwächer. Dass konnte nur daran liegen, dass das Gift, mit dem seine zahllosen namen- und gesichtslosen Feinde ihn niederzustrecken versuchten, langsam Wirkung zeigte. Entgegen Artemis‘ Hinweis, dass Gifte höchst selten so extrem langsam funktionierten und für den Fall, dass sie es täten, schrecklich ineffektiv wären, ließ sich der Paranoide davon nicht abbringen. Er vertraute offenbar obendrein nicht auf konventionelle Heilmagie. Er war selbst nicht fähig, Heilzauber zu wirken und hätte sich lieber einen Aderlass angetan, als irgendwen sonst an sich heranzulassen, um präventiv einen Entgiftungszauber zu wirken.

Nach dem Neustart gab er Artemis abermals die Kreation zu trinken. Der Geschmackstest war das Resultat der Überlegung, dass eine Vergiftung zur Veränderung seiner Körperchemie geführt haben müsse. Folglich müsse er Dinge nun anders schmecken – denn Geruch, Gehör, Tast- und Sehsinn waren nicht beeinträchtigt. Es gab also wirklich keine andere Möglichkeit! Artemis sollte ihm aufzeigen, auf welche Weise sich sein Geschmack verändert hatte, damit er Rückschlüsse auf das verwendete Gift ziehen und ein Gegengift mischen konnte.

Allerdings waren die Veränderungen an Artemis nicht ganz so perfekt verlaufen, wie er sich erhofft hatte. Oder etwas besser als erhofft – je nach Sichtweise. Obwohl das Konstrukt nun zwar nach grundlegenden Geschmacksrichtungen unterscheiden konnte, war es auch befähigt worden, eine chemische Analyse der Substanz vorzunehmen.

Ja, es schmeckte beim ersten Trinken süß, dann sauer, dann leicht salzig und endete auf einer bitteren Note. Aber Artemis warnte seinen Schöpfer vielmehr davor, dass das Getränk giftig war – zumindest für seine Physiologie. Es mochte ein seltsamer Moment der Klarheit oder Erkenntnis gewesen sein, als jener Nadelmeister den vollen Umfang seiner Taten begriff. Über die Monate, in denen er an Artemis gebaut hatte, hatte er kontinuierlich die Rezeptur zu verfeinern und zu verbessern versucht. Blindlings, zwangsläufig, da seinen Geschmackssinnen ja offenkundig nicht zu trauen gewesen war. Dennoch hatte er immer wieder davon getrunken – um sicherzustellen, dass sich nicht doch irgendwie etwas auch ohne die Hilfe des Konstruktes herausfinden ließe.

Er hatte sich wochenlang selbst vergiftet.

Und mit so viel der verantwortlichen Substanz im Körper halfen auch die panisch zusammengeworfenen Gegengifte nicht mehr. Es waren drei weitere Tage, mehrheitlich bettlägerig, ehe er an den Folgen der eigenen Paranoia verstarb.

Artemis hatte jedoch keineswegs vor, die Geschichte auf einer derartig niederschmetternden Note enden zu lassen – also führte er nahtlos dazu über, welche Merkwürdigkeiten im Namen der Sicherheit der Nadel veranstaltet worden waren. Welche Fallen und Geniestreiche sein damaliger Meister sich überlegt hatte. Wen er alles als Feind sah. Es war viel dabei, das zum Schmunzeln, Lächeln und Lachen einlud. Viel auch zur Selbstreflektion – denn wovor hatten sie alle nicht auch schon Angst gehabt, worum sich gesorgt? Allein der Gedanke, die Steinwyvern könnten davonfliegen und die Nadel damit plötzlich, irgendwie, offenlegen. Oder die selbst hereingeholten Verbündeten könnten sich gegen den Meister wenden, der sie geholt hatte.

Der gesamte Tag strich auf jene Weise dahin – wie es auch die anderen letztlich würden. Sie hatten sich zum Frühstück getroffen und im Verlauf des Tages flossen Geschichten und Mahlzeiten ineinander. Vieles war von der Zubereitung her aufwendig, kostete schlicht seine Zeit. Also erzählte man derweil. Aß einen Bissen, erzählte weiter. Reihum war jeder irgendwann einmal dran, einen kleinen Schwank aus seiner Jugend preiszugeben und keiner zierte sich.

Als die Gemeinschaft sich an jenem Abend langsam aufzulösen begann, taten sie das mit einem Lächeln. Viele schwelgten noch auf dem Weg zu ihren Betten in Erinnerungen. Mancher stellte sich Fragen, bequem und unbequem. Was war wohl aus jedem alten Jugendfreund geworden? Wie war es wohl diesem damaligen Rivalen ergangen? Ob es jene Fischerhütte wohl noch gab? Der Tag hatte die Vergangenheit beschworen und das mehr als erfolgreich. Sie lebte wieder, atmete, wenngleich nur für ein paar wenige Stunden, ehe sie mit dem Einschlafen derer, die sie gerufen hatten, sich selbst auch wieder zur Ruhe begab.

Arien wurde von Vetus auf ihr Zimmer begleitet.

„Kekse“, stichelte er. Wie erwartet, ächzte und seufzte seine Tochter schwer. Schokoladenkekse mit einem flüssigen Schokoladenkern und bestreut mit Schokoladenkrümeln und –raspeln. Sie hätte es vielleicht bei einem belassen sollen. Einem Teller, allemal. Aber zusammen mit Lamm, Hummer, Pudding und all dem anderen? Doch sie hatte nicht wirklich darauf geachtet, was sie aß oder wieviel davon. Es waren alle da gewesen. Alle waren sie da gewesen, beisammen, gemeinsam. Und es war ihr so verdammt leicht gefallen, sich in dieser Stimmung zu verlieren, darin treiben zu lassen. Darin aufzugehen. Teilzuhaben.

„Du bist grausam“, warf sie nach einem Moment zurück.

„Ich bin dein Vater. Ich dachte, das stand in der Beschreibung? Groß und fett?“ Als sie nur den Kopf schüttelte, erlaubte er sich ein Lächeln. Sie wirkte sehr viel gelöster und entspannter als noch zu Tagesbeginn, als sie sich – zweifellos – wieder den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob alles gut laufen würde, ob sie nicht noch etwas tun, etwas vorbereiten, etwas absichern könnte. „Du hast dich gut geschlagen, weißt du? Diese ganzen Geschichten über Coru und dich beim Keksdiebstahl… ich muss zugeben, ich vermute, es wird mir eine ganze Weile schwer fallen, Besen mit den gleichen Augen zu sehen. Oh und… du hast definitiv Spitzhacken-Verbot, aber sowas von!“

Schmunzelnd öffnete sie die Tür, trat ein und schloss sie hinter ihm wieder. Der Gang bis ins Bad schien plötzlich so elend lang zu sein, aber gemeinsam ließ er sich besser bewältigen. „Es war schön, etwas mehr über Mamas und deine Abenteuer zu hören. Du erzählst immer noch ziemlich selten davon“, meinte sie leise. Doch obgleich seine Geschichten sich eben darum gedreht hatten – um ein potenziell heikles und stimmungsbrechendes Thema -, hatte er es irgendwie vollbracht, ihren Geist nicht herabzuziehen. Irgendwie. Er hinterfragte es nicht und war einfach nur zutiefst dankbar dafür.

„Nun, ich hebe mir das Beste für später auf. Wenn sie dabei ist und ich sie gnadenlos mit all den Peinlichkeiten aufziehen kann“, erwiderte er vorsichtig lächelnd.

Eine Geste, die ebenso behutsam erwidert wurde. „Das wäre schön.“

„Nein – wird schön.“

Einen Moment liefen sie schweigend einher, ehe Arien amüsiert grinste. „Soweit ich mich allerdings erinnere, warst du es, der in den meisten deiner Geschichten nicht sonderlich gut weg kam. Sicher, dass du damit warten willst, bis Mama dabei ist?“

Falle – schnappt zu! Grinsend richtete sich Vetus auf. „Oh ja, allerdings – denn wenn ich jetzt schon die ganzen Geschichten aus dem Weg räume und wegerzähle, die mich blöd dastehen lassen, dann rate mal, was da noch übrig bleibt!“

Für einen kurzen Moment musterte Arien ihn amüsiert, ehe sie kopfschüttelnd widersprach. „Ich würde sie um diese Gelegenheit nicht bringen wollen und ich habe ein wirklich ziemlich gutes Gedächtnis, weißt du?“

„Man droht seinem Vater nicht, das ist wirklich nicht nett!“, schnappte er eschauffiert, ehe beide sich grinsend auf einen Waffenstillstand einigten und ihren Weg zum Ende führten. Arien verschwand kurz in der Dusche, während Vetus sich mit Wonne in die Wanne fallen ließ. Wenig später, frisch abgetrocknet, lagen beide im Bett Seite an Seite. In altgewohnter Manier hatte Vetus die Flügel beinahe schon kokonartig um seine Tochter geschlossen.

„Das war ein schöner Tag. Ich glaube, ich mag dieses Fest.“

„Manal-Khesin“, warf er grinsend ein.

„Das tut immer noch weh“, widersprach Arien prompt, lächelte jedoch. „Ich sollte nur wirklich weniger essen. Mir war nicht klar, wie viel es geben würde. Und ich befürchte allmählich, dass am Ende der drei Tage meine Stimme weg sein wird.“

Grinsend schloss Vetus seinen Flügelkokon noch etwas enger. „Das kann sein, ja. Aber wenn du am Ende nicht überzeugt davon bist, dass es das völlig wert war, dann hast du Manal-Khesin falsch gefeiert!“

„Papa, lass das… es klingt scheußlich…!“, klagte Arien leise, wenngleich auch ohne wirkliches Feuer dahinter.

„Ssschhht, meine Kleine, spare deine Kräfte – morgen gibt es viel zu essen!“, neckte Vetus entsprechend und verfolgte grinsend, wie sie das Gesicht verzog und sich noch ein wenig einrollte. Sein Blick wanderte zu ihrem Amulett, vorsorglich gestern Abend schon auf dem Nachttisch gelandet war. Drei Nächte Schlaf würden ihr gut tun. Tat Schlafen immer, wie er aus eigener Erfahrung bestätigen konnte.

 

Der zweite Tag des Festes begann zunächst die der Erste auch: Nachdem Arien mit neun Stunden Schlaf später aufwachte, als sie sich selbst üblicherweise zugestand, geriet sie zunächst völlig in Panik ob der ganzen verpassten, ungenutzten, unnütz vertrödelten Zeit – bis  Vetus sie daran erinnern konnte, was für ein Tag es war, warum sie überhaupt schlief und das es völlig in Ordnung war, auch ab und an mal auszuschlafen, statt die innere Uhr auf Schlag acht Stunden und keine Sekunde später zu stellen.

… woraufhin sie ihn natürlich nur darauf hinwies, dass es für sie inzwischen nicht einmal mehr acht Stunden waren, sondern vier. Weil das offenbar irgendwas besser machen sollte…?

„Nur weil du weißt, wie man weniger schläft – nur weil du es kannst -, heißt das nicht, dass du es auch solltest!“, rief er ihr nach, während sie im Bad verschwand.

Als sie sich kurze Zeit später zum Frühstück unten im Gastraum einfanden, grinste Vetus breit – und sehr zufrieden. Ein paar waren noch gar nicht eingetrudelt und die, die da waren, ließen es langsam angehen. „Siehst du! Von wegen ‚zu spät‘, vertrau ab und an deinem alten Herrn! Lass mich raten – der Rest klemmt noch zwischen Bett und Bad?“ Sie antwortete nicht. Natürlich tat sie das nicht. Aber sie war immerhin großzügig genug, ihm die Zunge herauszustrecken. „Dachte ich mir“, quittierte er die Reaktion grinsend und nahm ebenfalls an der Tafel Platz.

Die Vorbereitungen für das Frühstück zogen sich langwierig dahin und niemand hatte wirkliche Eile. Immerhin erinnerten sich alle noch gut genug an das Gelage vom Vortag und wussten, dass es heute mit großer Wahrscheinlichkeit nicht anders ablaufen würde. Aufgetafelt wurde entsprechend langsam, aber einmal mehr reichlich. Vor allem auch diesmal wieder: Zutaten, allem voran. Wer belegte Brote wollte, der bekam sie auch – und wer Milchreis mit Apfelmus wollte, der bekam Milch, Reis und Äpfel. Natürlich gingen auch hierbei diesmal wieder alle zur Hand. Das zweite Gelage des Festes war ein Gemeinschaftsprojekt wie die anderen beiden auch. Man arbeitete zusammen, half sich gegenseitig aus.

Und nach und nach bekam jeder, was er wollte. Ein klein wenig Wunschbedienung war schließlich auch nicht verkehrt, es war immerhin ein Fest, keine Zeit der Entbehrung.

Nur Arien und Rik bekamen nicht, was sie wollten – das lag aber auch schlicht daran, dass niemand ‚nichts‘ als Antwort akzeptierte.

Mit Beginn des Frühstücks wurden auch erste Vorbereitungen getroffen. Vetus ließ sich von Rik Papier, Tinte und Feder bringen, riss das Pergament in diverse Stückchen und kritzelte die Namen auf jedes Stück. Sehr zu Riks neuerlichem Horror, wie der Drache vermutete, aber er hatte keine gute Gelegenheit, dessen ansichtig zu werden. Stattdessen stopfte er die Zettel zu kleinen Kügelchen zerknüllt in eine Dose, schloss sie und schüttelte den Inhalt kräftig durch.

Nach jeder Ziehung wurde pausiert. Damit das Hort-Stück übergeben werden konnte. Und alle lauschten den Geschichten, die dabei zustande kamen, egal wie spannend oder seltsam, kurz oder lang sie auch sein mochten. Die Losung und Übergabe mitsamt der Geschichten nahm letztlich den gesamten Tag ein.

Rasska überreichte Arthur einen Armreif aus aufgefädelten Korallen und berichtete davon, wie sie vor Jahrzehnten ihren Eltern davonjagte, um das Schiffswrack an einer Schlucht zu untersuchen. Das Schiff war von Brandspuren gezeichnet, von Einschlägen beschädigt. Die Leichen trieben schon viel zu lange im Wasser und waren kaum mehr als Knochen. Fasziniert hatte sie aber der kleine Altar zu Ehren Eumenes in der Kabine des Kapitäns, der bis zuletzt sauber und frei blieb von jeglichen Schäden, jedweder Verschmutzung oder irgendeiner Spur von Bewuchs. Es war so unglaublich subtil und doch auffällig gewesen. Stundenlang hatte sie dort verweilt, den Unterschied zwischen dem Schrein und dem gesamten, restlichen Raum gemustert. Noch heute war sie sich nicht sicher, ob das für sie ein religiöser Moment gewesen sein mochte oder nicht. Nur, dass jenes Armband sie fast das Leben gekostet hatte – als das Wrack aus ihr unerfindlichen Gründen Halt verlor und in die Tiefsee abzugleiten begann, jagte sie geschickt, flink und wendig davon. Bis sie mit ihrer Hand an diesem verdammten Ding hängen blieb. Kostbare Sekunden brachte sie damit zu, sich zu befreien, ohne zu begreifen, wie sie überhaupt erst hatte hängen bleiben können. Ein Rätsel, das bis heute ungelüftet war. Die Wertschätzung dem Schmuckstück gegenüber war jedoch ähnlicher Natur wie ihre Wertschätzung jenes Quellwassers: Es erinnerte sie an Geschehnisse aus alten Tagen.

Im Gegenzug bekam sie von Brutus eine kleine, handwerklich anspruchsvoll geschnitzte Figur.

Sie sagte kein Wort dazu. Er sagte kein Wort dazu.

Sie nickte. Er nickte.

Keiner sprach ein Wort darüber.

Für Vetus war es wundervoll. Egal, ob sie nun Kniefall voreinander taten oder sich nur wortlos zunickten – es bedeutete ihm die Welt. Denn diese Leute waren keine Drachen, sie entstammten keiner Blutlinie mit Verbindung zu seinem oder Ariens Erbe und dennoch saßen sie hier alle beisammen, feierten, aßen, erzählten Geschichten… tauschten Geschenke aus. Und es waren nicht einfach nur Geschenke. Sie alle, jeder einzelne hier, hatten es begriffen.

Sie gaben etwas von sich. Jemand anders nahm es in Verwahrung. Sie teilten ein Stück ihrer Selbst miteinander. Sie würden damit einander noch besser verstehen, noch näher kommen, noch enger als Gemeinschaft-

„Huh.“

„Was?“

„Ich bin dran“, erklärte der Drache überrascht, als er auf seinen eigenen Namen starrte. Kurz zuckte er mit den Schultern, grinste und kramte einen ausgebleicht-gelben, völlig ausgeleierten Pullover hervor. Er spähte vorsichtig in Ariens Richtung und wie erwartet, konnte man ihr das Hey, das ist meiner! an der Stirn ablesen – doch sie sagte nichts. Schüttelte nur lächelnd den Kopf und, nach einem Moment Bedenkzeit, nickte.

Und er war stolz, einmal mehr.

Für sie war das ein Kleidungsstück, etwas das ihr gehörte. Etwas, das sie bekommen hatte, auf die eine oder andere Weise. Vielleicht hingen sogar Erinnerungen daran – er hatte nie gefragt. Für ihn aber war es ein Stück seines Hortes. Sie hatte lange damit gehadert, es zwar verstanden, aber nicht wirklich begriffen, nicht mit dem Herzen, es nicht nachvollziehen können. Sie hatte sich dagegen gewehrt, gegen die Implikationen, die Tragweite.

Und jetzt war es ein Stück seines Hortes. Eines, das er freimütig herausgeben durfte. Weil sie es akzeptierte. Und zuließ.

„Meine Geschichte dazu ist… nicht die Beste, Längste oder Größte. Ich bin ein Zeitdrache. Ich bin eigentlich sehr viel älter und größer und mächtiger und weiser und habe eigentlich viel mehr erlebt. Aber ich erinnere mich an vieles davon nicht wirklich gut. Weil ich eine Zeitreise machte. Und bevor wir darüber weiter reden, den Fehler machen und damit anfangen, Fragen zu stellen und heute alle mit wirklich grässlichen Kopfschmerzen schlafen gehen: Ist einfach so, belassen wir’s dabei. Ich bin geschrumpft. Jünger geworden. Sehr viel jünger, also wirklich… seeehr viel jünger. Das war, glaube ich, so nicht ganz geplant. Ich bin so verdammt jung geworden, dass ich mich nicht mal mehr um mich selbst kümmern konnte. Die meisten erinnern sich nicht mal daran, wie das war. So jung zu sein. Arthur wird’s in ein paar Monaten vielleicht wissen – angeblich nehmen sich das historische Alter und die bescheidene Jugend ja nicht viel.“ Geschickt wich Vetus dem Löffel aus. Das Apfelstück, das hinterhergeflogen kam, fing er stattdessen auf und ließ es sich schmecken. Er grinste dabei – natürlich – demonstrativ in Arthurs Richtung, der ihm mit wenigen Gesten andeutete, dass er diesen Kommentar irgendwann, irgendwie, noch sehr bereuen würde. Und Vetus freute sich darauf.

„Jedenfalls… Arien hat sich um mich gekümmert. Die Tochter, für die ich da sein wollte. Für die ich hätte da sein müssen. Hat sich um mich gekümmert. Ich weiß nicht, was ich in ihren Augen mehr war – ein Haustier oder ein Kind? Heute spielt das glücklicherweise auch keine Rolle mehr, denn diese Zeiten liegen hinter uns. Aber es fällt mir schwer, das zu vergessen. Denn ich war gewohnt, in gewaltigen Zeiträumen zu denken und die paar Monate jetzt? Ein Wimpernschlag! Ich erinnere mich also noch sehr gut und sehr lebhaft daran, wie sie versuchte, mich zum Schlafen zu bringen. Ich erinnere mich an ihre Gesangsversuche. Und das Kraulen. Und an dieses Ding. Es roch nach ihr. Und ich mochte das. Außerdem war’s weich. Und Gelb. Ich weiß nicht, warum Gelb wichtig war. Aber es hat funktioniert. Und jedes Mal, wenn ich in meinen Schrank krieche und mich schlafen lege, dann liege ich direkt über diesem Ding. Weil es mich daran erinnert, wie es mir beim Einschlafen half. Und weil’s das immer noch macht. Ich werde ohne ihn nicht schlechter schlafen oder weniger – ihr wisst alle, wie ich bin. Ich könnte im Fliegen einschlafen, jederzeit, überall. Aber es ist ein Stück aus unserer Anfangszeit. Und hat dadurch symbolischen Wert.“

Nachdem einige Leute genickt hatten, trat Vetus an Rik heran – und hielt ihm das Kleidungsstück entgegen. Der war natürlich über alle Maßen begeistert. Erst recht, als Thilia neben ihm euphorisch zu vibrieren begann, Vetus ihr jedoch rasch klar machte, dass das Riks Geschenk sei – und sie ihr eigenes bekäme. Was im Grunde für Rik bedeutete, dass er es nicht einfach auf Thilia abschieben konnte, während Thilia sich nunmehr ohnehin viel mehr darauf konzentrierte, was sie wohl bekommen mochte.

Die nächste Ziehung betraf Arien. Schweren Herzens erhob sie sich und begann Vetus‘ Beispiel folgend zunächst ihre Geschichte zu erzählen. Oder vielmehr: Die Geschichte eines wirklich hübschen Paares an Ohrringen. Sie hatte sie sich von ihrem Taschengeld gekauft, zusammen mit und auf Anraten von Illyana. Es war eine schwierige Zeit gewesen. Ihrer Mutter ging es schlecht – schlechter als sonst. Und Illyana hatte oft genug darunter zu leiden gehabt. Sie war nicht Ariens Mutter, nicht ihre Ersatzmutter. So sehr sich die Haushälterin auch bemühte – Arien war in einer schwierigen Phase gewesen, voller Kummer und Zorn und wusste nicht, wohin damit. Die Ohrringe hatten die Kehrwende bedeutet. Ein gemeinsamer Ausflug in die Stadt, nur sie beide. Das Aufdecken verbindender Interessen. Die Möglichkeit, aufeinander zuzugehen. Miteinander Spaß zu haben.

Etwas, das ihr heute natürlich nichts und niemand mehr nehmen konnte. Die Ohrringe hatte sie nur wenige Male getragen. Aber dann und wann holte sie sie hervor, einfach nur, um sie anzuschauen und sich zu erinnern. Nur dass es für sie inzwischen viele solcher Erinnerungsstücke gab. Sie mochte dieses Paar. Sie waren hübsch. Nicht wertvoll und nicht einmal sonderlich gut verarbeitet, aber hübsch auf eine schlichte Weise.

Und der Umstand, dass sie sie an Thilia weitergab bedeutete allem voran, dass die ihrerseits Rik sofort mental und verbal belagerte – sie brauchte Ohren. Jetzt sofort!

Diese Diskussion wurde von Arthur und Elesil ein bisschen angefacht und diente rasch dem Amüsement einiger. Wissend jedoch, wie Rik auf solcherlei Aufmerksamkeit reagierte und unwillens, die Stimmung des Festes irgendwie oder von irgendwem ruinieren lassen zu wollen, zog Vetus abermals – und das Problem löste sich in Wohlgefallen auf, weil Elesil an der Reihe war.

Einmal angesprochen, brach sie ihre Versuche, Thilia bei ihrem dringenden Anliegen zu unterstützen, auch prompt ab und erhob sich breit grinsend. „Ich habe eine Box!“ Sie zog eine Box hervor. Alle nickten. Man konnte die Box gut sehen. „Natürlich ist die Box nicht das Geschenk, sondern der Inhalt. Der hat mir lange treue Dienste geleistet, mich durch viele dunkle Nächte begleitet. Er war da, wenn ich Kummer hatte oder mich an etwas erfreuen wollte. Wenn ich sowieso schon euphorisch war und darin schwelgen wollte. Eigentlich zu so gut wie jeder Gelegenheit. Und es bedeutet mir was. Es war das Erste, was ich hatte. Ich meine, inzwischen habe ich mehr. Viel mehr. Man lernt ja dazu.“

„Kryptischer… ging’s nicht, oder?“, belustigte sich Arthur kopfschüttelnd.

„Ich bin schockiert – du weißt, was ‚kryptisch‘ bedeutet und kannst es korrekt aussprechen?“, stichelte Elesil prompt zurück.

„Was ist denn nun eigentlich drin?“, mischte sich Artemis verwirrt ein.

Ihn ignorierend – und Arthur gleich mit -, schob Elesil die Box Arien zu. Die daraufhin überrascht drein schaute, sie jedoch entgegennahm und den Deckel öffnete. „Lasst dem Mädchen doch mal ein bisschen Raum!“, rügte Elesil diverse Köpfe, deren Hälse immer länger wurden in dem letztlich zum Scheitern verdammten Versuch, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Kurz griff Arien hinein, hob etwas an. Das Geräusch von Metall auf Metall war zu hören, Stoff, eine leichte Ledernote in der Luft – dann schloss sie hektisch die Box wieder und klammerte sich hochroten Kopfes daran fest, als könne die Welt untergehen, sollte der Inhalt jemals ins Freie ausbrechen können.

„Freut mich, dass es dir gefällt. Pass gut drauf auf“, meinte Elesil breit grinsend. Arien hatte sichtliche Schwierigkeiten, sich zu beherrschen, nickte jedoch nach einem Augenblick schwach. „Vetus – Ziehung!“

Seufzend gab der Drache auf, irgendetwas über den Inhalt der Box erfahren zu wollen. Vielleicht würde sie es ihm ja später verraten. Zunächst zog er den nächsten Namen. „Vasilla, du bist dran.“

Die Bibliothekarin erhob sich von ihrem Platz. „Ich mache kein großes Geheimnis daraus, keine Sorge. Es ist ein Buch. Ich schätze, das überrascht auch niemanden wirklich. Glimmbrandt und Wasserlilie, eine dramatische Romanze zwischen einem Ifrit und einer Undine. Sie versuchen, den gesellschaftlichen Zwängen zu entkommen, die die elementare Seite ihrer Eltern ihnen aufbürdet und sich in die menschliche Gesellschaft zu integrieren, den anderen Teil ihrer Abstammung, der ihnen so viel mehr Freiheiten erlauben würde – gerade miteinander. Aber die entgegengesetzten Elemente rufen immer wieder Probleme hervor und von Menschen akzeptiert zu werden ist schwierig mit solch einer Blutlinie und so viel Schadenspotenzial. Erst recht, wenn sich dann noch der Zirkel einmischt. Ich… mag das Buch. Es ist nichts wirklich Besonderes. Eine interessante Idee für die Rahmenhandlung, aber letztlich nicht einmal sonderlich originell. In der einen oder anderen Form gab es das alles schon, jedes einzelne Element. Aber dieses Buch bedeutet mir dennoch sehr viel. Sehr, sehr viel. Nicht nur, weil ich wenige Besitztümer habe. Sondern wegen der Seiten zweihundertsiebzehn und zweihundertachtzehn. Ihr alle wisst, wie lange ich schon ein Geist bin. Ihr alle wisst, dass ich mal jemand anders war. Und die meisten von euch wussten vorher schon, dass ich Vasilla wurde, die, die ich heute bin, weil ich in vielen Dekaden und Generationen immer mehr und mehr meines alten Lebens vergaß. Aber das ist nicht alles. Ich wäre da oben, völlig allein, mit nicht mehr als Buchrücken zum Lesen, meiner Fantasie und vierundzwanzig Stunden am Tag, jeden Tag, fast wahnsinnig geworden. Und ich meine es, wie ich es sage. An vielen Tagen konnte ich meinen Verstand spüren, wie er mir zwischen den Fingern entglitt. Teile davon bekam ich nie zurück. Es waren diese zwei Seiten in diesem Buch, die mich gerettet haben. Es war eine tägliche Übung, Folter regelrecht. Die immer gleichen zwei Seiten zu lesen. Jedes Wort davon in meinen Verstand zu brennen. Den Satz. Die Musterung des Papiers. Jede Imperfektion des Drucks mir einzuprägen. Verwischte Tinte, egal wie klein die Spur war. Die Bögen und Rundungen der Buchstaben und Zahlen. Ihr mögt jetzt lange Gesichter haben, niedergeschlagen sein. Die Geschichte ist keine erfreuliche, zugegeben – nicht, wenn sie für sich allein steht. Aber das tut sie nicht. So wenig wie ich es heute tue. Ich bin hier. Bei euch. Ich habe… ich habe Freunde. Eine Familie. Ein Leben. Ich kann die Welt wieder sehen. Geschichten hören. Lieder schreiben. Tanzen. Ich kann lieben. Berühren. Nichts davon wäre möglich gewesen, hätte ich den Verstand verloren. Ich wäre eine weitere Gefahr in der Nadel gewesen, die bei eurem Einzug hätte beseitigt werden müssen. Ich wäre nie so weit gekommen, wie ich es bin. Hier heute bei euch zu sein, verdanke ich diesem Buch. Diesen zwei Seiten. Das macht es nicht zu meinem wertvollsten Besitz – aber einem wertvollen, allemal.“

Mit jenen Worten überreichte sie das Buch an Artemis. Gewichtig nahm er es entgegen, als wäre es ein Schatz, ein uraltes Relikt, etwas Fragiles, das Respekt verdiente. Und traf zumindest Letzteres nicht auch zu? „Danke“, antwortete er leise, „Ich werde… eine Vitrine dafür bauen. Damit die zwei Seiten aufgeschlagen bleiben.“

„Danke“, erwiderte Vasilla. Sie war tot. Untot, vielmehr. Ein Geist. Sie konnte nicht weinen, besaß den dazu notwendigen Körper nicht. Aber ihre Stimme war leicht, brüchig, zittrig. Als sie sich wieder senkte, lächelten manche hier und da. Vasillas Geschichte war eine Traurige, sicherlich. Aber sie klang nicht auf einer solchen Note aus. Genau genommen… hatte sie noch gar kein Ende gefunden. Dank eines Buches.

Eine Weile speisten sie wieder, redeten einfach nur, genossen die Gesellschaft der anderen. Geschichten solchen Kalibers brauchten etwas Zeit, um zu sinken. Damit man sie verarbeiten, verdauen konnte. Dann erst zog Vetus den nächsten. Und diesmal traf es Artemis selbst.

Lächelnd erhob er sich und zog ein dünnes Buch hervor. Inzwischen wussten alle darum. Artemis‘ zahlreiche Skizzenbücher. „Ich schätze, es bedarf keiner großen Erklärungen, was das hier ist. Ich zeichne gerne. Ich zeichne viel. Und in der Regel zeichne ich auch sehr schnell. Ich hielt hierin meine Eindrücke fest. Meine Vorstellungen. Anatomische Studien. Skizzen von Dingen, die ich gesehen, gehört, erlebt habe. Aber auch von Dingen, die ich mir vorstelle oder noch erhoffe.“

Er sprach zu Arien. Er sprach zu ihr, wandte sich ihr immer mehr zu. Sie wurde leicht rot, zunehmend röter.

Und dann gab er das Buch Lisa.

Ausgerechnet Lisa.

„Uh! Danke!“, meinte die sofort freudig.

„Ich habe das Muttermal übrigens korrigiert“, erwähnte Artemis noch immer an Arien gewandt. Mit einem Ausdruck blanken Horrors im Gesicht starrte sie von ihm zum Skizzenbuch und tat, was das einzig Vernünftige war: Sie teleportierte direkt hinter Lisa und versuchte, ihr das Buch wegzunehmen. Glücklicherweise entstand kein allzu großes Chaos angesichts des Umstandes, dass sie vor Entsetzen und Verarbeitungsschwierigkeiten ein wenig zu lange gezögert hatte und Lisa, eifrig nach diesen Ausführungen, das Buch entsprechend schnell geöffnet hatte.

Von welchem Muttermal also die Rede war, würde Elesil nie erfahren, die als Einzige noch zugehört hatte – während der Rest sich bereits ebenfalls um Lisa sammelte, um hinein zu blicken. Es waren tatsächlich Artemis‘ Vorstellungen. Eresthenes in einem feinen Anzug, beispielsweise. Es waren auch anatomische Studien. Lisa in verschiedenen Posen, die sie beim Kochen einnahm. Es waren Skizzen von Erlebtem – wie beispielsweise seine Strandspaziergänge mit Arien, Sonnenuntergänge über dem See und Flüge hoch in den Wolken oberhalb des Immergrün-Waldes. Und Dinge, die er sich erhoffte. Wie beispielsweise eine schrittweise Zeichnung Vasillas, die einen Körper bekam. Oder sich vorstellte – wie Rik, mit verwegenem, mutigem Gesicht, der fest das Steuer seines Schiffes haltend, einem von Eumenes‘ Stürmen trotzte.

„Ich hasse dich“, seufzte Arien, als sie rügenden Blickes zu Artemis aufschaute.

„Nein, tust du nicht“, gab der lediglich lächelnd zurück.

„Nein, tue ich nicht“, gestand sie ebenfalls ein, schüttelte lächelnd den Kopf und senkte den Blick wieder, als Lisa weiterblätterte, „Du bist trotzdem ein Idiot“, meinte sie leise.

Damit wiederum konnte er leben…

 

Als Vetus Arien an diesem Abend aufs Zimmer begleitete, waren sie einmal mehr völlig überfressen. Der Gang zum Bad war einmal mehr viel zu lang und allein zu atmen wirkte seltsam anstrengend. Als sie jedoch Seite an Seite im Bett lagen, angeschmiegt und eigentlich bereit, den Tag ausklingen zu lassen, hob Vetus unter Aufbietung nicht unerheblicher Willenskraft nochmals die bleischweren Lider.

„Was war eigentlich in der Box?“, hakte er neugierig nach.

„… nichts“, kam bemüht zurück, nach verdächtiger Bedenkzeit obendrein.

„Elesil schenkt dir also eine leere Box.“

„Mhm.“

„Wird Artemis erfahren, was drin ist?“

„Mhm.“

„Gut, dann will ich’s gar nicht wissen“, beschloss Vetus rasch, schauderte kurz und schloss die Augen wieder. Elesil. Es war Elesil. Was wollte man da schon erwarten? Was hatte er eigentlich erwartet?!

Während der Schlaf sich allmählich seiner bemächtigte, lag ein breites, zufriedenes Lächeln auf Vetus‘ Schnauze. Manal-Khesin, Tag zwei – voller Erfolg!

 

„Papa, so kann ich nicht lesen.“

Träge blinzelnd öffnete Vetus die Augen. Es war früh, gefühlt viel-zu-früh. Arien saß im Bett, ein Buch auf seiner Schulter abgestützt. Überhaupt waren Arien, Thalion und er gegenwärtig ein seltsames Bündel aus Fell, Schuppen und Gliedmaßen. Das konnte nicht bequem sein… fühlte sich aber eigentlich seltsam bequem an.

„Wie lange sitzt du da schon?“, hakte er träge nach.

Sie zuckte mit den Schultern, runzelte die Stirn. „Zwei, drei Stunden?“

Sofort läuteten sämtliche Alarmglocken. Sie würde doch nicht etwa-

Hastig schob er den Einband höher, um seine Verdächtigungen zu prüfen und… sie las Magnus der Monsterjäger – Die Rache der Monster. Er zog das Buch wieder herab, um den Text zu prüfen. Vielleicht hatte sie ja einfach nur den Einband ausgetauscht, um ihn zu-… aber nein. Magnus. Mehrfach. Mehr konnte er kopfüber nicht wirklich gut lesen, aber der Name war recht prägnant.

„Zufrieden?“, meinte sie schmunzelnd.

Nun, vielleicht hatte sie geahnt, dass er bald aufwachen würde und vorher hastig die Bücher ausgetauscht, um-

Stopp!, gebot er sich selbst. Er war nicht Rik. Er war nicht der Paranoide, der ständig mit Verdächtigungen und klammheimlichen Anschuldigungen um sich warf. Sie las. Und sie las keine ‚nützliche‘ Literatur. Vielleicht hatte sie nicht länger schlafen können oder wollen, es spielte eigentlich keine Rolle. Sie war hier, nicht in der Werkstatt. Zufrieden schmiegte er sich noch einen Moment an. „Ja. Sehr.“

„Gut“, kam leise zurück. Sie positionierte ihr Buch neu und kraulte ihn leicht am Hals, während sie weiterlas.

„Sag Bescheid, wenn das Kapitel zu Ende ist“, nuschelte er bereits wieder im Dämmerzustand.

Und das tat sie auch. Seite an Seite brachen sie nach der Bad-Runde wieder auf, als die Ersten der anderen sich ebenfalls einfanden. Zum Frühstück des dritten und letzten Tages und großen Gelages. Auch diesmal stand wieder ein Plan dahinter. Statt der prägendsten Speisen der eigenen Jugend oder der aktuellen Leibspeisen war heute ein Tag des Experimentierens. Arien hatte in ihrem Leben schon so einiges probiert – aber eben längst nicht alles. Und auf die eine oder andere Weise galt das für jeden in der Nadelgemeinschaft.

Heute war der erste Tag des neuen Jahres. Der Tag war der Zukunft geweiht, dem Hoffen, dem Ausblick auf das Kommende. Und das begann, offenbar, mitunter mit etwas so simplem wie gerösteten Nüssen. Zumindest für Eresthenes. Elesil wiederum hatte noch nie Schnecken probiert – nicht zuletzt, weil sie den Gedanken völlig widerlich fand -, wagte sich aber genau daran. Was natürlich hieß, dass der Rest sich überlegen musste, ob er ihr beim Vernichten der ‚Speise‘ half oder nicht, denn obgleich Elesil anmerkte, dass sie nicht wirklich schlecht schmecken würden, war das Gefühl auf der Zunge und der damit verbundene Gedanke an Schnecken einfach nach wie vor absolut widerwärtig. Willkommener war da wiederum Lady Rasska, die Zeit ihres Lebens noch nie Erdbeertorte gegessen hatte. Ein sträflicher Missstand, wie die meisten befanden, der rasch und umfassend behoben wurde – auch wenn Rasska selbst dem letztlich nicht allzu viel abgewinnen konnte.

Und während auch an diesem Tag wieder reichlich und reichhaltig gegessen wurde – sehr zu Ariens und Riks Verdruss, abermals -, wurde auch wieder viel erzählt. Der Tradition des Festes folgend nun von all den Dingen, die man sich erhoffte und wünschte, für die nahe oder ferne Zukunft.

Für manchen waren die Wünsche verhältnismäßig bescheiden. Lady Rasska war an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, den sie sehr mochte. Sie wusste ihre Rolle zu schätzen, ihre Position, ihren Stand im Leben, sich selbst wie sie aktuell war – sie war rundherum zufrieden und wünschte sich damit letztlich nur, dass sie diesen Punkt eine Weile würde behalten können.

Arthur hingegen hoffte darauf, die Meister der Nadel in ihrem Vorhaben triumphieren zu sehen. Er war alt, wusste das selbst nur zu gut. Für einen Menschen hatte er bereits ohnehin ein geradezu unverschämtes, erstaunlich hohes Alter erreicht. Im Grunde konnte es jeden Tag soweit sein – auch wenn er das natürlich nicht aussprach. Aber obgleich er keinen Schritt bereute, den er gesetzt hatte, keine Entscheidung, die er getroffen hatte und keine Unterstützung, die er gegeben hatte… so hegte er doch den Wunsch, wenigstens einen kurzen Blick auf das Danach erhaschen zu können, auch wenn es ihm persönlich nicht vergönnt wäre. Er fand Frieden in dem Wissen, folgenden Generationen eine bessere, sicherere, heilere Welt überreichen zu können. Er fand sogar grenzenlosen Stolz darin, dabei geholfen zu haben, dass sie in diesen Zustand geriet. Nur wenigstens kurz sehen würde er sie gerne…

Brutus‘ Wünsche waren ähnlich bescheiden wie Rasskas und ähnelten Vasillas doch sehr: Beide wollten sie die Welt sehen, irgendwann einmal. Die Nadel bot dafür zweifellos die besten Voraussetzungen. Mit dem Spiegel gelangten sie in kürzester Zeit an jeden Ort der Welt, solange sie ihn vorher nur ausspähen konnten. Aber die Nadel war das Nest – wie lange würde er wirklich bleiben können? Vasilla bezeichnete es als flügge werden, auch wenn das in ihrer beider Fällen irgendwie kaum zuzutreffen schien.

Eines Tages, so erklärte die frühere Bardin, würde sie gerne dort hinausgehen, mit Lisa an ihrer Seite. Die Welt erforschen. Seine Völker neu kennenlernen. Ihre Geschichten hören und verbreiten. Ein paar Neue hinzufügen. Vielleicht sogar von einer ungewöhnlichen Bande, die irgendwo auf einem fernen Kontinent in einer Höhle tief im Wald hockend die Welt verändert hatten.

Eresthenes und Elesil dagegen hielten es so, wie man es wohl von ihnen erwartet hatte. Elesil war das Chaos in Person, das ewige Blatt im Wind. Sie trieb und ließ sich treiben. Sie ging, wohin der Wind sie führte und tat, wonach ihr der Sinn stand. Sie lebte Lenikkis Lehren besser aus als jeder andere, der der Mehrheit der Anwesenden je untergekommen war. Während Eresthenes dagegen nach wie vor ein großes Mysterium war und blieb – seine Wünsche für das Zukünftige schienen in direktem Zusammenhang gekoppelt an die Nadel und den Erfolg oder die weiteren Ziele der Meister. Zumindest, wenn man die feinen Nuancen nicht kannte.

Denn es war weniger die Nadel. Sie war eine Operationsbasis. Ein gutes Versteck. Eine schwer befestigte Anlage. Aber letztlich für ihn doch nicht mehr als das. Während Arien inzwischen hier Heim und Wurzeln fand, war Eresthenes schlicht jemand, der Wurzeln zu schlagen einfach gänzlich unfähig war. Unfähig und unwillens.

Und es waren auch nicht die ominösen, gelegentlich wechselnden Meister der Nadel, die ihn interessierten – es waren diese Nadelmeister. Aufgrund seiner Freundschaft zu Arien und des gelegentlich angespannteren Verhältnisses zu Rik, von den Eskapaden mit Ithildalin ganz zu schweigen, natürlich stärker auf sie fokussiert als auf die anderen beiden. Doch Eresthenes ließ sich nicht in die Karten schauen. Seine Wünsche gaben nichts über ihn preis.

Und niemanden wunderte das wirklich.

Dann jedoch wanderten Blicke zu Artemis und der Stahlkoloss schmunzelte einmal mehr in Ariens Richtung, wirkte sogar etwas… verträumt dabei? Sie schlug natürlich den Blick nieder, doch das hinderte Artemis nicht daran, nun selbst zu erzählen.

„Ich habe in sehr kurzer Zeit sehr viel erreicht. Was umso bemerkenswerter für mich ist, weil ich davor in sehr langer Zeit so gut wie gar nichts erreichte. Viele der Nadelmeister, die vor euch kamen, hatten Angst vor mir. Angst davor, was es bedeuten könnte, mir mehr Intelligenz zu geben. Einen tatsächlichen Verstand zu geben. Mir Persönlichkeit und Eigenständigkeit zuzugestehen. Das stumpf befehlen unterschiedlicher Komplexität folgende Konstrukt war angenehmer, bequemer. Folgsam, loyal, dienstbar. Ihr aber gabt mir eine Chance zum Wachstum. Ich selbst zu werden. Herauszufinden, wer ‚ich‘ eigentlich bin. Dank euch konnte ich meine Funktion ausfüllen und darüber hinauswachsen. Ich habe das Spektrum von Emotionen kennengelernt. Ich war zornig, frustriert, euphorisch. Aber wenn ich in der Zeit bisher etwas gelernt habe, dann ist es das: Es spielt keinerlei Rolle, wie gut oder schnell man denkt. Emotionale Reife braucht ihre Zeit. Tatsächliche Zeit. Nicht Zeit in Überlegung – denn die hätte ich abkürzen können. Ich bin zügig mit Dingen konfrontiert worden, mit denen ich nicht umzugehen wusste. Eifersucht, beispielsweise. Und meine Aufgabe erlaubte mir, davor zu flüchten. Und aus der Sicherheit einer vertrauten Umgebung heraus damit umzugehen, den Umgang damit zu erlernen. Ich denke, dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Es gibt noch so vieles, das ich erkunden und erfahren möchte. So vieles, das ich erleben möchte. Mit dem Wissen, dass das Alter allein mir nicht viel anhaben wird, kommt auch die Ruhe, nichts überstürzen zu müssen.“

Alle hatten sie zugehört. Bei einem Stück Erdbeertorte, in den meisten Fällen. Alle nickten sie, lächelnd, gewichtig, angetan, nachdenklich, in unterschiedlichsten Zuständen und emotionalen Ausdrücken. Alle befanden sie, dass das eine wirklich schöne Rede war.

Alle außer Elesil natürlich.

„Das ist wirklich toll für dich, Großer, aber… was genau heißt das jetzt? Komm schon, spuck’s aus. Sag: Ich wünsche mir… und dann führst du den Satz fort. Ich? Ich wünsche mir gerade noch mehr Erdbeertorte. Wir haben noch Erdbeeren da, oder?“

„Ja, denke schon…“, erwiderte Lisa irritiert.

„Gut. Siehst du – Wunsch erfüllt. Konkreter Wunsch, konkrete Erfüllung. Ich will dir ja nicht dein großes, breites, emotionales alles erleben wollen absprechen – aber was genau willst du erleben? Verliebt hast du dich. Eifersüchtig warst du. Zornig auch. Zugegeben, da gibt es verdammt viele Facetten von. Auch wenn ich wirklich hoffe, dir nicht zu begegnen, wenn du die zahllosen Ausprägungen von Wut erforschst… also – was ist da noch so?“

Lächelnd blickte Artemis nach einem Moment der Überlegung wieder kurz in Ariens Richtung… mied ihren Blick dann jedoch von sich aus. „Nun, irgendwann, schätze ich, würde ich gerne wissen, wie es ist, eine Familie zu haben“, erklärte er – für Artemis‘ Verhältnisse – bemerkenswert leise.

„Sind wir das nicht schon?“, schmunzelte Vasilla.

„Schon, nur-“, hob Artemis an, wurde jedoch jäh von Elesil unterbrochen, die breit grinsend sich zufrieden zurücklehnte.

„Er will was Eigenes. Kleine Halbkonstrukte, die mit schuppigen Drachenschwingen herumtollen, nicht?“

Da wiederum sah Arien auf. Sehr abrupt. Sehr rot. Und zwischen Wie kannst du nur?! an Elesil gerichtet und einem Wirklich? an Artemis gewandt wechselnd.

„Geht sowas überhaupt?“, rätselte Arthur dagegen sehr viel pragmatischer. Und während Elesil nunmehr mit den Schultern zuckte, runzelte Eresthenes die Stirn. Wenn überhaupt irgendwer das möglich machen konnte, dann war er das – wie so ziemlich jeder am Tisch wusste. Was auch erklären mochte, warum plötzlich so viele Blicke zu ihm wanderten, derer er sich jedoch nicht bewusst wurde. Wie auch? Er hatte eine interessante Herausforderung vor die Nase gesetzt bekommen, ob gewollt oder nicht.

„Genetische Sequenzen sind eine Form biologischer Informationsspeicherung. Naniten können Informationsspeicherung ebenfalls vornehmen. Mit ein paar Abwandlungen können sie sie sogar in organischer Form speichern oder replizieren. Eine Verbindung von organischem und anorganischem Gewebe sollte eigentlich nicht so schwer sein, wenn man das jeweilige Immunsystem ein wenig anpasst. Die Technik hat damit sowieso höchstens ein Kompatibilitätsproblem und das ist ja nun wirklich am simpelsten zu lösen. Es müssen natürlich ausreichend Rohstoffe zur Verfügung gestellt werden und bei der durchschnittlichen Unverträglichkeit organischer für diverse Metalle ist es fraglich, wie sich das vertragen würde. Dann wiederum: Wozu überhaupt ganze Metallteile nehmen? Die Naniten brauchen nur die Werkstoffe. Sie dürfen lediglich nicht als Schadstoff ausgefiltert werden. Oder man müsste die Naniten so programmieren, dass sie die vom Organismus ausgefilterten Schadstoffe absorbieren und als Rohmaterialien zum Bauplatz bringen. So könnte man den Organismus vor Schäden bewahren und die Bausequenz ermöglichen. Das würde allerdings zu einer extremen Durchsatzstärke an Naniten führen, muss es, sonst nimmt der Wirtskörper Schaden. Dann wiederum heißt das auch eigentlich nur, dass man sehr viel mehr davon braucht, es wird zu einer reinen Ressourcenfrage – und davon haben wir hier eigentlich genug. Mehr als genug. Immer schon gehabt.“

Nach seinem reichlich verwirrenden Gebrabbel sah Eresthenes zufrieden auf. „Machbar.“

Diverse verwirrte Gesichter nickten langsam aufhellend. Lediglich Elesil beugte sich stirnrunzelnd zu Arthur herüber. „Hat er gerade eine Mutter als Wirtskörper bezeichnet?“

„Fragst du mich das gerade wirklich…?“, gab der schulterzuckend zurück.

Artemis hingegen… strahlte. Nicht wortwörtlich, glücklicherweise, aber allein zu wissen, dass es möglich wäre, eröffnete eine völlig neue Perspektive, neue Möglichkeiten… machte aus vagen Hoffnungen greifbare Wünsche. Für… irgendwann einmal, natürlich. Nichtsdestotrotz blickte er zu Arien und so ziemlich jeder am Tisch, egal wie gut sie im Durchschauen von Leuten waren, hatte seine Schwierigkeiten, nachzuverfolgen, was in jenem Blickwechsel zwischen den beiden vor sich ging.

Arien… lächelte. Sehr leicht, aber sie lächelte. Das war immerhin etwas Gutes, also konnte das alles nur etwas Gutes sein – nicht?

 

„Wow, was für ein Tag!“, rief Vetus jubelnd aus, als er Arien an diesem Abend nach oben begleitete. Er war völlig überfressen, natürlich war er das. Aber es hatte sich gelohnt. Jeder Bissen davon. Seine Kehle war trocken und kratzig und seine Stimme leicht heiser aber auch das hatte sich gelohnt, jeder Pfiff, jeder Ton, jedes Wort.

Vetus fummelte ein wenig an der Tür herum, zu euphorisch für sein eigenes Geschick, als Artemis ebenfalls auf ihrer Ebene ankam. Er bekam den Blickwechsel der Beiden nicht mit – bemerkte dann nur, als er die Tür endlich geöffnet hatte und sich zu Arien umdrehte, wie sie zögerlich dort stand, lächelnd, aber zögerlich, während Artemis ebenfalls die Tür zu seinem Zimmer geöffnet hielt. Er begriff schnell, worauf das hinauslaufen sollte und obgleich es seine Stimmung ein klein wenig dämpfte… war es doch nichts Schlimmes. Denn Manal-Khesin mochte damit vielleicht zum Ende kommen – aber morgen war auch ein Tag. Und sie waren in der Nadel. Als eine, große, schräge Familie.

„Wir sollten reden“, meinte Arien leise als völlig unnötige Erklärung.

„Ich weiß“, erwiderte Vetus grinsend, „Ist in Ordnung. Mach dir keinen Kopf – ich habe ein Thalion und eine Luine und ein verwaschenes, ausgeleiertes, hellgrünes Oberteil aus Wolle.“ Als er die Flügel und Arme ausbreitete, zögerte sie nicht lange. Die Umarmung war herzlich und er schloss die Flügel einen Moment kokonartig um sie.

„Das war ein schöner Tag, an dem man Dinge weggibt, Papa!“, flüsterte sie ihm leise zu, „Fröhliches Manal-Khesin!“

Ein breites Grinsen machte sich auf seiner Schnauze breit, während er sein kleines Mädchen noch etwas fester an sich drückte. Irgendwann in vielen Jahren, wenn sie dieses Fest sehr oft begangen hatten, würde sie vielleicht mit ihm ausziehen und dabei helfen, diesen drei Tagen in ihrem Volk endlich einen Namen zu geben. Er musste nicht perfekt sein. Er musste nicht grammatikalisch korrekt sein. Aber es schadete nicht, wenn er hübsch klang und das Fest anderen Völkern nahe brachte.

Denn wer profitierte nicht von ein wenig Liebe?

 

„Fröhliches Manal-Khesin. Und jetzt ab mit dir, geht reden!“

„Papa!“

„Und pass du mir ja gut auf sie auf, Artemis! Ich will sie auf keinen Fall vor elf zurückhaben!“

Papa!

Kichernd wie ein Grünschnabel drehte er Arien an den Schultern um, schob sie zwei Schritte in Artemis‘ Richtung und verschwand in ihrem Wohnzimmer, die Tür mit einem ominösen „Viel Erfolg…! Beim Reden…!“ schließend.

Zumindest musste er ihr jetzt nicht mehr erklären, warum er sich ein Luftschiff wünschte…

Inránainn

Der Raum lag im Dunkel. Nicht in völliger Finsternis, nein – aber die zwei dreigliedrigen Kerzenhalter auf dem schweren, massiven Arbeitstisch konnten trotz ihrer Bemühungen doch nur das für Kerzen so übliche, warme, flackernde Licht werfen, das längst nicht jede Ecke erreichte und mit all dem Tand, der im Zimmer verteilt war, den Statuen, den Regalen, Schränken, Stühlen, anderen Tischen… noch genug Schatten übrig ließen, um den Raum zumindest finster wirken zu lassen.

Er empfand es als seiner Stimmung angemessen.

Keine Regung betrog ihn, betrog den Umstand, dass er das Öffnen der Tür sehr genau vernahm. Die Stille im Raum schien das Geräusch zu verstärken, obwohl die Mechanik gut instandgehalten wurde. Zarte Schritte, leicht und bedacht. Eine Drehung. Die Tür schloss sich wieder. Er öffnete die Augen selbst dann nicht, als die Schritte direkt neben seinem großen Sessel zum Stehen kamen. Ein Blick streifte ihn und, vermutlich, kurz auch den Rest seines Arbeitszimmers. Die Unordnung auf den Werkbänken. Angefangene Projekte. Halb aufgebrauchte Rohstoffe, nicht weggeräumt. Es mochte chaotisch wirken. Und dann und wann wünschte er sich, dass es auch chaotisch wäre. Ein weiterer Ausdruck seiner dieser Tage vorherrschenden Grundstimmung. Doch tatsächlich war er zu penibel, um so etwas zuzulassen. Zu vorsichtig.

Er war Crafter. Mancher mochte es Handwerker nennen, doch das legte seinem Geschmack nach eine zu deutliche Ähnlichkeit zu den Zimmermännern, Schmieden und Glasern der Menschen nahe. Er formte Metall, gewiss, auch Holz, Glas, was immer eben nötig war. Aber er formte, allem voran, arkane Energien. Er formte sie, er band sie an Materie, der er ebenfalls ein angemessenes Äußeres verschaffte. Er war kein gewöhnlicher Handwerker.

Doch dieser Tage hatte der ausufernde Stolz in seiner Brust es schwer, ihm die stetigen, schweren Atemzüge zu erleichtern.

„Wie geht es dir?“, durchbrach eine Stimme seine Gedanken. Eine Hand kam auf seiner Schulter zur Ruhe. Er glaubte die Wärme, die von ihr ausging, regelrecht in sich einsickern zu spüren, selbst durch den Stoff seiner Kleidung hindurch – obgleich der zugegeben ohnehin recht dünn war. Vielleicht war ihm kalt? Hatte er die Raumtemperatur außer Acht gelassen?

Erstmals seit Stunden öffnete er die Augen, spähte zu ihr herauf. Hellbraune Haare, ungewöhnlich genug. Die vollen, roten Lippen fingen kurz seinen Blick ein. Tief violette Augen strahlten ihm entgegen, ein Ausdruck von Sorge und Maßregelung darin. Sie forschte, suchte… fand. Der Ausdruck in ihren Augen veränderte sich. Die Maßregelung wich, die Sorge nahm zu. Ihr Blick wurde… weicher. Und sie plante. Er glaubte regelrecht sehen zu können, wie die Gedanken einander jagten.

„Du hattest wieder schlechte Träume?“, erkundigte sie sich. Natürlich gab er keine Antwort, keine in Form von Worten allemal – aber das war für sie auch gar nicht nötig. Die Vorhänge waren zugezogen, noch in der exakt gleichen Position, wie sie es vorgestern gewesen waren. Er saß hier, das Zimmer zum Arbeiten nicht ansatzweise gut genug beleuchtet, mit einer zweifelhaften Aussicht auf Werkbänke und halbfertige Projekte.

Er sah die Entscheidung in ihrem Kopf fallen. Und wusste nicht, was er davon halten sollte. Sollte er ihr dankbar sein? Sollte er sie vertrösten? Abweisen? Zurückweisen? Sollte er sich darauf einlassen? Es zumindest versuchen?

Ein kleiner Zauber, ihre grazilen Finger woben die Magie wortlos in eine drehende Gestik – und der Türschlüssel wandte sich im Schloss, versiegelte den Raum. Mit dem Schlüssel in dieser Position kam Magie ins Spiel. Eine kleine Blase entlang der Wände, die den Raum wirklich und wahrhaftig abschloss. Gegen Geräusche, gegen Blicke, gegen Spähen mit mächtigen Zaubern. Privatsphäre war ein Luxus – üblicherweise. In seiner Branche dagegen eine schlichte Notwendigkeit. Sabotage, Rufmord, Attentate – es gab zu viele Möglichkeiten, die sich hiermit befassten, um ein Risiko dulden zu können.

Sie wusste das so gut wie er.

Vorsichtig stieg sie in den Sessel. Er war groß und breit genug, dass sie ihre Beine anwinkeln konnte, die Knie gegen das dicke, weiche Polster der Rückenlehne gedrückt. Sie setzte sich auf seinen Schoß, hob mit einer weichen, zärtlichen Berührung seinen Blick. Ein verliebter Narr hätte nun vielleicht davon zu sprechen gewagt, wie er solchen Mühen, solcher Versuchung, je hätte widerstehen können sollen. Er aber, er war kein Narr – und auch nicht verliebt.

Ihre Lippen berührten die Seinen, vorsichtig zunächst, prüfend auf Widerstand, auf Ablehnung, auf Zurückweisung, auf… all die Dinge, die zu demonstrieren er erwog. Doch seine Unschlüssigkeit stand ihm weit genug im Weg, sich zu nichts dergleichen durchringen zu können. Sie begann sich langsam zu bewegen, hob und senkte ihre Hüfte, reizte, provozierte.

Sollte er sie abweisen? Würde er darum bitten, sie würde aufhören. Sofort. Und gehen, falls er das wünschte. Ohne es ihm übel zu nehmen. Oder sie würde bleiben und mit ihm reden. Alles, was er tun musste, war, darum zu bitten. Ganz egal, worum. Ein letztes Mal den Drang nach einem schweren Seufzen unterdrückend, ließ er sich allmählich auf ihr Treiben ein. Genoss die Wärme ihrer Haut auf seiner, den heißen Atem an seinem Hals, den Anblick ihres Körpers.

Sie war ein gutes Stück jünger als er selbst. Tausend Jahre, vielleicht mehr? Aber welche Rolle spielte Alter letztlich für eine Gesellschaft Zeitloser? Sie schenkte ihm Kurzweil. Eine vorübergehende Flucht aus seiner Misere. Einen Ausweg. Eine Möglichkeit, das Grübeln vorübergehend hinter sich zu lassen. Und er, nun doch der Narr, wusste es zu schätzen, wusste es sogar zu genießen – aber nicht ohne Einschränkungen. Nicht rückhaltlos, nicht sorglos.

Er stand vor der offenstehenden Tür, die sie ihm bot. Ein Schritt nur und er wäre hindurch. Raus aus dem Elend, zumindest für eine Weile. Doch er konnte nicht. Glaubte nicht zu können. Stand dort und starrte auf das, was so nah war, so wünschenswert erschien oder ihm vielleicht auch nur erscheinen sollte?

Er konnte seine Sorge nicht verbannen, nicht vollständig, nicht einmal hier und jetzt, nicht einmal für wenige Augenblicke. Irgendwo dort draußen, in einer sehr großen und sehr gefährlichen Welt voller Heimtücke und falschen Lächelns, voller Klauen und Zähne, voller wirtschaftlicher Interessen und Politik, war sein kleines Mädchen. Die Sorge war gewiss nicht neu. Jahre schlug er sich damit nun schon herum. Und wäre es denn wirklich so viel anders gewesen, wäre sie hier vor Ort?

Gewiss, sein Verstand versuchte ihm vorzugaukeln, dass dem so sei. Er wäre da, sie wäre da, er könnte sie beschützen. Aber könnte er das wirklich? Seine Macht war groß und für die Mehrheit gewiss beeindruckend – aber sie war auch weit davon entfernt, grenzenlos zu sein. Das gleiche galt für sein Wissen. Seinen Einfluss. Seine schlichte Fähigkeit, immer und überall zugegen zu sein. Ihm war schmerzlich bewusst, dass er loslassen musste.

Sie würde natürlich immer sein kleines Mädchen sein. Aber entgegen dem… war sie eben eine erwachsene Frau. Jung vielleicht und weit weniger erfahren als er, aber das war unweigerlich stets das Schicksal aller, die nach ihren Vorfahren kamen, nicht wahr?

Flackerndes Kerzenlicht fing sich in einer Schweißperle, die ihren Hals herab rann. Das gebrochene Licht rief unzählige Erinnerungen hervor. Geschichten an Betten beim Licht einer letzten Kerze, bevor ein Kuss auf die Stirn und die nochmals zurechtgezogene Bettdecke das Schicksal des jungen Verstandes für diesen Abend besiegelten.

Er war Illyana dankbar für das, was sie tat. Was sie versuchte. Aber er kam nicht davon los, egal wie.

Als sie ihre Kleider wieder raffte, zog sie ungefragt einen zweiten Sessel herbei. Sie war neben seiner Tochter die Einzige, die sich derartiges herausnehmen durfte. Wortlos ließ sie sich darin nieder, nahm seine Hand. Sie verlor auch weiterhin keinen Ton über irgendetwas. Sie lächelte ihm nur zu. Bis sie einschlief, einige Minuten später, erschöpft und noch immer mit einem milden Lächeln auf den vollen Lippen, von dem er hoffte, dass es das Produkt angenehmer Träume war.

 

„Ich mache dir Frühstück“, erklärte sie am nächsten Morgen. Oder zumindest irgendwann am nächsten Tag – die zugezogenen Vorhänge verrieten wenig darüber, wo genau die Sonne stand. Nur, das sie da war.

Dennoch verzog er bei jenen Worten das Gesicht. „Keine Widerrede“, erklang es sofort, als hätte sie es gesehen. Das konnte sie natürlich nicht – sie war bereits auf dem Weg zur Tür gewesen, als sie ihre Drohung überhaupt ausgesprochen hatte. Glücklicherweise, so zeigte sich kurz darauf, blieb ihm heute erspart, sich kreativ bei der Beseitigung der Beweise betätigen zu müssen. Kaum nämlich, dass Illyana die Tür öffnete, stieß sie ein überraschtes „Huch?“ aus. Direkt vor ihr stand eine weitere Bedienstete des Hauses.

„Lenya, wie lange stehst du dort schon?“, verlangte sie von der deutlich jüngeren Elbe zu wissen. Die war im ersten Moment, als sich die Tür öffnete, ebenso erschrocken zusammengefahren und druckste nun sichtlich herum.

„Oh, n-nicht lange… v-vielleicht… e-eine Stunde oder so?“

Seufzend rieb sich Illyana die Schläfen. Sehen konnte er das nicht – aber das tat sie immer, wirklich immer, wenn sie auf diese Art seufzte. Dazu kam, das Lenya im Haushalt recht neu war. Irgendwie neigte die Dienerschaft zu einer ungewöhnlich hohen Fluktuation… „Nun sag schon, was gibt es so Dringendes und warum konnte es nicht noch bis später warten?“

Vielleicht war sie nur pflichtbewusst. Vielleicht hatte sie eine bequeme Ausrede gesucht, sich vor anderen Arbeiten im Haus zu drücken. Vielleicht hatte sie gehofft, etwas belauschen zu können, das einen kleinen Nebenverdienst wert gewesen wäre. Fälle hatte es, jeden davon, schon zur Genüge gegeben.

„Oh, a-also der H-Herr hatte angewiesen, sofort Bescheid zu geben!“, brachte die Jüngere geradezu hastig zur Erklärung hervor. Da… begann er wiederum tatsächlich zuzuhören, statt nur Worte, Muster und Sinn in störendem Hintergrundrauschen erkennen zu müssen. Denn eigentlich gab es nur eine Sache, bei der die Dienerschaft Anweisung hatte, ihn zu jeder Tages- oder Nachtzeit so unablässig wie nur möglich damit zu belagern. „Sie… sie i-ist zurück! Ein Bote aus Carasarta gab Meldung. Sie ist bei einem der dortigen Heiler im Hafenviertel und-“

Teleportation war eigentlich ein sehr unspektakulärer Zauber. Nützlich, keine Frage. Aber nicht allzu eindrucksvoll. Es gab keinerlei Geräusch, keine Bewegung, keine eindrucksvollen Lichteffekte. Das galt natürlich nur, solange man ihn so verwendete, wie er vorgesehen war. Insbesondere, dass man sich konzentrierte, dass man die arkanen Energien sorgsam formte und wob und nicht zuletzt, dass man die nötige Menge Energie hinein packte.

Wirkte man einen Teleportationszauber unkonzentriert, aber mit einem Übermaß an Energie, dann entstanden kleine oder größere arkane Druckwellen. Ein wenig, als würde man sehr viel Wasser mit einem Schlag aus einem eigentlich stillen Gewässer entfernen – es drängte herbei, um das entstandene Loch zu füllen, schlug zusammen und breitete sich dann in chaotischen Wellen wieder aus, um die Energie der Bewegung zu verteilen. In der Praxis sorgte das üblicherweise für kleine Krater, gerissene Wände, zersplitterte Fenster – oder eben heilloses Chaos in Werkstätten durch umgeworfene Tische.

 

In Carasarta angekommen war es ein Leichtes, das entsprechende Haus ausfindig zu machen. Was er hatte hören müssen, hatte er gehört. Und er gab sich keinerlei Mühe um seine Manieren, als er die junge Dame am Empfang stehen ließ, wo sie stand und ihre Rufe und Warnungen ignorierte. Erst weiter hinten, als ihm ein als solcher ersichtlicher Heiler entgegen trat – regelrecht in den Weg trat -, zügelte er sich ein wenig. „Meister Zauberfänger, willkommen. Ich habe nach euch schicken lassen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab.“

„Wo ist sie?“ Es war das Einzige von wirklichem Interesse. Was interessierte ihn der Name des Heilers oder welche Mühen er auf sich genommen hatte? Über Entlohnungen und dergleichen ähnliches konnte man sprechen, sobald das Wichtige geklärt war.

„In einem der Behandlungsräume. Die restlichen Heiler des Hauses bemühen sich gerade, sie weit genug zu stabilisieren, dass wir sie in einen teleporationsfähigen Zustand bekommen.“ Er hörte zu. Hatte sich zumindest bemüht. Doch als von Stabilisierung die Rede war, riss sein Geduldsfaden abermals. Erst als sich der Heiler ihm regelrecht in den Weg warf, hielt er inne und ließ den Mann seine Begeisterung darüber durchaus spüren – wenngleich auch nur mit mahnendem, drohendem Blick. Der Heiler jedoch ließ das, was andere zu einem wimmernden Häufchen Elend verkommen ließ, an sich abprallen. „Ich bin mir sicher, dass ihr in dieser heiklen Situation nicht die Konzentration der Heiler gefährden und mögliche Zwischenfälle provozieren wollt, nicht wahr?“

„Wie lange?“

„Eine Stunde, vielleicht zwei.“

Er hatte so viel Zeit. Das war nicht die Frage. Die Frage war stattdessen vielmehr, ob er so viel Zeit haben – oder eher geben – wollte. Doch ein Blick in das ernste Gesicht des Mannes vor ihm verriet, dass dieser es ernst meinte. Kein Zucken, kein Zurückweichen, kein Senken des Blickes. Seufzend gab er klein bei. „Dann erzählt mir, was ihr schon wisst.“ Der Heiler nickte und bat ihn mit einer Geste, ihm in eines der Besprechungszimmer zu folgen. Der dortige Zauber zur Schallisolierung war rudimentär, deutlich schwächer. Aber würde wohl für den Augenblick genügen müssen. Denn so gerne er auch für mehr Privatsphäre und Sicherheit gesorgt hätte – im Augenblick traute er seiner Konzentrationsfähigkeit nicht ansatzweise weit genug über den Weg, um Magie zu wirken. Nicht in diesem aufgewühlten Zustand.

„Sie kam vor wenigen Stunden mit einem der Schiffe an.“

„Ich will den Kapitän sprechen! Und die Mannschaft. Jeden davon.“

Der verstimmte Blick machte ihm rasch deutlich, wie unwillkommen seine Einwürfe und Unterbrechungen waren. Nicht, das er sich davon abschrecken ließ, doch sein Gegenüber machte deutlich, dass er vorläufig nicht die Gesprächsführung inne hatte und auch nicht inne haben würde. „Das Schiff hat nur kurz umgeladen und ist direkt wieder ausgelaufen. Ich könnte euch vermutlich an den Hafenmeister verweisen, der euch vielleicht den Zielhafen nennen könnte und möglicherweise könntet ihr auf Basis dieser Informationen mittels diverser Zauber den aktuellen Kurs und die aktuelle Position ermitteln, um euch dann mit einem extrem präzisen Teleport an Bord zu bringen. Ich zweifle nicht an eurer Entschlossenheit und eurem Willen, so weit zu gehen. Aber vielleicht solltet ihr mir zunächst zuhören?“

Die genannten Hürden waren beachtlich, das stimmte schon – und die aufgezählten Lösungen dafür ebenso offensichtlich, wenngleich auch schwierig umzusetzen und kostspielig. Nicht, das Letzteres ihn aufhalten würde… doch er wollte nicht einmal darüber mutmaßen, wie seine Werkstatt aktuell aussah – oder was er dem Schiff antun würde, sollte er in seinem gegenwärtigen Zustand auf Deck teleportieren. Entsprechend nickte er lediglich und bemühte sich abermals darum, zuzuhören.

„Gut. Wie ich schon sagte: Sie kam vor einigen Stunden mit einem der Schiffe. Die Mannschaft besteht vollständig aus Elben unseres Landes und ist laut Aussage des Hafenmeisters halbwegs vertrauenswürdig. Zumal ich wenig Grund zur Annahme sehe, dass sie lügen sollten. Sie nahmen in Sundergrad, einem ausländischen Hafen, einen Passagier auf – eure Tochter. Sie wirkte zu diesem Zeitpunkt sehr verwirrt, hatte jedoch klar und deutlich sagen können, wer sie war, wohin sie wollte und besaß genug Geld, sich die Überfahrt leisten zu können. Entsprechend sah die Mannschaft wenig Probleme darin, sie mitzunehmen. Über die Dauer der Fahrt hinweg wurde ihre geistige Verwirrung jedoch immer offensichtlicher. Dabei waren große Teile der Mannschaft wohl überzeugt, dass sie Unglück brächte. Ich war ebenfalls sehr überrascht, solchen Aberglauben hätte ich Menschen zugetraut, aber nicht unseresgleichen. Wie dem auch sei: Laut Aussage des Kapitäns sagte sie den Bruch des Hauptmastes in schweren Windböen voraus. Ebenso, dass der frühere Kapitän ertrunken sei, nachdem er betrunken auf die Galionsfigur zu klettern versucht hatte. Laut Kapitän war dem Mast nicht anzusehen, dass er im Inneren faulte und das leidige Ende des früheren Kapitäns war auch nur ihm bekannt gewesen. Man mag davon halten, was immer man will. Sie redete viel wirr, Satzfetzen und Unverständliches. Die Mannschaft sperrte sie ein, als sie mehrere Mitglieder mit einer Gabel angriff. Einen hat sie dabei schwer verletzt. Sie schwankte die letzten Tage vor Ankunft im Hafen immer wieder zwischen emotionalen Zuständen der Trauer und des Zorns, unterschiedlich stark ausgeprägt. Wir haben sie gründlich auf die bekannten Leiden untersucht, aber alle Kenntnisse und Zauber erbrachten keinerlei verwertbare Ergebnisse. Wir wissen schlicht nicht, was ihr fehlt.“

Sie war… verwirrt? Es klang durchaus, als hätte irgendetwas ihren Verstand zerrüttet. Oder befallen. Und insgeheim ging er bereits das gewaltige Archiv ihm bekannter Wesenheiten und Kreaturen dieser und anderer Existenzebenen durch, von denen er gehört hatte… oder mit denen er gehandelt und geredet hatte. Nicht zuletzt sahen manche dieser Geschöpfe sich offensichtlich berufen, immer wieder in seine Arbeit hineinpfuschen zu wollen und wenn sie schon einmal da waren, nun, dann redete man eben auch miteinander über so manches.

Eine tatsächliche Erkrankung dagegen war schwieriger. Heluin kam ihm unweigerlich in den Sinn. „Dann werde ich sie baldestmöglich mitnehmen und fähigere Heiler einen Blick auf sie werfen lassen“, meinte er tonlos. Er zielte keineswegs darauf ab, den Mann vor sich – oder seine Kollegen – zu beleidigen. Aber es gab nun einmal schlicht erfahrenere, versiertere Heiler. Und sollte er den Stolz seines Gegenübers gekränkt haben, so ließ dieser es sich zumindest nicht anmerken.

„Betrachtet euch bezüglich ihres mentalen Zustandes damit als vorgewarnt. Dann… wäre da natürlich noch die andere Sache.“

Andere Sache…? Er spürte, wie ihm das Blut gefror. Was noch? Was, bei allen verdammten Göttern, denn nur noch?! Sein Blick war bohrend, drängend, mahnend. Ehe der Heiler jedoch Antwort gab, kontrollierte er offenbar nochmals den Schildzauber, speiste ein wenig mehr Energie hinein, nur zur Sicherheit. Oder vielleicht auch, um Zeit zu schinden.

„Sie ist schwanger.“

Sein Denken stoppte. Setzte schlicht aus. Der Elb ihm gegenüber ließ den Satz wirken, schien zu glauben, dass da zu viele Gedankengänge gleichzeitig um Vorherrschaft kämpfen würden, zu viele Emotionen im Widerstreit lägen, doch tatsächlich war da Stille und eine gähnende Leere. Und ein unterschwelliger, kalter Schauer, der seinen Rücken herabrann.

Ihr Verstand ist zerrüttet… sie ist schwanger…

„Wir haben keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung finden können“, erklärte der Elb scheinbar seine Gedanken erratend. Oder war ihm die Miene so sehr entglitten, das man ihm seine Überlegungen ansah? „Sie konnte unsere Fragen bezüglich des Zustandekommens dieser Verbindung oder betreffend des Vaters aufgrund der zuvor erwähnten Umstände nicht beantworten. Eine erste Untersuchung zeigt, dass die Zeugung schon Monate her ist. Wie viel Zeit sie auf dem Schiff unterwegs war, ist jedoch bei der Befragung untergegangen. Ich entschuldige mich aufrichtig im Namen meiner Kollegen und unseres Hauses für dieses Versäumnis. Es sind noch einige Wochen bis zur Geburt, ihr habt also genug Zeit, euch zu entscheiden.“

Diese Pause, die er setzte, war… seltsam. Entscheiden? Was gab es da zu entscheiden? Hatte seine Tochter nicht eindeutig entschieden? Irritiert blickte er auf, bemerkte da erst, überhaupt den Blick auf das Muster seiner Kleidung gesenkt zu haben. Er sagte kein Wort, hoffte nur, dass seine Miene noch immer ein offenes Buch war. Und das schien auch zu gelingen.

„Sie erwartet ein Halbblut.“

Alles Leben ist heilig. Er hatte diesen Unsinn zu hören bekommen wie jeder andere Angehörige seines Volkes auch. Und er hatte ihn, zumindest die ersten paar Jahrhunderte, geglaubt – wie jeder andere auch. Aber er war ein Zauberfänger. Und er war, mitunter unglücklicherweise, nicht einfach irgendein Zauberfänger. Gewiss, er war auch nicht der Zauberfänger.

Der Zauberfänger war nur sein Bruder. Was ihn in eine unschön einflussreiche Position brachte – glaubte zumindest der Großteil Elvorans.

Eine Entscheidung. Es galt eine Entscheidung zu treffen.

Und nach und nach wurde ihm sogar klar, was damit gemeint war.

„Ich-“, setzte er gerade an, als es unvermittelt an der Tür klopfte. Natürlich – es machte Sinn, den Schall nur nach außen zu blockieren. Nichtsdestotrotz schrak er im ersten Moment tatsächlich zusammen. Was unbemerkt blieb, glücklicherweise, da es dem Heiler offenbar ähnlich erging und der sich, die Hand an der Brust, kurz darauf mit einem entschuldigenden Lächeln erhob und zur Tür trat – um ihn kurz darauf wissen zu lassen: „Es ist so weit. Meine Kollegen haben ihre Arbeit beendet und eure Tochter ist nun transportfähig. Sie sollte jedoch zügig einem anderen Heiler überantwortet werden, sie benötigt kontinuierliche Versorgung und Hilfe.“

Wie betäubt nickte er. Konnte noch immer nicht recht mit dem Gewicht dessen umgehen, was ihm so unerwartet aufgebürdet worden war. Langsam nur erhob er sich, stellte den Stuhl manierlich und sorgsam wieder an den Tisch heran und trat aus dem Besprechungszimmer. Er ließ sich den Korridor entlang in einen anderen Raum führen und sah dort, erstmals seit Jahren, seine Tochter wieder. Sie schien sich kaum verändert zu haben. Die Haare waren ein wenig länger, vielleicht. Die Kleidung entsprach nun mehr dem schnörkellosen Alltagskrempel, den Abenteurer und Vagabunden mitzuführen pflegten. Keine hübschen, verzierten und gemusterten Kleider mehr, in prächtigen Farben und aus feinsten Stoffen. Keine Stofftiere mehr, bergeweise auf ihrem Bett drapiert. Aber in seinen Gedanken war es noch immer ein Leichtes, sie in dieses Setting zu setzen.

Doch der Bauch fiel auf. Sehr viel stärker als er erwartet hätte.

Und der Blick. Sie sah ihn an und sah doch irgendwie durch ihn hindurch. Oder sah zumindest nicht ihn. Sah nicht ihren eigenen Vater. Es dauerte, bis er begriff, dass sie ihn schlicht nicht erkannte.

Unweigerlich der nächste Schock. Er hätte nicht einmal wirklich behaupten können, davon überrascht zu werden. Man hatte ihn vorgewarnt, sorgfältig und eindringlich. Aber hier zu stehen, einen halben Raum von ihr entfernt, und nicht erkannt zu werden? Nur am Rande bekam er mit, wie der Elb seine Mitarbeiter hinausscheuchte und als einziger als stummer Zeuge im Raum verweilte. Er benötigte einiges an Mut, den er über langwierige Minuten des Zögerns, Zauderns und der geistigen Leere hinweg zusammenkratzte, ehe er sich dem Bett näherte. Vorsichtige Schritte, weiche Knie.

Behutsam umfasste er ihre Hand. Diese Finger, die früher nur die Arbeit gekannt hatten, eine Violine zu spielen – jetzt waren sie etwas rauer. Nicht viel, möglicherweise – doch ihm kam es viel vor. Als würden all die Details hervorstechen, die sich gewandelt hatten. Alles, was sein kleines Mädchen noch weiter  von ihm entrückte. Alles, was ihm sein kleines Mädchen entreißen wollte. Er strich ihr über das prächtige, rotbraune Haar. Sie neigte den Kopf zur Seite. Und egal, wie sehr er sich einreden wollte, dass ihr glasiger Blick und ihr Unverständnis nur ein Ergebnis der Betäubung waren – es lag nicht der kleinste Funke Verständnis darin, kein Erkennen. Warum hatte er sich an die wirre Hoffnung geklammert, sie möge ihn als ihren Vater sehen, nur weil er ein paar Meter näher stand?

„Ist es schon Zeit, schlafen zu gehen? Die Vögel werden lauter, nicht leiser.“ So kostbar es ihm erschien, ihre Stimme zu hören, so sehr schmerzte es, zu hören, was sie zu sagen hatte.

„Wir gehen heim“, erklärte er ihr mit erstickter Stimme, „Nach Hause. Was hältst du davon?“

Sie lächelte. Dieses Lächeln, voller Energie, voller unschuldiger Freude. Da war sein kleines Mädchen wieder, wenn auch nur für wenige Sekunden. „Gern. Ich bin gerne daheim. Dort scheint die Sonne, wenn ich es will. Und die Wolken sind aus Watte. Man kann Elefanten darin formen.“ Ein schweres Schlucken später blickte er über seine Schulter hinweg zum Heiler, dessen unlesbare Miene ihm keinen Anhaltspunkt gab, was er hiervon wohl denken mochte. Stattdessen nickte  der Elb ihm zu und nachdem er sich einen Moment lang konzentriert hatte… verschwanden sie aus dem Zimmer.

 

Die nächsten fünf Tage waren eine Qual. Er hatte Besucher nie sonderlich leiden können, doch mit einem Schlag wimmelte es in seinem Haus nur so von ihnen. Keineswegs natürlich Schaulustige oder jene, die ihr Beileid bekunden wollten – die blieben hübsch vor der Tür stehen und durften sich mit einem der Bediensteten herumschlagen, wenn sie das denn unbedingt wollten.

Nein, es waren die verdammten Heiler. Die besten des Landes, die er scharenweise herbeirief. Er scheute keine Kosten, sparte keine Energie – schon gar nicht die Eigene. Dutzende Male teleportierte er pro Tag quer über das Land und sammelte all jene ein, von denen er sich Hilfe erhoffte. Doch das Ergebnis dieser ach so weisen und erfahrenen Männer und Frauen blieb immer gleichermaßen enttäuschend: Ihre Unfähigkeit ließ sie keinerlei Veränderung im Geist seiner Tochter erkennen. Keine Erkrankung, keine Manipulation. Was immer es also war, war höchstwahrscheinlich neu. Subtil. Oder extrem mächtig.

Vielleicht auch alles davon.

Das hieß: Noch weniger Schlaf. Und angespanntere Nerven. Das hieß, dass selbst Illyana nun endlich klug genug war, einzusehen, dass es besser wäre, ihm vorläufig Abstand zu gewähren. Dummerweise konnte er nicht alles und jeden von sich weisen. Wenngleich er es sich auch nicht eingestand, sich nicht eingestehen wollte, war er sich doch schmerzlich darüber im Klaren, dass er seit ihrer Rückkehr ins eigene Heim vermied, seiner Tochter unter die Augen zu treten. Er war zu erschöpft, zu beschäftigt, zu… was immer nötig war, um diesen Raum nicht an der Seite all der Heiler betreten zu müssen, die er hierher holte.

Aber einem Ratsmitglied schlug man nicht die Nase vor der Tür zu.

Also fand er sich mit einer Tasse Tee, die er nicht anrühren würde, in einem kleinen Salon. Von starken Zaubern gegen übereifrige Augen und Ohren geschützt. Er nickte Malagan Klippenwind nur zu, unterließ auch diesmal sämtliche Höflichkeitsfloskeln. Er war oft genug vom Rat für irgendwelche Banalitäten vorgeladen worden um sich das schlicht herauszunehmen. Wenn sie ihn dafür einmal mehr vorladen wollen würden, sollten sie es nur ruhig versuchen.

„Es ist mir immer wieder eine Freude, hier zu Gast zu sein“, begann der alte Elb ruhig, während er an seinem Tee nippte.

„Verschwendet nicht meine Zeit. Kommt zum Punkt“, verlangte er. Kurz funkelte etwas Bedrohliches in den Augen des Älteren auf, doch er zügelte sich rasch, beherrschte sich – oder verbarg das Offensichtliche zumindest.

„Ich wollte lediglich mein Beileid aussprechen“, hob er zunächst an. Da war mehr. Da käme unweigerlich mehr. Aber Malagan Klippenwind war ein Politiker. Er spielte, immer und überall, selbst in Gesprächen wie diesem. Was immer da noch war, würde nicht kommen, bevor er die zufällig gelassene Gesprächspause nicht nutzte, um irgendetwas darauf zu erwidern.

„Die Heiler werden etwas finden. Sie werden ihr helfen“, erklärte er daher. Nicht zuversichtlich, keineswegs. Aber er versuchte, sich selbst ein Stück davon zu überzeugen. Selbst wenn zweiundzwanzig schon gescheitert waren – das hieß nicht zwangsläufig, dass Nummer dreiundzwanzig nicht erfolgreich sein würde.

„Hm? Ah, du sprichst von ihrem geistigen Leiden. Hm ja, ich bin sicher, da werden sie etwas finden“, erklärte das Ratsmitglied.

Er rümpfte die Nase, hätte ihn am liebsten hier und jetzt hinausgeworfen. Das war sein Haus, allem zum Trotz und Malagan hatte nichts außer schlechten Manieren gegen ihn in der Hand. Er musste sich nicht bieten lassen, dass dieses Scheusal sich herausnahm, ihm so persönlich zu begegnen. Etwas, das ihm ganz gewiss nicht zustand.

Mehr noch als die verbale Persönlichkeit erzürnte ihn jedoch die Implikation. „Weshalb seid ihr hier?!“, verlangte er mit Nachdruck zu wissen.

„Um dich an das zu erinnern, was du ohnehin schon weißt und was du, zweifellos, in den vergangenen Tagen bereits in Gedanken durchgegangen bist, wieder und wieder. Sie erwartet einen Mischling.“ Das Wort regelrecht ausgespuckt wie etwas Fauliges, hatte er zumindest genug Geistesgegenwart besessen, nicht auf andere Titulierungen zurückzugreifen.

„Ich kenne die diesbezügliche Politik von Haus Klippenwind-“, begann er, wurde jedoch jäh unterbrochen.

„Nein. Nein, das ist nicht die Politik meines Hauses. Rede dir da keinen Unsinn ein! Es ist die Politik ganz Elvorans. Und jedes anderen elbischen Volkes, wenn sie vernunftbegabte Führer besitzen. Sei kein Narr – du weißt, wie das enden würde.“

„Kommt ihr in jedes Haus, das mischblütigen Nachwuchs erwartet?“, versuchte er den Älteren zu provozieren. Was hatte er hier verloren?! Warum war er hier? Warum gerade jetzt?

„Nein, wohl nicht. Die haben vernunftbegabte Personen in ihrem Umfeld – hoffentlich zumindest -, die ihnen die Notwendigkeit bestimmter Handlungsweisen und Entscheidungen aufzeigen können. Du dagegen bist bekannt als übellaunig und unvernünftig, als stur.“

„Euch vielleicht“, warf er mit einer gewissen Genugtuung ein – obwohl ihm natürlich bestens bewusst war, das Illyana, zumindest in einem vertraulichen, persönlichen Gespräch, dieser Beschreibung nicht hätte widersprechen können, ohne zu lügen.

„Nun nichtsdestotrotz. Elbisches Blut währt ewiglich, aber anders als diese Pest im Osten lassen wir uns Zeit, und das in sämtlichen Belangen des Lebens. Wir sind vorsichtig und wägen ab. Deine Tochter hat sich – wie viele von uns, versteh mich nicht falsch – tapfer und mutig in die Welt hinausgewagt, um sie mit eigenen Augen zu sehen, mit eigenen Taten zu erforschen und vielleicht sogar zu formen. Aber sie ist auf etwas oder jemanden hereingefallen. Hat sich etwas antun lassen. Die Götter allein mögen wissen, was genau geschehen ist und ich bin sicher, dass bereitete dir schon genug unruhige Nächte. Doch denke an die Zukunft. Die deiner Tochter und deine Eigene. Wenn wir diese… diese Halbblüter einfach überall willkommen heißen und herumstreunen lassen würden, dann würde das elbische Blut zunehmend verwässern. Verdünnt bis zur Unkenntlichkeit, bis von unserem Volk, unserer Tradition, unserer Kultur absolut nichts mehr übrig wäre. Wir können das nicht dulden, dürfen es nicht – um unserer Selbsterhaltung willen. Und du wirst nicht in den wenigen Wochen, die dir noch für die Entscheidung bleiben, das Denken eines ganzen Volkes umwerfen. Das liegt außerhalb selbst deiner Mächte. Was also bleibt dir? Ein Halbblut lebt wie lange? Ein, vielleicht zwei Jahrhunderte, wenn es hoch kommt? Ruinieren würdest du damit jedoch weit mehr als nur diese Lebensspanne. Das Ansehen deiner Tochter hat jetzt bereits erheblich gelitten. Sie ist nicht fähig, diese Entscheidung zu treffen – was die Bürde dir zuschiebt. Wenn du dich falsch entscheidest, dann wird das Gewicht der Konsequenzen auch auf dich zurückfallen.“

„Drohst du mir gerade in meinem eigenen Haus?“, unterbrach er Malagan abermals. Der verzog seinerseits nun sichtlich das Gesicht über die persönliche Anrede, ging jedoch zumindest darauf nicht ein, als er den Kopf schüttelte.

„Nein, keineswegs. Dir zu drohen ist nicht nötig. Du weißt all das schon. Ich rufe es dir lediglich in Erinnerung. Ob du es glauben magst oder nicht: Ich bin hier, um dir zu helfen. Elvoran braucht eine starke Führung. In diesen Zeiten mehr denn je. Und dazu gehört ein starkes Haus Zauberfänger, so ungern ich das zugeben mag. Wenn dein Ansehen durch diese… diese flatterhafte Fehlentscheidung deiner Tochter zerstört würde, was glaubst du, was dann geschehen wird? Was glaubst du, wie sich das auf die Laune und Konzentrationsfähigkeit deines Bruders auswirkt? Er sucht dann und wann Rat und Beistand bei dir, oder nicht? Glaubst du, die Öffentlichkeit ist blind genug, das nicht zu bemerken? Und was mit deinem eigenen Leben? Stammt die Mehrheit deiner Einnahmen nicht aus Aufträgen des Rates von Carasamban? Willst du mir wirklich erzählen, dass du nicht sehen kannst, nicht erkennen kannst, wie die Geburt dieses Fehlers nicht nur dein Leben und das deiner Tochter ruinieren wird, sondern auch unser ganzes Land destabilisieren könnte?“

Die Fäuste geballt, hatte er sich bemüht, an sich zu halten. Er hatte sich wirklich bemüht, so sehr… aber das war einfach zu viel. Zu viel auf einmal. Zu viele Tiefschläge. „Raus!“, zürnte er aufbrausend. Als schwach schimmernde Aura legten sich pure arkane Energien um seinen Körper, nur mühselig zurückgehalten, in variable Formen unzähliger bekannter Zauber schlüpfend auf alles und jeden loszugehen, der sich in der Nähe befand.

„Ich sehe, du weißt das Nötige und brauchst deine Zeit, um dich zur einzig vernünftigen Entscheidung durchzuringen“, erklärte Malagan trotz allem völlig ruhig. Er setzte die Untertasse ab, leerte seinen Tee und erhob sich. Er nahm sich sogar die Zeit, seine Robe glatt zu streichen, ehe er sich höflich und förmlich vom Hausherrn verabschiedete und von einem Bediensteten zur Tür hinauseskortiert wurde.

 

Kraftlos ließ er sich in den Sessel fallen.

Er hasste ihn. Er hasste ihn für die Begriffe, die er verwendet hatte. Für die Grausamkeiten, die er impliziert hatte. Für die Richtung, in die er ihn zu treiben versucht hatte.

… für die Wahrheiten, die er ihm ungebeten vor Augen gezerrt hatte.

Sicherlich – vieles davon mochte dramatisiert sein. Oder zumindest klingen. Aber er wusste um die vehemente Ablehnung halbelbischen Blutes im Land. Er wusste um all die Vorurteile. Er wusste, welche Schwierigkeiten es geben würde. Selbst wenn seine Tochter sich erholen, ihr Verstand wieder in seinen gesunden Zustand zurückkehren würde. Selbst dann, so hatte Malagan völlig richtig gesagt, hatte ihr Ruf Schaden genommen. Erheblichen, falls man den Implikationen des Ratsmitgliedes trauen konnte. Sie, die sich hatte verführen lassen. Oder sie, die sich hatte überraschen lassen. Es gab so viel… grausamen, ungerechten Unsinn, der existierte – in den Köpfen der Leute allem voran.

Sie würde abgelehnt werden. Vielleicht nicht direkt angefeindet, aber man würde sie spüren lassen, dass sie hier in Elvoran nicht länger willkommen war. Man würde versuchen, sie fortzutreiben. Wieder hinaus in die Weite der Welt. Und damit unweigerlich fort von ihm – denn er war Crafter, allem zum Trotz, und dies seine Heimat. Und seine eigenen Abenteuerjahre lagen lange, lange zurück und seine Abenteuerlust war schon damals nicht allzu groß gewesen.

Die Mehrheit seiner Aufträge kam tatsächlich vom Rat Carasambans. Und Heluin und er berieten sich tatsächlich häufig, obwohl die Angelegenheiten des Ältestenrates eigentlich streng vertraulich waren.

Alles nur eines Kindes wegen.

War es das wert?

Alles Leben ist heilig. Es galt die Entscheidung zügig zu fällen. Nur noch einige Tage, bis die Heiler nichts mehr würden tun können, außer die Geburt zu begleiten, zu verfolgen und… und dann? Vielleicht würde er das Kind weggeben können. Aber brächte er das übers Herz? Für immer zu wissen, das irgendwo dort draußen ein Mitglied seiner Familie war, sein Enkel. Unwissend über seinen Zustand. Seine Abenteuer. Die Gefahren, Sorgen und Nöte seines Lebens. War es da nicht gnädiger, die Geburt des Kindes gänzlich zu verhindern? Es gar nicht erst das Licht der Welt erblicken zu lassen? Gnädiger für Tochter und Großvater gleichermaßen, zumindest? Gnädiger für das Kind selbst gewiss auch, oder nicht?

Wie lebte ein Halbblut in Elvoran? Die unbequeme Antwort, die Erste zumindest, die ihm in den Sinn kam: Gar nicht. Ein Halbblut lebte hier nicht… mit viel Glück überlebte es vielleicht. Aber war das wirklich, was er seinem Enkel antun wollte? Ein Leben in Zurückweisung? In Ablehnung und offener Anfeindung? Aller Überfluss konnte Neugier nicht ewig zurückhalten. Und was würde mit einem so jungen Geist geschehen, wenn er in diese Wand aus Dornen lief? Sich an Worten und Blicken verletzte, noch lange bevor möglicherweise weit mehr als nur dergleichen käme?

 

Weitere Tage verstrichen. Vierundvierzig Heiler, kein Erfolg. Sehr zu seiner Verwunderung hatte sogar Malagan seine persönliche Heilerin vorbei geschickt, damit sie sich den Zustand seiner Tochter einmal genauer besah…

Er hatte sie noch immer nicht wiedergesehen. Hatte noch immer nicht gewagt, ihr Zimmer wieder zu betreten. Aber er hatte eine Entscheidung getroffen. Das Hadern hatte ein Ende… hoffte er. Und es wäre zum Besten für alle Beteiligten, nicht wahr? Jeder kam damit besser weg. Wirklich und ausnahmslos jeder. Ein Gewinn für alle. Es… es sollte sich also eigentlich sehr viel besser anfühlen, als es das tat.

Das Treffen mit der kleinen Gruppe von Heilern war gründlich von ihm organisiert worden. Der Eingriff würde nicht lange dauern und weder Mutter noch Kind irgendeinen Schaden zufügen. Die Behandlung war schmerzfrei. Das Kind würde nicht das Geringste spüren. Bewusstsein war ja ohnehin noch nicht da. Alles Leben ist heilig. Es war kein Mord. Da schlug ein Herz, aber in diesem Kopf war kein Verstand. Die Grenze war schwammig, aber… es ging. Es würde noch gehen. Die Heiler hatten sich bereit erklärt, es noch zu tun – also war es noch in Ordnung. Immerhin, ihre diesbezüglichen Richtlinien sollten härter und strenger sein als die von irgendwem sonst, nicht wahr?

Vier Männer halfen ihm. Handlanger der Heiler, Assistenz, Zuarbeiter. In diesem Fall brachten sie die Trage, verlagerten Ahillea darauf, schnallten sie umgehend wieder fest und brachten sie hinter ihm her in Richtung Ausgang des Hauses. Dort wartete ein Teleportationszirkel auf sie.

Bevor sie jedoch wirklich nach draußen kamen, stellte sich ihm Illyana in den Weg. Zunächst wortlos, starrte sie ihn an. Er wusste genau, was sie wollte. Was sie verlangte, ohne es auszusprechen. Das war nicht nötig, um es zu begreifen. Doch als er nicht reagierte, tat sie es dennoch, mit Nachdruck. „Erklär‘ mir das, sofort!“

Wie sollte er? „Es ist besser so. Besser für uns alle.“

Ihr Blick veränderte sich. Wurde weiter. Entsetzt, regelrecht. „Was ist ‚besser für uns alle‘?“, verlangte sie zu wissen. Nein – nicht zu wissen. Sie wusste es nur zu gut. Sie verlangte es zu hören. Sie verlangte, dass er es aussprach.

„Dass sie… dass das Kind… es darf nicht…“ Er stockte, brach ab. Er wusste noch immer nicht, wie er das aussprechen sollte. Nur der Gedanke daran, es auszusprechen, verknotete ihm den Magen. Mit seinem eigenen Unbehagen ringend, sah er sie nicht kommen. Jene Hand. Lediglich, nachdem ein hörbares Klatschen den Korridor herabgeschallt war, nachdem der Schmerz seinen Verstand erreicht, kurzzeitig zu fluten versucht und sich ein Brennen hinterlassend wieder zurückgezogen hatte, wagte er zu ihr zu sehen.

Trotz legte sich in seinen Blick. Er hatte entschieden! Er hatte zum Wohle aller entschieden! Seiner Tochter! Des Kindes! Sein eigenes Wohl! Das seines Bruders, ja sogar ganz Elvorans! Warum sah sie das nicht!? „Vergiss nicht deinen Platz, Magd!

Die Worte waren heraus, ehe er überhaupt realisiert hatte, was sein Verstand da gerade zusammenpuzzelte. Er glaubte ihren Schrecken im Angesicht dessen gut nachvollziehen zu können. Nie. Nie in all den Jahren hatte er sie jemals so… herabgewürdigt. So… reduziert.

Aber warum sah sie nicht, dass es keinen anderen Weg gab?

Mehr flüchtend als alles andere, schob er sich an Illyana vorbei. Die vier Assistenten der Heiler folgten noch immer mit der Trage. Keiner kommentierte das Geschehen in irgendeiner Weise. Sie taten gut daran.

Eine Teleportation später befanden sie sich im Haus der Heiler. Alles war vorbereitet. Ahillea bekam eine Dosis des Betäubungsmittels verabreicht. Sie sah sich um, redete wieder wirr. Keiner hörte wirklich zu. Es… tat weh, sich das eingestehen zu müssen. Aber es war so schrecklich leicht geworden, auszublenden, was sie von sich gab. Weil es einfach keinen Sinn ergab.

Selbst die wenigen Fetzen, die irgendwann kamen und Sinn zu haben schienen waren noch immer zu kryptisch, um damit irgendetwas anzufangen. Und alle Heiler hatten daran versagt. Nicht, das er schnell damit war, die Hoffnung aufzugeben. Ihm gingen nur allmählich die landeseigenen Heiler aus. Er würde in Akkara zu suchen beginnen, sobald das hier vorbei war. Und dann, dann vielleicht in Ordewey. Falls nötig, auch den gesamten verdammten Rest der Welt.

Nein!“, kreischte Ahillea plötzlich.

Man hatte sie gerade die letzten Meter bringen wollen, den Korridor herab und durch die Tür ins Behandlungszimmer. Er würde hier warten, hier im Flur, jenseits der Tür. Bis man ihn rief und ihm sagte, das alles geschafft war. Dies waren die letzten Meter. Er hatte sie betrachtet. Sich ihr Gesicht einzuprägen versucht. Diesen Moment einzuprägen und sich irgendwie gutzureden versucht. Er hatte sich ausgemalt, wie er ihr irgendwann erklären musste, was geschehen war. Abzuschätzen versucht, wie sie wohl reagieren würde. Es war, von den Schritten abgesehen, still gewesen.

Doch keine vier Meter von den Türen entfernt, bäumte sie sich mit einem Ruck mit beeindruckender Kraft gegen die Fesseln auf. „Nein!“, schrie sie immer wieder panisch, mit hysterisch schriller Stimme, „Lass das nicht zu!“, verlangte sie. Immer wieder und wieder. Die Assistenten waren zunächst gewichen, nur zur Sicherheit – und holten bereits einen der Heiler, damit sie eine weitere Dosis des Betäubungsmittels bekam. Ahillea jedoch wandte sich in ihren Ketten, riss daran, schleuderte sich wie wild herum, als hätte die Tollwut sie gepackt und schrie, schrie so laut sie nur konnte.

Und plötzlich, mit einem Ruck, sackte sie auf die Trage zurück. Tränen rannen zahl- und haltlos über ihre Wangen, als sie ihn ansah. Mit einem Blick, der durch Fleisch hindurchdringend tiefer ging, als er in Worte fassen konnte. „Lass das nicht zu… bitte, sie dürfen sie mir nicht wegnehmen… Sie ist meine Arien… lass nicht zu, das sie mir Arien wegnehmen…!“

Seine Kehle schnürte sich zu. Und doch blieben seine Lippen versiegelt. Seine Hände taub. Seine Beine still. Ein Arzt kam, verabreichte ihre eine weitere Dosis. Sie wurde leiser, sank zurück. Auf das Nicken des Heilers hin traten die vier Männer wieder heran, nahmen die Trage und bewegten sie weiter.

Und jeder Schritt, den sie taten. Jeder Schritt, der mehr Distanz zwischen Ahillea und ihn brachte – zwischen seine Tochter und ihn. Jeder dieser Schritte schmerzte mehr als der vorherige. Noch immer starrte sie ihn an. Sah ihn. Erkannte ihn. „Bitte, Papa…“

Die Türen schlossen sich.

Metall klickte.

Er glaubte völlig die Kontrolle über sich und seinen Körper verloren zu haben. Alles fühlte sich fremd an. Einen Arm zu heben war nahezu unmöglich. Er spürte nur das Zittern in seinen Händen und Knien. Spürte nur die Hitze der Tränen auf seinen Wangen. Sah, wie verschwommen die Welt war. Wie speiübel ihm war. Wie flau sich sein Schädel anfühlte.

Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung, brach durch die Tür hindurch, als wäre jede Sekunde wichtig. Und waren sie das nicht auch? Alles Leben ist heilig. Jede Sekunde war wichtig. Selbst wenn es nur ein oder zwei Jahrhunderte wären – so waren das zahllose Sekunden und jede davon kostbar, oder nicht?

„Halt!“, gebot er in den Raum platzend, in dem er nichts verloren hatte. Die Heiler blickten verwirrt auf…

 

„Ich erwarte demnächst eine Enkelin. Ihr Name wird Arien sein.“ Zwei Sätze. Nur zwei Sätze. Aber sie wogen schwer. Lagen in der Luft, als hätte jemand – ohne es zu wissen – Staatsgeheimnisse brühwarm ausgeplaudert. Vor ihm stand die versammelte Dienerschaft des Hauses, jeder Einzelne von ihnen. Und eine, deren Blick er bestmöglich auswich. Hier und jetzt wurde ihm erstmals seit langer Zeit wieder gewahr, wie viele eigentlich für ihn arbeiteten. Für die Instandhaltung des Hauses, hauptsächlich, aber auch für sein Wohl in der einen oder anderen Form. „Ich verspreche jedem von euch, dass es keinerlei böses Blut zwischen uns geben wird – nicht von meiner Seite aus. Wer sich entscheidet, aufgrund meiner getroffenen Wahl zu gehen, der kann von mir ein Empfehlungsschreiben erhalten. Überlegt es euch. Wer gehen will… der möge jetzt bitte gehen.“

Er hatte gehofft. Darauf, sich geirrt zu haben. Er hatte sich einmal geirrt – warum nicht zweimal? Das war offensichtlich eine Zeit für Irrtümer. Zum Besten aller. Es klang wie ein schlechter Scherz. Der grausamste Scherz aller Zeiten.

Doch natürlich hatte er sich nicht geirrt, was sein Gespür für die Herzen und Vernunft der Leute anbelangte. Die ersten, die gingen, waren die Selbstbewussteren. Sie brachen das Eis, gewissermaßen. Andere schlichen ihnen hinterher. Manche würdigten ihn keines Blickes mehr. Manche funkelten ihn zornig an. Ein paar wenige lächelten. Bedankten sich sogar für das angebotene Schreiben oder die Gelegenheit, hier gearbeitet zu haben.

Wichtig war letztlich nur, dass sie gingen.

Alle.

Nun ja – fast alle. Alle bis auf eine, genau genommen. Und die, so vermutete er, auch nur aufgrund des Umstandes, dass sie noch eine sehr persönliche Angelegenheit mit ihm zu klären hätte, bevor sie ihre Kündigung einreichen würde.

Als sich die Tür hinter dem Letzten schloss, herrschte mehrere Momente lang angespannte Stille, ehe sie sich zuerst überwandte. „Schön zu sehen, dass du zur Vernunft gekommen bist.“ Sie trat einen Schritt vor. „Bereit?“

Er seufzte tief. „Bereit.“

Die Ohrfeige schallte durch die Eingangshalle, die Gänge herab, sogar in der Küche – durch die geschlossene Tür hindurch – schien noch ein kleines Echo geworfen zu werden. Er hatte in seinem Leben manchen Kampf bestritten, manche Wunde verschmerzt. Er war Crafter – mitunter flogen einem die Reagenzien auch schlicht um die Ohren und Verbrennungen oder kleinere Schnittwunden waren an der Tagesordnung.

Aber diese Ohrfeige würde er nicht mehr vergessen. Und das nicht nur, weil darin so viel Wucht und Kraft und Energie lag, so viel offensichtliche Wut. „Tu das nie wieder, hörst du mich? Wenn du eine Magd willst, geh da raus und stell eine ein!“ Er wagte nicht, sich die Wange zu reiben – obwohl der Impuls da, der Drang groß war. Stattdessen wich er ihrem Blick aus und erntete sofort ein „Sieh mich verdammt nochmal an!“

Er hob den Kopf, ihre Blicke trafen sich. Sie war wütend. So unglaublich wütend. Wie schon seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr. Und er hatte das verschuldet. Dennoch erschien es ihm beinahe… banal. Banal im Angesicht dessen, was er heute um Haaresbreite noch verschuldet hätte. Und das erste Mal seit Tagen, Wochen inzwischen, überkam ihn ein Gefühl, so stark und klar umrissen: Tiefgreifender Kummer.

Er hatte seine Tochter verloren. Irgendwie, irgendwo. Er wusste nicht einmal, an wen oder warum. Aber er hatte seine Tochter verloren. Dann und wann mochte sie auftauchen, zwischen wahnsinnigem Geschrei, während sie biss und kratzte und um sich spuckte. Oder in den Phasen, in denen sie ihre Umgebung nicht mehr erkannte. Dann und wann war sie wieder da. Und es schmerzte so unendlich mehr, zu wissen, dass er sie binnen Tagen oder Minuten, vielleicht sogar nur Sekunden, wieder verlieren würde.

Also brach er ein. In der Eingangshalle, alle Schutzzauber vergessen. Und Illyana war da. Sie war immer da gewesen, so schien ihm. Sie hielt ihn. Sie wartete. Und als er sich beruhigt hatte, verlangte sie von ihm, was er von Anfang an hätte tun sollen: Dass er ihr alles erzählte, was er wusste. Alles, was geschehen war. Jede Entscheidung erklärte, jeden Gedanken darlegte. Natürlich war auch dieses Gespräch alles andere als angenehm. Aber heilsam auf eine Weise, die er nicht erwartet hatte.

 

Es war später Abend und beide saßen bei nicht mehr als ein paar belegten Broten in der Küche beisammen, seit einigen Minuten schon schweigend. Aber es war keine drückende, keine unangenehme Stille. Einvernehmlich vielmehr. Ließ Ruhe. Raum für Gedanken. Doch das Klingeln unterbrach eben diese.

„Ich mache Tee“, seufzte Illyana.

Er nickte und begab sich selbst zur Tür. Einmal aufgezogen, hätte er sie sofort wieder zuschlagen wollen. „Der Tag war sehr lang und… ereignisreich. Ich habe keine Manieren, keine Höflichkeit, keine Freundlichkeit und keine Geduld übrig. Für euresgleichen ohnehin nicht mehr.“

Die weißhaarige Elbe vor ihm nickte amüsiert lächelnd. „Mir wäre neu, das meinesgleichen euch je etwas getan hätte.“

Ratsmitglieder“, präzisierte er verstimmt.

„Ah, ich verstehe. Nun, nichtsdestotrotz – ich bezweifle, dass meine Angelegenheit allzu viel Aufschub duldet. Eure Haushälterin macht bereits Tee, wie ich vermute und es wäre eine Schande, den zu verschwenden.“

„Sie ist nicht meine Haushälterin, sie ist…“

„Ja?“ Er wollte ihr am liebsten dieses geduldige Lächeln aus dem Gesicht wischen, überlegte es sich jedoch anders. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine weitere Vorladung vom Rat wegen irgendeiner Lappalie.

„Kommt rein“, wies er sie unbegeistert an und trat aus dem Weg. Einmal mehr in – seiner Meinung nach – viel zu wenig Tagen saß ein Mitglied des Ältestenrates von Elvoran in seinem Salon. Er hasste es. „Also was wollt ihr?“, verlangte er zu erfahren, nachdem Illyana den Tee gebracht hatte.

„Euch helfen natürlich“, erklärte sie noch immer lächelnd. Und reizte ihn damit noch weiter.

„Das klingt merkwürdig vertraut. Das letzte Ratsmitglied, das mir helfen wollte, hat mich für seine Zwecke einzuspannen versucht.“ Denn nach allem, was er durchgemacht hatte? Nach allem, was Malagan ihm gesagt hatte? Nach all den Vermutungen, die Illyana eingeworfen hatte? Ja, natürlich. Wie hatte er es nicht sehen können? Vielleicht lag es am Schock, am emotionalen Durcheinander. Das spielte letztlich keine Rolle.

Er, der Heluin nicht mehr beriet, um dessen Ansehen in der Öffentlichkeit nicht zu gefährden. Denn er hatte eine von der Gesellschaft nicht anerkannte Enkelin. Oder aber er, der an seiner eigenen Schuld erstickte… weil er eben keine Enkelin hatte – und seiner Tochter deren erstes Kind genommen hatte. Egal, wie er sich entschied… Malagan würde gewinnen, auf die eine oder andere Weise.

Nimalja hingegen lächelte weiterhin dieses amüsierte Lächeln. „Natürlich hat er das und ich mache auch keinen Hehl draus, dass meine Hilfe nicht kostenlos kommt.“

„Natürlich nicht“, seufzte er. Aber immerhin – sie war, zumindest bis zu diesem Punkt, tatsächlich erfrischend direkt. „Dann vielleicht erst einmal so herum: Wozu überhaupt helfen?“

Das brachte sie tatsächlich zum Lachen. Es klang hell, war kurz und wirkte… erstaunlich aufrichtig. „Stellt euch nicht so an, ihr wisst die Antwort darauf genau. Diese Situation hat mit Haus Steinrinde nicht das Geringste zu tun. Noch nicht. Aber wir haben ein Händchen dafür, neutrale Situationen, nicht-profitable Situationen, in für uns profitable Situationen umzuwandeln. Nichts anderes mache ich hier. Natürlich könnte ich mich raushalten und diese wundervolle Gelegenheit winkend an mir vorbeiziehen lassen – aber dann hätte ich auch keinerlei Gewinn. Und das ist letztlich, worauf wir aus sind.“

Er nickte ernsten Blickes. „Fein. Dann: Was wollt ihr?“

„Nein“, erwiderte sie rasch und schüttelte wieder lächelnd den Kopf, „Schlechte Verhandlungstaktik. Man merkt euren Mangel an Erfahrung diesbezüglich. Ich werde euch erst ein wenig den Mund wässrig machen mit all dem, was ich euch anbiete. Und dann kommt, was es kostet.“

„Ist es nicht unsinnig, die Taktik zu erklären?“, erwiderte er gereizt. Er wollte sie loswerden. Er wollte sie einfach nur noch aus seinem Haus haben. Nicht, weil sie in der gleichen Kategorie von unangenehm spielte, wie Malagan es tat – sondern einfach nur, weil es ein inzwischen sehr langer, ereignisreicher, aufreibender Tag gewesen war.

Völlig seelenruhig dagegen zuckte sie mit den Schultern. „Und wenn schon – die Taktik zu erklären macht sie nicht weniger effektiv.“

„Dann erzählt endlich“, maulte er und setzte sich unwillig in den Sessel ihr gegenüber.

„Ihr habt euch in eine prekäre Lage gebracht, steht gewissermaßen mit dem Rücken zur Wand. Eure gesamte Belegschaft hat gekündigt – mit einer rühmlichen Ausnahme. Der Ruf eurer Tochter ist zu einem Häufchen Asche reduziert. Und an eurem Ruf wird auch schon fleißig genagt. Bevor der nächste Morgen graut, werden sich die ersten Leute das Maul zerreißen. Eure Arbeit hängt von Aufträgen ab, die ihr vom Stadtrat bekommt. Euch bleibt nicht viel Zeit zum Handeln, bevor andere es tun werden. Ihr habt ausgeschlagen, was Malagan für euch für das Beste hielt – die tieferen Motive dessen seien erstmal dahingestellt. Ihr könnt davon ausgehen, das ihr dieses Anwesen hier nicht werdet halten können… und selbst sollte euch irgendwie gelingen, es zu halten, dann wird man es euch schlicht unter Vorwand wegnehmen. Was ich vorschlage, ist simpel: Akzeptiert. Akzeptiert, dass man euch besiegt hat. Es spielt keine Rolle, ob dem tatsächlich so ist. Akzeptiert, was damit einhergeht, ein Halbblut in der Familie zu dulden. Sie werden euch ins Exil treiben wollen – also geht ins Exil, bevor irgendwer irgendwas sagen oder machen kann. Nicht ins Ausland, wie man sich wünschen würde, nein. Ich hätte da zufällig ein hübsches kleines Anwesen am Stadtrand. Ein kleines Stück außerhalb, aber nicht zu weit weg. Interesse? Und dann wären da noch eure Aufträge. Natürlich wird man offene Aufträge abbrechen. Ihr werdet keine Münze mehr sehen für all die angefangenen Projekte. Selbst für die nicht, die fertig sind und von denen ihr nur noch die Bezahlung erwartet. Bürokratische Mühlen, ganz tragisch – ihr werdet also rasch in Geldprobleme kommen. Allerdings kenne ich da ein paar Herren und Damen, die ihre Privatsphäre sehr schätzen. Sie sind sehr wohlhabend, allesamt, ebenso sehr exzentrisch. Habt ihr schon mal einen Stier in Lebensgröße aus massivem Gold gefertigt und ihm Augen aus Diamant eingesetzt, der dann irgendwo in einer Eingangshalle als edler Staubfänger herumsteht und bei unbefugtem Betreten Flammenstöße aus seinem Maul speit? Nein? Nun – dann wäre das bestimmt eine amüsante Herausforderung. Von den Unsummen, die dafür verlangt werden können, ganz zu schweigen. Ich könnte euch in Kontakt mit einigen dieser Herren und Damen bringen. Die Wünsche sind… gewiss ausgefallener als das, was ihr bisher gemacht habt und zweifellos werdet ihr sehr viel öfter bedroht, ermahnt, verwarnt und zur Verschwiegenheit aufgefordert oder verpflichtet, aber… dafür könntet ihr möglicherweise im Nachhinein sogar mehr Geld haben als vorher. Und was den Rest anbelangt, nun ja. Hohe Fluktuationen im Personal hattet ihr ohnehin schon und auch, wenn ihr im Exil seid, wird eure Münze noch gut genug sein, das man sich Gemüse, die Dienste eines Heilers und andere Annehmlichkeiten eines normalen Lebens leisten kann. Versteht ihr? Es geht um den Schein.“

„Ich verstehe nur zu gut“, erwiderte er abrupt und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. Was sie in Aussicht stellte, war durchaus wahrscheinlich. Und ausnahmsweise musste er sich dabei nicht, wie zuvor unter Schock stehend und mit Malagan redend, ausschließlich auf sein eigenes Urteil verlassen – Illyana hatte bereits ganz ähnliche Bedenken aufgebracht. Natürlich käme sie selbst mit sehr viel weniger Geld aus. Und auch er könnte einen Großteil des Luxus jederzeit streichen. Aber ein Kind kostete Geld, viel Geld. Die permanente Versorgung seiner Tochter ebenso. Ganz zu schweigen von den Schilden, die er um seine Werkstatt aufrechterhalten musste, damit auch weiterhin Saboteure, Spione und Attentäter draußen blieben. „Wofür?“

Einen Moment schien sie verwirrt, dann wieder erheitert. „Einen Gefallen von Athavar Zauberfänger.“

Er spürte selbst nur zu gut, wie ihm die Gesichtszüge entglitten. Dazu hätte es ihr vergnügtes Glucksen nicht gebraucht. Er hasste es, hasste es, irgendwem irgendwas zu schulden. Von so ominösen Dingen wie einem Gefallen ganz zu schweigen. „Nein.“

„Ah, ah, ah! Nicht so vorschnell. Überlegt euch das gut. Dieses Angebot verfällt, sobald ich zur Tür hinaus bin. Meinetwegen holt eure nicht-Haushälterin dazu und lasst euch beraten, wenn ihr sicher sein wollt, dass ihr nicht wieder aus falschen Gründen und Überlegungen heraus urteilt. Lasst mich euch überdies versichern, dass ich keineswegs verlange, dass ihr etwas tun werdet, das gegen die Grundprinzipien eures moralischen Kodex verstößt. Ich will nicht, das ihr euer Land verratet oder für mich Attentäter spielt und so lustig der Gedanke auch erscheint, ich habe auch kein Interesse an eurem Erst-… nun, in dem Fall wohl Zweitgeborenen. Ein Gefallen, ja – aber in einem vernünftigen Rahmen. Ich bin schließlich nicht größenwahnsinnig.“

„Und da seid ihr sicher?“

„Die meiste Zeit, ja“, erwiderte sie unverhohlen amüsiert.

Seufzend tat er schließlich nach einem Augenblick genau das, was sie ihm mit eigenen Worten erlaubt hatte – und holte Illyana dazu. Mit ihr zusammen besprachen sie, nochmals, sämtliche Details ihres Vorschlages. Den Verkauf dieses Hauses und Ankauf des anderen, seine berufliche Perspektive – die Notwendigkeit, weiterhin eine gewisse, beachtliche Menge an Umsatz zu machen. Es war nichts, das er gern zugab, doch Nimalja hatte einen… einzigartigen Standpunkt, diesbezüglich. Elbische Tradition und Konvention gingen ihr offenkundig an Orten vorbei, die man besser nicht genau in Worte fasste – doch sie besaß einen rasiermesserscharfen Verstand, der auf ökonomische Mechanismen trainiert war. Sie sah Profite, sie sah Risiken, sie sah Verluste und mögliche Gewinne. Sie betrachtete die Entwicklungen aus einer Warte heraus, die… überaus unelbisch war.

Und vielleicht war genau das, was sie im Moment benötigten.

 

Als der nächste Morgen graute, waren diverse Verträge und Erklärungen, Zusätze und Nachsätze aufgetaucht, unterschrieben, kopiert und ausgehändigt worden, waren wieder verschwunden und von anderen Dokumenten, Karten und Schlüsseln ersetzt worden. Eine überaus geschäftige Nacht, die die Konzentration aller stark belastete.

„Ein Gefallen“, erklärte er mit einem ernsten Nicken während des Handschlags, der alles besiegelte, „Und lasst mich das ja nicht bereuen – nur eine gut gemeinte Warnung.“

„Oh bitte. Immer noch so misstrauisch? Fein, ich mache den Handel noch ein bisschen süßer – auch wenn ich das zu diesem Zeitpunkt wohl wirklich nicht mehr müsste. Einfach nur um zu zeigen, was für eine gute, aufrechte Elbe ich doch bin! Ihr benötigt einen Heiler. Einen gut ausgebildeten Heiler, nicht wahr? Der sich kontinuierlich des Zustandes eurer Tochter annimmt, sie stabilisiert, sie versorgt, pflegt, das volle Programm. Jemand, der eigentlich im Haus wohnen müsste.“

„Darum kümmere ich mich allein“, erwiderte er so harten Tones, wie er konnte. Das Thema war noch immer weit davon entfernt, irgendetwas anderes als eine frische Wunde zu sein – und sie legte wissentlich und lächelnd den Finger hinein.

„Könntet ihr, keine Frage. Aber wozu? Ich könnte meinen Heiler vorbeischicken. Ah, hört erst zu! Er soll sich nicht bei euch einnisten und euch ausspionieren. Wäre natürlich profitabel, aber eins nach dem anderen. Nein, er soll ihr beibringen, was sie zu tun und zu lassen hat.“ Nimaljas Deut ging in Illyanas Richtung – die etwas verdutzt innehielt.

„Was? Ich?“

„Genau“, erwiderte die Ratsherrin, „Ihr habt eine Veranlagung für Heilkunst, nicht wahr?“ Niemand hinterfragte, woher das Wissen kam. Wozu auch. Stattdessen nickte Illyana schlicht. „Ausgezeichnet. Dann kümmert ihr euch um seine Tochter, sobald euer, nennen wir es mal Training, abgeschlossen ist. Bis dahin sollten die Ersparnisse reichen, um sie von anderen Heilern versorgen zu lassen, nicht? Und nur, um zu gewährleisten, dass es keine Engpässe gibt – ich hätte auch bereits den ersten Arbeitsauftrag, falls gewünscht?“

Das ging schnell. Zu schnell. Aber in den letzten Tagen ging schlicht und ergreifend einfach alles zu schnell. Unter einem Seufzen nickte er. Er konnte sich zumindest anhören, was verlangt wurde, nicht wahr? Ablehnen ließ sich das dann ja immer noch.

„Ein junger Herr, wirklich auf schlimmste vorstellbare Weise bis über beide Ohren verliebt. Er ist mit seiner Herzdame noch nicht lange zusammen, aber er reist viel, geschäftlich. Er wünscht eine perfekte Replik seines Penis, mit der Verzauberung, das Reize eins zu eins von der Replik auf das Original übertragen werden – und natürlich auch umgekehrt. Zudem, falls möglich, auch ein kleines Teleportfeld an der Spitze. Ich denke, ihr könnt euch gut vorstellen, wofür.“

Das, was da in Scherben am Boden lag, war eine der guten Tassen gewesen. Schade um die gute Tasse. Und den Tee.

 

Lautes Schreien hallte durch den Raum, die angrenzenden Korridore, drang stellenweise durch Fenster aus dem Haus heraus.

Das Anwesen lag am Stadtrand, ein Stück außerhalb – drum gab es kaum jemanden, den es geschert hätte. Heiler eilten herbei, Illyana unter ihnen. Und wenige Stunden später begann das Wunder, das aus einem Leben zwei machte.

Ahillea machte es ihren Helfern nicht einfach. Sie riss an ihren Fesseln, schnappte nach einem, der zu nahe kam. Doch Schmerz und Erschöpfung zügelten sie nach und nach und am Ende erklang ein weiterer Schrei, die Stimme sehr viel leiser, weit weniger kräftig und dennoch so voller Energie und Lebensdurst. Der Anblick des kleinen, blutigen Bündels irritierte zunächst die Geburtshelfer. Doch was zunächst wie bläuliche Schuppen wirkte, ließ sich völlig problemlos von normaler, weicher Haus abwischen.

In einem ihrer seltenen Momente der Klarheit begann die völlig entkräftete Mutter zu lachen. Leise nur, schwach – aber gut vernehmbar. Alle waren angespannt, alarmiert, wachsam, als man ihre Ketten löste und Ahillea ihr Erstgeborenes in den Arm reichte. „Hallo du…“, säuselte sie leise, „Schön, dich endlich zu sehen… ich freue mich schon so sehr darauf, dich kennenzulernen, Arien! Meine kleine Fee… es liegen so viele schöne Tage vor uns… du wirst schon sehen… du wirst der Welt ein Licht sein, sie in der Dunkelheit führen…“ Vorsichtig beute sie sich noch ein Stück vor, dem Säugling entgegen, und flüsterte ihr verschwörerisch zu. „Lass dir niemals etwas anderes einreden: Du bist zu Großem bestimmt… und wir lieben dich! Wir alle! Der alte Mann, der große Schwere, der kleine mit dem falschen Gesicht, die-… d-die… die… A-Arien… es tut mir so l-leid…“

„Los“, presste er durch seine zugeschnürte Kehle hervor. Illyana nahm Ahillea wie angewiesen das Kind wieder weg, während ihr Verstand wieder in jener Wolke versank, die sie die meiste Zeit über gefangen hielt.

„Also… Arien Zauberfänger?“, erkundigte sich Illyana vorsichtig mit Blick zu Ariens Mutter, die mit tränenüberströmten Wangen wieder an den Ketten zu reißen begann, in die man sie gerade erst zurückgeführt hatte.

„Nicht ganz. Arien Inránainn Zauberfänger“, erwiderte er mit einem bittersüßen Lächeln auf den kleinen Fratz, der ihm aus großen Augen neugierig entgegen sah.

„Inránainn? Ich glaube, das ist mir nicht bekannt…?“

„Es ist ein sehr altes Wort. Es hat… keine wirklich gute Übersetzung in der neuen Sprache.“ Vorsichtig nahm er Arien entgegen, wog das Kind einen Moment und musste auflachen, als sie ungeschickt seine Hand zu greifen versuchte.

„Was bedeutet es?“

Einen Moment ließ er Illyanas Frage im Raum stehen, spielte er weiter mit seiner Enkelin… seiner Enkelin, die er um Haaresbreite nicht gehabt hätte… ehe er sich überhaupt erinnerte, dass es noch andere Personen im Raum gab außer Arien und ihm. „Es beschreibt eine Sidhe der Seelie, eine lichte Fee, die Hoffnung bringt.“

Herz und Seele

Was tat ein Körper, wenn sein Herz starb?

Aus medizinischer Sicht natürlich eine einfach zu beantwortende Frage – er starb mit ihm. Aber hierbei ging es nicht um Fragen der Heilkunde. Das hier war kein einfaches Rätsel, bei dem anatomische Begriffe herumgeworfen werden konnten. Auf philosophischer Ebene – der hier relevanten Ebene – sah die Sache anders aus. Da konnte man selbst mit bester Magie nicht einfach ein neues Herz einsetzen und gut.

Aber vielleicht war die ganze Analogie zum Herzen irreführend. Ein Herz, trotz seiner Relevanz, war noch immer zu greifbar. Zu gut vorzustellen. Vielleicht wäre es richtiger, zu fragen, was mit einem Körper geschah, wenn dessen Seele starb? Das Konzept der Seele war sehr viel schwammiger. Nebulöser. Widersetzte sich Versuchen, ihre Existenz zu beweisen, ihre Funktionsweise zu erforschen, ihren Aufbau zu studieren… und das seit Jahrtausenden. So lange tatsächlich, wie es Völker  gab, die intelligent genug waren, Fragen über Seelen zu stellen und Antworten darauf zu verlangen.

„Sag es ihnen.“

Das war keine Bitte gewesen. Eine Anweisung, vielmehr. Man hörte den befehlsgewohnten Ton heraus. Er hatte sich über all die Jahre einfach eingeschliffen, hatte sich einschleifen müssen, ganz unweigerlich. Wenn man lange genug Rekruten anbrüllte… das hinterließ Spuren. Auch das Schreien auf dem Schlachtfeld. Der Versuch, die eigenen Befehle in die Ohren der Untergebenen zu bringen, wider all des Lärms aufeinander prallender Waffen, Schilde und Rüstungen, splitternder Knochen, reißenden Fleisches, Schreie der Verletzten, Getroffenen, Sterbenden. Es hallte in seiner Stimme wider. Als könne man ihm die Jahre anhören, die er schreiend verbracht hatte. Jeden Tag, jede Minute. Wie ein Gemälde, das seine Geschichte bezeugte, nur akustisch, statt visuell.

Sie hätte es ihm vielleicht übelnehmen können. Vielleicht hätte sie es ihm sogar übelnehmen sollen?

Er war nicht ihr Vorgesetzter. Tatsächlich hatte er nie irgendeine Befehlsgewalt über sie gehabt. Und sie hatte diese Richtung für ihr Leben gewählt, um anderen zu entkommen, die glaubten, sie hätten eben solche über ihr Handeln und sogar ihr Denken selbst. Sie reagierte… allergisch auf Befehle. Nicht immer und überall natürlich – sie war vernünftig. Aber gerade im Zwischenmenschlichen…

Zwischenmenschlich. Wie sich das eingebürgert hatte, selbst im elbischen Volk. Irritierend.

Sie beendete ihr Abwägen. Ihr Zögern. Ihre Vorwände und Ausreden, vielmehr. Unausgesprochen durch ihren Blick irrlichternd. Er hatte sie gesehen. Musste sie gesehen haben – warum sonst drückte er ihre Hand ein wenig fester als sie die Seine seit einer ganzen Weile schon ohnehin hielt? Sie sah auf, hörte auf, durch ihn hindurchzusehen. Sah ihn an. Und seufzte schwer. Sie würde sich nicht ewig drücken können. Und überhaupt, das war auch so gar nicht ihre Art.

Probleme wurden bei den Hörnern gepackt und mit Willenskraft und Fleiß niedergerungen. Man floh nicht. Man zögerte nicht hinaus. Oder zumindest sie tat das nicht.

Mit stummem Nicken erhob sie sich. Löste sich von seiner Hand. Ihr Rücken schmerzte. Der verdammte Stuhl war unbequem. Vielleicht hätte sie sich zu ihm aufs Bett setzen sollen, aber das Ding war so verdammt klein und so wenig Schlaf, wie sie die letzte Nacht bekommen hatte… wollte sie nicht riskieren, einzunicken. Es zu verpassen. Nur weil sie müde war.

Schwer fiel es ihr, sich abzuwenden. Als könne es jeden Augenblick geschehen. Schwer wog das Wissen auf ihren Schultern. Ihren Gedanken. Und kalt, so unangenehm kalt, war ihre Hand nun. Sie spürte die plötzlich fehlende Wärme seiner Berührung sehr viel bewusster und deutlicher, als sie es erwartet hatte. Natürlich war das normal. All das war normal. Die unweigerliche Sinnesschärfe, der Unwille, alles. Selbst der glasige Blick, den sie ihm zuwarf, als sie die verdammte Tür erreichte und sich nicht aufraffen konnte, die Türklinke herabzudrücken.

„Geh“, meinte er einfach. Einfach. Was war hieran schon einfach…

 

Sie fühlte sich seltsam. Als hätte sie einen Dominanzzauber abbekommen, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie lief und sie atmete und sie spürte jedes Luftholen und schaffte es zum Teleporter. Irgendwie mussten ihre Gedanken sogar klar genug sein, denn sie schaffte es auch, ihn dazu zu bringen, dass er sie in den ersten Stock empor trug. Sie lief den Gang herunter. Schlecht beleuchtet wie eh und je. Mehr Lampen täten dem Gemäuer gut. Die düstere Stimmung war drückend. Oder kam ihr das nur im Augenblick so vor?

Sie trat in das Gasthaus ein. Vielleicht war Gasthaus auch der falsche Name dafür. Es war kein eigenständiges Haus und es beherbergte keine Gäste. Ein Speisesaal vielleicht? Immerhin war der Raum groß. Regelrecht gewaltig. Und die Mehrheit der Zeit wurde hier auch eher gegessen als getrunken. Und an manchen Geburtstagen getanzt. Sie erinnerte sich an die Tänze…

Aber die Erinnerungen hatten keine Zeit, keine Gelegenheit, Fuß zu fassen. Sie hörte das Kichern, verhaltenes, vorsichtiges Lachen. Ein leises, wenig überzeugendes „Hör auf damit!“ Vorsichtig und um Lautlosigkeit bemüht, öffnete sie die Tür und trat ein, schloss auch diese Pforte hinter sich. Das Gefühl der Endgültigkeit, die in dieser Handlung lag, ließ einfach nicht nach. Ließ sie kurz schaudern. Sich wünschen, sie könnte es rückgängig machen. Die Tür wieder zu öffnen, kam ihr kurz in den Sinn – aber entgegen aller Logik wäre es damit keineswegs rückgängig gemacht worden. Sie hätte nur auf etwas reagiert.

Wahrlich und wahrhaftig etwas rückgängig machen… das konnte nur Möbius. Vielleicht Vetus. Und irgendwann, in vielen, vielen Jahrhunderten, Jahrtausenden, vielleicht weit mehr… dann würde es möglicherweise auch Arien können.

Arien. Die dort am Tisch saß. Mit dem Rücken zu ihr. Artemis‘ Arm lag um ihre Taille. Er flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr. Sie blickte zur Seite, zu ihm auf. Ihre Wangen rot. Vielleicht vor Scham. Sie spürte aus der Erinnerung heraus, wie sie lächeln wollte. Junge Liebe war etwas Wundervolles. Zart und naiv, hitzblütig und stark, so voller Spieltrieb und Leidenschaft und Überschwänglichkeit. Sie wünschte beiden noch viele Momente wie diesen. Momente, in denen sie miteinander albern konnten, in denen sie einander süße Nichtigkeiten ins Ohr flüsterten und einander damit aufzogen, einander neckten und provozierten – auf die gute Art.

Heute… heute war es an ihr, einen möglicherweise guten Tag zu ruinieren. Viele gute Tage, wenn sie so darüber nachdachte. Es war unausweichlich.

Der Geruch nach Kaffee drang verspätet in ihre Nase. Natürlich. Frühstückszeit. Rik saß am Tisch. Sszerin neben ihm. Beide zeterten schon wieder wegen der einen oder anderen Unsinnigkeit. Vetus stopfte mit bloßen Klauen etwas in sein Maul, das verdächtig nach Pastete aussah. Und fing sich den einen oder anderen rügenden Kommentar Rikhards, bezüglich seiner Tischmanieren. Es lag so eine tiefe Vertrautheit in diesem Anblick. In der Körperhaltung jedes Einzelnen. In ihrer Mimik, ihrer Gestik. Sie hatte es ab und an beobachten können. Längst nicht immer war sie hier gewesen oder lange geblieben. Aber immer mal wieder hatte sie Momente wie diesen verfolgen können, die sie kurzzeitig glauben ließen, alles wäre normal. Nicht ein Elementarblut, ein Drider und ein Halbdrache am Tisch, die Auserwählten der Götter, vermeintliche Retter des Kontinents und vielleicht der ganzen Welt, vorgesehene Befreier der lebenden Völker von der Plage des Untodes.

Nein. Nur eine kleine Gruppe junger Leute. Ein glückliches Paar darunter, zwei in amüsanter Hassliebe verbundene Freunde und eine grenzenlos verfressene Echse.

Sie hatte sich ab und an gewünscht, sie könne Teil dieser Gruppe sein. Auch dort sitzen und darüber rätseln, ob der Kaffee gestern besser gewesen sei oder nicht. Aber für das, was sie war… was sie tat… brauchte sie ein Mindestmaß an Distanz. Irgendwann war diese Sache hier beendet. Die Nadel würde wieder inaktiv werden. Die Meister würden aus den Diensten der Götter entlassen werden. Und ob nun mit dem großen Sieg oder ohne ihn, alles würde in die mehr oder minder alten Bahnen zurückkehren, mit ein paar Kurskorrekturen natürlich. Sie hatte dergleichen oft genug erlebt. Und wenn der Tag kam… dann musste sie dennoch weitermachen, irgendwie. Ob ihnen klar war, was ihnen bevorstünde?

Sszerin entdeckte sie. Winkte grüßend.

Sie konnte sich nicht länger verstecken. Nicht länger so tun, als hätte die Zeit für sie angehalten. Lautlos seufzend trat sie näher. Sie bemühte sich, ihre Mimik zu forcieren. Ein Lächeln vielleicht. Ein hellerer Funke in ihren Augen. Irgendetwas. Aber es misslang. Stattdessen trat sie langsam und vorsichtig an den Tisch. Mit einem Nicken grüßte sie die versammelte Runde. Sie wollte keinen guten Morgen wünschen. Es wäre heuchlerisch gewesen. Der Morgen war nicht gut. Und selbst, wenn er es für diese Runde junger Leute bis zu diesem Zeitpunkt gewesen wäre – gleich würde sie das Bild einreißen.

Ihre Ernsthaftigkeit war nichts Neues. Aber diesmal schien es anders. Am Tisch breitete sich schlagartig eine schwere Stille aus. Vetus hörte zu essen auf. Riks Miene verschloss sich. Sszerins Lächeln starb einen langsamen, qualvollen Tod. Artemis wurde sehr still und stellte seine Versuche ein, Arien zu kitzeln. Und Arien selbst… nun. Sie hatte ein Gespür für schlechte Nachrichten.

Seufzend raffte sie all ihren Mut auf.

Sie war über die Jahre vielen Monstern begegnet. Hatte sich Manticore und Trollen entgegen geworfen. Sie hatte mit ihrer Gruppe Schlachtfelder bereist und aggressive Krähenschwärme vertrieben, um die Hinterlassenschaften der Gefallenen zu bergen und hatte es selbst mit Geistern dann und wann aufgenommen. Aber das hier? Das lag weit außerhalb ihrer Expertise. Und es schien sie darum ein vielfaches mehr an Überwindung und Kraft zu kosten. Vielleicht wären es die schwersten Worte seit Jahrzehnten oder gar noch mehr  gewesen… hätte sie nicht heute Morgen erst etwas gesagt, das dem Wortlaut nach eine Liebeserklärung, dem Tonfall nach ein Abschied war.

„Es geht… um Arthur“, begann sie und traute ihren Ohren nicht. Ihre Stimme klang grässlich. Rau und kratzig, als hätte sie seit Tagen weder gesprochen, noch etwas getrunken. „Es ist so weit.“ Acht Worte. Die üblichen Übeltäter für solche Prozesse mochten wohl Ich liebe dich! oder Ich hasse dich! sein. Dennoch. Mit nur acht Worten ruinierte sie viele Tage, vielleicht Wochen, für viele Leute.

Ariens Blick irrlichterte. Sie war klug. Phänomenal klug. Aber sie begriff es nicht – weil sie es nicht begreifen wollte. Zunächst zumindest. Sie wandte sich um, spähte zu Rik, Sszerin, Vetus, Artemis. Suchte Rat. Suchte Erklärungen. Gab auf und gestand sich ein, dass sie eigentlich Beistand suchte. Jemanden, der ihr sagte, dass ihre acht Worte nicht bedeuteten, was sie implizierten. Dass sie sich irrte. Das irgendwer sich hier irrte.

Doch was sie fand, war Schockstarre. Und aufkeimendes Unbehagen. Sszerin entstammte einer Gesellschaft, die die Schwachen knechtete, misshandelte und verstieß. Jede Form emotionalen Gebarens ließ sich nutzen. Und obgleich er alles andere als ein Musterbeispiel seiner Zivilisation war, hielt er sich in diesem Moment bemerkenswert stark zurück. Rikhard dagegen war der Sprössling einer Familie von Magi, von klein auf vorgesehen, die gleiche Laufbahn einzuschlagen. Er war mit derartigen Situationen von Grund auf überfordert. Das ließ Vetus zurück – der schlicht nicht fähig war, schnell genug zu begreifen, um überhaupt irgendetwas tun, irgendwie reagieren, sich überhaupt für eine angemessene Reaktionsart entscheiden zu können.

Und Artemis.

Der zog Arien näher an sich heran, mitsamt Stuhl. Doch die schreckte regelrecht zurück. Sein Bemühen, Nähe und Trost zu spenden, waren… falsch. Nicht, was sie wollte. Denn es war die stille, wortlose Erklärung, dass sie richtig verstanden hatte. Dass es wahr war. Sie sprang auf. In der Stille des Raumes war das Scheppern des kippenden Stuhls beinahe ohrenbetäubend. Sie versuchte, zu fliehen. Sich zu entziehen. Doch starke metallische Hände hielten sie zurück, zogen sie zurück. Sie schlug gegen ihn. Und nach allem, was sich sehen ließ, tat sie das mit voller Kraft. Hätte jemand aus Fleisch und Blut das überhaupt überstanden?

„Ich warte unten“, erklärte sie halb erstickt. Sie konnte das nicht mit ansehen. War die Lage nicht ohnehin schon schlimm genug? Es traf sie unerwartet hart, das Frühstück ruiniert zu haben. Diesen kostbaren Moment glücklichen Beisammenseins. Es hatte immer so viel Spannung gegeben. Gab es immer noch, häufig genug. Warum hatte sie diesen Moment ruinieren müssen? Die Antwort war natürlich schmerzhaft simpel. Es gab für solche Dinge keine guten Gelegenheiten. Sie waren immer falsch.

 

Der Weg zurück nach unten war ihr seltsam vorgekommen. Wie der Hinweg auch, als wäre sie unter einem Schleier. In Trance. Beobachter der Handlungen einer Fremden. Sie ließ sich an seinem Bett nieder. Ergriff seine Hand und spürte da erst, wie sehr sie die Berührung vermisst hatte. Wie schmerzhaft es gewesen war. Und wie erleichtert sie sich fühlte, als er die Augen aufschlug und den Kopf zur Seite neigte, um sie anzuschauen.

Sie hatten kaum miteinander gesprochen. Heute Morgen ein paar wenige Sätze. Ehrlich, aufrichtig, offen. Eingeständnisse alter Fehler, die noch immer schwärten. Bekundungen von Sympathie, die tief genug reichte, um Jahre fehlenden Kontaktes überbrückt zu haben. Jedem Wort lag Bedeutung bei, keins davon hohl oder vergeudet. Aber viele… waren es nicht gewesen.

Sie genoss die Wärme, die Nähe, die Zweisamkeit – wissend, dass das jeden Augenblick ein Ende würde haben können.

Als es klopfte, schloss sie die Augen. Sie hatte erwartet, zusammenzuzucken, weil es so unerwartet kommen würde. Stattdessen… schloss sie die Augen. Spürte den Tränen nach, die ihre Wimpern verklebt hatten und nun zu Boden stürzten. Sie hatte sich gut und lange beherrschen können – ihre Wangen waren trocken. Sie hatte ihn nur nicht mehr richtig sehen können. Durch einen Schleier aus Wasser, unscharf, verklärt. Entrückt. Aber es war in Ordnung gewesen, denn er hatte ihre Hand gehalten. Warm. Raue Haut.

Sie stählte sich innerlich, atmete tief durch und erhob sich. Ließ ihn ein weiteres Mal zurück, um die Tür zu öffnen. Sie traute ihrer Kehle nicht genug, um irgendwen herein zu bitten. Sie wollte niemanden herein bitten. Sie wollte ihn nicht teilen.

Arthurs Zimmer war nicht allzu groß. Man hätte vermutlich die Mehrzahl der Leute hineinstopfen können, aber das hätte sich… falsch angefühlt. Ein Umstand, um den offenbar alle zu wissen schienen. Und sehr zu ihrer Überraschung stand Lisa vor der Tür. Nicht Arien. Auch Arthur schien davon überrascht, sagte jedoch nichts. Nichts dazu, allemal. Die nächsten zwei Stunden, vielleicht waren es auch drei, waren… merkwürdig.

Der Reihe nach machten sie alle ihre Aufwartung. Lisa. Vasilla. Elesil. Vetus. Eresthenes. Selbst Rik und Sszerin.

Sie selbst zog sich zurück, weigerte sich aber, den Raum zu verlassen. Nicht, das irgendwer sie dazu aufgefordert hätte. Gewagt hätte, sie aufzufordern. Doch sie trat in den Hintergrund. Verschmolz mit dem Mobiliar des Schlafzimmers. Und hing, zu ihrem eigenen Leidwesen, ihren Gedanken nach.

Sie konnte nicht ändern, was damals geschehen war. Die Gefangennahme, das jahrelange Spiel mit Spitzeln und Spionen entlang der Grenze, wechselnde Rollen von Katze und Maus – es war aufregend gewesen. Kummervoll, dann und wann. Frustrierend, häufiger. Aber allem voran aufregend. Und als sie ihm das kleine Stück Tand geschenkt hatte, war es ohne jeglichen, böswilligen Hintergedanken geschehen. Ganz im Gegenteil. Sie hatte es ihm aus aufrichtiger Liebe heraus geschenkt.

Aber sie hatte damals weniger Verständnis darüber gehabt, was sie tat. Weniger Verständnis dafür, wie man arkane Energien effizient in einen materiellen Gegenstand leitete, beides aneinander band. Sie hatte getan, was sie konnte. Hatte sich verausgabt. Hatte jedes Quäntchen Kraft hineingestopft. Und gereicht hatte es für was? Ein paar lausige Jahrzehnte?

Nein. Nein – nicht lausig. Doch Fakt war und blieb, das sie sein Leben verlängert hatte. Irgendwie. Vielleicht auf unnatürliche Weise. So ganz genau vermochte sie das nicht mehr zu sagen. Und ganz gleich, wie die genauen Zusammenhänge nun auch aussehen mochten, so war alles, was geschehen war, doch ihre Verantwortung. Ihre Schuld, im Zweifelsfall. Wäre er ohne das Amulett noch am Leben gewesen, als seine Söhne starben? Was musste es für einen Vater bedeuten, die eigenen Kinder zu Grabe tragen zu müssen? Und auch hier und jetzt: Ohne das Amulett… wäre er überhaupt noch am Leben gewesen, um den Meistern der Nadel zu begegnen? Oder ihr?

Fügte sie sich selbst Schmerz und Schaden zu, durch ihre Taten vor so vielen Jahren? Sich selbst – und wichtiger noch, anderen. All jene, die hier aufmarschierten. Die ihr Beileid bekundeten. Abschied nahmen, in der einen oder anderen Form. Sie hatte ihnen das angetan. Ihnen allen. Indem sie Arthurs Leben verlängert hatte… aber nicht genug verlängert.

Dass das Amulett seine Wirkung verlieren würde, das war unausweichlich gewesen. Die Konstruktion erlaubte nicht, dass man sie während der Nutzung neu auflud. Und als sie einander erneut begegneten, da war es schon zu spät gewesen. Das Risiko zu groß, dass er das Abnehmen des Schmuckstücks überlebt hätte. Der Schock, wenn das Gewicht all der verzögerten Jahre ihn eingeholt hätte, hätte ihn umgebracht.

Hatte sie damals, bei der Schöpfung des Tands, also einen Fehler begangen? Und musste nun die Konsequenzen ihres Handelns ertragen? War dies, wovor die elbische und sogar die zwergische Philosophie stets warnten? Menschen waren kurzlebig, wie manch andere Rasse auch. Von Natur aus daher unfähig, die weitreichenden Konsequenzen ihres Handelns begreifen zu können – weil sie nicht mehr da sein würden, um sie sehen zu müssen. War dies hier nur die erste Welle der Konsequenzen? Würde es die Handlungsweisen und das Denken derer, die hier aufmarschierten, verändern? Sie beeinflussen? Möglicherweise dieser ganzen Sache eine andere Richtung geben? Wäre dieser Kurswechsel zum Besseren? Oder zum Nachteil aller?

Es war müßig, sich darüber den Schädel zu zerbrechen – eine Erkenntnis, die sie schon vor sehr viel mehr Jahrzehnten gehabt hatte, als das Amulett überhaupt existierte. Nichtsdestotrotz gereichte ihr dies als Ausrede. Als Ablenkung. Um ein paar Stunden zu überstehen, irgendwie, in denen sie nicht an seiner Seite sitzen und einfach nur still seine Hand halten konnte.

 

Als Arien kam, blickte sie auf. Sie kam in Artemis‘ Begleitung. Blieb direkt hinter der Tür stehen und starrte. Hatte sie Arthur je in diesem Zustand gesehen? So offensichtlich schwach, entkräftet, ans Bett gefesselt? Artemis nahm ihre Hand, drückte sie, riss sie damit aus ihrer Schockstarre hervor. Gemeinsam traten sie vorwärts, jeder Schritt eine sichtbare Anstrengung, kostete Kraft, Überwindung. Einen hohen Preis, entrichtet in Akzeptanz des Unvermeidlichen.

Arthur riss einen schlechten Witz. Darüber, dass sie nun vielleicht endlich im Training eine Chance gegen ihn hätte. Der Dummkopf hatte noch nie gewusst, wann er lieber den Mund halten sollte. Natürlich gab es für Arien damit nur noch zwei Optionen: Es akzeptieren und heulen, wie sie es vielleicht noch nie zuvor getan hatte… oder-

„Ich habe nachgelesen!“

- das. Was folgte, war ein hektisches Herunterrattern von Möglichkeiten. Optionen, um Arthur zu… zu retten. Jede Variante war grässlicher, riskanter, unvernünftiger als die Vorherige. Das Amulett im Eiltempo ersetzen – es musste ja weder schön, noch lange funktionsfähig sein – und per Teleportation gegen das andere austauschen, um das Ursprüngliche neu aufzuladen. Oder sein Altern einfach ganz grundsätzlich stoppen. Artemis, Rik und Sszerin waren in Alchemie bewandert. Keiner von ihnen wusste so wirklich viel darüber, aber Alchemisten konnten das Altern stoppen und damit die elbische Form der Unsterblichkeit erlangen. Vielleicht wären sie zu dritt fähig, das anzugehen. Binnen eines halben Tages oder weniger.

Vielleicht könnten auch einfach Lisa, Peter und noch ein paar andere Sidhe etwas machen. Feen waren ausgesprochen mächtig – zweifellos würden sie etwas wissen. Irgendetwas. Lisa hatte zwar bereits abgeblockt, aber Arien hatte… Ideen, wie sie Lisa überreden könnte.

Es war erschreckend. Nicht nur zu sehen, was die Verleugnung und Angst aus der sonst so aufrechten, gutherzigen Arien machte. Sie wollte Lisa, eine Verbündete, vielleicht sogar so etwas wie eine Freundin, erpressen. Bedrohen, nötigen. Und hatte schon alle Schritte dessen detailliert geplant. Welchem Umstand war es wohl zu verdanken, dass sie sie noch nicht umgesetzt hatte? Dass sie sich von Arthur Einverständnis und darüber eine Art von Legitimation erhoffte? Oder gab es noch genug Selbstrespekt in ihr, zu erkennen, wie schrecklich falsch das war?

Sie schlug dem Fass den sprichwörtlichen Boden aus, als sie davon anfing, das sie Geschichten über irgendeinen Mensch aus Lumiél gehört hatte, der sein Leben durch einen Pakt mit einem mächtigen Nekromanten verlängerte, ohne dabei wirklich untot zu werden. Bis zu diesem Punkt hatte Arthur sie reden lassen. Nicht, weil er mochte, was er hörte oder tatsächlich nach einem Ausweg suchte. Sie kannte diesen Blick, den er hatte. Arien nicht. Dafür fehlten ihr viele Jahre Erfahrung.

Er ließ sie reden, weil er glaubte, dass sie das loswerden müsse, ehe sie weiter gehen, weiteren Fortschritt machen könnte. Und vielleicht hatte er da auch Recht. Dennoch – sie selbst erschreckte es, Ariens Ideen zu vernehmen.

„Genug!“

„Aber ich könnte-“, fuhr sie nahtlos fort.

„Arien, genug!“ Der schneidende Ton ließ sie zusammenzucken und unwillkürlich den Mund schließen. „Komm her. Setz dich.“ Wie angewiesen, trat das Halbblut heran und nahm auf dem Stuhl Platz. Er hielt eine motivierende Rede über die Unausweichlichkeit, über die Natur der Dinge, über den Kreislauf des Lebens, all das oder irgendetwas davon. Sie hörte nur halb zu – und auch Arien schien ihre Probleme zu haben. Sie bemühte sich, sichtlich. Aber da stand noch immer der Fakt im Raum… das Arthur im Sterben lag.

Und während er diese Rede hielt, wurde ihr klar, was das Problem mit dem Amulett war. Arien konnte es nicht aufladen. Sie mochte das noch nicht wissen, aber sie wäre dessen schlicht nicht fähig. Die emotionale Komponente bei seiner Schöpfung hatte sich im Prozess der Herstellung niedergeschlagen, war zu stark eingebunden worden. Und sie selbst… sie hatte sich selbst gegenüber von Risiken gesprochen, hatte mit Wahrscheinlichkeiten zu argumentieren versucht. Doch die Wahrheit war letztlich: Sie wollte das Amulett nicht mehr aufladen. Nicht weiter aufladen. Sie wollte nicht akzeptieren, dass es diese Möglichkeit gäbe. Sie wollte nicht darüber nachdenken und sie wollte es nicht aussprechen müssen.

Denn aller Liebe zum Trotz wusste sie um die schier überwältigende Macht der Verzweiflung. Um die enorme Kraft und grenzenlos wirkende Energie, die in dem unbedingten Willen lag, überleben zu wollen. Ein Wille, der wiederum jedem Lebewesen zu Eigen war. Sie liebte diesen Dummkopf dort auf dem Bett. Hatte es damals getan und tat es noch. Aber sie liebte ihn um seiner Persönlichkeit willen.

Arthur war ein Mann der Prinzipien. Er hatte einen strengen, strikten moralischen Kodex, an dem er sich orientierte, an dem er sein Denken, sein Handeln, sein ganzes Leben ausgerichtet hatte und es auch weiterhin tat. Bis zu seinem letzten Atemzug. Deshalb lag er dort und, statt über die Schmerzen zu klagen, die jeder Atemzug ihm dann und wann sichtbar verursachte, führte eine feurige Rede über die Notwendigkeit des Todes.

Sie ertrug den Gedanken schlicht nicht, wie dieser Mann, dieser edle, stolze Mann, ein Ritter in allem, was dazu gehörte… verkam. Wie er sich selbst verriet. Wie er alles, wofür er stand, alles, wofür er gelebt hatte, alles, woran er glaubte, über Bord warf. Für ein paar weitere Momente, Tage, Jahre. Wie er sich an das Leben klammerte, mit solch erschreckender Verzweiflung. Wie Arthur zu existieren aufhörte, korrumpiert von den verführerischen Möglichkeiten.

Lieber sah sie Arthur sterben, als zuzusehen, wie er sich selbst brach.

Die Erkenntnis war bitter und hinterließ einen üblen Nachgeschmack. Sie würgte kurz, schmeckte die Galle auf der Zunge und zwang doch alles wieder ihre Speiseröhre herab. Ein widerliches Brennen blieb zurück. Verband sich mit dem leichten Gefühl des Schwindels. Vielleicht hätte sie etwas essen sollen, irgendwann, irgendwie. Vielleicht rührte der aber ebenfalls aus dieser Offenbarung her. Sie hätte es nicht sagen können und es kümmerte sie nicht genug, dem nachzuforschen.

Sie zwang ihre Sinne, sich zu konzentrieren. Fokussierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Auf Artemis, der hinter Arien stehend die schweren Hände auf ihre Schultern gelegt hatte, um sie zu beruhigen. Notfalls vielleicht auch festzuhalten. Und um ihr Nähe zu spenden. Trost durch pure Anwesenheit. Sie konzentrierte sich wieder auf Arien, die regelrecht darum bettelte, ihn wenigstens untersuchen zu können, ihn heilen zu können, irgendwie. Denn vielleicht – man hörte ihr die verzweifelte Hoffnung an – würde das ja irgendetwas bringen.

Sie konzentrierte sich auf Arthur, dessen ernste, steinerne Miene all die Macht der Autorität ausstrahlte, die er in über fünf Jahrzehnten Militärdienst angesammelt hatte. Auf den strengen Ton, mit dem er ihr verbot, sich diese Bilder einzuprägen, diesen Anblick, diese Situation.

Er wollte, dass sie ihn in besserer Erinnerung behielt. Nicht der bettlägerige Alte, gelegentlich röchelnd, hustend, krampfend. Hilflos, machtlos. Er wollte der Ritter sein, der hoch zu Ross, die polierte Lanze gehoben, den Drachen niederritt. Wie sehr er diese verdammte Geschichte zu erzählen geliebt hatte.

Vielleicht sah er ihr an, woran sie dachte. Konnte ihre Gedanken an ihrer Stirn ablesen. Vielleicht dachte Arien etwas ganz Ähnliches und er las es bei ihr. Vielleicht gab es andere Gründe dafür, dass er eben diese Geschichte plötzlich völlig unvermittelt zu erzählen begann. Ein letztes Mal der große Held sein. Ein letztes Mal die schimmernde Rüstung tragen, im Sattel bleiben, während das Streitross sich eindrucksvoll aufbäumte. Ein letztes Mal das Banner schwingen, die Luft an seinem Gesicht vorbeirauschen spüren. Das Adrenalin in den Adern spüren, das Blut in den Ohren rauschen hören.

Er hatte ihr irgendwann einmal erzählt, dass die Geschichte für ihn lebendig war. Er erlebte sie jedes Mal wieder, wenn er sie erzählte. Weil es neben der Geburt seiner Söhne einer der größten, glücklichsten Momente seines Lebens gewesen sei.

Und während er erzählte… während er gelegentlich stockte, hustete oder Husten zu unterdrücken versuchte… während Arien ab und an mit zitternder, gelegentlich wegbrechender und nahezu unhörbar leiser Stimme einstimmte, die Geschichte fortführte, ergänzte… wurde ihr noch etwas klar.

Arthur bereute nicht.

Sie mochte sich mit dem Gram tragen. Sie mochte zweifeln und verzweifeln. Aber Arthur bereute kein einziges seiner Jahre. Nicht zuletzt, weil sie ihn zu diesem Moment geführt hatten. Er hätte unzählige Male tapfer auf dem Schlachtfeld fallen können. Ein toter Soldat unter vielen. Aber nun starb er nicht als Soldat. Er starb als Mitglied einer Familie. Umgeben von denen, die ihm wichtig waren. Im Kreise Geliebter und Liebender.

 

Als die Geschichte endete, verlangte er Ariens Aufmerksamkeit. Sie hatte einige Minuten mit sich zu kämpfen, ehe sie sich genug hatte sammeln können, um zu nicken. Und Arthur hatte geduldig gewartet. „Du musst dich gut um Zenna kümmern. Dein verdammter, räudiger Flohteppich hat ihr da ziemlich was angetan. Lisa und Vasilla haben sie sich immer wieder angesehen, neuerdings alle zwei, drei Tage. Es geht ihr schlecht. Die Schwangerschaft ist… risikoreich. Sieh nach ihr und… sorge gut für sie.“

Arien war schockstarr, einmal mehr. Zenna war schwanger, natürlich, das wussten alle. Und es war ein wenig schwierig, weil die Rassen nicht so kompatibel waren, wie man sich das wünschen konnte. Aber wie schlimm es wirklich stand, schien sie jetzt erst zu hören, jetzt erst zu begreifen. Und klar und deutlich war ihr die Horrorvorstellung auf die Stirn geschrieben, gleich zwei zu verlieren. Sie nickte unsicher, erhob sich von ihrem Stuhl und erklärte, sie würde gleich nach ihr sehen.

Unschlüssig blieb Arien an der Tür stehen, sah zu ihr. „Ich passe auf“, gab sie einmal mehr krächzend von sich, nickte dem Halbblut zu. Irgendwann im Laufe von Arthurs Motivationsrede… oder  vielleicht auch während seiner glorreichen Drachengeschichte… hatte sie geweint. Kein lautes Jammern und Schluchzen – das hätte sie wohl bemerkt. Aber ihre Augen waren aufgequollen, gerötet, ihre Wangen glänzten von ständig immer wieder verwischten Tränen.

Das Halbblut nickte und verließ den Raum. Artemis folgte ihr weiterhin still.

 

Irgendwann einmal würde man vielleicht von dem Tag hören, an dem Arien Inránainn Zauberfänger per Teleportation direkt in das Heim von Malagan Klippenwind einbrach. Entgegen dem, was man dann vielleicht erzählen mochte, war das Haus keineswegs ungeschützt gewesen. Aber nichts und niemand konnte Arien aufhalten – schon gar nicht in diesem Zustand. Der Anti-Teleportationsschild, gebaut von jemandem, der einige Jahrtausende älter und ein gutes Stück mächtiger als Arien war, wurde in viele, viele Scherben zerschmettert, als sie ankam.

Eigentlich war der Prozess der Teleportation friedlich und unauffällig. Keine großen Effekte. Von einem Punkt zum anderen. Aber das war das Problem mit Hexerei, nicht wahr? Sie verkomplizierte Dinge. Und in Elbenland war das Gewebe von Natur aus stärker, so viel… reichhaltiger. Es würde Jahrhunderte dauern, ehe die weitflächige Schwächung repariert wäre. Diese plötzliche Delle, die geschlagen worden war, als ein ankommender Teleport mit unnötig viel Energie aufgeladen wurde, um durch einen Schild zu brechen.

Von dem Gespräch der zwei Elben dagegen würde man vermutlich wenig erfahren. Nicht zuletzt, weil das keine Art von Gespräch war, die irgendwem zu Ruhm und Ehre verhalf – von seiner Kürze ganz zu schweigen…

„Ich brauche eure Hilfe“, verlangte der Eindringling. Keine Begrüßung, keine Höflichkeitsfloskeln, nicht einmal eine Entschuldigung für das unerwünschte, unbefugte Betreten oder gar das Zerschmettern eines sehr kostspieligen Schildes um das Anwesen.

„Ah nun ist der Tag also doch noch gekommen. Nicht unerwartet, wie ich meine. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der offensichtliche und gravierende Mangel an Expertise, Wissen, Können, schlichtweg Kompetenz, dich bettelnd und flehend und um Hilfe winselnd zu meiner Türschwelle tragen würde, um-“

Arien war nicht in Stimmung. Für Reden dieser Art war sie wohl nie wirklich in Stimmung gewesen und würde es auch nie sein - und wer wäre das auch je? Doch an diesem Tag beging Malagan Klippenwind einen Fehler. Er schätzte eine Situation falsch ein. Er glaubte, sie sei durch den Bruch des Schildes erschöpft und damit weniger wehrhaft. Er glaubte, die Blässe in ihrem Gesicht rühre von der Erkenntnis einher, was sie getan hatte. Er glaubte, das Zittern ihrer geballten Fäuste sei die Beherrschung, die sie sich angesichts ihrer Angst über die Konsequenzen ihrer Taten auferlegt habe.

Er glaubte einiges.

„Ruhe!“, befahl das Halbblut aufbrausend. Eine Welle arkaner Energie strömte auswärts, jagte einige Meter durch den Raum. Ein Schrank voll feinster Raupen- und Spinnenseide. Gewänder, die in ihrem Wert unschätzbar waren. Vom kunstfertig verzierten Schrank aus dem Holz eines Eldarbaums ganz zu schweigen. Ein Arbeitstisch aus dem gleichen Holz, die Tinte im Fass darauf eine Spezialanfertigung, die Feder vom Schweif eines Phönix stammend. Der prächtige Teppich, in Jahrhunderten von Hand gefertigt – natürlich von Meistern des Fachs. Unzählige größere und kleinere Habseligkeiten, jede einzelne davon ein Vermögen wert.

Und mit einem Schlag waren sie fort.

Selbst Malagan war von dieser Entwicklung… überrascht. „Ich schätze, es lohnt nicht, zu fragen, wohin meine Habe verschwunden ist…?“ Die Überheblichkeit war gewichen. Eine gut konstruierte Vorsicht verdüsterte seine Miene, als er sich des Ausmaßes der Situation bewusst wurde. Arien Zauberfänger war eine mächtige, über die Maßen talentierte junge Frau. Sie trug elbisches Blut in ihren Adern – und das Blut von Erstgeborenen. Das Blut der unvorstellbar mächtigen Drachen.

Und in diesem Moment war sie blind vor Raserei und nur ein Haarbreit trennte ihn davon, zusammen mit dem halben Haus sonstwo zu landen – vielleicht sogar irgendwo jenseits der Grenzen dieser Existenzebene.

„Ein guter Freund von mir stirbt!“, warnte das Mischblut der Fairness halber, „Und seine Freundin, die ihm treu durch viele Jahre gefolgt ist, liegt ebenfalls im Sterben! Sie ist eine Calidae… und hochschwanger.“

Und mit einem Mal begriff Malagan, worauf die Störung kurz nach dem Mittagsmahl hinauslief. Calidae waren… eine sonderbare Spezies. Das Produkt der Experimente des Zirkels mit Hunden. Wozu Ordensmagier oder Lehrlinge in die hässlichen Kämpfe schicken, wenn man stattdessen gut trainierte Kreaturen haben könnte, die loyal und anpassungsfähig sind? Die Elben hatten die Experimente natürlich verdammt. Es waren Eingriffe in die natürlichen Abläufe. Nichtsdestotrotz hatte man sich ihrem Nutzen nicht entziehen können und Calidae waren, zwangsläufig, binnen kurzer Zeit zu geschätzten, wenngleich nahezu unbezahlbaren Trophäen und Begleitern geworden. Ein Statussymbol für die Reichen. Eine lebende, atmende und überaus nützliche Ehrung und Auszeichnung für die Dienstbaren. Und etwas Unerschwingliches, das es zu bestaunen galt, für den Rest der Welt.

Malagan hatte viel Erfahrung mit der merkwürdigen Hundeart. Er hatte sie studiert, hatte sie gezüchtet, hatte ihre Reaktionen beobachtet. Wenn jemand in Elvoran wissen würde, wie man eine kritische Schwangerschaft etwas glimpflicher gestaltete, dann wohl er.

Natürlich war dementsprechend der erste Gedanke, die Situation auszunutzen. Zu seinen Gunsten zu drehen. Arien hatte mit diesem Einbruch große, schwerwiegende Fehler begangen. Sie war eingebrochen. Sie hatte enorme Schäden verursacht. Sie hatte – eine Frage der Auslegung – ein Mitglied des Ältestenrates bedroht. Das war, im Grunde, Hochverrat. Er könnte eine regelrechte Treibjagd auf sie veranstalten lassen. Könnte den ganzen Clan Zauberfänger hineinziehen und deren Ruf untergraben. Vielleicht könnte er den gesamten Rat hiermit wieder auf seine Seite ziehen. Könnte wieder das Steuer Elvorans übernehmen und das Land einer besseren, sichereren Zukunft entgegen bringen, als dieser Haufen idealistischer Narren es je können würde.

Doch er zögerte.

Und der Grund dafür war schlicht und ergreifend ihr Blick. Dieser kaum verhohlene Funke in ihren Augen, der mit einem beeindruckenden Flächenbrand drohte. Wie lange sie einander wohl angestarrt haben mochten?

 

Sie wusste nicht, was geschehen war, als Arien kaum zwei Stunden später, gegen Nachmittag, wieder in Arthurs Zimmer zurückkehrte. Sie erwähnte, dass sie sich um Zennas Versorgung gekümmert hätte. Sie lächelte, wenngleich sichtlich bemüht, als sie meinte, dass die Geburt kurz bevor stand. Und sie gab sich so viel Mühe, es wie etwas Gutes klingen zu lassen, während Artemis wieder hinter ihr stand, die Hände auf ihren Schultern. Diesmal jedoch hatte sie selbst eine ihrer Hände auf die Seine gelegt. Hielt sie fest. Hielt sich fest.

Es waren kleine Merkmale, die sie verrieten. Unscheinbar für ein weniger erfahrenes Auge. Aber sie bemerkten es, beide. Sie wechselte mit Arthur ein paar Blicke, die sich Arien nicht erschlossen. Sie erhob sich und verließ den Raum, abermals zögerlich, ohne weitere Nachfragen von irgendwem. Weshalb hätten sie auch fragen sollen – Arthurs Zimmer war schließlich kein Gefängnis. Auch wenn es sich in manchem Moment dieser vergangenen Stunden vielleicht so angefühlt haben mochte.

Sie war… gelinge gesagt überrascht, als sie eines der Ratsmitglieder im Kartenraum vorfand. Decken und Kissen waren herbeigeholt worden, ein paar medizinisch aussehende Utensilien und Werkzeuge. Zenna lag auf dem Tisch, wirkte betäubt, atmete schwer. Ihr dicker Bauch machte bereits den Eindruck, als könne sie damit kaum noch gehen. Malagan sprach kein Wort. Er ließ sich von Lisa und Vasilla assistieren, wirkte hochkonzentriert, während er diverse Zauber wirkte, um den Status Zennas zu prüfen, wieder und wieder. Oder vielleicht immer detaillierter – sie selbst verstand nur einen Bruchteil dessen, was dort vor sich ging.

Ihr Weg führte sie durch den Kartenraum zum Brunnen. Sie tauchte kurz den Kopf ins Wasser, fühlte sich… wacher als vorher. Ein wenig zumindest. Wach genug allemal, um wieder zurückzukehren. Doch der Weg war… schwierig. Der Schleier gelüftet, die Trance beendet. Sie war sich jedes Schrittes merklich bewusst. Und es schien so… schwierig, all die Muskeln zu koordinieren, den Fuß zu haben, den Körper dorthin zurückzulenken. Wollte sie denn zurück? In diesem Raum lag Arthur. In diesem Raum starb Arthur. Sie hatte es vergangene Nacht begriffen. Als er hustend und krampfend sich neben ihr zusammengekrümmt hatte. Sie hatte es begriffen und sie hatten sich voneinander verabschiedet.

Was war seither geschehen? Es war… das Warten, glaubte sie zu erkennen. Die ganze Zeit eine unbewusste Anspannung. Jedes Blinzeln könnte dafür sorgen, dass sie den Moment verpasste, der wichtig war. Jeder Gang zur Toilette, das mögliche Einschlafen, selbst der Gang zum Brunnen. Was, wenn sie zurückkehrte und er… war fort? Würde sie das herausfinden wollen? Dann wiederum: Was, wenn er noch da war, sofern sie sich beeilen würde?

Hin- und hergerissen zwischen einem hastigen, fast schon panisch-überstürzten Tempo und einem trägen, unsagbar zögerlichen Schritt musste es für einen anderen wirklich… befremdlich aussehen, wie sie durch die Gegend stolperte. Ob es tatsächlich so seltsam aussah, wie es sich anfühlte?

Sie kehrte in das Gefängnis zurück. In die Zelle, aus deren emotionalem Gewicht es kein Entkommen gab. Sie nickte den dreien kurz zu, als sie zu ihr blickten. Schloss die Tür leise. Es lag keine Endgültigkeit mehr darin. Weil die Endgültigkeit mit ihr reiste. Selbst wenn sie die Zelle verließ, war sie in der Zelle. Sie trug sie mit sich. Jeder von ihnen tat das. Würde es die nächsten Tage tun, Wochen, Jahre.

Man verließ die Zelle nicht. Nie wieder. Man lernte nur, besser mit dem Gewicht umzugehen. Passte sich daran an, eine zusätzliche Last zu haben.

„Ihr seid ein ziemlich trauriger Haufen“, hörte sie Arthur krächzen, „Was ist das hier? Eine Beerdigung? Ihr solltet-“ Ein weiterer Hustenanfall, begleitet von schweren Krämpfen, unterbrach ihn. Arien zuckte fürchterlich zusammen, rutschte fast panisch auf ihrem Stuhl herum. Artemis hielt sie still, damit sie nicht aufsprang. Nicht in den Weg sprang, um zu helfen oder davonsprang, um zu fliehen. Sie selbst, sie kümmerte sich um Arthur. Das war, trotz allem, ihre Aufgabe. Und sie nahm sie ernst.

Sie hätte ihn ein Arschloch nennen wollen – für den dämlichen und unangemessenen Spruch. Natürlich war ihr klar, was er hatte bezwecken wollen. Aber dafür hätte es andere Mittel und Wege gegeben. Arien hingegen schien… überfordert. Erst als Arthurs Krämpfe nachließen, ließ Artemis sie los. Wieder völlig in Tränen ausgebrochen, schlüpfte sie geduckt, leise und kommentarlos vom Stuhl zu ihm aufs Bett. Rollte sich dicht an ihn geschmiegt zusammen. Er legte einen Arm um das Mädchen.

Denn hier und jetzt war sie das. Ein Mädchen. Ein kleines, verängstigtes Kind, eingeschüchtert von den Dingen, die sich ihrem sonst messerscharfen und brillanten Verstand entzogen. Sie hatte Demütigung erfahren. Sie hatte jahrelang unter Ablehnung und Arroganz anderer gelitten. Aber hatte sie je wirklichen Verlust erleben müssen… oder war dies ihr erstes Mal?

Arien weinte bitterlich. Still und leise, nach wie vor, aber immer wieder krampften ihre Finger sich in seinem Hemd zusammen – oder der Decke. Sie verbarg ihr Gesicht, so gut sie es nur konnte. An ihn gedrückt. Vor ihm. Vor ihr. Vor Artemis. Vor allem. Vor der Welt.

Sie selbst nahm wieder ihren Platz auf dem Stuhl ein. Sie blickte zu Artemis, musterte ihn. Er ließ es stoisch über sich ergehen, erwiderte ihren Blick ruhig. Als sie ihm zunickte, tat er es ihr gleich. Irgendwie musste sie sich unweigerlich fragen, wie er damit umging. Was er von all dem hier hielt. Artemis… kannte Verlust. Vielleicht noch nicht gut genug wie sie selbst. Sie hatte im Laufe der Jahre zahlreiche Liebhaber zu Grabe getragen. Mitstreiter, Soldaten, Untergebene begraben. Hatte auch die Beerdigungen von Familienmitgliedern besuchen müssen.

Artemis dagegen hatte Brutus verloren. Selbst wenn er später zurückgekehrt war – allen in der Nadel war die Episode noch gut im Gedächtnis. Der Monat, in dem man Artemis besser nur dann ansprach, wenn es unumgänglich war. Der Monat, in dem das Konstrukt zurückgekehrt war. Kühl, emotionslos, beherrscht. Unterbrochen von Phasen völliger Unbeherrschtheit, weil sich die emotionalen Routinen aufgrund von Überladung eigenständig reaktivierten.

Artemis hatte auch Tick Tack verloren. Ein Verlust, der gerne vergessen wurde und im Schatten der Vernichtung von Brutus stand. Doch so hart der Monat gewesen sein mochte – Tick Tack war nicht zurückgekehrt.

Und zwischenzeitlich hatte Artemis auch Artemis verloren.

Er kannte Verlust. Und dennoch stand er hier, ruhig, sichtbar beherrscht. Hatte er wieder irgendetwas abgeschaltet? Nein. Nein, das würde er nicht tun. Er war jemand, der…

Sie blickte überrascht auf. Suchte Arthur, dann das Konstrukt. Schwankte zwischen ihnen. Wie viel hatte der Stahlkoloss sich von Arthur wohl abgeschaut? Wie viel sich von ihm angenommen? Artemis versuchte jemand zu sein, der sich an sein Wort hielt. Jemand, der Prinzipien hatte und danach lebte. Und er hatte Arien versprochen, dass er nie wieder irgendeinen Teil seiner Persönlichkeit einfach abschalten würde. Er liebte sie zu sehr, um dieses Versprechen zu brechen.

Wie sehr Arthur doch alle beeinflusst hatte. Inspiriert. Verändert. Es brachte sie zurück zu ihrer morgendlichen Überlegung:

Was tat der Körper, wenn das Herz starb?

Sie hatte noch immer keine Antwort. Vielleicht würden sie im Laufe der nächsten Wochen und Monate eine Antwort darauf finden. Der alte Mann würde fehlen. Eine große Lücke hinterlassen. Und es würde sich zeigen, wohl oder übel, wie darauf reagiert werden würde. Vielleicht war es auch korrekter, ihn als den moralischen Kompass zu bezeichnen? Sie alle hatten im Laufe der Zeit ihre Nische gefunden. Ihren Aufgabenbereich. Bei manchen war er klarer definiert als bei anderen. Bei manchen hatte es länger gedauert, diesen Bereich zu bestimmen.

Offiziell war Arthur der Stallmeister. Aber diese Bezeichnung begrenzte ihn auf das Versorgen der Pferde, das inzwischen fast vollautomatisch geschah. Auf das Vorbereiten des Reit-Equipments. Nichts davon wurde seiner eigentlichen Rolle gerecht. Arthur war ein Lehrer für einige. Eine Respektsperson. Ein Vorbild. Er war die Stimme der Vernunft. Er war die Leine, die manchen bodenständig hielt. Er war der Abgleich mit der Realität. Er war ein offenes Ohr – und ein strenger Richter. Er hatte geführt und geleitet. Vielleicht nicht immer absichtlich. Vielleicht nicht einmal wissentlich. Er hatte nie irgendwem seine Entscheidungen abgenommen… oder streitig gemacht. Selbst dann nicht, wenn er mit ihnen nicht einverstanden war. Aber er hatte hingewiesen. Kritisiert. Zum Nachdenken angeregt. Er war immer für alle da gewesen, ungeachtet seiner eigenen Meinungen, Überzeugungen oder gar seines eigenen Zustandes…

„Wenn ich um einen Moment bitten dürfte?“ Die kühle, emotionslose Stimme war in diesem geladenen, angespannten Umfeld… mehr als unwillkommen. Sie zuckte tatsächlich einen Moment zusammen, blickte zur Tür und sah dort das Ratsmitglied stehen. Malagan musterte die sich ihm bietende Szenerie ohne jegliche emotionale Regung. Natürlich – ihn betraf das alles hier nicht im Geringsten. Ein flüchtiger Blick zu Arien jedoch, die den Kopf von Arthurs Brust gehoben und kurzzeitig aufgehört hatte, auf seinen Herzschlag zu lauschen, verriet ihr alles Nötige. Sie war kurz davor, ihn anzuschreien, dass er hier drinnen nichts verloren hatte. Entsprechend zügig hob sie die Hand und erklärte an das Mischblut gewandt „Ich kümmere mich darum.“

Arien senkte den Kopf schlicht wieder, vergrub das Gesicht wieder, als neue Tränen kamen. Sie selbst… folgte dem Eindringling in sein provisorisches Behandlungszimmer.

„Dem Tier geht es schlecht“, begann er und schien erst einmal auf ihre Reaktion zu warten. Sie wollte sich nicht einem Ratsmitglied gegenüber respektlos zeigen. Anders als Arien… besaß sie keinerlei schützende Immunitäten oder andere Qualitäten, die sie zu ihrer Defensive würde hervorbringen können. Dennoch war der Drang groß, die Augen zu rollen und ihn sehr deutlich wissen zu lassen, dass sie das bereits wussten.

„Und weiter?“, meinte sie schließlich als Kompromiss mit sich selbst.

„Die Geburt steht unmittelbar bevor – und ist damit viel zu früh. Außerdem hat dieses Exemplar ein offensichtlich sehr gewaltvolles Leben geführt. Ein Großteil ihrer Reproduktionsorgane ist verletzt worden. Durch die Anpassungen und Metamorphose-Prozesse wurden sie zwar regeneriert, doch Vernarbungen bleiben und der Apparat als Ganzes erlitt einige Verkümmerungen und Reduzierungen. Es gleicht im Grunde schon einem Wunder, das sie sich überhaupt fortpflanzen konnte – und da rede ich noch nicht von den Wahrscheinlichkeiten, dass sie es mit etwas anderem als einem Calidae tat.“

Die Erklärungen begannen empfindlich an ihrem Nervenkostüm zu zupfen. Nichts davon trug irgendetwas Hilfreiches oder Sinnvolles zur Sache bei. „Zum Punkt, bitte“, mahnte sie mit so viel Höflichkeit, wie sie zu diesem Moment noch aufbieten konnte.

„Das Muttertier wird die Geburt nicht überleben – oder der Nachwuchs wird es nicht schaffen. Ich kann meine Ressourcen auf beides aufteilen, aber dann steigt die Wahrscheinlichkeit enorm, das schlicht alle Beteiligten sterben werden.“ Arien lag im Nebenzimmer, emotional instabil. Ob er wusste, wie viel Wahrheit potenziell in seinen Worten lag…? „Ich brauche daher eine schlichte, klare Äußerung. Wem soll meine Aufmerksamkeit gebühren – dem Muttertier oder dem Nachwuchs?“

Zenna starb. Sie erinnerte sich noch an den Blick in Ariens Gesicht, als die erstmals von der Schwere der Umstände erfahren hatte. Diesen Ausdruck namenlosen Grauens. Blanker Horror. „Retten sie die Mutter.“

Ihr gefiel nicht, wie er eine Braue hob. „Sicher? Ich weiß natürlich nicht, wie viele Jahre sie schon verlebt hat, aber Calidae, obgleich langlebig, leben auch ihrerseits nicht ewig. Dazu kommt, wie ich schon sagte, die Schwierigkeit mit der Reproduktion. Diese Empfängnis war schon ein kleines Wunder. Sie wird keinerlei Chance haben, sich hiernach nochmals fortzupflanzen.“

Da war der Grund für ihr Unbehagen. Und den Drang, das Gesicht eines Ratsmitgliedes mit Veilchen zu verschönern. Vernunft. Logik. Argumente. Zu diesem Zeitpunkt war Zenna alt. Mit einer Tortur wie dieser hinter sich, vielleicht hätte sie noch ein paar wenige Jahre. Vielleicht auch nur Monate. Gelang es aber, den Nachwuchs durchzubringen… hätten die möglicherweise ein langes, besseres Leben vor sich. Eines, das nicht kontinuierlich von Kämpfen, Verletzungen und der Notwendigkeit, zu beschützen und zu verteidigen geprägt wäre. Öffnete man der Vernunft einmal Tür und Tor… „Wie viele Jungtiere? Wie stehen deren Chancen?“

„Kann ich im Moment nicht sagen. Calidae sind magisch, die arkanen Ströme in ihren Körpern machen Präzision dieser Art… schwierig, bestenfalls. Aber ich würde aus der Erfahrung heraus schätzen, dass die Chancen für die Jungtiere ein klein wenig besser stehen als für die Mutter.“ Plötzlich konnte sie Arien verstehen. Gut verstehen. Nicht die Arien drüben bei Arthur, die so viel weinte, dass ihr Körper danach durch puren Wasser- und Salzverlust einige Kilo weniger haben musste. Aber die Arien, die vor einigen Stunden noch oben beim Frühstück gesessen hatte. Gehofft hatte, jemand würde ihr sagen, das Gehörte und Implizierte seien Trugschlüsse, Fehlinterpretationen.

Sie konnte Zenna nicht töten. Und nichts anderes wäre das hier, oder nicht? Kurz erwog sie, die Entscheidung abzuwälzen. Arien kam ihr sofort in den Sinn. Aber das war nicht fair. Im Gegenteil – es war feige. „Versuchen sie die Mutter zu retten, falls sie können, aber…“ Sie seufzte schwer. Atmete mit geschlossenen Augen einen Moment tief durch. Und tötete. „… Priorität haben die Jungtiere.“ Sie hatte es tausende Male getan. Getötet. Mit dem Schwert. Mit dem Schild. Mit bloßen Fäusten. Mit den Worten, die sie sprach, den Befehlen, die sie gab. Sie hatte auch schon vermeintliche Freunde getötet. Aber das hier… das fühlte sich anders an. Wie Verrat. Und sie hasste es.

Dennoch bemühte sie sich zumindest, Fassung zu wahren. Einem gewissen, ungeschriebenem, unausgesprochenem Protokoll zu folgen. Das als nächsten Punkt vorsah… „Und danke. Für die Hilfe.“

Malagan hingegen schnaubte abfällig. „Ich werde mich bemühten, die Existenz dieses Tages zu ignorieren, sobald er endlich sein leidliches Ende gefunden hat. Es ist nicht so, als wäre ich freiwillig hier.“

Veilchen. Sein ganzes Gesicht wäre ein Veilchen, würde sie nur eine Sekunde nachgeben. Nur das kleinste Bisschen. Er brach das Protokoll. Er verachtete sie alle hier, die Situation, die… die Vorgänge. Keinerlei Respekt, für niemanden hier. Nicht einmal die, die starben. Sie hatte sich nie recht für die tieferen Wurzeln der elbischen Philosophie erwärmen können. Aber sie hatte viel über die Politik von Haus Steinrinde gehört. Über das rein wirtschaftsorientierte Denken seiner Mitglieder. Und hier nun stand Malagan Klippenwind vor ihr und spottete allem, für das die elbische Philosophie so vehement eintrat und stand. Es machte sie krank, zu wissen, dass das Schicksal ihres  Volkes in deren Händen lag. Das dieses ihre Volk von jenen vertreten wurde, die für seine Philosophie, Geschichte und Denkweise nichts übrig hatten. Sie nicht verstehen konnten oder wollten, ganz zu schweigen davon, sie zu verinnerlichen und zu leben. Es widerte sie an.

Er… widerte sie an.

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um. Er widerte sie an – und sie hatte gerade Zenna getötet. Sie widerte sich selbst an. Das setzte sie beide auf Augenhöhe. Und sie hasste es… hasste es, mit solchen wie ihm auf Augenhöhe zu sein. Ihr wurde übel vom bloßen Gedanken daran und die nächsten Stunden und Arthurs Gegenwart waren… schwieriger als die zuvor. Sie hatte kaum noch glauben wollen, das dergleichen möglich war. Dass es sich weiter steigern ließe. Doch hier saß sie, angespannt wie nie zuvor, bedrückt, angeekelt.

Arien sagte nichts. Fragte nichts. Artemis hatte vorsichtig auf dem Stuhl Platz genommen, hielt die nach hinten dargebotene Hand des Mischblutes und schwieg weiterhin. Arien hob nicht einmal den Blick, als sie wieder eintrat.

Wie viele Stunden vergingen, wusste sie nicht zu sagen. Es mochte vielleicht Abend sein. Vielleicht auch schon Nacht. Als Malagan eintrat, trug er Zenna vor sich her. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, als er sie auf Arthurs freier Seite auf das Bett legte. Arien hob den Blick, Zorn flammte bei seinem Anblick in ihren Augen auf – bis ihr klar wurde, was er tat.

„Hey, altes Mädchen…“, krächzte Arthur bemüht. Die frische Naht an Zenna war noch gut sichtbar. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das Blut von ihr abzuwischen. „Danke“, meinte Arthur nach einem Moment an Malagan gerichtet.

Der aber schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid“, erklärte er ohne wirkliche Emotionen in der Stimme.

Arthurs Blick fiel auf Zenna. Auf die blutige Naht. Darauf, wie seltsam blass und erschöpft sie wirkte. Es brach ihr das Herz, zu sehen, wie der Blick ihres Ritters glasig wurde. „Dan-ke…“ würgte er dennoch bemüht hervor.

„Der Nachwuchs wird es wahrscheinlich schaffen“, erklärte das Ratsmitglied, ehe den Raum wieder verließ.

„H-Hey… hey altes Mädchen…“ Arthurs Stimme zitterte. Zenna hob den Kopf, versuchte, mit dem Schwanz zu wedeln, doch ihr fehlte schlicht und ergreifend die Kraft dazu. Ein Zucken hier und da verriet ihre Anstrengungen und Intention. Mühsam zog sie sich mit den Vorderpfoten vorwärts, robbte regelrecht zu ihm. Wenige Zentimeter nur, aber es schien sie alle Kraft zu kosten. Unter tiefen, unregelmäßigen, hörbar zitternden Atemzügen versuchte Arthur, irgendwie Fassung zu wahren. Vergeblich.

Wie oft konnte ein Herz brechen? Wie sehr konnte es schmerzen, bevor es starb? Wie sehr, bevor es erlöst wurde?

Arthur hielt seine Freundin fest, die ihm jahrelang treu geblieben war. Die ihm durch all die guten und all die schlechten Zeiten gefolgt war, unerschütterlich, ohne zu zögern. Sein Schluchzen, unterdrückt und zurückgehalten, wurde prägnanter. Die Tränen auf seinen Wangen zahlreicher. Und nach und nach brachen die Dämme.

Bis zuletzt hatte auch Arien gekämpft. Doch mit der neuen Entwicklung konnte auch sie nicht mehr dagegen angehen. Es gab kein Halten mehr. Und ihre Klage wurde hörbar. Ihr Kummer spürbar. Ihr Schmerz sichtbar.

Ihr selbst schnürte sich die Kehle zu. Neue Tränen stiegen auf, als sie verfolgte, was sich vor ihr zutrug. Sie wollte bei ihm sein. Für ihn da sein. Sich entschuldigen. Sie wollte Vergebung von ihm erhalten, weil sie Zenna getötet hatte. Sie wollte Arien trösten. Wollte Artemis treten, dass er sie endlich trösten würde. Sie wollte sich an Arthur schmiegen. Seinen Kopf in ihren Schoß ziehen, ihm durch das Haar streichen und ihm zuflüstern, das alles wieder gut werden würde. Sie wollte daran glauben, dass alles wieder gut werden würde. Stattdessen saß sie dort, wie gelähmt, bewegte sich nicht. Beobachtete, stillschweigend.

Als Zenna in seinen Armen starb, brach ihr Ritter völlig zusammen. Wozu jetzt noch Fassung wahren. Wozu jetzt noch Schauspiel und Fassade. Ihr Speichel trocknete noch auf seiner Hand, als sie ihn abgeleckt, mit der kalten Nase angestoßen, ihn irgendwie zu trösten versucht hatte. Jetzt rührte sie sich nicht mehr. Keine Spur eines Atemzugs, der ihre Brust hob und senkte. Kein verräterisches Zucken mehr in ihrem Schwanz.

Es dauerte nur wenige Minuten, ehe der nächste Anfall Arthur packte. Sie erinnerte sich nicht, wie sie regelrecht aufgesprungen war. Aber der Stuhl lag am Boden. Umgekippt. Sie erinnerte sich nicht, wie sie zu Arthur geeilt war. Wie sie seine Hand umschlossen hatte. Woran sie sich erinnerte, war die schier schmerzhafte Kraft, mit der er sie gepackt hielt. Sie erinnerte sich an den Ausdruck grenzenloser Verzweiflung, mit dem sich Arien an seine Brust klammerte. An das Betteln und Flehen des Mischblutes, er möge aufhören, möge bleiben.

Im Nachgang konnte sie sich nicht einmal mehr entsinnen, was das Letzte war, was sie in Arthurs Augen gesehen hatte. Hatte er sich vor dem Ende gefürchtet? Hatte er gelächelt? Hatte er Schmerzen gehabt?

Die Vernunft gebot Letzteres. Er musste schreckliche Schmerzen gehabt haben, immer wieder. Aber ihr Verstand verweigerte sich der Vernunft. Sie erinnerte sich nicht mehr. Wollte sich nicht erinnern.

Woran sie sich erinnern musste… einfach, weil ihr Verstand sie aus Rache dazu zwang… war der Moment, als die Kraft nachließ. Als er aufhörte, ihre Hand zu umklammern. Als der Anfall abebbte. Die Krämpfe nachließen. Und mit ihnen sein Leben. Sie erinnerte sich, wie ihre Kehle sich zuschnürte. So sehr, dass selbst das Atmen schwer fiel. Sie erinnerte sich an ihre eigene Verzweiflung, als sie ihn ihr entgleiten spürte. Sie erinnerte sich, ihn auf die Hand geküsst zu haben.

Und wie sich sein Gesicht entspannte.

Sie erinnerte sich an die seltsame Stille danach. Obwohl Arien noch immer weinte, schluchzte, bettelte, er möge zurückkommen. Sie erinnerte sich an die Benommenheit, mit der sie sich auf den Steinboden hatte sinken lassen, weil sie ihren Beinen nicht mehr traute. Oder vielleicht auch nur, weil sie hatte sitzen wollen.

Woran sie sich nicht mehr erinnerte?

Wie der Tag danach weiter ging. Oder die Tage darauf…

 

Eine Woche später…

 

Lieber Großvater.

 

Zenna hatte Nachwuchs. Sie sind noch sehr klein und wir müssen gut aufpassen, dass sie nicht krank werden. Ihre Geburt war zu früh. Aber sie sind wirklich hübsch. Den Kleinen haben wir Indo genannt. Die Große Faire. Sie hatten von Anfang an so ein weiches, grünliches Fell. Es stellte sich heraus, dass der Grünton je nach Stärke des Lichteinfalls variiert und heller oder dunkler wird. Unter dem Fell haben sie aber eine etwas derbere, ledrigere Haut. Sie haben keine Schwanzkeulen. Stattdessen sind ihre Schwänze ungewöhnlich lang. Faire ist schon fleißig dabei, auszuprobieren, wie gut sie damit auf schmalen Geraden balancieren kann. Es scheint ihnen wirklich dabei zu helfen. Indo ist sehr viel vorsichtiger und ein bisschen schreckhaft.

Es hieß erst, dass so ein kleiner Wurf sehr ungewöhnlich sei. Vor allem für eine erste Schwangerschaft. Aber ihre Empfängnis war ja auch alles andere als einfach. Thalion kümmert sich rührend um sie. Er versucht Indo ein bisschen dazu anzutreiben, mehr Neugier zu zeigen. Und Faire ein wenig zurückzuhalten. Wir hatten erst überlegt, sie zu trennen, aber… das brachten wir dann nicht über uns. Ich bin sicher, Zenna wäre         Arthur hätte

Ist es nicht erstaunlich, wie es Zwillinge sind? Und wie es ein Männchen und ein Weibchen sind. Einer scheu und einer mutig. Einer groß und einer klein.

Arthur wäre bestimmt

 

… stolz gewesen.

Doch der Satz wurde nie beendet. Stattdessen wischte eine Hand über den Tisch und fegte das Blatt davon. Luftwirbel trugen es einen Moment in einen zunächst turbulenten, dann sanfteren Sinkflug, ehe es am Boden landete. Bei seinesgleichen, zahlreich wie die Versuche waren.

Heiße Tränen brannten über Ariens Wange, tropften auf den Tisch, ehe sie die Stirn auf der Tischplatte ablegte. Ihr Schluchzen klang in ihren Ohren plötzlich so viel lauter. Die Tränen rannen nun über ihren Nasenrücken herab. Aber nichts davon störte sie, oder hielt sie auf. Mit bebenden Schultern versuchte sie, sich zusammen zu kauern. Sich kleiner zu machen.

„Ich vermisse dich…“, würgte sie verzweifelt hervor, die Augen geschlossen, an niemanden gerichtet, der da war.

Eine schwere, massive Hand legte sich auf ihre Schulter. Ohne Zögern zog sie eine ihrer Hände, mit denen sie sich abzuschirmen versucht hatte, hervor und legte sie über das kühle Metall. Seine Nähe spendete Trost. Es dauerte. Minuten, wahrscheinlich. Vielleicht länger. Aber sie fand zu sich zurück. Zur Ruhe zurück. Zur Beherrschung.

Oder vielleicht waren ihr auch einfach nur die Tränen ausgegangen.

Als sie sich wieder aufrichtete, lehnte sie sich zur Seite. Lehnte sich gegen ihn. „Ich will dich niemals verlieren“, krächzte sie kaum hörbar. All ihre Verzweiflung, all ihre Befürchtungen, all ihre Angst lagen in diesen wenigen Worten.

„Das wirst du nicht“, erwiderte er ohne Zögern. Und so ernst, wie er nur sein konnte. Voller Überzeugung. Voller Zuversicht und Bestimmtheit. Und für einen kurzen Moment ergab sie sich der Illusion, völlig bereitwillig, das ungeachtet aller Umstände, aller Wenn’s, Aber’s und Was wäre wenn’s, er Recht haben könnte.

Ein schwerer Schädel legte sich auf ihren Oberschenkel. Und eine raue, klebrige Zunge fuhr behutsam über ihre Hand. Irgendwo unter ihm kauerte Indo, sie konnte ihn spüren, aber wie immer nicht hören. Und ein Stück weiter versuchte Faire gerade, in den Mülleimer zu klettern.

„Wenn du den Brief nicht schreiben kannst… wir könnten ihn immer noch zum Essen einladen“, bot Artemis an. Er tat das nicht zum ersten Mal. Aber sie hatte solche Panik bei der Vorstellung. Sie konnte nicht einmal genau benennen, warum oder wovor eigentlich. Aber sie war da… war es zumindest die letzten Tage gewesen.

Jetzt hingegen… war da eine dumpfe, kalte Leere. „Ja… warum nicht…“ Gedankenverloren kraulten ihre Finger durch Thalions Fell, während Artemis Faire vor dem gefräßigen Mülleimer bewahrte. Als er mit dem Quälgeist auf dem Arm zurückkehrte, wagte er einmal mehr die Frage, die sie inzwischen zu fürchten gelernt hatte.

„Geht es dir gut?“

Sie überlegte lange. Vielleicht weitere Minuten. Aber er schwieg, war geduldig. Wie immer. „Nein. Ich vermisse ihn.“

Er nickte leicht, gab ihr Faire auf den Schoß, die sich tollkühn umblickte und Ariens Bauch zu beklettern begann. „Ich weiß. Das tue ich auch.“

Ein Neues Zeitalter

„Ich fühle mich erschlagen“, krächzte Vetus neben ihr, als er langsam auf dem vergleichsweise weichen Waldboden aufsetzte.

„Wurdest du ja auch beinahe. Mehrfach“, erwiderte Arien schmunzelnd. Erst als er sich herabbeugte, ließ sie sich langsam und vorsichtig von seinem Hals rutschen. War der Boden tatsächlich weich… oder kam er ihr nur so vor? Ihre Füße brannten. Ihre Waden ziepten bei jeder Bewegung, gleich jedem Muskel in ihren Oberschenkeln. Ihre Knie glühten förmlich. Zu viel Rennen, zu viel ducken, zu viel springen. Ihre Bauchmuskulatur war frisch in kochendes Blei gegossen worden, zumindest dem Gefühl nach. Ihre Hüfte schmerzte. Ganz grundsätzlich schien jeder Knochen in ihrem Leib sich beschweren zu wollen – Hüfte und Schädel allem voran. Ihr Magen krampfte, er hatte den ganzen Tag lang nichts Essbares bekommen und wenn sie ehrlich war, nach diesem Tag… wollte sie ihm auch nichts geben – und sei es nur, um weiterhin das Risiko gering zu halten, dass sie es sofort wieder herauswürgen würde. War das möglich? Das ihr Magen einfach nur Inhalt begehrte, um sich krampfend übergeben zu können?

Ihre Lungen stachen. Die Luft während des Fluges war nicht unangenehm gewesen. Die schneidend kalten Winde hatten geholfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Und es war eine so unendlich angenehme Abwechslung zur stickigen, muffigen, übelriechenden Luft unter Tage gewesen. Zu dumm nur, das Vetus‘ Schuppenkleid dem Gefühl nach selbst durch ihre Hosen hindurch ihre Oberschenkel an den Innenseiten aufgescheuert hatte.

Ihre Arme glühten vor Überanstrengung. In panischen Gesten die Arme hochreißen, während verzweifelter Verhandlungen unruhig gestikulierend und natürlich, nicht zuletzt: Das Schwert schwingend. Jeder Schlag der schweren Waffe auf Metall anderer Waffen, auf Metall von Rüstungen und Schilden, fehlgeleitet gegen massiven Stein und ja, selbst die pure, leere Luft – es war eine Anstrengung gewesen. Sie war stark. Sie war zäh. Aber selbst das bedeutete nicht, dass sie bis in die Unendlichkeit kämpfen konnte. Ihre Oberarme brannten, als hätte man sie in Flammen aufgehen lassen. Ihre Handgelenke stachen bei jeder Bewegung. Ihre Finger leicht taub, schienen jetzt noch ab und an krampfen zu wollen, als würden sie das Schwert umfassen. Ihre Nacken stach bei jeder Kopfneigung.

Und wie ihr Schädel erst dröhnte. Die rasenden Kopfschmerzen kündigten sich im Moment noch harmlos für den späteren Abendverlauf an. Das würde übel werden. Aber für den Moment war es nur ein dumpfer Druck, ein unangenehmes Pochen in den Schläfen, hinter der Stirn, in den Augen.

Dennoch glitt sie von Vetus‘ Rücken und konnte halbwegs schlagfertig und gewitzt und sogar mit einem Lächeln Antwort geben. Trotz ihres ungewohnt miesen Zustandes… war ihr Geist ungebrochen. Erschöpft, gewiss. Aber auf dem gesamten Flug hatte ein derartiges Hochgefühl ihm ganz eigene Flügel verliehen, dass es ihr unmöglich schien, dessen Laune zu brechen. Und fürwahr, gebrochen wurde sie nicht. Nur… verändert?

Das Lächeln auf ihren Lippen starb langsam, als sie sich umsah. Die massiven, dickstämmigen Bäume, die den Immergrün-Wald bildeten. Irgendwo tief in diesem Wald war ein See voller Sirenen. Sirenen, gute Güte! Für wie… gewöhnlich sie diese Begegnung damals schon gehalten hatte! Vielleicht hätte ihr das ein Wegweiser sein sollen? Von hier an wird es nur noch schräger.

Doch letztlich blieb Ariens Blick an der Nadel selbst hängen. Dieses Wunderwerk. Und nicht weniger als das war sie. Ein Werk – geschaffen, gebaut, erarbeitet – aus Wundern. Sie konnte von hier unten die Balkone sehen, zwei der drei zumindest und einen Moment lang lag der Impuls zur Begutachtung in ihrem Verstand vor, einfach die eigenen Flügel zu nutzen und dort hoch zu fliegen. Es wären dann ganze vier Zimmertüren zwischen ihr und ihrem Bett. Denn schlafen… schlafen klang gerade unverschämt verlockend. Oder wenigstens einfach auf etwas weichem liegen. Keinen Finger krumm machen, keinen Gedanken denken müssen. Einfach nur dort liegen. Die Augen schließen. Ausruhen.

Aber der Anblick dieses alle Physik negierenden, trotzig gegen die Gravitation hoch in den Himmel aufsteigenden Steinwerkes ließ sie innehalten. Ließ sie zögern und zweifeln und überdenken. Es war später Nachmittag, gewiss, aber… eine Sache. Eine Sache gab es noch zu tun und es fühlte sich einfach abgrundtief falsch an, es nicht zu machen. Ihre empfundene Pflicht zu vernachlässigen – selbst wenn das nur einmal mehr etwas sein mochte, dass sie sich selbst aufgebürdet hatte. Was ihr gelegentlich aufgetauchter Stuhlkreis wohl dazu gesagt hätte?

„Ist schon gut“, erklärte sie schließlich und klopfte Vetus gegen den Hals, strich über das fein-blaue Schuppenkleid, „Ich komme zurecht, keine Sorge. Geh du ruhig schon mal hoch und schlaf.“ Er musterte sie einen Moment. Fragte sie wortlos, ob alles gut sei, ob sie zurechtkäme, ob sie Hilfe brauche, reden wolle. Mit einem Lächeln wischte sie all die Sorge fort. Und auch all die Angebote. Dankbar, aber ablehnend. „Gute Nacht, Papa.“

Dieser Titel wärmte ihm noch immer das Herz. Sie konnte es sehen, in seinen Augen. Jedes Mal, wenn sie ihn so nannte, war es, als würde der Grat konstanter Liebe, die er zu ihr empfand, einen plötzlichen, heftigen Sprung tätigen. Einen Moment senkte er den Kopf, presste seine Schnauze gegen sie. Lächelnd schlug Arien ihre Flügel um seinen Kopf, soweit sie das eben vermochte. Spendete ihm ihre Wärme. Ihren Geruch. Es war noch immer merkwürdig, sich dem Gedanken zu stellen, wie beruhigend eine Nase voll Arien für ihn war. Dann wiederum: Er war ein Drache. Drachen waren… seltsame Kreaturen. Manchmal witzig-seltsam, manchmal verstörend-seltsam.

Sie erinnerte sich noch, wie sie ihn auf dem Arm herumgetragen hatte. Klein und kaum intelligent, verfressen, ständig schläfrig und des Öfteren an seinen Flügel- oder seiner Schwanzspitze lutschend und nagend. Sie wagte es, sich ein Stück weit auf seinen Kopf zu legen. Er war so riesig geworden, sie hätte ihren gesamten Rückflug vermutlich darauf sonnenbadend zubringen können. Das hätte seinem Hals natürlich Tod und Teufel eingebracht, aber vermutlich hätte er dagegen dennoch nicht einmal etwas gesagt, hätte sie gewähren lassen. Denn heute war ihr Tag. Heute war ihrer aller Tag, aber Ariens insbesondere – nach Vetus‘ Auffassung zumindest, allemal.

Denn heute war der Tag, an dem der König der Untoten gefallen war, ein- für allemal.

„Danke. Und wir sehen uns später“, flüsterte Vetus leise, als hätte er die Bedeutungsschwere ihrer Gedanken erahnt. Tatsächlich jedoch war es nicht nur das gewesen. Seine Nähe, sein Geruch, seine Wärme, das vertraute Gefühl seiner Schuppen – es hatte sie eingelullt und hätte er nichts gesagt, wäre sie tatsächlich im Stehen eingeschlafen, halb auf seinem Kopf liegend. Vielleicht hatte er das geahnt, gespürt und sie deshalb angesprochen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er diesen Moment allzu bereitwillig brach.

Sie trat zurück, schloss die Augen und wappnete sich. Mit festem, sicherem Stand konnte sie den gewaltigen Flügelschlägen begegnen. Staub wirbelte auf, kleine Steinchen prasselten zusammen mit Stöcken, Erdklumpen und Laub gegen sie. Es piekste, stach, kitzelte, schmerzte – aber alles in allem waren die Eindrücke so lächerlich winzig im Vergleich zum ohnehin desolaten Zustand ihres Körpers, dass es sich ebenso gut um ein leeres, laues Lüftchen hätte handeln können. Als der Angriff des Waldes nachließ, öffnete sie die Augen. Blickte dem gewaltigen Drachen hinterher, der ein gutes Stück weiter oben auf ihren Balkon aufsetzte. Sie schmunzelte über das plötzliche, freudige Wackeln seiner Schwanzspitze, die noch immer über den Rand hängend gut sichtbar war. Offenbar hatten sie beim letzten Picknick auf dem Balkon irgendetwas Essbares draußen stehen lassen und er hatte es gerade gefunden. Dieses Schwanzwackeln war zu eindeutig. Sie kannte die Körpersprache ihres Vaters inzwischen gut genug.

Ein Snack vor dem Schlafen würde ihm gewiss nicht schaden. Hoffentlich war er nur umsichtig genug, sich nicht wieder den Magen zu verderben.

Nachdem sie noch einen Moment lang zugesehen, die Schwanzspitze verschwinden sehen und schließlich die leere Wand samt Himmel angestarrt hatte, widmete sie sich wieder ihrer letzten Aufgabe des Tages. Die Nadel wirkte noch immer gewaltig, wundersam und einschüchternd. Aber jetzt war Vetus irgendwo darin, zusammen mit anderen. Und trotz allem… war die Nadel ihr Heim geworden. Ihr Zuhause. Zu viele Emotionen und Erinnerungen banden sie an diesen Ort.

Seufzend tat sie den ersten Schritt auf den Eingang zu und das Seufzen wiederholte sich, schwerer, bedrückter, als sie durch den Eingang trat. Kein antimagisches Feld. Kein göttliches Wirken. Nichts. Nur ein leerer Torbogen mit einer Glocke davor. Sie… würden eine Tür einbauen müssen. Demnächst.

Arien spürte den Drang. Den altbekannten, zwanghaften Impuls, die Nadel zu scannen. Schnellstmöglich sich zu versichern, wer wo war und wie es allen ging. Ob es Eindringlinge gab, ob jemand verletzt war. Es hatte Monate gedauert, dem Zwang zu begegnen. Und auch, wenn er dann und wann noch immer aufbrandete, und das mit beeindruckender Macht und Gewalt, so ließ sie ihn nicht zu, bot ihm die Stirn. Sie war nicht Sklave ihrer eigenen Ängste!

Auf seltsame Weise fühlte sie sich an ihre erste Erkundung erinnert. Und sie ließ das Gefühl zu. Ließ zu, sich wieder unwissend zu fühlen. Wieder alles mit eigenen Augen zu sehen und zu bestaunen, zum ersten Mal.

Die Eingangshalle war still, sah man vom Prasseln der alchemistischen Feuer in den vier großen Schalen auf ihren Podesten ab. Ihr flackerndes, weiches Licht erhellte genug, um Zeuge der Pracht werden zu können. Die riesige Drachenstatue erhob sich rechtsseitig, prunkvoll und einschüchternd – und zweifellos ein gehöriger Schreck, wenn man hier herein kam und sie nicht erwartete. Doch Ariens Aufmerksamkeit galt vor allem der Raumgestaltung. Den Wänden. Der Decke. Dem Boden. Den zahllosen Bildern. Szenerien, die flüssig ineinander überführten. Drachenhorte und –höhlen, gewaltige Schätze und weite Wiesen, Bergkämme und ganze Gebirgszüge, aufsteigende Drachen am blauen Himmel mit wolkenhaften, weißen Tupfen.

Sie wusste, dass diese Bilder sie begleiten würden. Auf dem Pfad ihrer Erkundung würde sie sie überall finden. Im Teleporterraum – jedem davon auf jeder Ebene. Und in manch anderen Räumen und Fluren ebenso. Es war… es waren Kunstwerke. Geschaffen auf Basis einer Freundschaft, die alles andere als leicht gewesen war, weit von problemlos entfernt. Und die von vorn herein eigentlich höchst unwahrscheinlich hatte sein müssen.

Sie vermisste Brutus.

Sie hatte alle Zeit der Welt, wortwörtlich. Also trat sie, statt gerade dem Gang zu folgen und nur ihre Augen wandern zu lassen, ihrem Blick folgend an die Wände, strich mit den Fingerspitzen über die Struktur des gefärbten Steins, spürte hier und da kleinere Unebenheiten durch die alchemisch zusammengerührten Farben. Erinnerte sich an die unzähligen Stunden an Arbeit, die in diesen Raum allein geflossen waren. An die stillschweigende Kooperation. Sie hatte ihn zu ihrem Freund erklärt. Ihn, den Uhrwerkdrachen, der keine Intelligenz hätte besitzen sollen. Ihn, der alles Lebendige hasste. Ihn, der keine Freunde hatte und keine Freundschaften wünschte. Und auf wundersame Weise hatte er nie widersprochen, sich nie gewehrt, sie nie abgelehnt.

Stattdessen hatte er mit ihr gezeichnet. Stundenlang. Und nun war er fort.

Natürlich war die Bitterkeit des Gedankens nicht allumfassend. Brutus war weg, ja. Aber das war eine vorläufige Sache. Vielleicht würde es nur ein paar Wochen oder Monate dauern. Vielleicht wären es Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Aber sie hatte so viel Zeit. Sie konnte warten. Und nach allem, was sie durchgemacht hatten, gemeinsam, allesamt… da bezweifelte sie, das etwas Brutus in die Knie zwingen würde. Er würde wiederkehren. Und sie hätte ihren unfreiwillig-freiwilligen Freund zurück.

Er musste nur erst einmal… sehen. Mit eigenen Augen sehen. Es hatte durchaus Sinn gemacht, alle vor diesem Tag zu evakuieren. Sie hatten nicht gewusst, was geschehen würde. Wie dieser Tag ausgehen würde. Was mit der Nadel im Nachgang dieses Tages passieren würde – und damit auch unweigerlich allen, die darin waren. Er war ausgezogen, um eine Welt zu sehen, von der er nichts wusste. Er hatte seinen Posten gehabt. Er kannte jeden Zentimeter der Nadel in- und auswendig. Er hatte ein paar Mal die Nadel verlassen und den Immergrün-Wald gesehen – aber selbst den nur aus der Perspektive eines Wesens, das vor die Haustür ging, um Gäste zu empfangen. Er hatte sich nie mit dem Wald beschäftigt, mit seinen Wundern und Gefahren, seinen Bewohnern, seiner Schönheit.

Jetzt stand ihm eine ganze Welt offen. Nicht ein Wald, alle Wälder. Und Dörfer. Städte. Metropolen. Die magischen Wunder von Thethys, die natürliche Schönheit von Carastawar. Und Dinge jenseits Arvums. Dinge, für die es nicht einmal Namen und Worte gab. Natürlich galt seine Reise nicht nur der Besichtigung dessen, was zu sehen wert war. Brutus war noch immer auf der Suche nach seiner inneren Mitte. Nach einer Balance. Er war zu einem Teil Maschine. Als solche hätte er nicht denken können sollen. Ganz zu schweigen von Empfindungen. Aber seine Natur widersprach dem Standard. Er konnte sich freuen. Er konnte beneiden. Und er hasste. Was er nicht hatte, war eine Bedienungsanleitung für Emotionen. Für den Umgang mit ihnen. Und er war schlicht zu gefährlich, um diesen Zustand zu dulden.

Also reiste er. Würde Orden von Klerikern und Paladinen besuchen. Mit Mönchen in Klöstern leben. Würde sich mit Philosophen treffen und mit Magi reden. Eine Reise der Selbstentdeckung. Und wenn er erst einmal alles gehört und gesehen und seine innere Mitte gefunden hatte… dann würde er zurückkehren. Er würde.

Er hatte es versprochen.

Und Brutus gab keine leichtfertigen Versprechungen. Nie.

Unlängst war sie durch die schweren Ausgangstore der Halle in den Verbindungskorridor getreten. Und hielt an der Kreuzung inne, als sich ein kurzer Gang, von einer weiteren Tür blockiert, nach links abzweigte. Sie blickte die Tür an, starrte, als könne sie hindurch sehen. Und tatsächlich konnte sie das irgendwie – sie kannte die Nadel. Sehr gut sogar. Fast so gut wie Brutus, mochte sie meinen. Dahinter lag ein kleiner Gemeinschaftsraum. Nicht beeindruckend. Nicht bemessen an den Ausmaßen und Wundern der Nadel. Aber sehr zweckdienlich. Simpel. Und perfekt für die, denen er ehemals Quartier geboten hatte.

Parcivall Nachtstimme. War es eigentlich noch richtig, ihn so zu nennen? Schließlich war Parcivall tot, nicht wahr? Der echte Parcivall war verbrannt. Nun, vielleicht nicht direkt. Aber die großflächigen Verbrennungen, die Rauchvergiftung, das alles hatte ihn letztlich das Leben gekostet. Er hatte es nicht geschafft, rechtzeitig seine Wunden zu versorgen. Seinem Körper Ruhe zu gönnen. Sich zu erholen. Und dann war er da gewesen. Hatte sich seiner angenommen. Sein Leiden gelindert. Und ihn bestohlen. Um alles, was Parcivall ausgemacht hatte.

Sie hatte ihm nie wirklich böse dafür sein können. Vielleicht, weil ihr ein persönlicher Besuch zum echten Parcivall gefehlt hatte. Sie hatte den Mann nie kennengelernt. Wusste nur vage, das Haus Nachtstimme ein Unterstützer von Haus Zauberfänger gewesen war. Dass es schon immer geheißen hatte, dass das seltsame Leute seien. Und trotz allem: Er hatte seinen Schmerz beendet. Mehr noch. Er hatte sich an die Meister der Nadel gewendet. Oder vielmehr – an sie. Arien war sich schmerzlich darüber bewusst, wie viel Hilfe sie Parcivall und den anderen Unbekannten verdankten. All die Informationen, die er für sie herangetragen hatte. Informationen, die auf anderen Wegen zu beschaffen Jahre gedauert oder schlicht unmöglich gewesen wäre. Ihre Fähigkeiten, als Spione sich schier überall einzuschleichen waren geradezu beängstigend. Und vielleicht hätte Riks Paranoia, die auf sie abgefärbt hatte, sie jede Alarmglocke klingeln lassen, das die Unbekannten nun, da das gemeinsame Ziel erfüllt war, möglicherweise hinter ihr her waren.

Aber ähnlich wie Brutus hatte Parcivall sein Wort gegeben. Und nach allem, was war? Sie glaubte zu verstehen, dass er in der Rangfolge und Hierarchie der Unbekannten sehr viel höher gestanden haben musste, als er zu erkennen gegeben hatte. Nicht, das er je irgendetwas dazu tatsächlich gesagt hätte. Mit Parcivall zu reden war nicht schwer gewesen. Aber auf einer bestimmten Ebene war ein Gespräch mit ihm sogar schwieriger gewesen als mit Brutus. Der war geradlinig. Wenn er jemanden nicht leiden konnte, macht er das schnell und drastisch deutlich. Ebenso, wenn er keine Antwort zu geben gedachte. Parcivall hingegen war nicht festzunageln gewesen. Er wich aus, umtänzelte, konterte, parierte. Jedes Gespräch war für ihn ein Duell. Und er war ein verdammt guter Duellant.

Dennoch: Er hatte versprochen, dass den Meistern der Nadel und ihren Verbündeten keine zielgerichtete Attacke drohte. Letztlich hatten sie sich gegeneinander stellen müssen und Parcivall hatte den gewaltfreien Weg gewählt. Er hatte ihre Verpflichtungen anerkannt und seine Leute abgezogen. Es hätte heute zu mehr Kämpfen kommen können, aber er entschied, dass das dergleichen nicht wert war.

Sie konnte diese Entscheidung respektieren. Schätzen. Sie konnte ihn respektieren. Und sein Volk. Das hieß nicht, das sie nicht dann und wann doch ein klein wenig Sorge hatte. Die Unbekannten waren befreit worden, waren irgendwo dort draußen. Planten und intrigierten, lenkten und manipulierten. Und einer von ihnen trug Seelensplitter eines Elben in sich, eines ehemaligen Anwärters auf einen Ratssitz. Es würde auffallen, sollte er je versuchen, diesen zu beanspruchen. Natürlich würde es das. Mindestens ihr Großvater und Heluin waren instruiert worden und würden eine plötzliche Rückkehr von Haus Nachtstimme nicht zulassen. Und nach allem, was sie aus den wenigen Erklärungen Parcivalls verstanden hatte, war es ihm nicht möglich, diese Seelenverschmelzung nochmals durchzuführen. Für den Rest seines zeitlosen Lebens würde er Parcivall sein und bleiben.

War es also gut oder schlecht, dass er dort draußen war? Selbst nach Monaten fand sie keine zufriedenstellende Antwort darauf. Nur den Gedanken, dass es zweifellos weitaus schlechtere Persönlichkeiten gegeben hätte, mit denen er das Ritual hätte vollführen können.

Und was war mit Abbas?

Sie hatten in all der Zeit nie herausfinden können, wer nun eigentlich der frühere Meister des Orks gewesen war. Ein bemerkenswerter Umstand, denn die Geschehnisse in der Nadel, die Geschehnisse, die ganz Arvum erschüttert hatten und deren Schockwellen früher oder später die ganze Welt umformen würden, hatten sie alle lernen und wachsen lassen. Sie selbst war so mächtig und versiert wie nie zuvor. Weit stärker und fähiger, als sie es sich in ihren wildesten Träumen je hätte vorstellen können. Und dennoch war keinem von ihnen je gelungen, dieses Rätsel zu lüften. Vielleicht hatten sie es falsch angepackt. Vielleicht hatten sie einfach Pech gehabt, einen schlechten Tag erwischt, irgendwo einen Fehler begangen. An irgendeinem Punkt es an Konzentration mangeln lassen. Fehlerquellen gab es viele, sicherlich. Aber sie hatten es versucht – und das nicht nur einmal. Wieder und wieder und wieder. Und nichts war dabei herausgekommen.

Abbas war ein seltsamer Geselle gewesen. Schweigsam, wenngleich auch nicht maulfaul. Es gab nur wenig, von dem er glaubte, das es zu sagen wichtig war. Er antwortete. Er trank mit anderen. Spielte. Ließ sich Kartenspiele beibringen. Aber die meiste Zeit war er dort  draußen gewesen, in unwirtlichen Gegenden. Jagte verfallenen Tempeln und vergessenen Grabstätten hinterher. Wandte sich durch tödliche Fallen und Geheimgänge hindurch. Plünderte im Namen der Nadel vergessene Relikte und herrenlose Schätze. Alles immer mit dem einen Ziel: Einen Gegner zu finden, der würdig war.

Nicht würdig, bekämpft zu werden. Sondern würdig, an ihm zu scheitern. Abbas war ein stolzer Krieger. Sein Meister hatte ihn, den verschwommenen Erinnerungsfetzen nach zu urteilen, immer wieder kämpfen lassen. Gegen alle Feinde des Magiers, gegen wilde Bestien, gegen mystische Monster. Sein letztes Geschenk hatte in einem Fluch bestanden – oder ein Segen, je nach Sichtweise. Wer immer Abbas töten würde, sollte selbst den Tod finden. Und er war ausgezogen, den Fluch zu erfüllen. Hatte geglaubt, dass sein vom Magier unnatürlich verlängertes Leben nicht weiter unnötig in die Länge gezogen werden sollte. Er hatte seinen Dienst getan und ehe Alter und der Mangel an Herausforderung ihn schwach werden ließen, ehe selbst ein dummer Bauerssohn mit der Heugabel oder ein unglücklicher Sturz die Treppe herab ihn umbringen würden… wollte er einen Kampf finden, der eines Eintrags in die Geschichtsbücher würdig wäre.

Ariens Blick haftete befremdet an der Tür. Sie hatte damals ausziehen wollen, um sich zu beweisen. Sich der elbischen Gemeinschaft Elvorans als würdig zu beweisen. Ihren Wert zu demonstrieren. Zu zeigen, dass sie dazu gehörte, dazu gehören konnte. Damit man sie aufnahm, ihr wenigstens eine Chance gab. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie je für Ruhm und Glorie gekämpft, für Erwähnung in irgendwelchen Büchern. Als Kind mochte das noch ein schöner Gedanke gewesen sein: Irgendwann einmal der Held in den eigenen Romanen sein, irgendwann einmal durch die Städte ziehen und die Leute rufen diesen einen Namen. Veranstalten Paraden und lassen Blütenblätter regnen. Aber diese Faszination hatte sich schnell verloren. Der letzte Rest davon starb spätestens, als sie unfreiwillig erfahren musste, wie das tatsächlich war.

Jeder in Elvoran kannte ihren Namen und ihr Gesicht. Vermutlich galt das inzwischen sogar auch für Akkara und Symmarion. Ganz Arvum kannte sie. Selbst die hintersten Winkel. Selbst die ländlichen Gegenden. Und in wenigen Jahren, vielleicht sogar nur Monaten, da würde die ganze Welt ihren Namen kennen. Ihren und den ihrer Mitstreiter. Und sie alle würden wissen, was hier getan worden war. Was sie vollbracht hatten.

Ein wenig grauste ihr davor.

Sie hatte immer um Anerkennung und Respekt gekämpft. Jetzt, da sie das bekam – das und noch viel mehr -, da wusste sie nicht damit umzugehen. Nach wie vor nicht. Hätte Abbas das gekonnt? Hätte er sich einfach in die Mitte gestellt und sich in Lobpreisungen gesonnt? Natürlich stillschweigend und mit finsterer Miene, weil er nunmal er war.

Ob er wohl mit seinem letzten Kampf zufrieden war? Ob er ihm episch genug gewesen war? Sie konnte nicht recht sagen, dass sie ihn vermisste. Er war kein Freund gewesen. Ein Bekannter. Ein Verbündeter. Aber Abbas hatte auf sorgsame Weise immer das kollegiale Verhältnis gewahrt, ohne es persönlich werden zu lassen. Er hatte genug Verstand besessen, zu wissen, wie seine Geschichte ausgehen würde… und was er damit möglichen Freunden antäte. Er hatte ihnen diesen Schmerz erspart. Aber hatte er sich und andere damit nicht auch der guten Seiten und herzlichen Momente beraubt? Oder hatte es die dennoch gegeben? Hätten sie herzlicher sein können, wäre er ein tatsächlicher und wahrhaftiger Freund gewesen?

Seufzend ließ sie die Gedanken fallen. Vielleicht, irgendwann, wenn es dringend werden sollte. Dann könnte sie versuchen, mit Ereshkigal zu verhandeln, seinen Geist zu beschwören und mit ihm zu plaudern. Über dies und jenes. Vielleicht hatte er ein paar kluge Ratschläge. Wüsste für manches Problem Lösungen. Oder könnte ihr Wissen weitergeben. Vielleicht würde sie dann, wenn seine schimmernde, halbtransparente Gestalt vor ihr auftauchte, sich an all diese Fragen erinnern und sie ihm tatsächlich stellen. Hier und jetzt war es müßig, darüber zu rätseln.

Sie drehte sich wieder ab, durchschritt die nächste schwere Pforte in den Teleporterraum. Die offenstehende Tür des Kartenraums entlockte ihr ein Seufzen. Sie hatten es ein klein wenig… eiliger gehabt als sonst. Langsam trat sie hinein, strich mit einem gemäßigten Lächeln über den kühlen Stein des Kartentischs. Erst als sie ein leises Knirschen hörte, brach sie ihre sentimentalen Gedanken und entfloh aus der Nostalgie zurück ins Hier und Jetzt. Vorsichtig hob sie ein Pergament vom Boden und entrollte es sorgsam. Eine von Riks unvollendeten Karten. Er musste sie unterwegs verloren haben.

Die Karte stellte Thethys dar. Er hatte sie gehasst und geliebt gleichermaßen. Sie war eine grenzenlose Herausforderung gewesen. Eine Karte, die nie endete. Er hatte sich extra anlernen müssen, wie man auf magische Weise zeichnete – um eine Karte zu erschaffen, die fähig war, sich ständig zu verändern, zu verwandeln. Thethys und seine Stadtteile rotierten. Variierten. Veränderten sich kontinuierlich. Er hatte versucht, das Muster darin zu finden. Denn es gab eins, musste eins geben. In Thethys selbst wurden sündhaft teure Karten verkauft, an so ziemlich jeder Straßenecke, die immer aktuell waren, immer präzise den korrekten Pfad angaben. Es musste einen Mechanismus gaben. Eine Formel. Etwas, auf dessen Basis er vollkommen selbst erarbeitet ebenfalls eine sich aktualisierende Karte würde erschaffen können. Er wollte es verstehen, wollte es reproduzieren.

Der Gedanke ließ sie amüsiert schnauben und das Pergament sehr sorgfältig rollen. An einen der Schreibtische tretend, ließ sie die Rolle in der obersten Schublade verschwinden. Sie kannte Riks pedantische Ordnung inzwischen gut genug, um zu wissen, dass die anderen Bögen und Pergamente darin ebenfalls unvollendete Karten waren. Sie nahm die Feder aus dem Tintenfass, verschloss Selbiges vorsichtig. Einen Moment erwog sie, den Sextanten ebenfalls wegzuräumen. Dann entschied sie sich jedoch um. Sie würde ihn draußen lassen. Morgen oder irgendwann die nächsten Tage würde sie sich daran stören und sich an diesen Augenblick zurückerinnern, in dem sie ihr Vorhaben traf: Sie würde ihm das Ding hinterher senden. Als Andenken. Und Erinnerung.

Rik würde zurückkehren. Vielleicht in einigen Jahren schon, er war schließlich sehr intelligent, begriff schnell und lernte aus eigenem Antrieb heraus, sog neues Wissen und neue Techniken regelrecht in sich auf wie ein Schwamm das Wasser. Dann wiederum… es war Alrym. Die hatten es üblicherweise nicht allzu eilig.

Arien schmunzelte unweigerlich bei der Vorstellung, wie ein völlig entnervter Rik seinem Lehrmeister am Rockzipfel hing und forderte, dass der ihm mehr Bücher geben, mehr Bibliothekszugang erlauben, mehr Aufgaben zuschieben solle – die Langeweile seiner angeblichen Freizeit würde ihn umbringen und lesen und lernen wären seine bevorzugte Freizeitgestaltung!

Arien bezweifelte nicht, das irgendwann der Punkt käme, an dem Rik bereuen würde, sich nach Alrym begeben und sich dem Zirkel der Magier ‚gestellt‘ zu haben. Er schloss sich ihnen an, wurde einer von ihnen. Wollte – und würde – es besser machen. Natürlich war er ein Meister der Nadel. Er war der Retter Elvorans, Akkaras und Symmarions. Zumindest einer davon. Er war einer der Bezwinger des Königs der Untoten. Er war ein Held, ob er das wollte oder nicht – würde es sein, in den Augen Zahlloser. Vielleicht hatte er deshalb diese Wahl getroffen.

Es ging weniger darum, die Vergeltung zu fürchten. Der Zirkel wusste zweifellos längst – genauso wie der Orden -, dass ihre Geheimsprache weitergegeben worden war. Ebenso wussten sie inzwischen sicherlich, das Rik Hexer war. Ein überaus mächtiger, gebildeter und verständiger Hexer, aber ein Hexer nichtsdestotrotz. Wie lange, bis man Ordensmagier auf ihn ansetzte? Wie lange konnte der Schild seines Rufes ihn beschützen, ehe man ihn zu jagen begann? Er hatte es nicht herausfinden wollen. Nicht zuletzt, weil einmal mehr auch andere in der Schusslinie standen. Nicht nur erst selbst und sein Ruf. Diese Sache war ein Kompromiss. Er schloss sich dem Zirkel an und im Gegenzug würde man Arien und Sszerin in Ruhe lassen, solange die die getroffene Verschwiegenheitserklärung einhielten. Man würde seine Familie nicht dafür belangen, ihm vor Eintritt in den Zirkel etwas beigebracht zu haben, das nicht in seinen Kopf gehörte.

Und dann war da auch schlicht noch der Umstand, dass ihn mehr Zeit lockte. Rik hatte keinerlei Interesse an der Unsterblichkeit. Aber das Elixier der Magi machte auch nicht unsterblich – es verlängerte das Leben. Man würde es jederzeit absetzen und weiter  vor sich hin altern können. Aber es gab noch so viele Forschungsprojekte, so viele Bücher zu lesen und zu schreiben, Karten zu zeichnen und Schätze zu bergen, Ruinen zu entdecken und ihre faszinierenden und lehrreichen Geschichten zu entschlüsseln… es gab einfach noch zu viel zu tun. Der Eintritt in den Zirkel war letztlich die einzig vernünftige Wahl geblieben. Und auch, wenn er seine Freiheit sehr schätzte, das Privileg der Entscheidung, so war ihm doch klar gewesen, dass er von innen heraus weit mehr würde bewirken können – sollte er das je wollen – als von außerhalb. Und das es letztlich nur wenige Regeln gab, nach denen er sich würde richten müssen

Was dagegen die Wahl seines Studienortes betraf, nun – Rik hatte kein Interesse an einer kampforientierten Ausbildung gehabt, womit Akkara und der Orden aus dem Rennen waren. Ordewey hingegen hatte sich redlich um ihn bemüht, als auch nur ansatzweise bekannt wurde, dass er überhaupt in Erwägung zog, sich dem Zirkel anzuschließen. Und es war noch immer gruselig, darüber nachzudenken, wie und woher sie das so schnell erfahren hatten.

Alrym dagegen hatte sich nicht um ihn bemüht. Kein Wort von dort. Vielleicht wussten sie es nicht einmal. Vielleicht hatte es sie auch nicht interessiert. Vielleicht wussten sie es nicht und es hätte sie dennoch nicht interessiert? Das war, so vermutete Arien mit einem Lächeln, wohl letztlich auch der Grund gewesen, warum er sich dafür entschieden hatte, dorthin zu gehen. Alrym war… entspannter. Keine ständigen Machtrangeleien und Intrigen wie in Ordewey, kein Buhlen um mehr Einfluss, keine Hinterhältigkeit in jedem zweiten Wort.

Vielleicht sollte sie generell ein kleines Paket für ihn zusammenstellen. Ein paar Tintenfässer, ein paar gute Federn, ein paar hochwertige Pergamentrollen. Er verbrauchte so viel davon bei all seinen Notizen. Und möglicherweise ein oder zwei der unvollendeten Karten. Er könnte sie sich ja in seinem Zimmer aufhängen, als Erinnerung daran, dass es einen Ort gab, an dem er zurück erwartet wurde. An dem ein prächtiger, unikater Kartentisch stand. An dem eine eindrucksvolle Bibliothek auf ihn wartete.

Und ein Freund.

Das Seufzen, das ihrer Kehle entwich, wurde von einem schwachen Lächeln begleitet und erstarb völlig, als ihr Blick weiter durch den Raum glitt. Es lebte noch einen Moment lang, als sie beinahe schon nostalgisch die Runen am Boden neben dem Kartentisch musterte, die zwei hoch aufragenden Statuen neben der Tür – doch als ihr Blick schließlich an der Tür selbst regelrecht zu haften begann, da hatte es keine Chance mehr. Alle Gedanken an einen guten Freund in der Ferne waren verschwunden, alle Erinnerungen an Momente peinlich berührter Brüderlichkeit versanken im Schatten des Kummers, der sie noch immer befiel.

Níre und die anderen waren schon lange nicht mehr dort. Der Stall war verwaist, schon seit einer ganzen Weile. Und es schmerzte noch immer. Arthurs Tod – und der Zennas – hatte sie hart getroffen. Sie alle, sicherlich. Jeden auf seine Weise. Aber keinen härter als sie. Arthur war… besonders gewesen. Er hatte instinktiv eine Vaterrolle eingenommen, bevor ihr tatsächlicher Vater fähig wurde, diese Position auszufüllen. Und beide hatten sich letztlich in diese Verpflichtungen friedlich und einvernehmlich reingeteilt, statt darüber in Streit auszubrechen.

Arthur war ein Vorbild gewesen. Eine Respektsperson. Sie hatte ihn nie wirklich belügen können und hatte es auch nie gewollt. Stattdessen war er ein Fels in der Brandung gewesen. Egal wie übel die Dinge standen, sie konnte zu ihm. Selbst wenn sie sich mit ihm gestritten hatte – oder das zumindest geglaubt hatte -, so hatte er sie dergleichen doch nie spüren lassen. Strenge kam mit Konsequenz einher und er hatte sie gerügt, hatte sie scharf und direkt zurechtgewiesen. Aber nach der Strenge kam auch stets die Güte. Das Vergeben.

Raue Schale, weicher Kern. Sie hatte dieses Sprichwort immer für einen klischeehaften, überzogenen Unsinn gehalten – aber akzeptiert, dass es seine Berechtigung hatte, weil Übertreibung nunmal veranschaulichte. Arthur aber, ob er nun wollte oder nicht, hatte genau dieses Sprichwort gelebt. All die schlechten, kitschigen Romane über den großen Herzschmerz und die Dramaturgie des sozialen Unterschieds in Liebespaaren. All die Rezeptbücher für die perfekte Torte, einen gelungenen Kuchen, vollmundige Kekse… Arthur war ein Mann der Leidenschaft gewesen. In allen Bereichen. Er hatte das Leben und alle ihm geschenkten Jahre ausgekostet und getan, wonach ihm der Sinn stand. Und wann er sich entschied, etwas zu tun, dann tat er es ganz – oder gar nicht.

Er hatte sein Leben dem Militär gewidmet. Etwas, das man ihm anmerkte. Er gab klare, knappe, deutliche Anweisungen in befehlsgewohntem Tonfall. Er redete nicht groß drumherum, verpackte nichts von dem, was er zu sagen gedachte, in hübschere oder leichter verdauliche Worte. Wer zu Arthur ging, der musste mit einer kalten Dusche rechnen. Nein – tatsächlich ging man überhaupt zu ihm, um die zu bekommen. Er hatte stets diese zutiefst bodenständige Sichtweise gehabt…

Rasputins Tod hatte all die alten Wunden, frisch vernarbt, wieder wachgerufen. Das Pferd hatte, für seine Rasse, ein geradezu legendäres Alter erreicht. Und angesichts seines Lebensstils konnte das Gleiche wohl von Arthur und Zenna behauptet werden. Dennoch: Dieser eine Tag… selbst nach heute, selbst nach allem, was sie durchgestanden hatte, allein und mit anderen… empfand sie diesen einen Tag als den Schwersten ihres Lebens. Dort zu sitzen, ihn leiden zu sehen, seine Schmerzen zu verfolgen. Minute für Minute, unfähig, etwas zu tun. Unfähig, zu helfen. Jede Sekunde schien sich zu dehnen, bis in eine kleine Ewigkeit – und in all den Stunden, die er starb, gab es so verdammt viele davon. Endlos viele Ewigkeiten.

Er hatte sich ihnen angeschlossen, um ein letztes Mal alles in die Waagschale zu werfen. Alles, was er hatte. Alles, was er konnte. Alles, was er wusste. Ein letztes Mal seinen Willen für etwas bemühen und einfach alles geben. Er hatte sie weit gebracht. Hatte sie zusammengehalten. Zur Raison gerufen. Ihnen Rat erteilt. Er hatte für sein Land gekämpft, das war ihnen allen immer klar gewesen. Er hatte nichts gegen Elben oder Elvoran und auch, wenn Magier nicht unbedingt sein liebster Menschenschlag waren, so hatte er auch keine nennenswerte Abneigung gegen deren Stand oder Akkara per se. Aber sich der Sache angeschlossen hatte er letztlich in der Hoffnung, dass das Ergebnis für Symmarion ein Fortschritt wäre. Eine Verbesserung in der leidlichen, degenerierenden Geschichte einer einstmals stolzen und berühmten Nation.

Sie bedauerte es. Sie bedauerte, dass er nicht hier war. Dass sie nicht diesen Funken Stolz in seinen Augen sehen konnte, während er leicht hinter ihr stehend die Hand auf ihre Schulter legte. Sie bedauerte, nicht seine lobenden Worte hören zu können angesichts der überstandenen Hürden. Sie bedauerte, nicht mit ihm feiern zu können. Sie bedauerte, dass Thalion oben in ihrem Zimmer mit Indo und Faire allein lag. Dass die zwei Welpen nie ihre Mutter kennenlernen würden.

Aber mehr noch als alles andere bedauerte sie, dass Arthur nicht hier war, um das Ergebnis selbst und mit eigenen Augen sehen zu können. Dass er nicht sehen konnte, was aus Symmarion geworden war. Und was die Zukunft nun für das Land bereithalten mochte, für dessen Schicksal er so hart gekämpft hatte.

Unweigerlich drifteten ihre Gedanken auch zu Sedhwen. Sie hatte Arthur geliebt, daran hegte Arien keine Zweifel. Sein Tod musste sie getroffen haben. Vermutlich sogar recht tief, nur… die Elbe hatte sich nichts anmerken lassen. Als es zu Ende ging, war sie da gewesen. Sie hatte mit an seinem Bett gesessen, hatte gewacht und ihn hinüber begleitet. Sie hatte auch danach weiterhin den Meistern der Nadel geholfen und gedient, hatte weiterhin ihren Sold genommen, ihre Männer befehligt, hatte… einfach weitergemacht.

Arien hatte sie keine Träne vergießen sehen. Es fiel ihr schwer, Sedhwen einzuschätzen. Die Frau hatte von Arthur und zweifellos auch aus anderer, verwirrter Quelle zu hören bekommen, das er kurz vor ihrer Ankunft mit Elesil das Bett geteilt hatte. Mehrfach. Und doch zeigte sie keine Spur von Missgunst oder Antipathie gegenüber Elesil. So wenig, wie sie ihren Kummer über Arthurs Ende zum Ausdruck brachte. Ein Teil Ariens bewunderte sie für diese Selbstbeherrschung und wusste nicht einmal zu erahnen, welches Maß an Disziplin nötig sein musste, um das zu ermöglichen. Ein anderer Teil dagegen… erinnerte sich nur zu gut an ihre eigenen, früheren Instanzen, in denen sie sich eingeigelt hatte, abzukapseln versuchte.

Künstliche Distanz hatte sie fast zerstört. Es war dem Eingriff aller zu verdanken, dass es dazu nicht hatte kommen können. Ob es Sedhwen ähnlich erging, wusste sie nicht zu sagen. Ähnlich wie Abbas hatte die Elbe sich immer auf alles eingelassen – außer auf tatsächliche nähe. Sie hatte immer, trotz aller freundschaftlichen Ambitionen und der Umgänglichkeit, trotz wie sie sich gab, eine gewisse, professionelle Distanz gewahrt. Sie war zweifellos froh darüber gewesen, Arthur wiederzusehen – aber hatte das nie zum Ausdruck gebracht. Sie war zweifellos verletzt über seinen Tod gewesen – aber hatte das nie zum Ausdruck gebracht.

Ob sie wirklich darunter litt oder es ihre freie Entscheidung war, wusste Arien nicht zu sagen. Ein Teil von ihr sah sich selbst ein Stück weit in der Älteren und hätte ihr helfen wollen, aber wie? Und letztlich war das nicht ihr Leben. Sedhwen hatte ihre Entscheidung getroffen und ließ sich nicht hineinreden. Vielleicht war das auch das Schicksal der Langlebigen? Vielleicht hätte es ihr ebenso ergehen können? Stumpfte man wirklich ab, wenn man eine Liebe nach der anderen altern, siechen und sterben sah? Wurden die Gefühle, allesamt, rundherum stumpfer und flacher? Nutzten sie sich ab? Gab es Gewöhnungserscheinungen? Irgendwann würde sie sich diese Fragen vielleicht von neuem stellen und für sich Antworten finden müssen. Schließlich stand auch ihr jetzt die Ewigkeit offen. Dann wiederum hieß das wohl, dass sie beide – solange keine Unglücke geschahen – einander möglicherweise wieder begegnen würden. Wenn man nur genug Zeit hatte, so hatte Sedhwen einmal gesagt, dann fühlte sich selbst die Welt wie ein Dorf an und man begegnete an jeder noch so unwahrscheinlichen Ecke bekannten Gesichtern.

Im Moment konnte sie sich das nicht vorstellen. Wie es sein würde, irgendwann in ein-, zwei- oder dreitausend Jahren. Wenn sie dieses seltsame, eigentümliche Gefühl von Vertrautheit mit einem Großteil der gesamten Welt haben würde. Sollte es denn je soweit kommen.

Vielleicht würde sie Sedhwen bei ihrer nächsten Begegnung fragen. Ob sie gute Ratschläge hatte, wie sich damit umgehen ließ. Immerhin war sie irgendwo dort draußen. Ihr Vertrag mit den Meistern erfüllt, hatte man sie mit einer dicken Abfindung vorzeitig aus ihren Diensten entlassen. In den letzten Monaten hatte es, allem zum Trotz, nichts mehr gegeben, dass ihre Söldner hätten ausrichten können. Selbst Sedhwens Fähigkeiten unterlagen dem Kaliber dessen, gegen was sie angegangen waren. Bei weitem. Obwohl sich nicht bestreiten ließ, das sie – sie alle – an dieser Aufgabe und ihren Herausforderungen gewachsen waren.

Irgendwo dort draußen. Genau wie Parcivall. Nur weniger Sorgen provozierend. Irgendwo dort draußen war Sedhwen, nahm Münzen entgegen, um das Richtige zu tun. Sie hatte einen moralischen Kompass. Sie gab sich rüde, rau, gewissenlos. Musste sie unweigerlich, besah man sich, wen sie unter ihre Fittiche nahm. Ein Gewissen war ein Zeichen von Schwäche, das von solchen Subjekten rasch ausgenutzt wurde. Aber Sedhwen nahm nicht jeden Auftrag an, längst nicht. Sie besah sich gut und gründlich, wo sie ihre Leute involvierte, wann und wie sie es tat. Irgendwo dort draußen war sie und söldnerte durch die Gegend. Veränderte den Verlauf der Geschichte im kleinen Rahmen. Einem für die angenehmen, überschaubaren Rahmen.

Abermals seufzend riss Arien schließlich ihren Blick von der Stalltür los. Dahinter lagen nun diverse ungenutzte Räume. Leerstehend. Generell fühlte sich die Nadel plötzlich… sehr  viel größer an. Sehr viel leerer. Es war noch immer ihr Zuhause, ihr Heim. Und noch immer gab es hier genug Leben, um es angenehm und warm zu gestalten, um sich nicht einsam und verlassen zu fühlen, doch… heute hatten sie es vollbracht. Heute hatten sie den König der Untoten besiegt. Sie hatte feiern wollen. Mit allen zusammen. Wirklich allen, die ihnen auf dem Weg zu diesem Tag und diesem Ergebnis geholfen hatten.

Stattdessen wanderte sie allein durch die Gänge der Nadel und sinnierte über verlassene Räume, leerstehende Betten und verwaiste Arbeitsflächen. Dennoch war es wichtig. Es war wichtig, sich zu erinnern. Ihnen diese paar Minuten zu schenken, jedem von ihnen.

Im Teleporterraum angelangt, sah sie zu ihrer Rechten. Sah den Gang, der vor der Tür zur Schmiede abzweigte. Sah die schwachen Lichtreflektionen, die hübsche Muster werfend die Wände leicht erleuchteten. Die Reflektionen stammten von jenem schwach schimmernden Kristall, aus dem die Feuervögel einst ihre Nester gebaut hatten.

Feuervögel. Das war schon seltsam.

Statt wie angedacht in den Teleporter zu gehen, wandte sie sich ab, trat zum Eingang herüber. Besah die hübschen Nester. Vielleicht würde sie aufräumen. Den Kristall abbauen. Möglicherweise konnte man ihn in etwas Nützlichem verbauen. Oder… sie könnte kleine Anhänger daraus schleifen, Erinnerungsstücke. Und jedem einen davon zukommen lassen.

Entstanden aus Tauben. Es war absurd. Riks Tauben, dann plötzlich Pflanzentauben, grünlich schimmernd, mit Wurzeln statt Klauen und dünnen Blättern statt Federn. Plötzlich größer und rot und brennend – und intelligenter. So viel intelligenter. Genug, um reden und zaubern zu können.

Der Nadelfluch war eine seltsame Sache. Er hatte ihnen drei Stufen der Transformation erlaubt. Dreimal hatten sie sich verändern können. Weiterentwickeln können. Doch letztlich widersprach das, was mit ihnen geschehen war, dem natürlichen Lauf der Dinge. Tauben wurden nicht einfach halb Gemüse. Gemüsetauben wurden nicht einfach so Feuervögel. Das waren fundamentale Veränderungen ihrer gesamten Natur. Ihres Körpers, Geistes, ihrer Fähigkeiten, vermutlich sogar ihrer Seelen. Eine derartig tiefgreifende Veränderung war beeindruckend – und furchteinflößend.

Allem voran hatte es ihnen jedoch die Fähigkeit genommen, sich auf normalem Weg zu reproduzieren. Und ihre Instinkte waren noch immer da, waren nicht mit verändert, an die Situation angepasst worden. Sie konnten sich nicht weiterentwickeln. Nicht, ohne auf den Nadelfluch zurückzugreifen. Ihn aktiv zu nutzen. Ihre eigenen Essenzen damit gezielt zu manipulieren – und das jedes Mal aufs Neue, ohne recht zu wissen, was dabei herauskommen würde. Die Tauben hatten das unbewusst getan. Die Pflanzentauben hatten es ebenfalls auf Basis von Instinkt und Intuition getan. Die Feuervögel waren immerhin intelligent genug gewesen, es zu spüren, aber vor jeglicher Aktion gut zu durchdenken, zu prüfen, zu erforschen. Mit wenigen Ergebnissen zwar, aber sie hatten weit mehr Kontrolle gehabt. Hatten sich dafür und dagegen entscheiden können, zumindest in der Theorie.

Die Praxis sah natürlich anders aus. Der Drang zur Veränderung, zur Weiterentwicklung, lebte in jedem Wesen. Selbst in Maschinen, wie Artemis und seine Schöpfungen bewiesen. Also hatten die Feuervögel diesen einen, letzten Schritt unternommen.

Muradin und Arithrea waren ihnen lange Zeit gute und treue Verbündete gewesen. Ein wenig ängstlich vielleicht, gerade in Hinsicht auf ihre Vorgänger. Aber konnte man ihnen das wirklich verdenken? Sie waren jung, klein, unerfahren – und allem voran hatten sie das Wissen nicht nur darüber, was ihren Vorgängern gefehlt hatte… sondern auch darüber, dass sie selbst fähig waren, sich fortzupflanzen. Eine unerwartete Entwicklung. Ein Geschenk, eine seltene Gabe – für die vier Feuervögel ihr ganzes Sein geopfert hatten. Dieses Geschenk galt es sorgfältig zu bewahren, zu hüten und zu schützen.

Und nun waren sie fort. Wie so manch anderer. Sie hatten sich auf die Suche nach einem Nistplatz begeben. Weit abgelegen, schwer zu erreichen, gut zu schützen. Sie waren, wie auch Parcivall, Sedhwen, Brutus… nicht aus der Welt. Vermutlich nicht. Aber auch sie waren fort, zumindest aus der Nadel. Arien wünschte ihnen insgeheim alles Gute. Wünschte ihnen Erfolg. Und wünschte, sie irgendwann wiedersehen zu können. Wie sie es bei so vielen tat, die nun von ihrer Seite gewichen waren.

Es fühlte sich trotz allem nicht an, als sei ihre Familie zerbrochen. Oder als hätte man sie im Stich gelassen, sie zurückgelassen. Sie waren alle noch immer da. Dort draußen irgendwo und nicht in erreichbarer Nähe. Aber würde sie wirklich wollen? Würde sie um ihre Hilfe rufen? Es gab Magie, um sie zu erreichen. Irgendwie ginge das. Und sie würden vermutlich alles stehen und liegen lassen. Sie würden ihrem Ruf folgen, allesamt. Und sich wieder hier zusammenfinden.

Es war ein merkwürdiges Gefühl. Das zu wissen. So viel Vertrauen darin zu haben. Sie konnte rufen und ihre Familie käme aus allen Winkeln der Welt, dieser Welt und anderer, wieder zusammen. Es zauberte ihr ein schwaches Lächeln auf die Lippen.

Auch an der Schmiede hielt sie kurz inne. Sie trat nicht ein, zog lediglich die Tür auf und lehnte sich gegen das kühle Holz. Der Raum wirkte… seltsam. Seltsam anders. Er war wärmer als früher, was zweifellos an der Lavagrube lag. Die mächtige Schmiede der Wahrheit, die Sszerin unzählige Male fast das Leben gekostet, seine Energie abgesaugt hatte… war fort. Weitergesprungen. Durch Zeiten, Welten, Ebenen. Vielleicht diente sie irgendwo anders jetzt irgendeinem jungen Abenteurer dazu, in seiner Welt und seiner Zeit Großes zu leisten. Vielleicht verhalf sie irgendeinem Schmied dazu, Wunder zu vollbringen. Oder sie tötete willenlos und geistlos irgendeinen einfältigen Narren, der glaubte, sie einfach so benutzen zu können.

Doch das Bild der Schmiede hatte sich eingeprägt. Die flachen, breiten Stufen, die zu einem großen, flachen Amboss heraufführten. Fast genug, dass man es einen Altar nennen wollte. Einen Altar für das Schmiedehandwerk. Für die Götter, die in Esse, Hammerschlag und Erz wohnten. Irgendwo gab es solche bestimmt. Und natürlich der stetig rotierende, Blitze schleudernde und vor Funken zuckende Ball purer magischer Energie, der kaum zwei Meter über dem Altar schwebte. Es hatte sich eingeprägt. Die Schmiede hatte hierher gehört. Und nun war sie fort – denn wie Mikael so schön gesagt hatte: Er band sie hier, für diesen einen Zweck: Den Meistern der Nadel bei ihrer Aufgabe zu helfen.

Ein Weißdrache. Er hatte alt und mächtig gewirkt. Ob er das wirklich gewesen war? Falls ja, dann war es umso bedenklicher, wie sehr es ihn erschöpft zu haben schien, die Schmiede so lange hier festzuhalten und vom nächsten Sprung abzuhalten. Nun aber war die Aufgabe erfüllt. Und die Schmiede weitergewandert.

Die Aufgabe der Meister der Nadel war erfüllt.

Der Satz klang noch immer seltsam, sandte jedoch weiterhin kleine Spitzen an Aufregung, Gänsehaut und Adrenalin durch ihren gebeutelten Körper. Dieser Raum war Sszerins Bereich gewesen. Seine Zuständigkeit. Sein kleines Reich, in dem er sich austoben konnte. Und später auch der Raum geworden, in den er sich zurückgezogen hatte, um Isimalaye zu belehren. Mit ihr zu reden. Zu lernen und zu lehren. Er hatte geschmiedet. Hammerschlag auf Hammerschlag. Manchmal am Amboss, manchmal unter der Blitzkugel. Und sie, sie hatte einen gewaltigen Stapel Bücher gehabt und vorgelesen. Sie hatten einander Fragen gestellt. Hatten einander die Welt zu erklären versucht. Das Unverständnis des anderen gelüftet – oder es geteilt.

Sszerin hatte sie lange aufgeregt. Hatte es bis zum Ende immer wieder vermocht. Seine Wechselhaftigkeit war nervenaufreibend gewesen. Aber sie konnte sich auch des Gedankens nicht erwehren, dass er und Issi ein lustiges und bemerkenswert gut passendes Paar abgaben. Konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass ein paar der Wandlungen, die er durchgemacht hatte, ihr zuzuschreiben waren. Dass die beiden einander gut getan hatten.

Und vermutlich noch immer taten.

Sie hatten diese Drow ins Land gebracht, damit diese für sie kämpften. Es war ein simpler Handel gewesen, aber mit weitreichenden Konsequenzen. Damals hatte jeder zugestimmt – und die meisten von ihnen einfach nur aus der Panik heraus. Mehr Kampfkraft war gut, nicht wahr? Und wenn die Drow sich die Hände schmutzig machten, mussten das ein paar ihrer Verbündeten ja vielleicht nicht, richtig?

Letztlich hatten alle mit anpacken müssen. Und viele bereuten ihre eilfertige Zustimmung, als der Rauch sich verzog und die Drow noch immer da waren. Manche strebten danach, sie auf legalem Weg wieder hinauszuwerfen. Andere zettelten weniger legale Revolten und Überfälle an. Aber Drow waren Feindseligkeit gewohnt. Und das bisschen, das ein paar aufmüpfige Adlige anstellen konnten? Das verblasste doch sehr im Vergleich zu den Ausmaßen an Widerstand, mit denen die Drow umzugehen gewohnt waren. Das hieß natürlich nicht, dass es schön oder einfach war. Die nächsten Jahre würden schwierig werden. Für alle Beteiligten.

Aber mit Sszerin und Issi hatten sie gute Verstärkung. Hatten eine beeindruckende Armee hinter sich stehen, die – notfalls – auch den ganzen Kontinent nach und nach würde überrennen können. Die Ordnung mit Zwang aufrechterhalten könnte.

Früher hätte es ihr arge Bauchschmerzen verursacht, zu wissen, dass sie Sszerin irgendwo dort draußen mit solch enormer Macht allein herumlaufen und Entscheidungen treffen ließ. Aber das war es ja eben, nicht wahr? Er war nicht allein. Er stand nicht allein für diese Entscheidungen ein. Er hatte ein Volk, um das er sich kümmern musste. Eine Frau, die ihm zuredete und ihn lenkte. Und eine Tochter, um deren Schicksal er sich vielleicht nicht fürchtete, aber für die er sich dennoch ein gutes Umfeld wünschte.

Und nicht zuletzt: Wer immer den Drow Probleme bereiten wollte, musste auch erstmal durch den Torwald kommen. Nicht, das der noch immer so tödlich und furchteinflößend wie früher war, doch nach allen Geschehnissen und Veränderungen hatte er doch deutlich an Bedrohlichkeit eingebüßt. Nicht zuletzt war das den Drow zu verdanken, die all die Verseuchungen stoppten, all die Monster jagten und das Gewebe stabilisierten. Irgendwann würde man ihre Rolle darin sicherlich anerkennen können. Irgendwann würde man sie akzeptieren. Es brauchte nur… Zeit.

Eine Weile hatte sie vermutet, dass Natalia sich dem Kampf der Drow im Torwald anschließen würde. Es wäre naheliegend gewesen. Sie kannte den Wald bemerkenswert gut, wusste um viele seiner Gefahren und Geschöpfe. Aber sie hatte Wort gehalten. Irgendwann, mitten im Krieg der Nationen gegeneinander, hatte sie plötzlich diese seltsame Fähigkeit entdeckt, mit nicht mehr als ein paar Gedankengängen in andere Existenzebenen zu wechseln. Es hatte ihr einen gehörigen Schock verpasst, plötzlich aus der Ebene der Luft zurückzukehren – aus einem endlosen Freifall durch bunte Wolken und Nebel. Doch die Entdeckung dieser Fähigkeit eröffnete ihr ganz neue Möglichkeiten. Sie experimentierte – unter sicheren Bedingungen natürlich. Und mit allem, was sie letztlich über Natalias Herkunft hatten erfahren können?

Arien konnte ihr nicht vorwerfen, dass sie mehr hatte wissen wollen. Dass sie ihren Ursprüngen hatte nachspüren, vielleicht sogar ihre Eltern oder überhaupt irgendeine Familie hatte finden wollen. Angekündigt hatte sie das damals. Es schien Jahre her. Vielleicht war es das auch.

Der Abschied war merkwürdig gewesen. Schwer und gedrückt und dennoch mit einem Lächeln und Glückwünschen. Natalia jagte ihre Vergangenheit. Und, so vermutete Arien, ein Stück weit sicherlich auch ihre Bestimmung. Einen Sinn für ihr Leben. Vielleicht würde sie irgendwann etwas finden. Sie schien jedoch wie ein normaler Mensch zu leben und zu altern. Es war… ungewiss, ob sie sie noch einmal wiedersehen würde. Oder alterte man in anderen Ebenen anders? Vielleicht sollte sie sich darüber belesen. Sie hatte die schüchterne Fremde aus dem Torwald mit ihrer wilden Seite durchaus gemocht. Ihre Bodenständigkeit erinnerte zeitweise an Arthur, was stets ein bittersüßes Lächeln wert war, und ihre Begeisterungsfähigkeit für Geschichten und Märchen aller Art brachte in Arien stets die Sehnsucht und das Fernweh ihres sehr viel jüngeren Selbst zutage.

Sie wünschte sich, sie würden einander wiedersehen. Irgendwann. Mit etwas Glück, wenn Natalia gefunden hatte, was immer sie suchte.

Langsam schloss Arien die Tür zur Schmiede wieder. Wer wusste schon, wann die sich wieder für irgendwen öffnen würde – vielleicht sollte sie sie erst einmal abschließen. Doch der Versuch, den Schlüssel im Schloss zu drehen fühlte sich… falsch an. Traf auf Widerstand. Also beließ sie die Dinge, wie sie waren, wandte sich um und nutzte den Teleporter, um höher zu kommen. Lady Rasska war noch immer im Schrein von Eumenes. Ab und an hatten sie Kontakt mit ihr. Nun, da es sich nicht mehr wirklich um das Heiligtum einer Göttin handelte, fragte sich Arien unweigerlich, was die frisch in ihren Stand zurückgekehrte Priesterin nun wohl machen würde. Sie hatte die Befähigung, zu führen. Würde sie eine Adlige werden? Würde sie die Kontrolle über die Naga an sich reißen?

Es gäbe vermutlich schlimmere Kandidaten, die sich siegreich aus dem herrschenden Chaos würden hervortun können. Rasska, obgleich voller Hass auf die Oberflächler, war doch glücklicherweise besonnen und vernünftig. Für eine Naga. Allemal genug, um mit ihr reden und verhandeln zu können, solange man sich dabei nicht allzu… dumm anstellte. Oder Steine nach ihren Lieblingshaustieren warf.

Im ersten Stock angelangt, fiel es Arien einmal mehr schwer, sich vom Fleck zu rühren. Zunächst hing ihr Blick einfach nur an der Tür zum Alchemielabor und sie musste sich insgeheim fragen, wie es Elesil wohl erging. Eine verantwortungsbewusste Frau wie sie… etabliert im Hochadel Symmarions… das konnte eigentlich nur zu zahllosen Katastrophen führen, nicht wahr? Aber Arien kannte die Elbe gut genug, um zu wissen, dass sie die wirklich ernsten Dinge auch entsprechend anpackte. Vielleicht nach außen hin mit einer deutlich zu amüsierten Fassade, vielleicht mit zu vielen frechen Sprüchen auf den Lippen und einigen unkonventionellen Vorgehensweisen, doch… Elesil war da, wenn man sie brauchte.

Und Symmarion brauchte  eine starke Führung. Der Rat der Häuser würde einer Elbe vermutlich weniger Glauben und Gehör schenken wollen, aber das war der Vorteil einer Heirat: Man stand nicht allein.

Abseits aller Politik jedoch – die sich nach Ariens Empfinden inzwischen viel zu schwer aus allem heraushalten ließ -, fragte sie sich überdies mehr noch, ob die Elbe glücklich war. Sie hatte bis über beide Ohren verliebt gewirkt, sicherlich. Aber ein derartiger… nun ja, Spontanentschluss? Und nichts anderes war es gewesen. Konnte sie wirklich damit glücklich werden, wechsel- und flatterhaft wie sie war? Dann wiederum hatte Elesil vielleicht einfach ein ganz ähnliches Problem wie Sedhwen: Ihr stand die Ewigkeit offen und das Leben eines Menschen war in elbischen Augen letztlich… irgendwann nur noch ein Wimpernschlag.

Eine deprimierende Vorstellung.

Sie bezweifelte, dass Elesil es so sah. In der Endlichkeit lag auch Drängen. Nach Bewegung, nach Taten, nach Veränderung. Etwas, das sie wiederum immer fasziniert hatte. Dass sie fördern, begleiten, beobachten wollte. Und mit dem Wandel, der sich vollzogen hatte, war sie nun mittendrin. Konnte ihren Teil dazu beitragen. Konnte sich im Chaos sonnen und gleichzeitig, auf ihre eigene, nicht minder chaotische Weise, etwas zu einer neuen, besseren Ordnung beitragen. Einer friedlicheren Ordnung. Für einen stabileren, friedlicheren Kontinent.

Es war so merkwürdig, von Elesil als Politikerin zu denken. Aber vielleicht täte der frische Wind dem symmarischen Adel auch ganz gut. Entweder das oder Glitzer involvierende Streiche. Verdient hatte die Oberschicht wohl letztlich beides.

Nein, was ihr diesmal Bauchschmerzen bereitete, war der Blick nach links. Zur Tür des Tempels. Der Gedanke an die Statuen dahinter. Der Gedanke daran, dass mit dem Teleporter ganz nach oben zu fahren sie nicht länger in irgendeine Götterebene bringen würde, sondern sie vielmehr im Trainingsraum oder Schwimmbad landen würde.

Parcivall, Sedhwen, Natalia, Muradin, Arithrea, Rik, Sszerin, Issi, Elesil… sie alle waren dort draußen, irgendwie, irgendwo.

Hans nicht. Nicht mehr.

Sie fühlte sich noch immer wie betäubt davon. Sie hatten gewonnen. Sie hatten König Xarak besiegt, den König der Untoten, die Plage der Welt, Feind allen Lebens. Sie hatten gewonnen, verdammt! Es war nicht fair. Einfach nicht fair.

Tränen perlten über ihre Wangen herab. Lautlos, unbemerkt. Sammelten sich an ihrem Kinn und tropften auf die kalten, gleichgültigen Steinplatten, wo sie in dutzende kleinere Fragmente ihrer selbst zersprangen. Sie hatte ihren Großvater lieben gelernt. Zerstreut und ungeschickt wie er war. Er war immer für sie da gewesen, selbst wenn er nicht gewusst hatte, was er tun oder sagen sollte. Selbst wenn seine tollpatschigen Bemühungen alles noch schlimmer gemacht hatten: Er war da gewesen und er hatte sich bemüht.

Und jetzt?

Die Götter waren fort. Schwiegen. Die göttliche Magie war versiegt. Paladine und Kleriker auf der ganzen Welt griffen in ihrem Bestreben, dem Bösen und Ungerechten zu begegnen ins Leere. Aber ebenso erging es all denen, die ihre Macht missbrauchten. Wenn der Welt klar werden würde, wenn sie davon hörte, dass in Arvum eine kleine Schar von Helden den König der Untoten besiegt hatte… wenn man in allen Winkeln der Welt von den Meistern der Nadel sprechen würde… würden sie dann auch vom Verschwinden der Götter sprechen? Würden sie das gleichsetzen? Es ihnen anlasten wollen?

Es fühlte sich wie Verrat an. Hans hatte sie verraten. Er sollte hier sein. Er hatte verdammt nochmal hier zu sein! Um mit ihnen zu feiern, denn sie hatten gewonnen… sie hatten  gewonnen, oder nicht?!

Aber die Götter schwiegen. Und so tat es auch er.

Eine kleine Ewigkeit stand sie dort. Brannte mit ihren Blicken Löcher in die Türen – nicht wortwörtlich jedoch, obwohl sie das durchaus gekonnt hätte -, als könne sie dahinter die Statue sehen, die Möbius, den Gott der Zeit repräsentierte. Als könne sie ihn anklagen, wortlos, mit all ihrem Schmerz und Kummer und ihrer Enttäuschung, ihrem Zorn und Unglauben. Viele waren gegangen. Viele hatten nun neue Ziele und Verantwortungen, andere Aufgaben.

Aber keiner, so schien es, hatte sie so endgültig verlassen wie Hans, ihr Großvater. Alles, was ihr blieb, war die Hoffnung. Ein winziger  Funke, einem feinen, kleinen, zerbrechlichen Samen gleich, der in einem einzigen Gedanken überlebte und darauf wartete, das die Umstände gut lagen und er erblühen können würde:

Die Zeitlinie. Sie konnte noch immer nicht behaupten, völlig zu begreifen, wie genau Zeit funktionierte. Aber Vetus war hier. Und Vetus war von Hans geschaffen worden. Wenn Hans weg war… wirklich, richtig weg war… dann gäbe es auch keinen Hans in der Zukunft, der Vetus den Zeitdrachen erschaffen könnte. Dann hätte kein uralter Vetus in die Vergangenheit reisen, die Nadel errichten, als Abenteurer herumziehen und sich irgendwann in ihre Mutter verlieben und sie schwängern können. Dann hätte kein Vetus sie in die Nadel holen, mit ihr auf Abenteuer gehen und ihr die Welt zeigen können.

All das hier gab es nur, weil es Hans gab. Noch immer gab. Einfach noch immer geben musste, denn sonst machte das alles überhaupt keinen Sinn mehr. Hans war noch da. Da draußen, irgendwie, irgendwo. Irgendwann vielleicht. Und sie, sie war nun alterlos, nicht wahr? Sie würde ihn wiedersehen.

 

Und bei allem, was da heilig war: Würde der sich was anhören können für das, was er heute getan hatte!

 

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit riss sie sich aus ihren Gedanken. Der grenzenlose Ozean ihres Kummers über den Verlust hatte sich in Zorn verwandelt und der sich schließlich in Entschlossenheit. Alle waren oft genug für sie da gewesen und wie Arthur früher immer so schön gesagt hatte: Manchmal waren ein paar hinter die Löffel das Beste, was man jemandem tun konnte, besser als Rat und Trost. Sie gedachte für Hans da zu sein. So sehr, dass ihm die Ohren davon klingeln würden!

Geradezu trotzig aufstampfend wandte sie sich ab und trat den Korridor zum Gasthaus herab, Hans‘ Zimmer mit vernichtender Missachtung strafend.

Doch auch das Gasthaus bot einen eher… ernüchternden Anblick. Die Tische standen säuberlich an der Tafel, alles war geputzt, alles war ordentlich. Aber alles war verkehrt. Fühlte sich falsch an. Da stand kein Peter mehr hinter der großen Bar und putzte mit dem immer gleichen, schmutzigen Tuch den immer gleichen, sauberen Becher.

Nein, Peter war zurück bei den Sidhe. Genau genommen, trat er nun vor den Hof der Seelie. Den Hof der lichten Feen. Um sich für seine Taten zu verantworten. Um neu verhandeln zu lassen. Nachdem Lisa ihre Einschätzung und ihre Empfehlung gegeben hatte. Der Gedanke an die ehemalige Köchin ließ sie abermals bittersüß lächeln. Eine Sidhe. Eine so mächtige Sidhe wie eine Muse, eine waschechte Fee… und sie hatten sie als Köchin engagiert.

Nun ja, genau genommen hatte sie sich selbst eingestellt – und wer wollte schon einer Fee widersprechen?

Doch auch von ihr fehlte nun jede Spur. Und anders als bei den meisten anderen wäre es nicht so einfach, Lisa zu kontaktieren. Oder Vasilla – die sie begleitet hatte. Sie konnte es den beiden natürlich nicht verübeln, wie auch. Nicht nur hatte Lisa ihre Unterstützung in dieser Angelegenheit zugesichert und diese Zusicherung auch erneuert, als klar wurde, dass es ihre Hilfe nicht einmal zwingend benötigte – sie hatte überdies viel beigetragen, um ihrer aller Erfolg zu gewährleisten. Man mochte das häufig gut und leicht unterschätzen, aber in unzähligen Werken über Kriegsstrategie und Kampftaktik gab es nicht grundlos immer wieder Absätze und ganze Kapitel, die sich damit befassten, herauszustellen, wie enorm kritisch ein gut und solide gefüllter Magen für Kämpfer war.

Lisas Mahlzeiten mochten sie alle – mit Ausnahme Natalias vielleicht – ein Stück weit verdorben haben. Es war schwer, dieser Tage in einem Edelhaus exotisch speisen zu gehen und die Gerichte als exquisit und überragend zu betiteln, wenn sie doch qualitativ nicht ansatzweise an Lisas belegte Brote herankamen.

Doch nicht nur die Güte des Essens hatte die Fee beigesteuert. Viel wichtiger war wohl die Regelmäßigkeit, die sie zu etablieren versucht hatte. Es gab Frühstückszeiten, es gab Abendbrotszeiten und auch wenn sich das Mittagessen nie so ganz hatte etablieren können, hatte sie doch auch unablässig und tapfer um dessen Existenzrecht gekämpft. Und die Leute kamen zusammen. Wer etwas Süßes essen wollte? Der musste seinen Hintern zum Frühstück aus dem Bett bewegen, denn mittags gab es in der Regel warm und herzhaft. Wer Frühstück und Abendessen verpasste, musste normalerweise mit dem Leben, was eben zum Abendbrot auf den Tisch kam.

Es hatte Struktur in den Alltag der Nadel und damit die Leben aller gebracht. Etwas, das vielleicht ebenso fundamental und wertvoll gewesen war wie Arthurs Couch, auf der sich jeder früher oder später mindestens einmal hatte trösten, beraten oder zusammenstauchen lassen.

Und Vasilla, nun… sie war Bardin. Sie hatte Zeit ihres Lebens, oder eher Unlebens, nicht vermocht, sich völlig an alles zu erinnern. Brocken ihrer Vergangenheit waren hier und da wieder aufgetaucht, doch essentielle Teile der Geschichte fehlten bis zuletzt. Arien kannte diese Teile. Zusammen mit Rik und Sszerin hatte sie sie erforscht, in Erfahrung gebracht – und sie hatten entschieden, dass sie für Vasilla nicht wichtig waren. Keineswegs leichtfertig natürlich, doch die Bardin wirkte sehr viel glücklicher und zufriedener mit dem Leben, das sie nun hatte und keiner wollte herausfinden, was die Wahrheit ihr antun würde.

Dabei war es ein Segen gewesen – gewissermaßen –, dass sich die Notwendigkeit ergeben hatte, Vasilla in einen Zustand zu versetzen, der ihr erlaubte, die Nadel zu verlassen. So hatte Lisa herausfinden können, dass es durchaus möglich war. Und nun? Vasilla war Bardin. Mit Leib und Seele… oder… eben nur Seele. Sie liebte Geschichten. Sie lebte für Geschichten, sozusagen. Und wo gab es größere, bessere, epischere Geschichten als im Feenreich selbst?

Keinem Sterblichen oder gewöhnlichen Menschen hätte man je erlaubt, dorthin einzukehren. Aber Vasilla war nicht gewöhnlich. Sie war kein Mensch mehr. Und mit dem plötzlich erreichbaren, plötzlich greifbaren Untergang des Königs aller Untoten? Es war nicht sicher gewesen, was das mit den Untoten auf der Welt anstellen würde. Was es mit den Geistern anstellen würde. Wie es Vasilla beträfe. Und keiner hatte ein Risiko eingehen wollen. Man setzte das Leben seiner Verbündeten und… seiner Freunde erst recht nicht… leichtfertig aufs Spiel.

Also hatte Lisa ihre Geliebte aufgeladen. Mit all ihrer Kraft und nur wenig für sich selbst behalten. Ein Schutzschild purer, sichtbarer, wirbelnder arkaner Energien. Und Hand in Hand waren sie gegangen. Hatten bei der Evakuierung der Nadel geholfen, ehe sie selbst abzogen. Die Stücke hübsch an die Tafel rückten, ein letztes Mal den Staubwedel schwangen, die letzten Weinflaschen und Bierkrüge an ihren Platz sortierten und die letzten, frisch gespülten Töpfe wieder wegstellten.

Abermals seufzend, aber ebenso lächelnd, schloss Arien die Türen zum Gasthaus wieder hinter sich. Die Zimmerebenen und die Bibliothek ignorierend, fuhr sie mit dem Teleporter ganz nach oben. Der Trainingsraum verwaist, der Spiegel im Stillen Raum abgehängt, das Schwimmbad leer. Sie hörte Vetus in seiner Kiste schnarchen, gluckste einen Moment fasziniert vom Schauspiel des gelegentlich in zweifellos wilden und aufregenden Träumen zuckenden Flügels, der über den Kistenrand hinaushing, und trat dann durch die gewaltigen Tore auf seinen Balkon hinaus. Sie wollte noch nicht in ihr Zimmer zurückkehren. Wollte noch nicht Thalion, Indo und Faire wecken.

Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie Artemis am Rand des Balkons stehend. Ein breites Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie mit hastigen Sätzen auf ihn zuhielt. Er drehte sich gerade rechtzeitig um, um sie aufzufangen, als sie ihn ansprang. Aufgeregt und hastig, als würde mit jedem Wort ein Stein von ihren Schultern gehoben, begann sie die Geschehnisse des Tages wiederzugeben. Sie plapperte, so kam es ihr vor. Plapperte und plapperte und plapperte.

Eine Stunde vielleicht? Zwei? Es fühlte sich an, als würde sie kaum Luft holen. Und als sie fertig war, schloss er sie in die Arme und gab ihr einen langen, innigen Kuss. Es reichte. Für den Moment reichte es. Sie würden reden und sie würden feiern und sie würden noch ganz viele andere Dinge tun. Aber für den Augenblick… war das hier genug.

Sie setzten sich an den Rand der Grünanlage. Ihre Hand ruhte in seiner. Und sie sahen der Sonne dabei zu, wie sie den Himmel in prächtige Farben tauchte. Es war ein beeindruckendes, bezaubernd schönes Spektakel. Der erste Abend, an dem die Welt nicht von Untoten oder ihren Plänen bedroht wurde. Ein seltsam befriedigender Gedanke. Und sie, sie hatte es vollbracht. Hatten. Sie alle hatten das.

„Was wird jetzt passieren?“, wagte sie langsam die Stimmung anzurühren, als die Sonne verschwunden war und das Licht allmählich schwand.

„Egal was kommt: Wir bleiben zusammen. Und stellen uns dem gemeinsam.“ Seine Antwort war simpel und so kurz. Und er wirkte… aufrichtig entschlossen. Es gefiel ihr. Ja, da fehlten Details. So endlos viele Details. Gab es Pläne für die Zukunft? Welche Aufgabe hatten sie nun? Selbst ohne die Götterebene, ohne den Schutzschild um die Nadel, war die Nadel noch immer ein mächtiges Instrument, das nun führerlos in ihren Händen lag. Es wäre fahrlässig, sie hier einfach unbedacht und unbewacht stehen zu lassen. Aber wenn sie hier blieben… dann war es auch ebenso verantwortungslos, diese Macht nicht zu etwas Gutem zu nutzen, oder? Nur was… was konnte man damit anstellen…?

Vielleicht sollte sie darüber schlafen. Erst einmal die Ereignisse des Tages sinken lassen. Den Schock verdauen, die Euphorie abklingen und das Adrenalin verschwinden lassen.

Leise Schritte im Gras ließen sie aufmerken. Sie wandte den Kopf nicht um. Die kurze Schrittfolge ließ bei der stark reduzierten Anzahl der Nadelbewohner ohnehin nur einen zu, der das sein konnte. „Guten Abend, Eresthenes.“

„N’abend“, wünschte der knapp zurück, als er sich gut einen Meter abseits von ihnen hinstellte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und zumindest einen Moment lang demonstrativ dem Sonnenuntergang nachspähend.

„Bist du sicher, dass das Restlicht nicht zu viel für deine Augen ist? Oder die frische Luft nicht giftig sein könnte?“, scherzte sie grinsend. Der Gnom hingegen hob leicht eine Braue.

„Als würde ich unvorbereitet rauskommen.“ Natürlich. Aber natürlich war er vorbereitet. Denn die Luft könnte ja giftig sein, nicht wahr? Kurz und leise auflachend schüttelte sie den Kopf.

„Was treibt dich dann also in die Gefahrenzone?“, erkundigte sie sich lächelnd und leicht errötend, während Artemis die Gelegenheit ihrer kurzen Unaufmerksamkeit direkt ausnutzte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte – und den Hals, und die Halsbeuge…

„Du hast dich gut geschlagen. Die Untoten sind besiegt. Xarak gestürzt und vernichtet. Beeindruckend.“ Sie nickte leicht. Schon, nur…? „Ich denke, es wird Zeit für ein neues Projekt. Die Götter sind weg. Aber die Nadel ist es nicht – und du bist es auch nicht. Generell sind noch ein paar von uns hier.“ Erneut nickte sie vage, auch wenn sie nicht allzu dankbar für die Erinnerung an Hans und den Rest war. Sie war bereits dabei, ihn mit seiner euphorischen Werberede auf morgen vertagen zu wollen, doch offenbar hatte er ihr Nicken bemerkt und sprach direkt weiter. „Es werden neue kommen. Sie werden verwirrt sein. Wütend. Verzweifelt. Sie werden Angst haben oder Fragen haben. Neue Verbündete, neue Freunde. Irgendwann vielleicht auch neue Feinde, wird man sehen. Große Visionen haben immer große Feinde.“

Der Gedanke, neue Leute in die Nadel zu lassen, neue Freundschaften zu schließen, neue Allianzen zu schließen… neue Lisas und Vasillas, neue Arthurs und Parcivalls… wollte sie das wirklich? Zumindest hier und jetzt kam ihr das deutlich zu schnell vor. Sie hatten heute erst gewonnen! Konnte sie nicht… wenigstens ein paar Tage ausruhen? Vielleicht ein paar Wochen Urlaub machen…? Seufzend raffte sie sich ein Stück. Sie wollte nicht unhöflich sein – also würde sie ihn zumindest ausreden lassen und dann genau das anmerken und um genau das bitten. Nach allem, was sie getan und erreicht hatten, so befand sie, hatte sie sich ein klein wenig Urlaub tatsächlich verdient. „Ich weiß nicht recht. Möglich, ja. Nur… worauf willst du hinaus?“

Da war plötzlich ein seltsames Funkeln in Eresthenes‘ Augen. Eines, das sie noch nicht kannte. Generell schien sich seine ganze Haltung plötzlich ein wenig zu verändern. Er war aufrechter. Weniger scheu und ausweichend und geduckt als sonst. Straffte die Schultern etwas. Der Blick bekam etwas fast schon Nobles… „Ich schlage vor, dass wir uns daran machen, ein neues Zeitalter einzuläuten. Wir haben gerade eine der größten Gefahren dieser Welt bezwungen. Das eröffnet uns die nie da gewesene Möglichkeit, die Welt auf eine Weise zu vereinen, wie sie es noch nicht kennt. Wenn wir uns zusammentun… können wir dieser Welt und all ihren Völkern und Nationen ein Zeitalter der Technik und des Wohlstands bringen und ihnen völlig neue Möglichkeiten und Perspektiven eröffnen!“

Er wollte… was?!

Ein Zeitalter der Technik. Galt das auch für Goblins…?

Langsam nickte sie. Nur um zu versichern, dass sie ihm zugehört hatte, dass sie ihn verstanden hatte, dass sie-

„Wunderbar, ausgezeichnet! In dem Fall wird es langsam Zeit für eine ordentliche Vorstellung.“ Eine… eine was? Eresthenes hingegen trat vor sie, lächelnd, streckte ihr die Hand entgegen. „Grüße von Hans. Und nenn mich Francis.“

… und ihr klappte der Kiefer herab…

Das Letzte Gefecht

Sah man einmal davon ab, dass das Dasein als Untoter damit einherging, von König Xarak herumgeschubst, kommandiert, kontrolliert und generell im Zweifelsfall auch dominiert zu werden, dann hatte man eigentlich ein ganz brauchbares Dasein. Zugegeben, der Hass der Götter war einem sicher – doch wenn man sich ansah, was die Götter sonst taten, wozu sie fähig waren und was sie interessierte, während andere Geschehnisse sie offenkundig nicht scherten… war das dann wirklich noch der Erwähnung wert? Das Leben machte doch oft genug ohnehin den Eindruck reinen Glückspiels, weshalb also nicht ein paar Vorteile abgreifen, wenn man schon vor sich hin existierte, indem man zumindest Körperwärme und regelmäßigem Herzschlag Lebewohl sagte?

Nie wieder würde man sich darum scheren müssen, ob die fauchenden, heulenden Winde eisiger Frostwüsten einen umbringen könnten. Froren einem die Glieder ab? Na ganz gewiss nicht! Und die Erkundung unterirdischer Höhlensysteme, alter, längst vergessener Tempelanlagen und vielleicht nicht völlig vergessener Ruinen wurde so viel leichter.

Giftige Speere? Das Loch heilt man irgendwann, irgendwie, einfach wieder zu. Und es war nicht so, als müsse man sich des Giftes wegen überhaupt noch den Kopf zerbrechen.

Seuchentragende Rattenschwärme? Nun, ihre kleinen Zähnchen konnten vielleicht lästig sein, aber man brauchte sich zumindest keine Sorgen mehr darum machen, im Verlauf der nächsten Woche elendig dahinzusiechen.

Ein sattes, gestandenes Drittel des Tages verschlafen? Wohl kaum! Keine Müdigkeit mehr, damit auch keine daraus resultierende Konzentrationsunfähigkeit mehr. Kein Hunger, kein Durst, keine Magenkrämpfe nach verdorbenem Essen oder Kopfschmerzen nach zu schweren Wetterumschwüngen. So viele der alltäglichen Martyrien konnte man sich durch diesen einen, kleinen, simplen Schritt ersparen: Einfach untot werden!

 

Ithildalin kannte den Luxus dieser Existenzform. Er kannte ihn tatsächlich inzwischen so gut, dass er wiederum kaum noch wusste, sich kaum noch erinnerte, wie es war, unter all diesen Kleinigkeiten leiden zu müssen. Er trauerte ihnen auch keineswegs nach. Die Erinnerungen, die noch da waren, erzählten von generellem Unbehagen, das sich bis zur empfundenen Unerträglichkeit steigern konnte. Und selbst ohne diese Mahnmale in seinem Verstand gebot doch die Logik allein schon, nicht dem Schlechten nachzujagen.

Doch obgleich er sich um derlei keine Gedanken machen brauchte, saß er in seinem Zimmer und sann darüber nach. Über Übelkeit und Kopfschmerzen und das, worin beides begründet lag: Nervosität.

Er war immun, gewissermaßen. Er konnte nicht nervös werden. Zumindest… nicht körperlich. Keine zittrigen, verschwitzten Hände, kein Konzentrationsmangel, keine flüchtigen Blicke in alle Richtungen wie ein gehetztes Tier. Nein. Er war ruhig. Körperlich.

Sein Blick glitt durch den Raum und erforschte, was er nun schon unzählige Male gesehen hatte. Statuen, Bücherregale, Bodenkacheln, Tische, Stühle, Werkbänke. Alltägliches. Sein Zimmer, so wurde ihm das Offensichtliche bewusst, war anders aufgebaut als die Restlichen in der Nadel. Statt eine Unterteilung in diverse Räume, separiert durch Wände und Mauern, hatte er einen einzelnen, dafür größeren Raum erhalten, dessen innere Aufteilung durch Bücherregale vorgenommen wurde.

In all der Zeit hier hatte er nicht einmal drei Dutzend davon lesen können. Tatsächlich wusste er nicht einmal, was überhaupt alles in seinen Bücherregalen stand. Es mochte kurios anmuten, doch er, als Untoter, der vierundzwanzig Stunden am Tag zu seiner freien, unbehelligten Verfügung hatte… hatte dafür einfach nicht die Zeit gefunden.

Es hatte immer irgendetwas gegeben, das ihn aufhielt oder wichtiger gewesen war. Aufträge. Arien mal wieder zusammenflicken. Rik mit Sticheleien einen Schubs in die richtige Richtung geben. Neue Feinde und fragwürdige Verbündete recherchieren. Vorbereitung, Planung, Nachbereitung. Training an vorhandenen Fähigkeiten. Planung und Ausbau neuer Kompetenzen. Das gelegentliche Herumzanken mit den Göttern um die wenigen Brotkrumen an Macht, die ihnen zugeworfen wurden. Und, nicht zu vergessen: Die Nadel war ein kurioser Ort, der dank Ariens Führungsqualitäten vollgestopft mit Absurditäten war, die ihrerseits Namen hatten, Probleme, Vorlieben…

Ihre sogenannten Verbündeten fraßen schlicht Zeit. Zeit und gelegentlich Lisas Kartoffelsuppe.

Er hätte keinen von ihnen hinauswerfen wollen, im Gegenteil. Wenn es nach ihm ginge, dann wäre in der Nadel noch mehr als genug Platz für weitere neue Gesichter und waffenstarrende Wegbegleiter gewesen. Stattdessen hatten sie stark angefangen, noch vor seiner Zeit rasch einen großen Kreis aufgebaut und diesen gefestigt. Bis er in den letzten Wochen nach und nach wieder Mitglieder zu verlieren begonnen hatte.

Arthur hatte letztlich doch das Alter eingeholt. Der störrische alte Veteran hatte lange und tapfer an ihrer Seite gedient, aber elbische Magie hin oder her, selbst das Medaillon hatte ihm nur die Spuren des Alters ersparen, den Prozess jedoch nicht tatsächlich stoppen können.

Lisa kam immer wieder zurück, aber sie war längst nicht mehr der feste Grundstein, auf dessen Anwesenheit in der Küche man sich verlassen konnte. Es gab dort draußen immer noch einen gewaltigen Wald voller magischer Kreaturen und gewöhnlicher Riesenwildschweine und Bäume, die, allesamt, ihrem Kommando unterstanden. Zu ruhigeren Zeiten hatte sie dieses ihre Heer von hier drinnen führen können, doch jetzt? Mit den Untoten auf dem Vormarsch und Gefechten überall? Sie war die meiste Zeit des Tages dort draußen, kämpfte Seite an Seite mit ihren Untergebenen. Stärkte die Moral mit ihrer Anwesenheit und kehrte abends abgekämpft und erschöpft in die Arme ihrer Liebsten zurück, und zu ihnen. Oftmals nicht länger, um selbst ihre wundervollen Gerichte zuzubereiten, sondern um stattdessen mit dankbarem Lächeln und nur leichtem Wehmut in den Augen zu kosten, wie andere ihre Rezepte imitierten. Niemals gut genug, aber immer eine freundliche Geste.

Vasilla begleitete sie dabei oft genug. Sie war des Kampfes natürlich weniger fähig als ihre Partnerin. Eher eine versierte Bardin mit ein paar Talentspitzen im Herumschleichen, taugte sie mehr als Späher und Unterstützung. Aber an genug Tagen war sie ebenfalls dort draußen. Was hätte sie hier drinnen auch tun sollen? So, wie die Dinge lagen, brauchte niemand eine Bibliothekarin. Arien wusste aus den obskursten Quellen heraus ohnehin so ziemlich alles über so ziemlich alles und inzwischen fanden sie sich obendrein mühelos in der eigenen Bibliothek zurecht.

Oder vielmehr: Den eigenen Bibliotheken. Jeder hatte ja dann doch irgendwie auch nochmals seine Eigene.

Selbst Elesil, ihr notorischer Streichespieler und Spaßmacher, war ihnen abhandengekommen. Eine politische Heirat zwischen ihr und Maria war ein sinnvoller Schachzug gewesen, damals, als es noch darum ging, den Völkerkrieg zu beenden und den Kontinent geschlossen und vereint hinter das Banner der Nadel zu zerren. Sie hatten einander ja auch gut leiden können, waren sich in ihren Ansichten und ihrer Moral ähnlich gewesen. Doch damit ging mehr einher als einander einfach nur ‚ja‘ zu sagen. Dabei hatte ihn vor allem erstaunt, wie rasch Elesil über sich selbst hinauszuwachsen fähig war – und wie gut und geschickt sie selbst Maria auf diesen Pfad führen konnte.

Natalia wiederum saß irgendwo weit entfernt in Varnasse auf ihrem Thron und regierte. Versuchte, Symmarion irgendwie zusammenzuhalten, es bevorzugt in einem Stück durch diesen tobenden Krieg hindurch zu manövrieren. Ohne das Land dabei auszubluten. Ohne zu viele Söhne, Väter und Brüder in Särgen heimbringen zu müssen. Ohne, dass die Moral der Nation in viele kleine Scherben zerbrach. Eine zweifellos ebenso arbeitsträchtige und undankbare Aufgabe. Eigentlich war Varnasse dank des Spiegels ebenfalls nur einen Katzensprung entfernt, doch… wann hatten sie die amtierende Königin zuletzt an ihrer Abendbrotstafel begrüßen dürfen? Und wie oft hatten sie, im Gegenzug, sie einladen wollen und standen vor verschlossener Tür, während man ihnen leise flüsternd mitteilte, dass die Königin schon wieder während der letzten Tagesbesprechungen eingeschlafen sei?

Sie sah schlechter aus. Das zumindest hatten sie durch ihre ständige Abwesenheit bei den wenigen Besuchen feststellen können. Der Wunsch, Symmarion zu schützen und zu führen, gut zu führen, zehrte sie aus. Sie gab alles für diese Aufgabe – selbst sich und jedes Quäntchen ihrer Energie. Und kein noch so amüsanter und entspannender Kurzurlaub konnte diese Zustände wirklich beheben. Das Elend verlängern, ja. Ihr mehr Zeit einräumen. Kurze Atempausen verschaffen. Aber es war allen bewusst: Wenn dieser Krieg länger laufen würde, würde er alles zerstören, was von ihr noch übrig war.

Glücklicherweise hatten sie dieses Problem nicht.

Heute… heute war der Tag der Tage.

Sein Blick schweifte abermals durch den weiten Raum. Viel abermals auf das Buch, das nun schon seit Stunden unbeachtet in seinen Händen ruhte. Er hatte es von seinem Stapel gezogen, an der mit dem Lesezeichen markierten Stelle aufgeschlagen, sich auf sein Sofa gesetzt… und dann begonnen, den Raum auszuspähen, wieder und wieder und wieder, während er seinen Gedanken nachhing. Und am Ende jeder Spährunde hatte er das Buch angestarrt, ein paar Sätze des ersten Absatzes gelesen und… eine neue Spährunde begonnen.

Das Einzige, was sich verändert hatte, waren seine Gedanken. Die hatten die stumpfe Monotonie begrüßt und sich selbst freien Lauf gelassen. Und über alledem… war er nervös geworden. Sehr.

Gedanken an ihre Verbündeten und Mitstreiter waren eine Sache. Es war gut. Nicht natürlich, in welche Lagen sie jeweils individuell hineingeraten waren. Aber es war gut, dass es sie gab. Dass sie kämpften, loyal, inspiriert, verbissen. Dass jeder seinen Platz hatte und wusste, was es zu tun galt.

Die Nadel fühlte sich inzwischen deutlich größer an. Und leerer.

Nein, was ihn nervös gemacht hatte, war der engere Kreis. Die Nadelmeister selbst. Ihre unmittelbaren Anhänge. Was heute kommen würde. Was es für sie bedeuten würde. Die schieren Dimensionen dessen, was der Tag brächte.

Sie stürmten vorwärts. Alles auf eine Karte. Es würde keine Ressourcenteilung geben, nichts würde zurückgehalten werden. Sie konnten sich solch ein Vorgehen, aller Vorbereitungen zum Trotz, einfach nicht leisten. Sie hatten diese eine Chance. Genau eine. Und sie würden sie nutzen und das Beste daraus machen, so wie sie das bisher auch immer getan hatten.

Jetzt, in dieser Sekunde, starben da draußen dutzende Leute. In Kämpfen und Überfällen quer über den Kontinent verteilt. In ein paar Stunden aber, da wären es Hunderte. Vielleicht sogar Tausende. Die Luft in der Nadel hatte sich spürbar verändert, aber es war nicht nur die Nadel allein – es war der ganze, verdammte Kontinent.

Dick und geladen. Man konnte sie vor Anspannung beinahe schneiden. Seit Monaten hatte es sich unscheinbar aufgebaut, gesteigert. Aber jetzt war es kaum noch zu übersehen. Jeder spürte es – wirklich jeder.

Das Ende nahte.

Waren sie bereit? War irgendwer bereit?

Und insgeheim fragte er sich, ob das wohl auch für die Gegenseite galt. Untote waren immun gegen die körperlichen Auswirkungen von Nervosität und Angst, sie gerieten nicht in tatsächliche Panik. Aber sie fürchteten das Ende ihrer Existenz, sie konnten auf Basis dieser Furcht irrational handeln und auch ihnen musste klar sein, dass es allmählich auf eine finale Konfrontation hinauslief. Hatten die Untoten Angst? Fühlten sie sich bereit? Konnten sie die Anspannung in der Luft spüren?

Für Jahrhunderte hatte er nichts anderes gekannt als diese eine Daseinsform. Er erinnerte sich kaum noch daran, wie es war, lebendig zu sein. Und auch, wenn er dankbar war, von den zittrigen, schwitzigen Händen verschont zu werden, so vermisste er doch etwas, das seine Erinnerungen ihm in einem wünschenswerten Licht demonstrierten: Diesen Schub von Adrenalin vor einer großen Prüfung. Tatsächlich Teil der Spannung zu werden, sich darin einzugraben, einzufühlen – statt nur mit einem vagen Gefühl von Beunruhigung daneben zu stehen und es mit milder Neugier zu studieren.

„Fein, das reicht“, seufzte er frustriert und legte das Buch bei Seite. Wie oft hatte er jetzt die immer gleichen ersten Sätze gelesen? Und er wusste immer noch nicht, was darin stand!

Ithildalin beschied, dass es Zeit war. Also trat er zu seiner Werkstatt herüber. Überall Späne von Holz, benutzte Werkzeuge. Er hätte aufräumen können. Vermutlich hätte er aufräumen sollen. Aber egal, wie die nächsten vierundzwanzig Stunden auch ausgehen mochten, ob nun Rik und Arien hierher zurückkehren würden oder die Untoten: Wer immer hier herein kam… sollte wissen, sollte sehen, das hier gelebt worden war.

Es war ihm wichtig, etwas zurückzulassen. Selbst wenn es nur das Chaos in seiner Werkstatt war.

Vorsichtig strich er über die Viola. Er hatte die letzten Tage hier und da ein klein wenig nachgebessert. Sie war in bestem Zustand, besser denn je zuvor. Er hatte über die Wochen noch ein paar Tricks gelernt, was das Fertigen von Instrumenten anbelangte. Langsam zog er sie vom Tisch, hielt sie an seine Brust und strich über das glatte, polierte Holz, als würde er einer Liebhaberin eine Gänsehaut bescheren wollen. Sie hatte ihn durch so viele Jahre, Abenteuer und Kämpfe begleitet. Natürlich wäre sie sicherer, bliebe sie hier. Vielleicht würde er sich das sogar einreden können: Noch etwas, das er zurückließ. Damit irgendwer es später, bei ihrer Rückkehr, finden konnte.

Aber sie hatte Besseres verdient. Sie hatte nach all den Strapazen und den Märschen durch die Hölle verdient, an seiner Seite zu sein. Also schnallte er das Band wieder an und brachte sie auf seinem Rücken zum Liegen. Er würde heute sehr wahrscheinlich nicht eine Note darauf spielen. Aber sie wäre da. Mit ihm. Für ihn.

Ein letztes Mal strichen seine Fingerspitzen über die Oberfläche der Werkbank. Spürten der Struktur des Holzes nach. Dann wandte er sich ab, marschierte die Küche und all die Vorräte darin ignorierend zur Zimmertür. Die Hand bereits an der Klinke, stoppte er, zögerte. Und kehrte nach kurzer Bedenkzeit für ein paar wenige Handgriffe in die Küche zurück.

Als er die Zimmertür hinter sich ins schloss zog, schallte das lauter als sonst. So zumindest kam es ihm vor. Es hatte diesen Klang von… Endgültigkeit. Er hielt die Tür von außen noch einen Moment fest, starrte sie an. Und irgendwo tief in seinem Hinterkopf erwog ein kleines Stimmchen, ob er der Tür vorwerfen solle, dass sie ihn im Grunde gerade rausgeschmissen hatte. Aber… das war natürlich lächerlich.

Es war ja nur eine Tür.

Er trat an den Teleporter heran, warf nur einen kurzen Blick auf die anderen drei Türen. Dann ging es runter ins Erdgeschoss.

Natürlich war er viel zu früh dran. Stunden, vermutlich. Aber er würde sich eventuell mit dem Kartentisch die Gegend nochmal anschauen können, neuste Entwicklungen beobachten, wie sich die Kampflinie verschoben hatte – das Übliche eigentlich.

Kaum aber, dass er im Erdgeschoss ankam, wurde ihm unweigerlich klar, dass es dazu nicht kommen würde. Rik hatte die Tür zum Kartenraum einen Spalt offen stehen lassen und marschierte bereits darin herum. Den Drang eines leisen Seufzens unterdrückend – es war wirklich absurd, wie man manche der simpelsten Angewohnheiten des lebendigen Daseins selbst nach Jahrhunderten nicht loswerden konnte – trat der Lich an die Tür heran und klopfte leise.

„Ja?“, kam in Riks gewohnter Arbeitsroutine.

„Hast du nicht schlafen können?“, erkundigte sich Ithildalin, obwohl die Antwort ja nun wirklich offensichtlich war. Rik sah zu ihm auf. Das ‚Echt jetzt?‘ auf die Stirn geschrieben. Tiefe Augenringe und der Umstand, dass seine Hände beschäftigt werden wollten, aktiv beschäftigt bleiben mussten, sagte alles weitere. Ithildalin hob die Hand, ersparte ihm die Notwendigkeit, dafür Atem zu verschwenden und trat seinerseits näher an den Tisch heran. Mit Thilias Hilfe hatte Rik einen der Tische im Raum näher an den Kartentisch herangerückt. Darauf ausgebreitet lag alles, was sie zu ihrem Zielgebiet hatten. Rik glich offenbar seit einer Weile schon sich verschiebende Frontlinien ab.

„Was Neues?“, hakte Ithildalin nach. Diese Frage, so befand er, war deutlich berechtigter.

Rik stutzte und hielt tatsächlich inne. Musterte ihn, als wäre er sich jetzt erst der Anwesenheit eines anderen im Raum bewusst geworden. Thilia zählte nicht wirklich – die schlief eingerollt unter dem zurechtgerückten Tisch und erweckte dabei einen unverschämt ruhigen und friedlichen Eindruck.

Einen kurzen Moment nur brauchte es, damit Rik sich fing. „Die Kräfte aus Akkara werden zurückgedrängt. Aus den Höhlensystemen kommt immer mehr Nachschub. In steigender Zahl. Und das Gefahrenpotenial dessen, was dort herauskommt, steigt ebenfalls.“

„Sie machen langsam ernst“, warf Ithildalin ein.

Sein Gegenüber nickte lediglich, während der Lich an die Karten herantrat und einen Blick auf die sich verschiebenden Linien warf. „Die Kräfte aus Akkara sind dem Ansturm nicht gewachsen. Werden es auf Dauer jedenfalls nicht sein. Die Unterstützung aus dem Iustus-Bund kam gerade rechtzeitig, konnte aber nicht verhindern, dass die Front im Nordwesten zusammenbrach. Hier. Eine nicht unerhebliche Zahl ist ins Hinterland durchgebrochen und hat mehrere Versorgungswege und Feldlazarette attackiert. Im Moment noch nicht weiter gefährlich, aber wenn die Front weiter zurückgedrängt wird, könnten sie Gegner im Rücken haben. Die Truppen aus Elvoran halfen dabei, den Bruch zu versiegeln, aber sie können ebenfalls nur die sich zurückziehende Front halten. Sie haben nicht die Kapazitäten, um irgendwen zu entbehren, der ins Hinterland geht und da aufräumt.“

„Die Löwen?“, warf Ithildalin ein. Unnötig, das war ihm auch klar. Rik besaß vielleicht nicht Ariens einschüchternde Intelligenz oder ihr taktisches Kalkül. Aber er war Pedant. Er recherchierte doppelt und dreifach, bis keine Lücken mehr existierten und jeder Pfad doppelt gesichert war. Es gab zweifellos keine Option, die er nicht bereits bedacht hatte. Letztlich lieferte Ithildalin ihm auch nur einen Anstoß, seine Erkenntnisse und Entdeckungen, Überlegungen und Widersprüche herunter zu rattern. Er gab ihm, gewissermaßen, eine Bühne. Damit er sich austoben und seine Nerven ein wenig entlasten konnte.

Wussten die Götter, wie lange Rik schon hier stand, über Karten brütete und sich den Kopf darüber zerbrach, ob sie nicht irgendetwas tun konnten, um diese riesige Schlachtbank dort draußen weniger  grässlich zu gestalten. Ob sie nicht irgendwie eingreifen, helfen, die Truppen und ihre Verbündeten entlasten konnten.

Ithildalin kannte die Antworten, ohne sich so tief eingegraben zu haben: Nein. Nein, sie konnten nichts weiter tun. Bis zu diesem Punkt hatten sie bereits alles nur Mögliche geleistet. Sie wären nicht hier, hätten sie das nicht getan. Und auch, wenn die Macht, die jeder einzelne von ihnen in seinen Adern trug, nur Wenige andere kannte, die dem ebenwürdig waren, so würden sie für die Geschehnisse der nächsten Stunden doch jeden Funken davon brauchen.

Nach einer ganzen Weile dieses Schauspiels kam auch Rikhard unweigerlich zu dieser Einsicht. Alle Optionen hatte Ithildalin aufgeworfen und aus ihm herausgekitzelt, alle Widerstande waren bedacht worden, alle Gründe ihres Ruhens und Wartens aufgezählt. Das Ergebnis war ernüchternd… und unumgänglich.

Nochmals deutlich erschöpfter wirkend, wischte sich Rik über das Gesicht. „Scheiße“, zischte er leise.

Ithildalin nickte lediglich. „In nicht mal einer Stunde geht’s los. Nimm dir Thilia, geh hoch und leg dich eine halbe Stunde hin.“

„Ich kann nicht schlafen, nicht jetzt“, erwiderte Rik unmittelbar.

„Du siehst beschissen aus“, warf Ithildalin ernst und schnörkellos zurück.

Rik verzog verärgert das Gesicht, hob bereits an, Widerworte zu speien, stockte dann jedoch. Vielleicht, weil ihm der Ton erst so spät bewusst geworden war. Vielleicht, weil er sich selbst durch Ithildalin unbekannte Umstände in genau diesem Moment die Wahrheit eingestehen konnte. Was ihn letztlich umstimmte, spielte auch kaum eine Rolle. Rik nickte kapitulierend. „Bis nachher“, nuschelte er leise, während er sich herabbeugte und eine leicht murrende Thilia hochhob. Die klammerte sich prompt an ihn und schlief einfach da weiter. Er nickte dem Lich zu – der Lich nickte zurück.

Rik ging. Verließ den Kartenraum, ohne seine Schreib- und Zeichengeräte wegzuräumen, ohne die Karten zusammenzufalten, ohne irgendetwas zu tun, um die Ordnung wiederherzustellen. Entweder war das ein kräftiger Ausdruck dafür, dass auch Rik die Endgültigkeit des angebrochenen Tages spürte… oder ein Beweis dafür, wie geistig angeschlagen er dank der letzten Stunden war.

Der Kartentisch hatte ihnen ermöglicht, jederzeit an jedem Ort einen Blick auf die aktuellen Geschehnisse werfen zu können. Und wie das Meiste, das oberflächlich betrachtet ausschließlich gut und nützlich war, hatte es immer wieder Gelegenheiten gegeben, zu denen ihnen aufgewiesen wurde, welche Nachteile damit einher gingen.

Ithildalin bemühte sich ebenfalls nicht, irgendetwas aufzuräumen. Vielleicht aus Respekt eventuellen Wünschen Riks gegenüber. Der hatte nie groß ein Geheimnis daraus gemacht, das er damit rechnete, diese Sache nicht zu überleben. Vielleicht also war diese Unordnung dem ähnlich, was er selbst mit seiner Werkstatt getan hatte. Ein letzter, trotziger Beweis: Ich war hier!

Nur wenn Rik sich hier im Kartenraum die Nacht um die Ohren geschlagen hatte… wo war dann Arien wohl abgeblieben?

Statt seiner eigenen Neugier bezüglich der Schlacht nachzugehen, lauschte er an der Tür zu Arthurs Zimmer. Kein Laut. Also marschierte er in die Schmiede – nichts, niemand, totenstill. Im Stall waren die Pferde. Und dem Glanz in ihrem Fell nach zu urteilen hatte Arien sich vor kurzem erst um sie gekümmert. Also rannte sie vermutlich umher und kümmerte sich um unzählige Kleinigkeiten. Alles eben, was sie beschäftigt und abgelenkt hielt.

Er trat an die Eingangshalle heran und siehe da: Eine Arien.

Was sich ihm dort offenbarte, war… kurios. Arien stand dort, hatte einen Brutus auf die Beine gezogen, sodass der direkt vor seinem Bett stand – seiner üblichen Wachposition. Brutus trug bereits seinen Bogen, seinen Köcher auf dem Rücken. Arien hatte sogar extra einen magischen Köcher für ihn gefertigt, für den heutigen Tag, der weit, wirklich weit mehr Pfeile fasste. Brutus würde sie brauchen, allesamt.

Was Ithildalin neu war, waren die anderen sechs Köcher. Die Arien gerade mit sehr großer Sorgfalt über die Lederriemen an Brutus‘ Rüstung festmachte. „Heb bitte die Arme“, meinte sie leise. Brutus leistete Folge. Sie zog hier und surrte da. Brutus mochte ihn vielleicht nicht bemerkt haben – oder hatte sich entschieden, seine Anwesenheit zu ignorieren. Aber Arien entging nie irgendjemandes Position innerhalb der Nadel. Sie wusste unweigerlich, dass er dort stand. Schien sich im Moment jedoch nicht daran zu stören oder weiter darum zu scheren. Entsprechend nickte Ithildalin Brutus lediglich zu – nur für den Fall der Fälle – und zog sich lautlos zurück.

Ein leises „Sei bitte vorsichtig. Du kannst fliegen, also bleib auch oben. Es gibt-“ folgte ihm, bis er die Worte nicht mehr ausmachen konnte. Es war rührend, wirklich, wie sie ihn zur Vorsicht anhielt und entlockte dem Lich ein Lächeln.

Wenn Arien hier unten war und Brutus auf den Kampf vorbereitete – oder vielmehr, sich selbst ablenkte, da das Konstrukt zweifellos selbst keinerlei Vorbereitung bedurfte oder für nötig erachtete -, dann musste der Rest irgendwo anders sein. Also begab er sich auf die Suche und tatsächlich – die Kaserne, die Abbas und Parcivall als Quartier diente, war verwaist, wie erwartet. Ebenso die zweite Zimmerebene. Dafür fanden sich sämtliche Leute, die noch fehlten, im Gasthaus. Und der Esstisch sah aus wie eine der Werkbänke aus Eresthenes‘ Werkstatt: Starrend vor Rüstungs- und Waffenteilen, seltsamen Apparaturen und merkwürdigem Kleinkram.

Das mochte mehrheitlich darin begründet liegen, das Eresthenes Teil der Runde war. Natürlich schraubte der Gnom selbst jetzt noch, kaum eine Stunde vor Beginn ihres größten Kampfes, an irgendwelcher Technik herum. Während Mina offenbar einen Teil des Alchemielabors ausgelagert hatte und sich selbst und ihre Ausrüstung mit diversen Giften und alchemischen Rezepturen präparierte. Artemis dagegen wirkte merkwürdig still, warf immer wieder Blicke zur Tür und war damit der Einzige, der sich Ithildalins Anwesenheit überhaupt bewusst wurde. Auch hier: Beide nickten einander lediglich knapp zu.

Faelon gab gerade Elesil gegenüber irgendeine Geschichte zum Besten. Dinge, die während ihrer Abwesenheit in der Nadel passiert waren. Selbst Peter saß mit am Tisch, wenn auch mit ein wenig Abstand. Und Vetus. Der Drache hatte seine kleinere Gestalt angenommen, prüfte ebenfalls seine Ausrüstung. Ihn am Essenstisch zu sehen, ohne das er den Kopf alle paar Sekunden in eine riesige Schüssel steckte… war ein denkwürdiger Moment.

Ithildalin beschloss, nachdem er die Szenerie für eine Weile beobachtet und verfolgt hatte, dass er genug hatte. Genug gesehen. Er hatte getan, wofür er gekommen war. Offenbar. Irgendwie.

Augenscheinlich tigerte er genauso ziellos umher und suchte nach Beschäftigung – anders konnte er sich diesen Unfug nicht erklären.

Als er sich abwandte, standen dort Arien und Brutus. Natürlich erschreckte er sich nicht. Er zuckte auch nicht zusammen. Und schon gar nicht setzte er eine ertappte Miene auf. Das war schließlich Blödsinn – er war untot. Untote taten sowas nicht.

„Du kannst dich uns anschließen?“, bot Arien mit einem Lächeln an. Sie wirkte angespannt, nervös… wie alle.

„Danke. Aber es sind nur noch wenige Minuten“, erwiderte er. Oder vielmehr: Hörte er sich selbst sagen. Er wusste einfach selbst nicht recht, ob er aktuell Gesellschaft wollte oder nicht.

Sie verstand. Und dem wortlosen Nicken nach zu urteilen, nahm sie ihm seine Entscheidung oder Nicht-Entscheidung auch nicht übel. Stattdessen zog sie Brutus, der darüber wiederum wenig begeistert wirkte, am Handgelenk mit ins Gasthaus zu den anderen. Im Kreis ihrer Liebsten fand sie vielleicht, mit etwas Glück, ein paar Augenblicke Ruhe und Frieden, ehe sie anfangen würden.

Ithildalin zog sich dagegen nun in den Kartenraum zurück. Betrachtete die Darstellung Arvums und widerstand dem Drang, einen Blick darauf zu werfen. Ein paar Minuten blieben, wie er selbst gesagt hatte. Zeit, die irgendwie verbracht werden wollte. Statt jedoch irgendetwas zu tun oder noch weiter auf der Suche nach Zerstreuung herumzuirren, bemühte er sich, eine alte Qualität der Untoten auszugraben: Geduld. Er stand, erstarrte und wartete.

Es funktionierte eher schlecht als recht, genügte aber allemal, ihn über eben jene wenigen Minuten hinwegzutrösten.

Er kehrte in das Hier und Jetzt zurück, als die Ersten den Kartenraum betraten. Nach und nach kamen sie alle, selbst Rik und Thilia. Letztere sah deutlich wacher aus, Ersterer zumindest ein klein wenig erholter. Und wieder wurde zwischen beiden nur ein knappes Nicken ausgetauscht.

Als Ganzes sammelte sich die Gruppe um den Teleportationskreis.

Was folgte, war ein Moment der Wahrheit. In allen Romanen, in jeder guten Geschichte, in jedem Epos kam dieser Moment. Die Truppen waren versammelt. Der Heerführer hielt eine epische Rede. Die jeden Mann, jedes Ross, jede Kriegbestie mit Stolz erfüllte, mit Mut und mit dem Willen, für diesen Heerführer alles zu geben – selbst wenn es das eigene Leben wäre. Nur… waren das die Geschichten. Die, die von Barden wie ihm erzählt wurden. Das entsprach längst nicht immer, tatsächlich sogar in den seltensten Fällen, der Realität.

Der Heerführer war eine Autoritätsperson, eine Führungsperson, sicherlich. Er hatte stark und unbeugsam und eindrucksvoll zu wirken, eine Aura von Gelassenheit auszustrahlen. Aber letztlich war auch der Heerführer einfach nur irgendeine Person, der in den Momenten direkt vor der Schlacht vermutlich genauso der Arsch auf Grundeis ging wie jedem anderen auch. Er durfte sich das lediglich nicht anmerken lassen.

Zudem waren sie hier in kleinem Kreise. Unter sich, umgeben von bekannten Gesichtern und Vertrauten. Vielleicht würden die Geschichten und Lieder über sie – sollten sie gewinnen – diesen Augenblick irgendwann einmal anders darstellen. Vielleicht würde ein begnadeter Redenschreiber sich erbarmen und Arien nachträglich die Worte in den Mund legen, die sie alle mit ungebrochenem Kampfwillen und unbeugsamer Furchtlosigkeit erfüllte.

Hier und jetzt dagegen, in der Realität, da wanderten die Blicke zwar zu Arien, ihrem Heerführer, doch deren Worte waren schlicht und simpel. „Es wird laut, schnell und chaotisch werden. Versucht euch nicht gegenseitig aus dem Blick zu verlieren, haltet euch den Rücken frei. Falls es eng wird, fallt ein Stück zurück – ihr kämpft nicht allein. Lasst euch bitte nicht töten und… mit etwas Glück sehen wir uns heute Abend!“

Es war eine Demut lehrende Erfahrung, irgendwie. Sie blieb pragmatisch, brachte ihr Anliegen direkt und knapp auf den Punkt. Man konnte an dem leichten Zittern in ihrer Stimme auch hören, warum. Sie traute sich selbst nicht über den Weg. Konnte nicht garantieren, nicht doch noch emotional zu werden. Die Bitte allein war da schon grenzwertig, oder? So beinahe schon flehend, wie sie vorgetragen worden war. Zudem wirkte Arien selbst jetzt, nachdem sie es so weit geschafft hatten, nicht wirklich überzeugt von ihrem Sieg oder ihrem Überleben. Sie glaubte nicht, heute Abend zum Essen heimzukehren. Oder überhaupt heimzukehren. Aber sie bemühte sich, das Bild zu vermitteln und keiner sagte etwas. Sie wussten alle zu schätzen, dass sie sich zumindest bemühte. Ihnen allen zuliebe.

Als Konsens der Überlegungen in sämtlichen Köpfen ging ein einheitliches Nicken durch die Reihe ihrer Verbündeten. Waffen wurden letztmalig geladen, geprüft, Rüstungen kurz gerüttelt. Alles saß fest, war angezogen, geölt, geschärft. Und damit zum gefühlt – oder vielleicht sogar tatsächlich – hundertsten Mal geprüft.

Jeder sah nochmals in die Runde. Bemüht um ein Lächeln, doch kaum einem gelang es. Sie wussten es nur zu genau: Wenn sie diesen einen Schritt nach vorne traten, dann landeten sie mitten in einer Schlacht. Und vielleicht würden sie sich nicht wiedersehen. Also prägten sie sich die Gesichter aller ein. Prägten sich diesen Moment ein. Zögerten, ihn zu brechen. Wer war der Erste? Wer wagte es?

Wer setzte den Punkt in Raum und Zeit, an dem das Ende dieser Geschichte wirklich begann?

Ithildalin zögerte wie alle anderen auch, doch für ihn war es auch ein Moment der Klarheit. Dieser eine, letzte Kampf. Er würde hart werden. Sehr. Der härteste Kampf, den sie in ihrer aller Leben je ausgefochten hätten. Vielleicht auch der Härteste, den sie je ausfechten würden.

Ein Kampf. Und danach war Schluss. Die Aufgabe wäre erledigt. Die Ziele erreicht. Sein Ziel erreicht. Denn nicht zuletzt war er es gewesen, der diesen ganzen Irrsinn eingefädelt hatte. Angeleitet hatte. Diese ganze Kiste war sein Werk.

„Reißen wir ihnen den Arsch auf“, seufzte der Lich und setzte den einen, entscheidenden Schritt nach vorne.

Die Flammen des Teleporters schossen herauf, versperrten seine Sicht, umschlossen ihn. Und noch bevor die Landschaft sich veränderte, die unsichtbar jenseits davon lag, traten Rik, Thilia und Arien hinein. Für diesen Sekundenbruchteil, bevor es wirklich losging, sah er ihr dankbares Lächeln und Riks tief eingegrabene Entschlossenheit.

Dann sank der Flammenschleier und es wurde rasch deutlich, dass Arien nicht übertrieben hatte.

Laut, schnell und chaotisch.

Der Lärm war letztlich für keinen von ihnen etwas Neues. Das Gekreische von unzähligen Bestien, die Kampfrufe der Männer und Frauen, die sich ihnen entgegen warfen, die Befehle von Offizieren unterschiedlicher Heertruppen, die Schreie der Verwundeten und Sterbenden und, selbstverständlich, das bis in die Knochen dringende Jaulen und Kreischen der Geister, die sich ins Tageslicht wagen konnten.

Die immense Geräuschkulisse machte auch einen Teil des Chaos aus, aber längst nicht alles. Der Rest begründete sich zu einem Gutteil im Gewirr aus Farben und Formen. Untote Geschöpfe mit sechs Beinen. Untote mit vier Beinen, vier Armen und Flügeln. Untote Tausendfüßler. Untote Menschen, Elben, Oreads. Zwischendrin immer wieder noch lebendige Menschen. Menschen mit den verschiedenen Farben und Wappen Akkaras, Symmarions, der vielen Länder des Iustus-Bundes. Elben des Bundes und Elvorans. Zwerge. Orks. Drow. Farben, Wappen, das Blitzen von Rüstungen, Waffen, beschlagenen Schilden.

Schlachtfelder waren generell schon unübersichtlich, aber ein Schlachtfeld, das sich Meilen und Meilen und Meilen zog? Das war schierer Wahnsinn.

Der letzte Aspekt, der ins allgemeine Chaos hineinspielte, war die Geschwindigkeit der Kämpfe selbst. Viele der untoten Kreaturen waren mächtig genug, einen gestandenen Mann in der Mitte durchzureißen, wenn er nicht gerade schwere Rüstung trug. Das erklärte auch das schmatzende Geräusch ihrer Schuhe bei jedem Schritt und den generellen Rotstich des Bodens. Gerade Elben kämpften leicht gerüstet – was oftmals nicht genug Schutz gegen die Zähne und Klauen ihrer Gegner bot. Die schwer gerüsteten Krieger wiederum waren langsamer, träge – leichte Ziele für die feindlichen Wiedergänger, Lich oder Geister.

Sie traten in diesen Kampf ein… und in Sekundenschnelle waren sie Teil des Chaos und wurden verschluckt.

Ihre eigenen, internen Absprachen waren simpel gewesen: Sie mussten es schnellstmöglich durch die Meilen dieses Schlachtfeldes schaffen, um zum Grabmal Kazsin Lichtbringers zu kommen. Dort saß König Xarak fest, dort hatten die Götter ihre Falle zuschnappen lassen, dorthin hatte Ithildalin seinen König gelotst.

Dort würde es heute enden.

Rik eröffnete mit Blitzen und teleportierte ein gutes Stück voraus. Es gab keine Möglichkeit, den Weg zu ebnen, eine Freifläche zu schaffen, Sicherheit zu erlangen – sie mussten so schnell wie möglich mit so wenig Ressourcenaufwand wie möglich so weit vor wie möglich. Arien versuchte, sich in die Luft zu erheben, doch zahllose untote Kreaturen bemühten sich sehr erfolgreich, ihre Versuche zu sabotieren, überhaupt abzuheben. Sie bedrängten sie, wortwörtlich, dass ihre Flügel gar nicht genug Spannweite entwickeln konnten. Das hätte gefährlich sein können – bis der Rest ihrer Verbündeten aus der Nadel eintraf.

Vetus, insbesondere.

Binnen eines Herzschlages gab der seine Maskerade auf, wuchs auf die sechzehnfache Größe an und nahm seine wahre Gestalt als eindrucksvoller, gigantischer Drache wieder ein. Sein tiefes, kehliges Aufschreien war über große Teile des Feldes über all das Gekreisch hinweg zu hören. Es gebot Ehrfurcht. Es gebot Vorsicht. Und es lenkte die Untoten lange und gut genug ab, dass Arien mit einem beherzten Schwung in die Luft kam.

Natürlich war sie von dort aus noch lange nicht aus allen Schwierigkeiten heraus – als hätte sie den Luftraum ganz für sich allein gehabt! Aber sie war schnell und versiert in diversen Flugmanövern, nicht zuletzt dank der ständigen Ausflüge mit Vetus, der ihr alle möglichen Tricks und Rollen beigebracht hatte. Den Großteil ihrer Gegner konnte sie damit schlicht umfliegen.

Das Vetus sich so früh schon zu erkennen gab, war nicht unbedingt eingeplant gewesen. Und wie erwartet, erfolgte die Reaktion unmittelbar – sämtliche Zauberwirker bombardierten ihn regelrecht mit ihrer Magie, während die gefährlichsten der feindlichen Bestien sich auf den Weg zu ihm machten, sich durch Freunde und Feinde gleichermaßen rücksichtslos hindurchwälzten.

Selbst die gigantisch aufragenden Kolosse aus Fleisch und Knochen begannen sich in seine Richtung zu bewegen, statt weiter Verstärkung für die untoten Legionen fabrizieren zu wollen. Alles schien plötzlich auf den Drachen fokussiert, der aus genau diesem Grund eine simple Taktik an die Hand gegeben bekommen hatte.

Der zweite Tisch stand noch immer im Kartenraum. Groß genug, das man sechs Leute bequem daran hätte setzen können. Und gegenwärtig war auf der Fläche nicht ein Zentimeter frei, um etwas darauf abzulegen. Stattdessen standen dort Heiltränke. Dutzende. Die stärkste Sorte, die Rik, Artemis und Mina hatten herstellen können. Und wenn es für den Drachen wirklich eng wurde – dann setzte er einen Schritt zurück, durch den Teleporter in die Nadel, wo er sich hochheilen konnte, ehe er wieder auftauchen würde.

Für den Rest ihrer Verbündeten machte diese Taktik wenig Sinn – zu viel Feuer könnte und würde sich dann auf diese eine Position konzentrieren. Aber Vetus durfte nach wie vor nicht umkommen. Das war der beste Garant dafür – verbunden mit der Anweisung, in der Nadel zu bleiben, sollten die Tränke sich erschöpft haben oder er zu schnell zu viel Widerstand bekommen.

Hoffentlich war er vernünftig genug, diesen Anweisungen auch Folge zu leisten…

Ithildalin selbst hatte den Luxus, in Ruhe einen Zauber auf sich wirken zu können, damit er schneller zu laufen fähig war und von da an einfach durch die Gegner hindurch zu tänzeln – auf der schnellsten und kürzesten Route, selbstverständlich. Denn seine Natur als Untoter bedingte, dass viele ihn aus Verwirrung heraus gar nicht erst angriffen oder ihm keinerlei nennenswerten Schaden zuzufügen fähig waren. All die Attacken, die ihn schwächen würden, die seine Lebenskraft abzogen, die ihn verängstigen und kopflos panisch davonrennen lassen sollten, scherten ihn nicht im Geringsten. Das bedeutete natürlich auch unweigerlich, dass er seine Maske als lebendiger Elb fallen lassen musste und damit auch, das früher oder später bekannt werden würde, wer sich da gerade auf direktem Weg schnurgerade durch die Armee Richtung Mausoleum bewegte.

Ithildalin, der Verräter.

Wie schnell würde das wohl von gewöhnlichem Kadaver zum kommandierenden Wiedergänger wandern? Von dort zum Lich? Von dort zu, vielleicht, sogar bereits König Xarak selbst? Wie schnell, bis die Befehlskette umgekehrt wurde und man Weisung gab, ihn aufzuhalten? Wieviel würde man wohl einsetzen, um ihn aufzuhalten?

Die nächsten zwei Stunden kämpften sie sich bemüht, aber langsam, immer weiter durch das feindliche Heer hindurch. Dadurch wurde ihnen auch unweigerlich bewusst, was für unglaublich gewaltige Heerscharen es waren, die König Xarak in aller Eile hierher verlagert und direkt unter ihrer aller Nase und Füßen aufgestaut hatte.

„Hältst du noch durch?“, erkundigte sich Ithildalin, als er einmal mehr zu Rik aufschloss.

„Meine Lungen brennen“, gab der ächzend zurück und streckte mit dem Rächer einen weiteren Untoten nieder, der in Riks persönlichen Perimeter einzudringen versucht hatte. Irgendwo einen Meter hinter ihnen stürzte sich Thilia dem nächsten Kadaver ins Gesicht, weiterhin bei jeder neuen Attacke begleitet von ihrem Schlachtruf, der inzwischen zum Motto der gesamten Nadel geworden war.

Rücken an Rücken konnten sie sich der Angriffe einen Moment gut genug erwehren, damit Rikhard durchatmen konnte.

„Wie sieht’s am Himmel aus?“, schrie Ithildalin aus vollster Kehle hinauf. Irgendwo dort oben jagte Arien vorbei, von einer Schar Kreaturen verfolgt.

„Voller als mir lieb ist“, rief sie im Sturzflug vorbeisausend zur Antwort.

„Dann komm doch einfach runter! Ist gemütlich hier. Jede Menge nette Leute, die einen sehr genau kennenlernen wollen!“, brüllte der Lich zurück.

Und sehr zu seiner Verwunderung landete Arien tatsächlich einen Augenblick später direkt in ihrer Mitte. „Da hinten ist Schluss, da kommt ein toter Gürtel. Das sollte ich bei guten Manövern in zehn Minuten packen. Falls nicht, habe ich die Flasche noch drin!“, spie sie regelrecht daher und beteiligte sich nicht nur ebenso daran, den Perimeter aufrecht zu erhalten, sondern ließ mit den wenigen, hastigen Worten auch deutlich werden, das selbst ihr allmählich die Puste ausging. Sie brauchte einen Moment zum Verschnaufen. Dringend.

Während Ithildalin bezüglich des angedeuteten Planes keinerlei Bedenken hatte, verzog Rik erwartungsgemäß begeistert das Gesicht. Aber es war inzwischen selbst Arien unweigerlich deutlich genug geworden. Diese zehn Minuten, die sie brauchte, um sie fliegend dorthin zu bringen, waren am Boden nochmal eine halbe bis dreiviertel Stunde. So lange würde Rikhard nicht mehr durchhalten. Das war Arien klar. Das war Ithildalin klar.

Das war auch Rik klar.

Sie alle hatten geschworen, bis an ihre Grenzen zu gehen – und darüber hinaus. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er sich blindlings auf Arien verlassen musste. Letztlich kam es also nicht überraschend, das Rik nach kurzer Bedenkzeit einwilligte. Oder vielmehr: Nachdem er Zeit hatte, sich geistig darauf vorzubereiten.

Er rief die nach wie vor wie ein Berserker wütende Thilia heran, kletterte in den von Arien aufgehaltenen Beutel, während Ithildalin eher schlecht als recht allein die Verteidigung aufrecht zu erhalten versuchte. Als es soweit war, sprang er mehr in den Beutel als alles andere, damit Arien schnellstmöglich ihn greifen und wieder abheben konnte. Ließe sie sich jetzt überwältigen, wäre alles vorbei – niemand war hier, um ihr beim Start zu helfen…

 

„Falls sie getötet wird – du hast dank der Flasche Luft ohne Ende. Und Essen auch – ich regeneriere. Wasser könnte kritisch werden, also wirst du vermutlich verdursten“, begann Ithildalin amüsiert, während Rik an der Flasche hing, als würde sie ihn jetzt bereits als Einziges am Leben halten.

„Witzig. Wirklich“, schoss Rik zurück. Thilia wollte bereits ansetzen, ihn zu rügen, als eines der –vermutlich – zahllosen Bücher in Ariens Beutel an ihr vorbei trieb. Zufällig in Richtung des riesigen Berges Diamantstaub. Und spätestens da war sowieso keinerlei Widerwort oder Verteidigung mehr zu erwarten gewesen.

„Ich versuche dich gerade abzulenken, falls das nicht aufgefallen sein sollte. Du könntest ruhig etwas kooperativer sein, also wirklich!“, rügte der Lich grinsend, „Ich habe da draußen übrigens ein paar meiner eigenen Entwürfe rumlaufen, -krabbeln, -graben und –fliegen sehen. Macht mich fast ein wenig stolz. Fast. Denn entweder waren sie es wert, in die regulären Truppen aufgenommen zu werden, oder man war verzweifelt genug, selbst die experimentellen Waffen ranzuziehen, die nun in einer organisierten Armee eigentlich wirklich nichts verloren haben.“

Rik bemühte sich die Minuten darauf zunächst tatsächlich, einem Gesprächsversuch zu widerstehen. Ob nun absichtlich oder nicht. Doch nachdem ohnehin nur noch etwas weniger als die Hälfte der Zeit verblieb, drang Ithildalin doch noch zu ihm durch und Rikhard ließ sich darauf ein, über die gesichteten Kreaturen zu spekulieren. Das lenkte ihn zumindest ein klein wenig davon ab, hier drinnen möglicherweise zugrunde zu gehen.

Und tatsächlich wurden sie ja auch wieder aus dem Beutel herausgelassen. Mit etwas Verspätung, wie Ithildalin auffiel – und Arien sah wirklich grässlich aus -, aber sie kamen wieder heraus. „Lustigen Flug gehabt?“, erkundigte sich der Lich, während Rik mit völliger Selbstverständlichkeit daran ging, Ariens Wunden heilen zu wollen.

Sie hielt ihn jedoch ab, als er die erste Zauberformel zu sprechen ansetzte. „Nein. Das heilt auch so, heb es für später auf.“

Abermals sehr unzufrieden und sichtlich unwillens fügte sich Rik. Welche Wahl hatte er auch? Er konnte ihr Heilmagie schlecht aufzwingen, so funktionierte sie nicht.

„Wenn ich das richtig sehe, haben wir hier eine ziemlich große tote Zone, oder?“, erkundigte sich Ithildalin derweil und blickte in eben jene Richtung, aus der sie seiner Vermutung nach gekommen sein mussten. Tatsächlich waren die Untoten in einer gehörigen Distanz.

„Ja. Vielleicht hat er dann doch nicht so viele Truppen, wie wir dachten oder sieht keine Notwendigkeit, hier unmittelbar auch abzuschirmen“, erklärte Arien und richtete sich langsam wieder auf. Es war stets faszinierend, zuzuschauen, wie ihre Wunden sich einfach ganz von allein wieder zusammenfügten.

„Nun, da drinnen werden wir definitiv noch mehr als genug Widerstand erleben. Er lässt weder den Eingang noch das Grabmal unverteidigt, das kann ich euch garantieren“, warnte er vor. Nur, damit es keine Missverständnisse gab.

„Wir haben es so weit geschafft… wir beißen uns jetzt auch durch den Rest durch“, erwiderte Arien zwar sichtlich erschöpft, aber nach wie vor von spürbarer Entschlossenheit gestärkt.

„Gut. Wortwörtlich, notfalls.“

 

Ihre Vermutungen sollten sich übler bewahrheiten, als ihnen lieb war. Nicht nur, dass die Truppen König Xaraks nach wie vor den Zugang zum Grabmal bewachten, sie hatten ihn obendrein zusätzlich mit magischem Schnickschnack und Fallen abgesichert. Es war zwar ein weiteres, gehöriges Stück Arbeit, sich durch die Wächter und Patrouillen durchzukämpfen, doch war dieses Stück allem zum Trotz ein Spaziergang verglichen mit dem, was bereits hinter ihnen lag.

In der Höhle konnten sie taktisch vorgehen. Hatten Zeit, Spähgänge zu machen. Sich eine Strategie zurechtzulegen. Konnten feindliche Gruppen aufteilen und schwächen. Hatten Zeit, sich auf das Entschärfen einer Falle vorzubereiten. Natürlich tickte bei ihnen allen im Hinterkopf zu jeder Sekunde die Zahl mit: Einhundert Tote, zweihundert Tote, dreihundert Tote… Aber letztlich hätten sie diesen Leuten, die dort draußen kämpften und starben, einen größeren Bärendienst angetan, würden sie hier schlampen und möglicherweise ihre Chancen auf den Sieg riskieren, als sich die Zeit zu nehmen und mehr Blutvergießen zu riskieren.

Die Ankunft im Grabmal selbst war begleitet von Ächzen, Keuchen und Schnaufen. Zumindest Ithildalin hatte damit gerechnet, dass sie am Ende der Treppenstufen vor allem eines vorfinden würden: Direkt die nächste Gruppe an Wiedergängern. Doch stattdessen stolperten sie in eine Halle und… hatten einen Moment Zeit, sich zu sammeln.

„Ich werde so unendlich froh sein, wenn ich mich mit sowas nicht mehr herumschlagen muss!“, fluchte der Lich und deutete zur Treppe. Rik und Arien, beide die Hände auf die Oberschenkel stemmend und um Atem ringend, stimmten mit einem schwachen Nicken zu. Ariens Wunden schlossen sich langsam wieder – zum wievielten Mal an diesem Tag inzwischen? Während Rik dagegen ein paar weitere Schriftrollen hervorzog und die leeren Lederbände nach Verbrauch einfach fallen ließ. Falls sie dazu kämen, dann könnte er sie auf dem Rückweg einsammeln. Falls ihm der Sinn danach stand. Hier und jetzt war er einfach nur dankbar, dass mit jeder Zauberanwendung die Schmerzen etwas nachließen.

„Gut, dann… wir sind in der Höhle des Löwen – müssen wir nur noch den verdammten Löwen finden, was? Ich hatte ein Begrüßungskomitee erwartet. Aber ganz ehrlich, im Moment wäre ich auch mit einer simplen Ausschilderung „bitte hier entlang“ sehr zufrieden, wirklich… irgendwas eben“, fluchte Ithildalin leise. Sie folgten dem Pfad, der sich so verdächtig offensichtlich vor ihnen abzeichnete – bis zur Gabelung. „Prächtig, und nun? Links oder rechts?“

Sie entschieden sich, zunächst links nachzuschauen und da sie inzwischen Thilia an die Verteidiger ‚verloren‘ hatten und Rik seine Ressourcen schonen sollte, übernahm der Lich höchstselbst die Aufgabe, den Kopf reinzustecken und eventuelle Fallen auszulösen. Natürlich unternahm er vorher alle nötigen Schritte, sicherzustellen, dass er Fallen gefunden und von Rik hatte entschärfen lassen, bevor es dazu kam – aber im Zweifelsfall war es schlicht besser, wenn’s den Lich erwischte, als den Rest.

Als er jedoch bemüht leise und vorsichtig die Tür aufzog und ins Innere spähte… da wurde dann doch selbst Ithildalin anders.

„Das kann nicht wahr sein…“, flüsterte er leise, ungläubig, zu sich selbst. Jedwede Vorsicht fahren lassend, trat er die Tür aufschiebend ein.

Und ein gutes Stück entfernt, an die Mauer gelehnt am Boden sitzend, blickte der Geist Sierras auf. Sie erhob sich langsam, trat ihnen entgegen und bemühte sich sogar um ein freundliches Lächeln. „Hey.“

„Hey Hörnchen“, gab Ithildalin noch immer entrückt wieder. Plötzlich, mit einem Schlag, war da so vieles, dass er wissen und fragen wollte. Aber sein Verstand hielt sich selbst gut genug zusammen, dem Chaos zumindest Prioritäten aufzuzwingen. „Du wirkst nicht sonderlich überrascht, uns zu sehen“, stellte er daher fest, „Greifst du uns gleich an?“

„Nein. Nein, bin ich nicht und nein, werde ich nicht.“

Damit zunächst zufriedengestellt, nickte der Lich und… starrte. Was sollte er als nächstes sagen? Was fragen? Es gab so vieles, so endlos Vieles, das unausgesprochen zwischen ihnen stand. Schon zwischen ihnen gestanden hatte, als sie noch am Leben war. Vor so verflucht vielen Jahren. „Hier hast du dich also verkrochen, hm?“, erkundigte er sich und obgleich es in seinem Kopf als schnippische, stichelnde Bemerkung ausgesprochen worden war, klang das, was letztlich seine Lippen verließ, doch harscher und vorwurfsvoller.

„Könntet… ihr uns vielleicht einen Moment geben?“, erkundigte sich Sierra bei Arien und Rik.

„Wir… ja. Ja, natürlich“, antwortete Arien und zog Rikhard – der sehr viel unwilliger aussah – mit nach draußen.

„Sie brauchten jemanden, der den Iustus-Bund führt“, erwiderte Sierra, kaum dass die Tür sich geschlossen hatte. Sie wandte ihm den Rücken zu, kehrte zu jenem Stück Wand zurück und ließ sich abermals daran herab. Entweder war sie teilweise materiell oder… hatte wirklich viel Zeit gehabt, als Geist zu üben. „Jemanden, der verlässlich und vernünftig wäre. Und Gehör finden würde. Es… gab wirklich nicht viel Auswahl.“

Natürlich lag Ithildalin zunächst ein trotziges ‚Sie?‘ auf der Zunge – doch wozu Fragen stellen, die rhetorischer Natur waren. Dies war das Grabmal Kazsin Lichtbringers. Nicht einfach nur irgendeines dahergelaufenen Heiligen. Ithildalin trat näher und besah sich die Sarkophage, die in tiefen Alkoven an den Seiten des Raums aufgebahrt waren. Einer davon trug das in Stein gehauene Ebenbild Sierras – und ihren Namen.

Seine Gedanken begannen zu rasen. Sierra, die in die Kreuzwegfeste stolperte und mit ein paar Verbündeten seine Pläne durchkreuzte, ihn sogar gefangen nahm. Sierra, die sich mit einem Lich verbündete. Sierra, die die Revolution in Lumiél unterstützte, dabei half, sie zum Sieg zu führen. Sierra, die den Vielvölkerbund begründete. Sierra, die von Lumiél aus half, den Iustus-Bund aufzubauen. Die ihn führte und geordnet auf dem rechten Pfad hielt. Bis ihre Lebenskraft verronnen war, jedes letzte Fünkchen.

Sierra auf ihrem Sterbebett.

Was hatte der Iustus-Bund für die Welt bedeutet?

Er kramte tief in seinen Erinnerungen. In all den Legenden, die er immer wieder aufgeschnappt hatte. In den Büchern, die er gelesen hatte. Aber am deutlichsten doch war es vor allem in einem Umstand: In den Toten dort draußen auf dem Feld. Symmarion war kein reiches Land, war es nie gewesen. Akkara schwamm zwar in Reichtum, hatte aber eine grausig schlechte interne Politik, wenn es zum Aufstellen tatsächlicher Armeen kam. Und Elvoran konnte unmöglich das militärische Gewicht dreier Nationen tragen. Wie viele der Männer und Frauen, die dort draußen in Stücke gerissen wurden, wortwörtlich, deren Seelen aus ihren Leibern gezerrt und gefressen wurden, die von sich stumpf über das Feld walzenden Fleischmassen erst erstickt und dann absorbiert wurden, trugen die Farben und Wappen des Bundes?

Wie schnell hätten die Untoten Arvum überrannt ohne den Bund? Wie viele Städte hätten sie evakuieren, sich wie schnell wie weit zu den Küsten zurückziehen müssen – ohne den Bund? Und wenn das Handeln des Bundes sich nach wie vor zu großen Teilen auf Sierras Leitung und Führung stützte… dann hatten sie all die Jahre einen Verbündeten gehabt, ohne es zu wissen. Angeleitet vom Willen der Götter. Gezwungen durch die Götter.

„Ich werde all das hier beenden. Xarak wird heute fallen. Und dann bist du frei, Frieden zu finden. Wie es dir vor so vielen Jahren schon zugestanden hätte.“ Es war kein Trotz… oder vielmehr: Nicht nur Trotz. Er fühlte sich, einmal mehr, von den Göttern betrogen. Um das Schicksal einer guten Freundin. Sie hätte nicht hier festgekettet werden dürfen. Nicht für seinen irrwitzigen Plan.

„Ich weiß“, erwiderte sie sanft, „Und du wirst zurückkehren und eine zweite Chance bekommen. Gräme dich nicht. Die Dinge sind, wie sie sind.“ Sie berührte seinen Unterarm – und da war eine Berührung. In welchen Zustand die Götter sie auch immer versetzt hatten. Sie war keine Untote, die Xaraks Willem unterlag und sie war kein Geist im klassischen Sinne.

Sie war etwas, das sie nicht hätte sein sollen.

Langsam erhob sich Ithildalin wieder. Sie folgte. „Es gibt keine zweite Chance.“

„Was meinst du?“

Wieder ein Seufzen. Witzig, wie manche Angewohnheiten selbst den Tod überdauerten. „Diesen Handel, den ich einging… der war nicht für mein Leben. Hörnchen, ich bin nicht dumm. Ich habe zu viele Jahre in dieser Form zugebracht. Was denkst du, wie es mir ergehen würde, wenn ich jetzt wieder lebendig werde? Und um ehrlich zu sein… das habe ich auch nicht verdient. Nicht nach allem, was ich tat, um untot zu werden. Um Xaraks Gunst zu erringen. Um Ereshkigals Aufmerksamkeit zu gewinnen. Um bis zu diesem Tag und an diesen Ort zu gelangen. Wenn das hier endet… dann endet es. Auch für mich.“

„Wissen sie das?“, erkundigte sich Sierra. Ob sie besorgt war, ob sie verwirrt war – in diesem Moment ließen sich ihre Regungen so bemerkenswert schlecht lesen. Vielleicht mauerte sie sogar absichtlich.

„Nein.“ Lange hielten sie dem Blick des jeweils anderen stand, bis der Tiefling schließlich nickte. Nicht zustimmte, aber zumindest akzeptierte. „Dort draußen gibt es eine Welt voller Gefahren und Wunder und für sie… wird es nur ein Wimpernschlag gewesen sein. Sie werden Zeit brauchen, sich zu akklimatisieren. Sich in dieses neue Zeitalter einzufinden. Aber sie wissen zumindest schon mal, wie man lebt. Und… sie würde nicht… ich könnte unmöglich zu ihr zurückkehren. Nicht nach allem, was ich tat. Ich kenne sie noch immer gut genug, das zu wissen. Es spielt keine Rolle, ob ich das für sie tat oder nicht. Ich bin aus freien Stücken zu einem Monster geworden. Das könnte sie mir niemals vergeben. Nein, ich denke, dass ich das ihretwegen tat würde es für sie sogar schlimmer machen. Und nach all den Jahren? Was sie sie schon noch als ein Schatten aus Erinnerungen. Der Grund, warum ich das hier tue, sicherlich. Aber handle ich aus Liebe, oder weil es ein Unrecht ist, das ich korrigiert sehen will? Ich bin mir nicht mehr sicher. Und es spielt – jetzt – auch keinerlei Rolle mehr.“

Ihre Hand an seiner Wange war spürbar. War kühl. Nicht kalt, aber kühl. Er legte seine Hand über die Ihre und es gab Widerstand. Ithildalin gab auf, darüber zu rätseln, was Sierra wohl geworden sein mochte. Wie so viele Details spielte es hier und jetzt einfach keine Rolle mehr. „Bringt es zu Ende. Und falls… mein Dienst hier dann wirklich enden sollte, falls ich dann gehen darf…“

„… wir sehen uns auf der anderen Seite“, beendete Ithildalin mit einem Lächeln.

„Ich bin die mit dem netten Hintern“, setzte Sierra nun selbst lächelnd fort.

„Ich bin der mit der großen Klappe“, erwiderte er.

Einen Moment lang harrten sie aus, blickten einander entgegen. Sie setzten sich fast zeitgleich in Bewegung. Langsam. Die Augen schließend. Ithildalin wusste nicht, was ihm dieser Kuss bedeutet hätte, doch er wusste in diesem Moment, dass er ihn wollte. So dringend brauchte.

Und bevor ihre Lippen sich trafen, klopfte es an der gottverdammten Tür.

Beide stockten. Der Drang schwand, der Zauber gebrochen, der Moment verflog. Die Augen langsam wieder geöffnet, standen sie noch immer in der großen Halle dicht beisammen. „Du wirst gebraucht“, flüsterte Hörnchen leise.

„Ja“, erwiderte der Lich krächzend, „Nie kann man die Rasselbande allein lassen…“

„Beende es“, verlangte sie ohne wirklichen Nachdruck von ihm, lächelnd, ehe sie einen Schritt zurücktrat.

„Ich werde dich finden“, versprach er, „Egal wie. Irgendwie.“ Sie nickte und schweren Herzens ließ er ihre Hand los – das Einzige, was sie noch beisammen hielt. Ithildalin trat zur Tür und zog sie auf. Der Anblick davor war wenig überraschend. Rik wirkte gehetzt, abgekämpft, erschöpft. Arien blutete aus unzähligen Löchern und Schnitten. Die Teile von Wiedergänger-Rüstungen lagen im Raum davor verstreut.

„Tze, nie kann man euch mit den anderen Kindern spielen lassen, immer müsst ihr zicken und zanken!“, quasselte er bester Laune daher und bereitete ein paar Zauber vor. Rik befreite er zumindest vorübergehend von seiner Erschöpfung und Arien schob er trotz ihrer schwachen, halbherzigen Proteste ein paar kleine Heilzauber in den sprichwörtlichen Rachen. „Als gebeten wurde, das ihr uns einen Moment geben sollt, da war das eigentlich ein: Bitte geht vor die Tür und informiert uns, sollte etwas Gefährliches auftauchen. Kein: Bitte geht schon mal allein weiter und lasst euch filetieren. Kinder, wir brauchen ein Wörterbuch…“

„Weshalb hast du eigentlich plötzlich so gute Laune, hm?“, ächzte Rikhard widerwillig.

Und Ithildalin stutzte. Denn es stimmte, was er sagte. Er hatte gute Laune. Ein Großteil der Anspannung war wie verflogen. Die Ernsthaftigkeit der Situation verschwunden. Die Brisanz, die Notgedrungenheit… wen scherte das alles schon, ehrlich?

Er würde diese Sache zum Abschluss bringen. Er würde den Schwur einlösen, den er sich selbst gegeben hatte und dieses Unrecht begradigen. Aber erstmals seit Jahrhunderten… gab es einen Plan für ein ‚Danach‘. Natürlich hatte er so wenig Schimmer, wie ‚danach‘ aussah wie sonst irgendwer. Aber es gab zumindest eine Absicht. Einen Plan. Eine Aussicht auf etwas.

Und wirklich, wenn es die Aussicht auf Sierras Hintern war, dann hätte sie um Welten schlechter ausfallen können!

Gut gelaunt klopfte Ithildalin Rik auf die Schulter. „Ich habe eindeutig zu viel Zeit in eurer griesgrämigen Gegenwart verbracht und brauchte ein paar Minuten, um zu meinem sonnigen Selbst zurückzufinden. Und jetzt… würde ich sagen, schauen wir mal, was da hinten so los ist, hm?“

„Da kommen wir her. Wiedergänger, falls du’s noch nicht gesehen hast. Und Gräber. Ansonsten eine Sackgasse“, informierte Rik wenig angetan von der plötzlichen Glückseligkeit seines Kameraden.

„Fein, dann suchen wir eben Schalter, Druckplatten, Geheimtüren, Fallen, Teleportationskreise, ihr wisst schon – das übliche Programm. Kommt schon, kommt schon, Abenteuer! Außerdem haben wir zu tun.“ Seine Motivationsversuche stießen auf verhaltene Gegenliebe.

„War er schon immer so unerträglich?“, erkundigte sich Rik mit einem Seitenblick.

Arien nickte. Sie nickte zwar, aber sie lächelte dabei auch. Also konnte ja nun wirklich nicht alles so mies sein. Und tatsächlich fanden sie den weiteren Weg nach einem bisschen gründlichem Umschauen. Natürlich standen ihnen weitere Gegner im Weg. Natürlich kamen da noch mehr Fallen, noch mehr kuriose Absurditäten, die König Xarak vorbereitet hatte, um sie aufzuhalten oder zur Abkehr zu zwingen.

Aber sie hatten sich über Wochen und Monate auf diesen Tag vorbereitet. Sie hatten sich durch Heerscharen gekämpft, waren zu wahren Meistern der Nadel geworden, zu studierten Gelehrten, zu aufgepumpten Kampfmaschinen, zu erfahrenen Weisen, zu was auch immer die Aufgabe von ihnen verlangt hatte. An diesem heutigen Tag allein hatten sie sich durch eine schier unüberwindlich gewaltige Armee gekämpft, hatten Verbündeten und Feinden, Fallen und Magie getrotzt und sich bis in die tiefsten Eingeweide eines der heiligsten Orte des Kontinents vorgegraben.

Als würden sie sich jetzt noch von ein bisschen mehr des Üblichen aufhalten lassen!

 

Die Tür öffnete sich. Der Raum dahinter war dunkel. Nur schwach leuchteten die Runen am Boden, die einen quadratischen Bereich um den Schreibtisch zogen. Dahinter erhob sich die durchaus imposante Gestalt König Xaraks. Ein Hüne, gekleidet in eine schwarze Rüstung, die jeden Teil seines Körpers panzerte. Der gewaltige Zweihänder wurde von ihm mit scheinbarer Mühelosigkeit gehoben. Finster und drohend streifte sein Blick den Eingang.

Eben jenen Eingang, in dem sich – nachdem Rik endlich mal mit seiner verdammten Beschwörung fertig war – vier Gestalten aufbauten. Arien packte ihr Schwert fester, als die Gestalt den Schreibtisch mit einer Hand packte und gegen die Wand schleuderte, als sei er aus Papier gefertigt. Rik, starrend vor Gewehren, formte den Rächer in eine größere Armbrust um. Thilia sträubte ihr Fell und… knurrte?

Das war es. Das war der Moment der Wahrheit. Der Kampf. Der eine Kampf, der alles entscheiden würde.

Er trat einen Schritt vor. Seinem König und Feind entgegen. Und wandte ihm den Rücken zu, um ein vielleicht letztes Mal seine drei Mitstreiter anzublicken. „Fast geschafft“, flüsterte er leise. Sein Blick fixierte sich einen Moment länger auf Thilia, ehe er weiter streifend meinte: „Ihr wisst, was das heißt, oder? Was das ein letztes Mal heißt?“

Rik verzog leicht das Gesicht. Natürlich tat er das. Und Thilia vibrierte vor Anspannung und Zustimmung. Arien… sie bemühte sich, zu lächeln. Nickte ihm zu.

Dann erst zog er sein Rapier. Es würde ihm in diesem Kampf nicht viel bringen, aber es war einfach… eindrucksvoller. Hinter sich hörte er bereits die schweren, dumpfen Aufschläge der Schritte des nahenden Königs. „Drei… zwei… eins…“

Mit einer fließenden Bewegung wirbelte Ithildalin herum. Und ein breites, beinahe hämisches Lächeln lag auf seinen Lippen ob des Gedankens: Was Hörnchen wohl hierzu gesagt oder sich bei diesem Anblick gedacht hätte?

Das Rapier fest umschlossen, sprang er flinken Fußes seinem Feind entgegen, von seinen Kameraden dicht gefolgt, ihren Schlachtruf aus vollster Kehle brüllend auf den Lippen.

Tod den Untoten!

Eine Hand wäscht die andere dreckig

„Lauf weiter, ich bin direkt hinter dir!“, krächzte eine erschöpfte Stimme von hinten.

Reva puzzelte sich mühelos aus diesem einen Satz alles Notwendige zusammen. Alles, was gesagt worden war, ohne wirklich gesagt worden zu sein. Alandor hatte noch immer seinen Schild, hatte er gesagt. Er war weit weniger getroffen worden als sie. Möglicherweise, weil er mit seinem Hintergrund als herumstreunender Plünderer – pardon, respektabler Abenteurer – mehr Übung darin hatte, sich zu ducken, im Zickzack zu rennen, eine generell bessere Intuition dafür besaß, wohin der Gegner als Nächstes schießen würde. Außerdem war er diese Sachen hier vielleicht nicht unbedingt direkt gewohnt, aber er kannte sie zumindest schon. Reva hingegen war dann und wann gejagt worden, sicherlich, aber üblicherweise bezog sich diese Verfolgung auf das soziale Parkett, auf verbale Duelle, auf… nun ja, so ziemlich alles andere als das hier. Dazu war sie es nicht gewohnt, aus der unterlegenen Position heraus zu agieren.

Alandor hatte also seinen Schild noch und rannte hinter ihr. Damit er ihren Rücken deckte. Wortwörtlich. Meister Quasiliam hatte sich offenbar ohnehin dazu entschieden, sie als die größere Gefahrenquelle zu betrachten. Übelnehmen konnte sie ihm das nicht. Alandor hatte ein nicht zu verachtendes Gefahrenpotenzial, doch all seine Bedrohlichkeit war Resultat seines Rückfalls in die Hexerei. Offensive Teleportation konnte einem erfahrenen Zauberer in Sekundenbruchteilen den Tag ruinieren. Meister Lameraks tatsächliche Magie, seine Magier-Magie, das war natürlich das Bannwirken. Und da wiederum, nun, da fand sich einfach so gut wie nichts Offensives.

Und da sie ja nunmal als Abtrünnige gejagt wurden und noch immer versuchten, ihre diesbezügliche Unschuld zu beweisen, war es eine denkbar schlechte Idee, wenn er nun anfangen würde, von Zorn gesteuerte Zauber um sich zu schleudern, die definitiv nicht in sein Standard-Repertoire zu gehören hatten.

Das wäre auch alles sehr viel leichter, hätte Meister Quasiliam nicht einfach direkt das Feuer eröffnet. Vor… oh gute Götter, wie lange mochte das nun wieder her sein? Zwei Wochen? Drei, vielleicht?

Sie hatten ein paar Worte wechseln können, sicherlich. Über die Kämpfe hinweg. Nicht gerade Idealbedingungen, um für den eigenen Fall zu argumentieren. Zudem schien Meister Quasiliam generell von einer recht fanatischen Sorte. Ein Mitglied des Ordus Haereticus, das bei auch nur dem geringsten Verdacht von Abtrünnigkeit nicht lange fackelte und ganz sicher – offenbar – nicht zuzuhören gewillt war.

Sie hatte so eine schöne Argumentation gehabt. Sie hatte Augenzeugen – manche gekauft, manche nicht -, die ihre Geschichte hätten unterstützen können. Alandor wäre mit einem blauen Auge davon gekommen. Sein Ruf ruiniert, sicherlich, aber er hätte zumindest keine Zielscheibe auf der Stirn gehabt. Und sie ebenso wenig. Und das war letztlich, was sie wirklich grämte.

Wie viele Jahre, Jahrzehnte, hatte sie in aller Ruhe ihren wirtschaftlichen Interessen nachgehen können, ruhig, friedlich, ungestört? Sie hatte ihr kleines Imperium aufgebaut. Der Zirkel hatte sie in Ruhe gelassen, solange er ab und an ein Stück vom Kuchen abbekam. Alles war gut gewesen. Bis der Verdacht bei Meister Lamerak aufkam und plötzlich auch bei ihr – aufgrund von nicht mehr als enger Assoziation. Weil sie zu oft mit ihm gesehen worden war. Weil sie zusammenarbeiteten. Es gab nicht einmal begründete Verdachtsmomente! Sie war immer vorsichtig gewesen!

Sie hasste es. Sie hasste die Situation und die Mechanik dahinter, sie hasste den Ordus Haereticus und sie hasste Meister Quasiliam. Nicht, das sie jetzt in die Hexerei zurückfiele, wirklich nicht. Sonderlich hilfreich wäre das ohnehin nicht gewesen. Aber dass man sie nicht anhörte, nicht zu Wort kommen ließ – nicht einmal, um sich selbst zu verteidigen – mit Worten, bevorzugt…

„Kopf runter!“, kam es von hinten und folgsam senkte sie den Kopf. Ein Blitz schoss schnurgerade darüber hinweg.

„Wie viele davon hat er noch?!“, konnte sich Reva in einem Anflug von Empörung nicht verkneifen.

„Acht oder neun“, antwortete Alandor rasch.

Dem Kugelblitz waren sie heute Mittag bereits begegnet. Mit dem Gewitter hatte er sie auch nicht mehr überraschen können – Alandor hatte die Magie einfach aufgelöst. Und als er versucht hatte, sich mit Elektrizität aufzuladen und sie einfach anzuspringen, beinahe schon wortwörtlich, da hatte Meister Lamerak ihm aufgezeigt, wozu Bannmagie gut war: Um nicht nur vorhandene Magie anderer, egal ob offensiver oder defensiver Natur, zu zerstreuen und in die Bedeutungslosigkeit aufzudröseln, sondern auch, um Feinden einen sprichwörtlichen Stock ins Rad zu werfen. Meister Quasiliam war ohne sein Körperempfinden wie ein Sack Mehl umgekippt, einfach zusammengesunken. Und das hatte ihnen kostbare Sekunden geschenkt, um ihre Unschuld zu beteuern, ehe sie erneut die Flucht ergreifen mussten.

Die Augen des Mannes hatten nicht sonderlich einsichtig oder auch nur interessiert drein geblickt. Er hatte einen Auftrag. Und wie immer der auch genau lauten mochte – es war ja nun nicht so, als hätte man den ihnen gegenüber je klar und deutlich ausgewiesen, wie es eigentlich die gottverdammte Order und Pflicht der Ordensmagier war -, Meister Quasiliam war erpicht darauf, ihn auszuführen. Auf seine Weise. In seiner Interpretation des Wortlautes. Was offenbar, so sein Wunsch, auf ihren Tod hinauslief.

Dazu musste gesagt sein, dass dieser ganze Kampf, diese seit Wochen anhaltende Verfolgungsjagd, sehr viel übler hätte aussehen können. Reva hatte nach wie vor ihre Habe. Ihr Netzwerk war nicht angerührt worden. Ihre Schiffe, ihre sicheren Häfen, ihre Familie, alles existierte unbehelligt weiter vor sich hin. Auch Alandors Seite war bemerkenswert ruhig. Niemand hatte Meister Halon involviert. Oder sich mal genauer in Samara umgehört.

Eine mögliche Erklärung dafür war, dass Meister Quasiliam mit wenig Mitteln operierte. Sicherlich, er hatte diese ganzen schicken Sachen dabei, die ihm erlaubten, das Sechsfache an magischer Energie zu nutzen, als ihm allein zustünde. Aber das waren allesamt kampforientierte Artefakte. Er hatte keine Geiseln genommen.

Die mögliche andere Erklärung war eben, dass ihm dafür die Kreativität fehlte. Ordensmagier waren bekannt dafür, ziemlich geradlinig zu sein – zumindest im Vergleich zu ihren Zirkelkameraden. Er hatte sich zweifellos über ihre Stärken und Schwächen informiert. Immerhin hatte ihre erste Konfrontation damit begonnen, dass er Alandor ausknockte und Revas Verwandlung negierte. Aber er war möglicherweise einfach nie auf die Idee gekommen, andere Mittel als Offensive zu verwenden. Nicht, das sie darum nicht auch heilfroh war – mancher hätte hier die Taktik der verbrannten Erde bevorzugt und sie hoffte schließlich nach wie vor, nach erfolgreicher Beilegung dieses… nun, Missverständnisses zu ihrem Leben und ihrem Netzwerk zurückkehren zu können. Gewiss hatte sie nicht vor, sich ihr ganzes Leben lang quer durch alle Länder und Kontinente jagen zu lassen. Es waren drei Wochen und das nagte schon gehörig an ihrer Geduld – obwohl Jahrtausende eines anderen Lebens, erlebt und durchlebt dank Kaleran, ihr eigentlich, eigentlich, genug Geduld gelehrt hatten.

„Stein!“, kam es von hinten und brach ihre Konzentration. Stein? Was für ein – oh. Der Stein. Gute  Güte, das war mehr ein… ein Fels. Also wirklich.

Ein weiterer gut gezielter Blitz jagte in ihre Richtung. Die Offensivkraft eines Magiers mit elementarer Schule sollte man nie unterschätzen. Aber das war das Problem mit Meister Quasiliam. Er jagte bevorzugt Abtrünnige. Er jagte andere Magier und hatte – so vermutete sie inzwischen – ein beinahe schon sadistisches Vergnügen daran, sie auszumanövrieren, ihnen gegenüber seine Überlegenheit zu demonstrieren. Deshalb rannte er mit einer ganzen Schar an magischen Gegenständen herum, die allesamt dazu taugten, seine Kräfte zu stärken, zu steigern oder ihm sogar völlig neue Optionen zu erschließen. Sie hatte den Mann Geistmagie wirken sehen, Luftmagie, Feuermagie, Bannmagie. Es schien, als würde er für jeden Plan, den sie hatten, um ihn zu verlangsamen, ein neues kleines Etwas aus dem Beutel ziehen. Und an den selbst kam man auch nicht heran – das verdammte Ding besaß eine eingeprägte Realität. Existierte nur und ausschließlich für ihn. Selbst das hatten sie bereits versucht.

Und dafür, dass sie ihre Unschuld beweisen wollten, wäre es vermutlich nicht sehr vorteilhaft, wenn sie beim Tribunal erklären müssten, warum er in seinem Zimmer aufwachte und zwei überhaupt nicht abtrünnige Magier versuchten, seinen non-existenten Beutel mitzunehmen.

Das war ja generell das Ziel. Das Tribunal. Die Organisationsstruktur des Ordus Haereticus - ansässig in Thethys, der Hauptstadt Akkaras -, die sich damit befasste, zu beurteilen, wer abtrünnig war und wer nicht. Sie hatten es immerhin schon einmal bis nach Nervaal geschafft. Vor der Küste einer Insel, Isimok? Isimal? Eine der westlichsten Inseln Nervaals. Hier hatte sein Schiff irgendwie ihres einholen können. Vermutlich mittels Luft- oder Wettermagie.

So ein Schiffbruch konnte einem auch die Laune verderben.

Glücklicherweise waren sie damit nicht außerhalb der Zivilisation gestrandet. Die Insel war belebt und bevölkert, so wie alle Inseln Nervaals. Das hätte für sie sonst möglicherweise einen tatsächlich erheblichen Nachteil bedeuten können. Meister Quasiliam war darauf trainiert, auch in unwegsamem Gelände und wilder Natur weiterjagen zu können, während Alandor und auch sie selbst zwar nicht plötzlich inkompetent wurden, aber doch weit weniger vertraut mit solchem Gelände waren.

Wie das Dörfchen hieß, aus dem er sie heute Morgen herausgetrieben hatte, wusste sie nicht. Wen scherte das auch.

Alandor machte Anstalten, sie zu dem Fels zu drängen, als ein weiterer Blitz aufzuckte. Sie hörte sein Ächzen, offenbar also ein Einschlag. Er war nicht tot, da sie seine Schritte noch hörte, also wohl nur ein Streifschuss. Nur… warum nahm er überhaupt Schaden? Schlimmer noch, er stolperte und rempelte gegen sie.

Mit Mühe und Not konnte sie ihn an der Schulter packen und aufrichten, um ihn mit den letzten Schritten hinter den Fels zu ziehen.

„Du hast gesagt, du hast deinen Schild noch!“, mahnte sie ihn streng. Und wirklich, nach ihren Maßstäben fauchte sie ihn damit regelrecht aufgewühlt an.

„War gelogen“, ächzte der Bannwirker und versuchte sich seine Schulter zu besehen.

„Halt still“, wies sie scharf an und besah sich die Wunde. Ein Streifschuss, wie vermutet. Verbrennungen, ja, aber nichts unmittelbar Kritisches.

„Wir müssen weiter, er rückt auf“, wandte Alandor ein, als sie ein paar Sachen bereitlegte.

„Dann zwing ihn in Deckung“, gab sie lediglich zurück. Seufzend richtete Alandor sich auf und prompt schoss ein weiterer Blick über den Fels hinweg. Er dagegen schleuderte ein paar Zauber zurück. Es ergab sich daraus, völlig unweigerlich, ein kleiner Grabenkrieg. Meister Quasiliam musste sich ebenfalls in Deckung begeben. Das verschaffte ihr ein paar wenige Minuten, um Alandors Schulter zu versorgen. Dabei stellte sie sicher, dass er spürte, wie unzufrieden sie damit war, belogen zu werden. Sie konnte verstehen, warum er es getan hatte. Immerhin war er ihr sehr zugetan und sie hatte nichts, um sich gegen Blitzschläge zu verteidigen.

Dummerweise war sie das umgekehrt ebenso und wusste nun, dass er auch nichts mehr hatte. Was sie zurück an den Punkt brachte, das er ihr ins Gesicht gelogen hatte, um ihre Sicherheit gewährleisten zu können – auf Kosten seiner eigenen. Sie wollte keinen tapferen Helden, der für sie starb. Sie brauchte weder einen edlen Ritter, Paladin oder Retter, keinen Beschützer. Wann begriff er das endlich?

Das gelegentliche Ziepen und Brennen, dass ihre Tinkturen und Salben verursachten, war zweifellos der Grund für ein paar kleinere Konzentrationsprobleme während seiner Zauber. Aber er hatte sich treffen lassen, also musste er da nun auch durch und glücklicherweise: Ihnen flog keiner seiner Zauber um die Ohren.

„Ich denke, ich habe ihm klar gemacht, dass wir gerne eine Pause hätten“, ächzte Alandor sichtlich erschöpft, als er sich am Fels einen Moment sinken ließ.

„Nicht anlehnen“, mahnte Reva. An sich sollte das selbstverständlich sein, aber er hatte sie über den Schild angelogen, also befand sie es für würdig, ihn daran zu erinnern.

Sie war bereits dabei, seinen skeptischen Blick mit einer wuchtigen, ausschweifenden Rede zu quittieren – was hatte er sich dabei auch gedacht?! -, als er ihr schlicht zuvor kam. „Wie geht’s jetzt weiter?“

Das fragte er sie? Natürlich war auch das nur wieder ein indirekter Informationsaustausch. Er wusste, zumindest für den Moment, nicht weiter. Reva nahm sich den Augenblick, die Umgebung ins Auge zu fassen. Die Landschaft glich einer Prärie. Es gab vereinzelte Felsformationen hier und da, ein paar knorrige alte Bäume, aber das Land war weitestgehend flach und gut einsehbar. Wenn man nicht gerade sowieso bereits hinter einem Stein hockte, dann war man im Grunde Freiwild für alles und jeden, der auf große Distanz schießen konnte. Und Blitze waren, anders als Bolzen, sehr viel schneller. Man zielte und traf, worauf man zielte, während ein Bolzen zumindest eine knappe Flugdistanz zurücklegen musste – das konnten Sekundenbruchteile sein, die einem das Leben retteten. Diesen Luxus hatten sie mit Meister Quasiliams Zaubern nicht.

Sie würden natürlich versuchen können, zum Dorf zurückzukehren. Mehr Deckung. Vielleicht konnten sie ihn dort irgendwo ausmanövrieren, ihn überraschen. Es wäre schließlich nicht das erste Mal. Aber egal, wie oft sie die Oberhand gewonnen hatten: Sie konnten ihn nicht einfach umbringen. Sie konnten ihm ja nicht einmal seine Habe abnehmen.

Jeder einzelne, noch so kleine Schritt, den sie gegen ihn unternehmen würden, würde vor dem Tribunal gegen sie verwendet werden. Wenn sie ihre Unschuld beweisen wollten, mussten sie dorthin gelangen, ohne… nun ja, eigentlich, ohne überhaupt irgendwelchen Widerstand aufzubieten. Natürlich gab es die Option, ihren Verfolger verschwinden zu lassen. Aber für sowas gab es den Zirkel der Seher – sie konnten nicht sagen, ob ihr Fall dem Orden wert und wichtig genug wäre, diesen einzuschalten.

Was ihnen fehlte, jetzt mehr als in den drei Wochen zuvor, das war eine gute Option.

Als Alandor die Armbrust von seinem Rücken zog, hob sie skeptisch eine Braue. „Weißt du überhaupt, wie man damit umgeht?“

„Man legt den Bolzen hier rein, spannt das Ding und schießt auf das, was man spicken will – wie schwer kann das schon sein?!“, warf er gereizt zurück. Sie hätte ihn gerne darauf hingewiesen, dass Armbrüste ihrer simplen Bedienung wegen gern an Idioten aller Preisklassen vergeben wurden, aber es dennoch mehr gab, um erfolgreich damit zu feuern – vor allem auf Distanz, auf ein bewegliches Ziel und auf ein kampferfahrenes Ziel. Aber er war hochkonzentriert darauf, sie beide am Leben zu erhalten, also entschied sie sich vorläufig dagegen, ihn zu belehren und ging eigenen Überlegungen nach.

Sie konnte sich natürlich in einen Roc verwandeln. Nicht etwa, um anzugreifen. Aber, um Alandor mit einer Klaue zu packen und davon zu fliegen. Bis zu einer anderen Insel würde sie es mühelos schaffen. Dummerweise waren Rocs enorme Kreaturen und damit sehr viel bessere Ziele. Und ihre natürliche Resistenz gegenüber Blitzschlägen betrug… null. Weshalb diese gewaltigen Geschöpfe Gewitterstürme üblicherweise tunlichst mieden.

Dennoch war es eine-

Die Tasche!

„Meine Komponententasche!“, fluchte Reva und sah sich danach um. Sie hatte das verdammte Ding die ganze Zeit in der Hand gehalten. Wo war sie?

In Eile ging sie in Gedanken alle Schritte rückwärts durch. Alandors Versorgung. Aber nein, sie hatte sie nicht einfach bei Seite gelegt oder weggesteckt. Das Rutschen hinter den Fels. Aber nein, sie war nicht einfach weggefallen. Weggefallen. Alandors Schlingern, als er getroffen worden war…! Wider besseren Wissens erhob sich Reva kurz und spähte über den Fels. Wie zu erwarten war, kam ein Blitz angeschossen, jagte jedoch großzügig an ihrem Kopf vorbei. Während sie mit einer gehörigen Portion Frustration ihre Komponententasche dort liegen sah.

Das konnte so nicht bleiben. Wenn sie die Tasche verlor… nein. Einfach nein. Sie mussten sie zurückholen. Also dann wohl doch Richtung Dorf und irgendwie versuchen, unterwegs-

„Sieht aus, als könntet ihr Hilfe gebrauchen“, kam es aus unerwarteter Richtung.

Während Reva sich deutlich besser unter Kontrolle hatte, wirbelte Alandor deutlich alarmierter herum und schoss mit der frisch nachgeladenen Armbrust sofort auf wen-auch-immer.

Dort, keine fünf Meter entfernt, stand Kaleran. Keine Gewitterwolken über ihm, kein Blitzschlag. Er stand einfach da. Natürlich wehrte er den Bolzen mühelos ab, ließ ihn in der Luft anhalten und zu Staub zerfallen. Binnen Sekundenbruchteilen um Jahrtausende gealtert.

„Was willst du denn hier? Keiner hat dich gerufen, wir kommen prima zurecht!“, schoss Alandor gereizt in Richtung des Chronisten.

Es war ein langer Tag, seufzte Reva innerlich – und dabei war es erst Mittag. Nun, es waren lange Wochen. Das klang schon korrekter. Sie konnte ihrem Gefährten schlecht vorwerfen, etwas… skeptisch zu sein. Vor allem, nachdem ihr letztes Zusammentreffen mit dem Chronisten so unerfreulich verlaufen war. Gerade für ihn.

Reva dagegen hatte noch einen Kopf, der kühl genug war, um hier eine sich bietende Chance zu sehen. Vorsichtig lugte sie über den Fels und war heilfroh, einen Vogel mitten im Flug erstarrt zu sehen. Also richtete sie sich auf, ignorierte Alandors schockierten Blick und seinen hastigen Einwurf, dass sie sich umbringe und glättete erst einmal ihre Kleidung, klopfte den widerlich hartnäckigen Dreck und Staub davon herunter. Da fehlte noch ein angenehmes, stundenlanges Bad und einiges an Pflege, aber sie fühlte sich zumindest nicht mehr ganz so räudig wie gerade eben noch, als sie am Boden kauerte und sich an einen Fels presste.

„Danke“, ließ sie Kaleran zunächst wissen.

Da sie nicht sofort von einem Blitz erschlagen wurde, schien auch Alandor allmählich die neue Situation zu begreifen. Auch er erhob sich, verzichtete jedoch auf die Grundpflege. Vielleicht, weil er vermutete, jede Sekunde wieder in Deckung springen zu müssen und die Arbeit damit obsolet wäre.

War sie nicht. War sie nie. Nicht, wenn man sie befragt hätte.

„Ich entnehme diesem glücklichen Zufall, dass du an einem Handel interessiert wärst. Du bietest zweifellos an, uns mit Meister Quasiliam dort drüben auszuhelfen und im Gegenzug sind wir dir bei deiner Agenda behilflich, korrekt?“ Er nickte zunächst nur und das zauberte ihr tatsächlich ein Lächeln auf die Lippen. „Wunderbar. Ich wüsste gerne mehr. Sich das anzuhören schadet nicht und wir haben ganz offenkundig alle Zeit der Welt“, setzte sie nach und wandte sich mit jenem zweiten Teil insbesondere an Alandor. Der sah sich daraufhin um und schien, nun, wenig begeistert. Aber auch das war zu erwarten gewesen.

„Wie genau kannst du uns also weiterhelfen? Und was erwartest du dafür?“

Natürlich war Reva bewusst, dass jedwedes Geschäft mit Kaleran immer ein Risiko war. Er begriff die menschlichen Tugenden nicht und sah sich nie an sein Wort gebunden. Er stellte etwas in Aussicht, dass man gerne haben wollte. Ob man das letztlich auch bekam, hing üblicherweise davon ab, ob es seinen Plänen im Weg stand oder nicht – und die wiederum waren selten bekannt. Es war also das reinste Glücksspiel, mochte man meinen. Reva hingegen glaubte das nicht. Sie hatte das Ende gesehen. Ein mögliches Ende, zumindest. Und sie bezweifelte, dass es in Kalerans Interesse war, das zuzulassen. So viele Eingriffe, so viele Geschehnisse, von ihm manipuliert, quer durch die Jahrtausende. Er arbeitete auf etwas zu. Etappenweise. Und es war nicht der Untergang der Existenz, die Auslöschung allen Lebens oder dergleichen.

Das minimierte das Risiko zwar nur unwesentlich, aber sie nahm jedes Bisschen, das sie bekommen konnte, um etwas mehr Verlässlichkeit gewährleisten zu können. Um ihre Wünsche für solche Situationen auf etwas mehr Wissen begründen zu können.

Natürlich versuchte sie, unter dem Vorwand, sich die Beine etwas vertreten zu wollen, auch an ihre Komponententasche heranzukommen. Dann wäre ein Handel vielleicht hinfällig oder zumindest nicht mehr so dringend nötig. Auch wenn ihr nach wie vor die Vorstellung nicht gefiel, eine gewaltige Zielscheibe abzugeben, wenn sie sich in die Lüfte schwang. Doch wie erwartet befand sich die Tasche in Zeitstarre und ließ sich daher nicht bewegen, als sie sie probehalber mit dem Fuß sachte anstieß.

„Falls du dich entscheidest-“, begann Kaleran, doch Reva fiel ihm schlicht ins Wort.

Ich mich?“

Stirnrunzelnd nickte Kaleran und folgte ihrem Seitenblick zu Alandor. „Er bleibt hier. Sobald ihr euch entschieden habt, das Geschäft anzunehmen, wird er mit in der Zeit eingefroren.“ Einen Moment benötigte er scheinbar, um seinen Text wiederzufinden. „Falls du dich entscheidest, den Auftrag anzunehmen, werde ich dich 32 Jahre in die Vergangenheit versetzen, nach Ostwacht. Das liegt-“

„In Akkara, der Hochburg des Ordens. Wissen wir“, fiel sie ihm abermals ins Wort. Er zog die Brauen etwas zusammen.

„Korrekt“, setzte er fort, „Dort wirst du Meister Ignatius Sarif ausfindig machen und töten. Solltest du den Auftrag erfolgreich-“

„Wie?“, unterbrach Reva abermals.

Kaleran stutzte, verzog leicht das Gesicht. „Was?“

„Wie soll ich ihn umbringen? Wann? Wo? Ist er Ordensmagier? Zirkelmagier? Welche Schule hat er? Bitte etwas präziser.“ Das waren schließlich völlig berechtigte Fragen.

„Die Wahl von Ort, Zeitpunkt und Mitteln ist dir überlassen. Natürlich gilt: Je kürzer du dort bist, desto weniger mischst du dich ein. Je weniger du dich einmischst, desto ungefährlicher wird deine Präsenz für die Zeitlinie. Meister Sarif ist Ordensmagier und beherrscht Geistmagie.“ Kaleran musterte sie. Wartend. Lauernd, fast schon. Als würde er die nächste Unterbrechung noch abwarten wollen, ehe er von neuem begann. „Solltest du erfolgreich sein, werde ich euch eine äußerst nützliche Information zuspielen, sowie Meister Quasiliam in Lairuinen absetzen. Er besitzt keine Möglichkeit zur Teleportation und wird daher Wochen brauchen, ehe er eure Fährte wieder aufgenommen hat – und weitere Wochen, ehe er euch eingeholt hat. Genug Zeit, um zum Tribunal zu kommen und euren Fall darzulegen.“

Reva nickte zufrieden. „Und wie wird das für uns ausgehen? Man könnte schließlich uns anlasten, dass Meister Quasiliam plötzlich in Lumiél landete.“

„Er handelt zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits entgegen seiner Direktiven. Das Tribunal wird den Status eurer in Frage gestellten Loyalität revidieren und ihn seines Amtes als aktiver Abtrünnigenjäger entheben.“ Das waren keine Vermutungen. Er wusste es. Weil er es gesehen hatte.

„Da der Zeitpunkt des Attentats mir überlassen ist – wie komme ich zurück? Spürst du, wann es soweit ist und reißt mich einfach hinaus?“, hakte Reva weiter nach.

Kaleran dagegen schüttelte den Kopf und zog eine kleine, steinerne Plakette aus der Tasche. Sie wirkte extrem dünn. „Brich sie, sobald du zurückzukehren wünschst.“ Angesichts der Umstände war davon auszugehen, dass das kleine Ding auch tatsächlich nur dann brechen würde, wenn sie das wollte.

Dennoch. Als er herantrat und ihr das dünne kleine Scheibchen überreichte, nahm sie es mit Bedacht an und blickte zu ihrem Gefährten herüber. „Erlaubst du uns einen Moment? Zum Verabschieden.“ Er nickte und Reva trat zu Alandor herüber. „Untersuch‘ das, rasch“, wies sie ihn an.

„Wer ist das?“, hakte der Bannwirker skeptisch nach.

„Kaleran. Siehst du doch“, erlaubte sich Reva tatsächlich einen Moment eine etwas spitzere Zunge. Ihr Begleiter warf ihr unter gehobener Braue einen skeptischen Blick zu. „Ich weiß es nicht“, gestand sie daher knapp darauf ein, „Aber ich habe vor, das herauszufinden. Er beherrscht Zeitmagie, also muss er ein Chronist sein. Duncan würde sich aber nicht all diese Mühe machen. Vielleicht ein Dritter, ein Neuer.“

„Das gefällt mir nicht“, gab Alandor wenig überraschend zurück.

„Als ob mir das gefallen würde! Aber er hat in einer Sache Recht – wir könnten die Unterstützung aktuell gut gebrauchen. Ich werde sehen, was ich über Meister Sarif herausfinden kann, bevor ich Schritte ergreife. Was sagt das Artefakt?“ Kaleran wartete in einiger Entfernung. Und Reva sah sich durch Alandors Einschätzung nur in ihrem Gefühl bestätigt. Von Anfang an war da etwas nicht richtig gewesen. Kaleran verstand vielleicht nicht viel von Emotionalität, aber er gönnte sich selbst dennoch üblicherweise große Auftritte. Es hatte jedoch keine Sturmfront gegeben. Es hatte nicht einmal die berüchtigten Blitzschläge aus heiterem Himmel gegeben, die in Geschichten sonst erwähnt wurden. Gar nichts. Er war einfach da gewesen.

Dazu kam, wie er im Gespräch reagiert hatte.

Dem echten Kaleran ins Wort zu fallen war letztlich eine Belanglosigkeit. Es störte ihn nicht weiter, und wenn er fünfzig Mal von vorne anfangen musste. Er hatte schließlich alle Zeit der Welt. Er war nicht reizbar. Dieser Kaleran jedoch hatte Spuren von Ungeduld gezeigt. Von Verärgerung. Frustration. Hinter diesem Gesicht steckte jemand, der sich Mühe gab, Kaleran zu sein. Kaleran zu spielen. Der aber ganz gewiss nicht Kaleran war. Und falls tatsächlich alle sogenannten ‚reinen‘ Chronisten emotionslos waren, dann konnte es sich nur um Duncan handeln – oder einen anderen Chronisten, der irgendwann einmal als Wesen mit der Veranlagung zur Zeitmagie geboren und erst später von den Chronisten rekrutiert worden war. Duncan jedoch würde sich nicht solche Mühe geben. Er war manipulativ, sicherlich. Aber er wiederum würde wissen, würde einfach wissen müssen, dass gerade Alandor und sie ihn inzwischen gut genug kannten, seine Tricks genug kannten, um ihn zu erkennen und zu durchschauen.

Alles deutete auf einen neuen Spieler hin.

Und Reva behagte einfach nicht, welche Implikationen das für die Welt haben mochte. Was war wiederum dessen Ziel und Agenda? Zu welchen Mitteln konnte er greifen? Kalerans Einflüsse waren schier überall zu spüren. Zu sehen. Wenn man nur gut genug danach grub, dann fand man rasch heraus, dass er so ziemlich jedes lebende Wesen an irgendeinem Punkt direkt oder indirekt beeinflusst hatte. Die Welt war geprägt von seinem Handeln. Und Duncan, obgleich weitaus weniger mächtig, schickte sich mit der Endlosigkeit seiner Existenz an, es dem einzig wahren Kaleran gleich zu tun. Konnte die Welt überhaupt noch einen Chronisten und dessen Spielchen verkraften?

„Funktioniert“, meinte Alandor und riss Reva aus ihren Gedanken. Sie wollte ihm bereits ein ‚wenig hilfreich‘ entgegen werfen, als ihr klar wurde, dass er lediglich überrascht davon war, dieses Ding überhaupt untersuchen zu können. „Es sendet ein Signal, wenn es gebrochen wird. Könnte vermutlich durch Zeit dringen?“

„Ist es personalisiert? Auf mich abgestimmt?“

„Nicht, das ich es sehen könnte, nein.“ Sie nickte. Damit galt es nur noch eine Sache auszutesten. Nach kurzer Anweisung umarmten sie einander – und möglicherweise, durch einen dummen Zufall, wurde dabei ein kleines Stück der Scheibe abgebrochen.

„Was macht ihr?“, kam prompt von Kaleran. Offenbar funktionierte der Sender ganz prächtig.

Mit ihrer besten Unschuldsmiene wandte sich Reva um. „Ich habe mich verabschiedet – wonach sah es denn aus?“

„Du hast die Scheibe gebrochen“, warf er ihr um Neutralität bemüht vor.

Sie zog das kleine Ding hervor und besah es sich. „Oh. Mir war nicht klar, dass es so empfindlich wäre. Hast du noch eine?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Sie funktioniert immer noch, es war ja nur ein kleines Stück.“

Formulierung, mein Guter… du wirst unachtsam. Reva verzog keine Miene, nickte lediglich, ihr Lächeln weiterhin unantastbar auf ihren vollen Lippen. „Oh, gut, beruhigend. Sagen wir, ich gerade in eine etwas unangenehme Lage. Und habe nicht mehr so viel Zeit oder die Möglichkeit, die Scheibe bei mir zu behalten. Ich schaffe es, sie zu brechen, verliere sie dann aber aus den Händen. Was dann?“

Kaleran überlegte einen Moment. „Dann werde ich Bescheid wissen und muss dich eben in der Zeit suchen und zurückholen. Es wäre jedoch anzuraten, dass du zumindest  versuchst, einen Teil der Scheibe zu behalten. Als Zielmarker.“

„Ich werde mich bemühen“, erwiderte sie lächelnd. Ihr Blick schweifte umher und blieb einen Moment an Alandor hängen. Er würde sich wohl oder übel dem fügen müssen und man sah ihm seine diesbezügliche Begeisterung bereits bestens an. „Fein, ich denke… ich bin so weit.“ Sie nickte Kaleran zu, der herantrat und ihr die Hand entgegenhielt. Als sie Einschlug, spürte sie die Macht der Entität, mit der sie sich gerade eingelassen hatte. Auch wenn es nur für einen Sekundenbruchteil war.

Bei Kaleran war ihr davon schlecht geworden. Speiübel. Hier jedoch? Als sie sich wieder manifestierte, irgendwo anders, irgendwann anders, da brach sie sofort auf die Knie, kämpfte gegen die Übelkeit und die schier überwältigend scheinende Ohnmacht, kämpfte gegen leuchtende Sternchen, die vor ihren Augen tanzten. Da war kein Ende gewesen. Sie hatte versucht, das Ausmaß an Macht zu begreifen, mit dem sie es da zu tun hatte und hatte dabei unwissentlich versucht, die Unendlichkeit zu fassen.

„Amateur“, raunte jemand im Vorbeigehen amüsiert.

„Mein Herr, ich glaube, das ist euch heruntergefallen“, krächzte sie noch immer den Würgereiz bekämpfend. Offenbar gerade laut genug, dass der Angesprochene innehielt und sich zu ihr umwandte. Sie hielt ihm die kleine Steinplakette entgegen.

„Das gehört mir nicht“, kam prompt zurück.

„Seid ihr sicher? Es fiel gerade herunter“, beharrte sie und richtete sich langsam auf. Die Übelkeit ließ nach, die Ohnmacht zog sich zurück, aber dafür traf sie der Verlust ihres Gleichgewichtsgefühls dafür mit umso größerer Härte und ließ sie taumeln. Der Fremde, irgendein älterer Mensch in seinen Vierzigern, trat heran und versuchte sie stabilisierend zu greifen.

„Euer erster Teleport?“, hakte er amüsiert nach.

„Mhm. Das hier ist nicht Thethys, oder?“, seufzte sie bemüht. In der Tat, es war heiß. Brennend heiß. Enge Straßen, überspannt von Tüchern und Planen, alles war bunt, voll, laut, geschäftig. Es erinnerte an Sundergrads Straßen – nur etwas… multikultureller. Hier liefen nicht einfach nur dunkelhäutige Menschen zwischendrin herum. Hier liefen Drider und Agathion und allerhand andere Raritäten herum.

„Nein, ganz sicher nicht – willkommen in Ostwacht, Frischling“, amüsierte sich der Alte weiter, „Na dann zeig das Ding mal her.“ Er griff nach der Plakette und in dem Moment, als er das dünne Scheibchen zwischen Zeigefinger und Daumen zu nehmen versuche, knickte Reva es. Das Stück brach – und sie ließ das größere Teil fallen, während er das Kleinere noch hielt.

Binnen eines Wimpernschlages war er fort. Sie hatte nicht wissen können, ob es so funktionieren würde. Sie hatte spekuliert und es hatte geklappt. Reva sammelte die Plakette vom Boden auf und zog sich einen Schritt zurück. Wie erwartet tauchte Sekunden später ein sichtlich verwirrter Herr aus dem Nichts auf. Er schien einen Moment desorientiert, ehe er mit den Schultern zuckte und seines Weges ging. Teleportation war in den Landen der Magi nicht selten, daher erregte es keinerlei Aufmerksamkeit. Nicht einmal seitens der extraplanaren Geschöpfe, die hier herumrannten und unweigerlich die ganze Zeit alle Magie lasen und aufschnappten – denn für die meisten von denen war es nichts Außergewöhnliches. Sie wussten einfach nicht, was es in dieser Existenzebene bedeutete, wenn ein Mensch mal eben per Zeitmagie sprang.

Was nicht geschah war, das ein wütender nicht-Kaleran auftauchte. Aber sie rechnete fest damit, sich dafür später noch etwas anhören zu dürfen – was ja auch Sinn und Zweck der Sache war. Sie freute sich gewissermaßen schon darauf. Doch zunächst galt es Arbeit zu erledigen und Reva fügte sich mit Bravour in die oberste Gesellschaftsschicht Ostwachts ein. Es galt ein wenig im Trüben zu fischen…

 

Sie war so bezaubernd. So wunderschön. Sein Täubchen, seine zarte Blüte.

Vorsichtig trat Ignatius näher an den Tisch heran, auf dem sie aufgebahrt lag. Er hatte alles vorbereitet. Die Werkzeuge lagen parat. Vorsichtig nahm er das Erste. „Darf ich?“, erkundigte er sich höflich. Sie widersprach nicht. Also nahm er behutsam ihre Hand, führte das Werkzeug unter den Fingernagel ihres Daumens. Kratzte Schmutz und Dreck hervor. Spülte vorsichtig, behutsam nach. Die Flasche hing an einer Nadel, mit der er selbst feinste Stellen ausspülen konnte. Eine Eigenkonstruktion, auf die er stolz war. Er war kein Genie, kein großer Erfinder, gewiss nicht. Aber er verstand sich auf sein Handwerk.

Nach und nach reinigte er ihre Fingernägel. Dann bestrich er sie mit einer Lösung, deren Rezeptur er ebenfalls selbst entwickelt hatte. Es würde die Nägel stärken. Eine klare, durchsichtige Substanz. Sie roch ein wenig streng, aber der Geruch verflog schnell. Er entschuldigte sich bei ihr für die Umstände, doch Abänderungen der Rezeptur zur Verbesserung des Duftes hatten bisher immer die Nachhaltigkeit und Wirksamkeit beeinträchtigt.

Er wiederholte den Prozess an ihren Füßen. Sie hatte kleine Füße. Schmal und zierlich. Geschickt und feingliedrig. Die Füße einer Tänzerin vielleicht? So stellte er sich die Füße einer Tänzerin vor. Hübsche Knöchel.

Vorsichtig öffnete er ihre Augenlider. Ein mattes Blau darin. „Das ist unangenehm, ich weiß, aber es wird helfen. Glaube mir, meine Hübsche.“ Er träufelte etwas aus einer Pipette in ihre Augen. Zwei Tropfen. Drei. Vier. Genug. Vorsichtig schloss er ihre Lider wieder, tupfte die überflüssige, ablaufende Substanz behutsam fort.

Mit den feinsten Ölen und aromatisierten Seifen wusch er ihre Haare. Wusch den Dreck daraus hervor. Den Staub, die Erde, das Blut. Knetete ihre Haare durch, bis sie sauber waren, trocknete sie mit einer Mischung aus Handtüchern und Magie, bis ihre unbändige, wundervoll duftende, dunkelbraune Mähne in Locken über den Rand des Tisches fiel.

Mit einem Lappen tupfte er ihr Gesicht ab. Grob, zunächst. Wusch ihr mit einem kleinen Stöckchen, an dem er Watte festgebunden hatte, die Ohren aus, die Nase, stoppte aber, als er zu ihren Lippen kam. Das war unhygienisch. Er spannte neue Watte auf. Fuhr zunächst über sie gebeugt mit dem Stab langsam die Konturen ihrer vollen Lippen nach. So zart und blass. Er beugte sich tiefer, betrachtete ihre Konturen aus nächster Nähe, ihre perfekte kleine Nase, die Position ihrer Wangenknochen, den schmalen Kiefer. Noch ein wenig tiefer und er glaubte eine Spur des Duftes zu vernehmen, der von ihren Haaren aufstieg. Sie selbst hatte keinen Duft mehr. Gleich als Erstes, als sie zu ihm kam, hatte er sie gewaschen. Lange und gründlich. Sie war sauber. So sauber, wie sie in ihrem Leben wohl nie gewesen war.

Er spürte, dass er zitterte. Seine Hand zitterte. Sein Herz flatterte. Noch ein Stück tiefer, ein kleines Stück nur. Warme Lippen trafen auf Kalte. Sie fror. Er wollte ihr seine Wärme schenken, doch… er spürte ein Pulsieren, ein Ankämpfen, das Ringen seines Herzens, Blut von jenem scheußlichen Ort fern zu halten. Es ruinierte die Unschuld des Momentes!

Zitternd vor Liebe und Zorn zugleich, entfremdete er sich ihr. „Verzeih“, hauchte sein Stimmchen leise, fast unhörbar leise. Bestimmt hatte sie ihn vernommen. Bestimmt verstand sie. Vergab ihm. Als er sich von ihr gelöst hatte, trat er ab. Trat hinüber zu seinem Schreibtisch. Den Hammer zur Hand genommen, den Gürtel gelöst, das widerliche, hässliche Ding auf den Tisch gelegt und schon zum Schlag ausgeholt. Es wäre das letzte Mal gewesen, dass es seinen hässlichen Kopf reckte und an seinem Leben teilzuhaben versuchte, seinen Spaß zu ruinieren versuchte, in seine Arbeit hineinpfuschte!

Doch der Anblick ließ ihn zaudern. Zögern. Vernarbt von Brandwunden, Schnittwunden, Stichwunden. Unter seinem zornig lodernden Blick wagte es nicht, fortzubestehen. Das hässliche Ding schrumpfte in sich zusammen, wimmernd, weinend, klagend, bis es fast zur Gänze verschwunden war. Langsam ließ er den Hammer sinken, legte ihn wieder auf den Tisch zurück.

„Gut so. Und bleib da“, wies er streng an. Er knöpfte die Hose wieder zu, schloss den Gürtel. Und kehrte an die Arbeit zurück.

Da lag sie noch immer, geduldig, wartete auf ihn. Nur auf ihn, niemanden sonst.

Er trat zu ihr heran, seinem Täubchen, streckte die Hand nach ihr aus und wagte doch nicht, sie zu berühren. Es war falsch. Es würde ihre Schönheit beschmutzen. Dabei gab er sich doch so viel Mühe, sie in vollem Glanz erstrahlen zu lassen. Sein Blick streifte von ihren verlockenden, verheißenden Lippen herab. Ein schlanker Hals. Zierliche Schultern. Sie war jung, keine zwanzig Jahre alt. Ihre Brüste waren noch straff und fest, klein und zierlich. Er beachtete sie kaum. Sein Augenmerk lag auf den unter der Haut sichtbaren Rippenbögen darunter. Er zählte sie, hoch und runter, runter und hoch.

„Du solltest mehr Essen, Liebste“, rügte er sie leicht. Er streckte abermals die Hand nach ihr aus, unterließ es jedoch. Sauber. Sie war sauber. So sollte sie bleiben. Schön und unschuldig und sauber.

Also nahm er den Lappen wieder zur Hand. Strich behutsam mit einer neuen, weiteren Tinktur versehen ihre Unterschenkel entlang. Hob sie vorsichtig an, um auch die Wade nicht zu vernachlässigen. Die Kniebeuge und das Knie selbst. „Entschuldige. Ich weiß, das muss… ungewohnt sein“, seufzte er leise, als er sich ihre Ferse auf die Schulter legte, „Es dauert nicht lange“, versprach er.

Behutsam wischte er ihren Oberschenkel entlang. Unterseite, Außenseite, Oberseite, Innenseite. Wiederholte die Prozedur auf der anderen Seite ebenfalls.

Dann wieder eine andere Tinktur. Er begann, ihre Flanke damit einzureiben. Ganz vorsichtige, kreisende Bewegungen. Nicht zu viel Druck – er wollte ihr schließlich nicht wehtun. Behutsam beugte er sich wieder tief herab, als er mit dem Lappen über ihren Beckenknochen strich. Sehr dünne Haut, empfindlich – da musste man vorsichtig sein. Sein Blick aber glitt ab, zur rechten Seite weg. Ihr Hügel bot nur noch getrimmtes Haar auf, doch sein scharfes Auge sah es ganz genau, jawohl!

„Na das darf doch wohl nicht wahr sein“, fluchte er leise, erhob sich, sah zu ihrem Gesicht auf, „Warum hast du mir nichts gesagt? Wirklich, du brauchst dich nicht schämen…“ Er starrte sie an. Wartete auf Antwort. Bis es ihm dämmerte. Sie schämte sich nicht. Nicht hier, nicht vor ihm. Sie hatte nur nicht gewollt, dass er mit seiner Arbeit unzufrieden war. Sie bedeutete ihm schließlich so viel. Er war so stolz darauf. Er hatte etwas übersehen, aber sie befand es nicht für wichtig.

Aber das war es!

Eilig legte er den Lappen bei Seite, nahm die feine Schere zur Hand. Eine Hilfskonstruktion auf die linke Seite gerollt, um den Schenkel darauf abzulegen, und eine auf die Rechte für den Anderen. Ihre Beine weit gespreizt, hatte er den perfekten Zugang und beugte sich weit vor, setzte sich sogar die verhasste Brille auf. Eins. Zwei. Vier. Fünf. Acht. Acht Haare. Acht! Gute Güte. Vielleicht wurde er wirklich alt? Oder blind?

Ganz behutsam griff er zu. Er wollte die Haare schließlich nicht herausziehen. Nur genug entkräuseln, dass er sie vernünftig schneiden konnte. Auf die gleiche Länge wie alle anderen auch. So gehörte sich das schließlich. „Halt still, Liebste“, bat er leise. Sein Blick glitt etwas ab. Weiter runter. Auf ihre Lippen, die plötzlich, irgendwie, so einladend wirkten. Verlockend. Verheißend. Er näherte sich behutsam, sog tief die Luft ein und roch… nichts. Sie war sauber. Völlig und absolut sauber. Und wunderschön. Es war betörend, wirklich.

Dann aber kam er zu Sinnen. Da war es wieder, das hässliche Ding, pulsierte, stahl im Blut, wagte sich hervor. „Nein!“, zischte er erbost, „Du wirst sie nicht haben! Du wirst sie nicht besudeln!“ Sein Blick glitt durch den Raum, blieb fast schon furchtsam an einem der anderen Tische hängen. Sein Augenstern hatte dort drüben gelegen. Er hatte sich Mühe gegeben, wirklich viel Mühe gegeben. Aber er konnte an dem Tisch nicht mehr vorbei gehen, ohne sich bei ihr zu entschuldigen.

Er hatte sie beschmutzt. Er hatte ihre Schönheit ruiniert. Weil das hässliche Ding sich nicht in seine Schranken hatte weisen lassen. Ein fürchterliches Monster, das solche Schönheit ruinierte. „Sie ist mein!“, fauchte er erbost. Ein bisschen Spucke flog dabei von seinen Lippen. Haftete nun an ihren. Sein Blick folgte schockiert dem Geschehen. Besah sich die Stelle an ihr, die er nun beschmutzt hatte. Vorsichtig, wie in Trance, näherte er sich. Öffnete die Lippen. Um sich zu entschuldigen, so glaubte er. Doch je näher er kam, desto unwahrscheinlicher wurde das. Bis er die Zunge das winzigste Stück nur hervor schob und ganz behutsam, ganz langsam, ganz vorsichtig über die betroffene Stelle führte. Das Gefühl ihrer Haut, die Textur, ihr Geschmack nach Lavendel und Flieder, es brannte sich regelrecht in seine Erinnerungen. Er wollte mehr, so viel mehr davon und-

Und dann besann er sich. Was um alles in der Welt tat er hier nur gerade?

Er rückte von seinem Täubchen ab. Hastig ergriff er den Lappen, tränkte ihn in der Reinigungsflüssigkeit. „Verzeih mir, Liebste, bitte verzeih mir!“, würgte er von Tränen halb erstickt hervor. Er bemühte sich, sie fortzublinzeln. Er musste doch schließlich sehen, was er tat! Und noch viel wichtiger war, dass sie nicht fallen durften – nicht auf sie, allemal. Also machte er sie sauber. Bereinigte seinen Fehler. Sühne würde es geben – später.

Als er die acht Haare geschnitten und vom Tisch entfernt hatte, legte er ihre Schenkel behutsam wieder zusammen, rollte die Hilfskonstrukte bei Seite. Vorsichtig besah er sich sein Werk. Zufrieden. Voller Genugtuung. „Du wirst die Schönste von ihnen allen sein, mein Täubchen.“ Er streckte die Hand aus, strich ihre Konturen nach, ohne sie wirklich zu berühren. Sie war perfekt. Sie war wundervoll. Sie war schön und sauber und-

Ein jähes Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.

Ignatius verzog das Gesicht. Er war hier fertig, ja, aber er hatte sich von ihr verabschieden wollen. Seufzend wandte er sich ab. „Ich bin gleich wieder da, Liebste.“ Langsam stieg er die Treppen aus dem kühlen Keller auf und wanderte durch das opulente Haus. An seiner Haustür fand sich eine Magierin.

 

„Meister Sarif, nehme ich an?“ Reva musterte den Mann unauffällig, der die Tür kaum einen Spalt öffnete. Gerade genug, um selbst hindurchspähen zu können. Er schien Mitte dreißig begonnen zu haben, sein Elixier zu nehmen. Der für Akkara typische dunkle Hautton sprach von einem Einheimischen, dazu die bemerkenswert nonchalante Kleidung, die eher auf einen Handwerker hinwies als auf ein Mitglied des Ordens – es passte alles zu ihren Informationen.

„Da nehmt ihr richtig an“, erwiderte der Hausherr und öffnete die Tür ein gutes Stück weiter, „Wie kann ich euch behilflich sein, Fräulein…?“

„Meisterin Reva Tanveer, vom Zirkel. Erfreut, eure Bekanntschaft zu machen.“ Sie knickste, wie sich das gehörte und er bat sie herein. Führte sie in einen Salon, der ganz offensichtlich selten genutzt und für Gäste vorgesehen war.

„Was führt euch in mein bescheidenes Heim, Meisterin Tanveer? Wünscht ihr einen Tee?“

„Oh, sehr gern.“ Ignatius wirkte ein paar Zauber. Was bedeutete, dass irgendwelche immateriellen Krafteffekte sich gerade um heißes Wasser und ein paar Blätter in einer Tasse kümmerten. Gut genug für die meisten Gäste, die dieses Haus aufsuchten, aber es bedeutete wohl auch, dass sie ihre Erwartungen an die Qualität des Tees drastisch herabschrauben musste. Dabei hieß es doch, das Akkara bemerkenswert gute Tees zu bieten hätte. Zu schade, dass Meister Sarif sich diesem Gerücht nicht zu fügen gewillt schien. „Ihr seid der Lehrmeister von Rasimow Quasiliam, richtig?“

„Meister Quasiliam“, korrigierte er ohne sonderliche Gefühlsregung, „Und ja – der war ich. Er war der vorletzte Schüler, den ich ausbildete. Aber das ist schon gut anderthalb Jahrhunderte her. Wieso, bereitet er euch Schwierigkeiten?“

„Oh keineswegs, wie kommt ihr darauf?“ Reva gab sich aufrichtig verwundert – offenkundig erfolgreich. Ignatius machte nicht den Eindruck, sonderlich oft unter Leute zu kommen und das war wohl auch wenig verwunderlich. Sie hatte auf Gedeih und Verderb nicht herausfinden können, welchem Handwerk er eigentlich nachging – aber er verließ wohl selten je sein Heim. Viele Leute in Ostwacht wussten nicht einmal, dass es ihn überhaupt gab… und das, obwohl sie zwei Häuser weiter wohnten.

„Oh, nun, er ist immer ein gelehriger Junge gewesen, talentiert, aber er war auch immer anfällig für Schnapsideen. Wie die Jugend eben so ist.“ Ignatius zuckte mit den Schultern. Kurz darauf klopfte es an der Tür und einmal hereingebeten schwebten zwei dampfende Tassen herbei, ehe die Tür sich wieder schloss.

„Nein, nichts dergleichen, seid unbesorgt. Ich kam nach Ostwacht, weil ich ein Handelsnetzwerk betreibe. Die örtlichen Märkte bieten allerhand exotische Waren an, an einigen davon habe ich Interesse. Ich überlege sie in meinen Warenkatalog aufzunehmen und bei ihrem Vertrieb behilflich zu sein. Manche der Händler verwiesen mich jedoch an euch, dass ihr einen Großteil ihrer diesbezüglichen Vorräte regelmäßig aufkaufen würdet. Ich möchte nur sicherstellen, dass ich nicht in jemandes Revier wildere.“ Mit einem charmanten Lächeln versuchte sie, ihn ein wenig einzulullen, aber etwas an Meister Sarif war… befremdlich. Üblicherweise hatten sämtliche Gesprächspartner zu diesem Zeitpunkt schon mindestens ein oder zwei Mal auf ihren Ausschnitt gestarrt, auf ihre Hüfte und ihre Lippen – in der Reihenfolge. Meister Sarif dagegen schien weitestgehend uninteressiert und verfolgte nur gelegentlich ausgerechnet die Bewegungen ihrer Hände.

Sie hatte zumindest in ihrer Recherche nichts darüber vernommen, das er eher Männern zugetan sei…

„Da müsst ihr euch keine Sorgen machen, Meisterin Tanveer. Und solltet ihr erfolgreich Verträge mit den hiesigen Händlern abschließen können, dann sorgt euch auch da nicht – dann kaufe ich eben bei euch. Das ist mir einerlei, solange ich bekomme, was ich braue. Bringt mir bei Gelegenheit euren Katalog vorbei, vielleicht findet ihr in mir sogar einen treueren Kunden, als ihr glaubt.“ Er lächelte, aber es war unmissverständlich, dass er das Gespräch nicht länger als nötig führen wollte. Also akzeptierte Reva den indirekten Rauswurf. Ob ihm überhaupt klar war, wie überdeutlich das für jeden war, der etwas von Subtilität verstand? Der arme Mann war sozial so unterentwickelt wie fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung Lumiéls.

„Gut, danke – das werde ich. Ich gedenke bis zum erfolgreichen Abschluss meiner Verhandlungen in einem der hiesigen Gasthäuser zu verweilen. Dann will ich sehen, dass ich morgen nochmal her komme und jetzt erstmal nicht weiter eure kostbare Zeit verspiele.“ Sie trank nochmals von ihrem Tee und stellte die halbleere Tasse ab.

Er begleitete sie nach draußen, schloss die Tür und das war’s. Reva… fühlte sich seltsam vor die Tür gesetzt. Sie war dergleichen schon gewohnt, sicherlich, aber üblicherweise wusste sie dann wenigstens, warum eigentlich. Meister Sarif war ein wahrlich seltsamer Kauz – wie es ihr auch mehrfach gesagt worden war…

 

Ignatius kehrte zu seinem Täubchen zurück. Beendete die Arbeiten. Heute würde er zu nicht mehr viel kommen. Er musste Geschirr abwaschen, den Salon herrichten, die Beschmutzung durch Herrin Tanveer beseitigen. Sei hatte hübsche, schmale Hände gehabt.

Erst tief in der Nacht war es soweit.

Meister Sarif erwachte aus seinem Schlaf, keine Stunde, nachdem er in ihm versunken war. Er konnte sich nicht rühren, war paralysiert. Seine Glieder steif, seine Hände, Füße, Finger, Zunge. Selbst die Lippen konnte er nicht bewegen und jetzt, da die Augenlider offen waren, konnte er sie auch nicht mehr schließen.

Ich kann nicht atmen…

Er starrte an die Decke herauf und rätselte, was wohl der Grund für all das sein mochte. Herzprobleme hatte er nie gehabt. Vielleicht ein Nervenschaden? Dann begann plötzlich seine Haut zu jucken. Es wurde immer übler, bis das Jucken in ein Brennen überging. Alles brannte, alles schmerzte.

Wundervoll… ah – der Tee? Wie hieß diese Magierin doch gleich…?

Das Brennen war Agonie und Euphorie. Es schmerzte und weil es schmerzte, tat es gut. Er wusste, dass er starb. Seine Atmung hatte bisher nicht wieder eingesetzt. Er verstand nicht, warum Meisterin Tanveer ihm dieses Geschenk gemacht hatte. Ob sie ihn tatsächlich verstand. Oder ob das nur Zufall war. Hatte er vielleicht irgendetwas getan, um irgendwem im Weg zu stehen?

Sein Sichtfeld begann bereits trotz der Dunkelheit in seinem Schlafzimmer allmählich zu schrumpfen. Aber es genügte noch, damit er aus dem Augenwinkel heraus eine Gestalt dort im Dunkeln stehen sah. Ihn beobachten sah.

Kaleran? Bist du das?

Still und schweigsam verfolgte die Gestalt mit dem dritten Auge auf der Stirn sein Scheiden.

Meister Ignatius Sarif verstand den Grund nicht. Und hegte auch kein gesteigertes Interesse daran. Es war gut so. Sein Täubchen war hübsch. Makellos sauber und unbeschmutzt.

 

Als Reva die Scheibe brach, kehrte sie in die Prärie einer Insel Nervaals zurück.

Was sollte das?!“, blaffte Kaleran wenig überraschend direkt los.

Reva dagegen konnte sich beim besten Willen an dieser Stelle nicht verkneifen, amüsiert aufzulachen. Spätestens jetzt hatte er jegliche Chance verspielt, glaubhaft Kaleran den Sehenden, Chronist der Weißen Halle, spielen zu können. Spätestens jetzt. Natürlich hatte sie immer noch mit der Übelkeit zu ringen, weshalb sie etwas würgte und nicht direkt antwortete, wie sie das gewünscht hätte.

Nicht-Kaleran dagegen wartete ihre Antwort auch gar nicht ab. Er öffnete sein drittes Auge und besah sich… nun, die Veränderungen, die sie herbeigeführt hatte, vermutete sie. Und der mühelos an seiner Mimik abzulesenden Reaktion nach zu urteilen… gefiel ihm nicht, was er sah.

„Nein… nein, das… das kann nicht sein… sie sollte wieder leben…“, krächzte er, würgte er an Tränen vorbei, während er sich zu Boden sinken ließ.

Reva erholte sich zunehmend von der Übelkeit und sah nun eine gute Gelegenheit gekommen, diesen Hochstapler zu enttarnen. „Nicht ganz zufrieden mit dem Ergebnis? Ignatius ist tot, das kann ich garantieren.“ Der Hochstapler nickte lediglich benommen. „Wer sollte wieder leben?“, bohrte sie weiter nach. Sie trat an ihn heran und obgleich das nicht unbedingt ideal war, sie würde einen Teufel tun und sich hinhocken. Das war unbequem. Also blieb sie bei ihm stehen und blickte auf ihn herab.

Als er verheult zu ihr aufsah, rührte das Reva nur bedingt. Sie hatte schon ganz andere Schicksale gesehen, mehr darüber gewusst und sich entschieden, es an sich abprallen zu lassen. „Anna“, krächzte eine bemerkenswert vertraute Stimme. Etwas kratzte an ihrem Hinterkopf. Sie kannte den Namen. Sie kannte diese Stimme. Aber woher?

„Ignatius ist tot“, bestätigte nicht-Kaleran, „Aber es hat nichts geändert.“

Von jenen Worten alarmiert, hob Reva eine Braue. „Ich werde nicht so lange herumspringen und deine Arbeit erledigen, bis du hast, was du wolltest. Wir hatten ein Abkommen. Es kann nachverhandelt werden, aber dann erwarte ich auch mehr Entschädigung für meinen Aufwand“, wagte sie forsch vorzustoßen.

Er schüttelte den Kopf. „Es spielt keine Rolle. Nichts kann sie zurückbringen.“ Mühsam rappelte sich die Gestalt auf und die Illusion fiel ab. Was darunter zum Vorschein kam, erzürnte Reva. Nicht, das sie es sich anmerken oder ansehen ließ. Nach allem, was sie im Widerstand mitgemacht hatte, nach all der Involvierung mit der Rebellion in Lumiél, nach all den obskuren Geschichten über ihre Teilnehmer und deren Abenteuer, war eine Geschichte darunter gewesen, die ihr wirklich im Gedächtnis hätte bleiben müssen.

Und sie hatte sie vergessen.

Es gab eine Kreatur, die Zeitmagie wirkte, ein drittes Auge besaß und kein Chronist war. Hans. Hans Laye aus La Coeur. Oder wie er sich scherzhaft seiner Freundin Ishara gegenüber genannt hatte, Möbius der Große, Meister aller Dinge.

„Du…?“, entfuhr es ihr nach einem Moment der Benommenheit dennoch.

Was hieß das? Was bedeutete das? Hans. Hans und Anna. Wer war Anna? Anna war tot. Jemand, der ihm nahe stand. Sonst hätte er nicht versucht, sie zurückzuholen. Und offenbar konnte er dazu jemanden durch die Zeit schicken. Was bedeutete das für seine Kräfte? Was bedeutete das für ihre Situation?

Kannst du uns überhaupt helfen?“, stolperte die nächste Frage ungeschickt hervor, bevor Reva sich wieder völlig unter Kontrolle bringen konnte. Wie hatte diese Enthüllung sie derart aus der Fassung werfen können?

Er nickte lediglich vage. Irgendwo dort hinten, wo Meister Quasiliam in Deckung gegangen war, sah sie kurz etwas aufblitzen.

„Er ist eine Tagesreise nördlich von Lairuinen“, begann Hans mit kläglicher, unsteter Stimme, „Du hast in Ostwacht eine Notiz für den Stadtverwalter hinterlegt, also werden ein paar Sekunden, nachdem ich weg bin, ein paar Ordensmagi des Tribunals hier auftauchen. Und ich wollte euch warnen. Ihr solltet das Ritual von Chequech studieren. Unter Thethys gibt es ein Höhlensystem. In knapp dreihundert Jahren werden die Untoten Arvum überrennen, oder es zumindest versuchen. Sie bezwingen Thethys und sämtliche Magier darin, indem sie die Stadt desintegrieren. Da. Du hast alles, was du wolltest.“

Die Situation, das war sie durchaus bereit zuzugeben, überforderte sie. Sie. Gerade und ausgerechnet sie, die sonst immer Mittel und Möglichkeiten hatte. Er war ein Gott. Ein frischer und neugebackener  Gott vielleicht, aber nichtsdestotrotz ein Gott. Aber zugleich war er auch ein junger Mann, der noch Flaum am Kinn hatte und mit seiner emotionalen Instabilität nicht umzugehen wusste. Wollte man das beides wirklich kombiniert sehen?!

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Empathie war eine Sache. Sie war empathisch. Sie konnte sich in Leute hineinversetzen. Ihre Motive erkennen und durchschauen. Erkennen, wann jemand sie zu manipulieren versuchte. Sich Dinge von ihr erhoffte. Was jemand brauchte, wollte. Und Hans, der schrie ihr regelrecht entgegen, was nötig war. Aber sie konnte es nicht umsetzen. Sie war nunmal nicht sein Freund. Keine Vertraute, bei der er sich anlehnen und ausheulen konnte. Es wäre bestenfalls fragwürdig gewesen, würde sie ihn nun in den Arm nehmen. Lächerlich, regelrecht.

Aber wollte sie wirklich, dass er in dem Zustand, in dem er sich nun befand, verschwand und… Dinge tat?

„Du solltest zu Ishara gehen“, erklärte sie daher. Es war das Klügste, was sie sagen konnte. Denn nach allem, was sie wusste, war Ishara wiederum tatsächlich seine Freundin. Stand ihm nahe. Bot ihm eine Schulter. Konnte ihn legitim in den Arm nehmen. Ihm Trost spenden. Ihn beruhigen.

Als sein Blick abrupt härter und verschlossener wurde – nicht verschlossen genug, als das sie plötzlich Probleme hätte, ihn zu lesen -, da dämmerte ihr auch, dass sie möglicherweise nicht alle nötigen Informationen hatte. Oder Fehlinformationen aufsaß. „Wenn nicht zu Ishara, dann zu irgendwem sonst. Jemandem, dem du vertraust. Hans, du bist aufgewühlt, du solltest nicht-“

Diesmal kam der Blitz aus heiterem Himmel.

Ohrenbetäubender Donner und gleißendes, grelles Licht. Sie taumelte, blinzelte, aber da war nichts zu sehen, nichts zu hören. Jemand fing sie auf, als ihr Gleichgewicht ihr sagte, dass sie stürzte. Als Form und Farbe in ihr Sichtfeld zurückkehrte, stand da ein wirklich besorgt aussehender Alandor. Er half ihr, sich aufzurichten und als sie sich umsah, erblickte sie wie zu erwarten gewesen war ein gutes Dutzend Magi des Ordus Haereticus – und keinen Hans.

„Einen Moment noch, meine Herrn?“, bat sie die Magi. Die wiederum nickten ihr zu und wahrten respektvollen Abstand.

„Was ist passiert?“, erkundigte sich Alandor nahezu augenblicklich.

„Sagt dir das ‚Ritual von Chequech‘ irgendwas?“, begann sie frustriert.

„Nein. Sollte es?“ Sie seufzte. Natürlich war es nicht so einfach. Er hätte ihnen wohl kaum mehrere Jahrhunderte Vorwarnung gegeben, wenn es so einfach gewesen wäre.

„Dann müssen wir uns offenbar anlesen, was es damit auf sich hat. Hans steckte hinter der ganzen Sache. Wir sollten zusehen, dass wir so schnell wie möglich Ishara kontaktieren. Irgendwer muss ihn aufstöbern und mit ihm reden. Offenbar hat Meister Sarif irgendein Mädchen Namens Anna umgebracht, direkt oder indirekt. Er hat versucht, durch das Attentat auf ihn sie zurückzuholen. Hat wohl nicht funktioniert. Sie müssen sich überdies sehr nahe gestanden haben, sonst wäre er nicht so... instabil gewesen, als er entschied, mich mit klingelnden Ohren und blind stehen zu lassen. Jemand muss sich darum kümmern. Möglicherweise gab es irgendeinen Streit zwischen den Beiden, aber mir würde sonst erstmal niemand einfallen, den wir damit beauftragen können. Wir haben schließlich mehr als genug Eigenes zu erledigen. Dennoch sollte sich jemand darum kümmern – niemand will einen wütenden, frustrierten Zeitgott herumlaufen lassen. Das Ritual wiederum hat wohl irgendetwas mit dem möglichen Untergang von Thethys in ein paar hundert Jahren zu tun, durch die Hand von Untoten, die offenbar versuchen, Arvum zu überrennen.“

Natürlich war Reva bestens bewusst, was es hieß, Alandor hier und jetzt mit so vielen Informationen zu erschlagen. Doch er hielt sich wacker und sortierte so viel wie möglich davon für ‚später‘ weg. „Gut, dann lass uns gehen. Ich glaube, ich habe für die nächsten Dekaden erstmal genug von Nervaal gesehen.“ Reva nickte ihrerseits und gemeinsam traten sie an die Magi des Ordens heran. Ein Teleport später und sie befanden sich in den Hallen des Tribunals…

 

„Es tut mir leid“, krächzte Hans heiser. Noch immer war seine Stimme nicht vollständig zurückgekehrt. Doch hier, auf der Astralebene, der Ebene der Träumer, Träume und Träumenden, wurde das Echo seines Elends gewaltiger, je stärker er daran dachte. Alle Gedanken manifestierten sich in dieser Endlosigkeit.

„Ich bedauere deinen Verlust“, kam eine gewaltige, wuchtige Stimme, die sich in diesem Moment so sehr bemühte, kleiner zu sein, naher zu klingen. „Ich versuchte dich zu warnen, dass es nur eine sehr geringe Chance gibt, dass Meister Sarifs Tod etwas ändern würde.“

Hans nickte beklommen, sank nieder und schlang die Arme um sich selbst. „Ich weiß… ich weiß“, würgte er leise hervor, „Ich… ich hatte dennoch gehofft, das… ich hatte dennoch gehofft.“

„Natürlich hast du das. Es ist nur menschlich.“

Ein schweres Seufzen drang nach einer gefühlten Ewigkeit aus Hans‘ Kehle. „Sie hat meine Fassade durchschaut. Ich… ich weiß nicht, wann genau. Vermutlich früh. Es wird immer wieder solche wie Reva geben. Die einfach besser im Durchschauen sind, als ich im Vorspielen bin. Ich weiß nicht… irgendwann wird irgendwem auffallen, das Kaleran nicht mehr da ist. Oder Duncan. Oder sonst irgendeiner der Chronisten. Irgendwann wird irgendwem auffallen, dass die Weißen Hallen leer sind.“ Ein Umstand, der ihn sichtlich besorgte – anders als seinen Gesprächspartner.

„Dann werde ich dich lehren, besser zu sein. Du wirst lernen können, ihn besser zu imitieren. Bis du fähig bist, seine Rolle adäquat zu spielen. Vertrau mir – es wird nicht lange nötig sein.“

„Wie lange?“, hakte Hans fast augenblicklich ein. Er war kein guter Schauspieler. Nie gewesen. Er war nicht so klug wie eine Ninafer oder so geschickt wie eine Ishara, nicht so mutig wie ein Thorin oder so redegewandt wie ein Mortimer. Er war… einfach nur er. Hans Laye. Der kleine Schneidersjunge. Er war in nichts je wirklich herausstechend gewesen.

„Nur wenige hundert Jahre“, kam die demotivierende Antwort. Hätte er ‚ein paar Stunden‘ gesagt, gut, das hätte sich Hans vielleicht noch zugetraut. Ein paar Tage, in Ordnung. Wochen… waren dagegen schon kritischer. Aber Jahrhunderte?! Wie sollte er das denn zustande bringen? Selbst mit all dem Training und all der Lehre in der Astralebene war das ein Zeitraum… der schien einfach nicht realistisch überbrückbar zu sein.

„Du hast gut reden. Für einen Drachen muss das ein Katzensprung sein, aber ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll!“, verlieh er seinen Bedenken auch nach kurzer Zeit Ausdruck. Er hatte mit ihm immer offen reden können – also gab es auch jetzt keinen Grund, zu zögern.

Es schmerzte, als sich plötzlich Anna manifestierte. Keine paar Schritt von ihm entfernt. Sie tanzte. Kreiste um die eigene Achse. Wirbelte mit ihrem schicken Rock herum. Sie hatte ihn selbst bestickt. Es brach ihm das Herz, sie so zu sehen. So fröhlich und unbeschwert, so voller Feuer und Leben. Voller Leben, das sie jetzt nicht mehr hatte. Hans wusste, dass sie nur ein Echo seiner Erinnerungen und Gedanken war, seiner Sehnsüchte und Gefühle für sie. Vielleicht hatte er sie auch hierher  gebracht, um ihn zu trösten. Oder daran zu erinnern, wofür sie all das hier eigentlich taten. Aber dessen ungeachtet war es bittersüß. Schmerzhaft bis ins Unaussprechliche und zugleich doch das Schönste, was er nun hätte erblicken können. Er liebte sie. Er liebte sie so sehr, dass es wehtat.

„Hast du je geliebt?“, fragte Hans leise, die tanzende Gestalt verfolgend. Zögerlich nur wagte er aufzustehen, an sie heranzutreten. „Hey… willst du?“ Er bot Anna eine Hand und sie griff zu. Hier in der Astralebene fühlte sie sich so… lebendig an. Sie fühlte sich so real an, wie er es wollte. Alles, was ihn davon abhielt, es zu glauben… war das Wissen in seinem Hinterkopf, dass das hier die Astralebene war. Dass das hier alles nicht echt war. Nicht real.

Wie sehr er sich in dem Moment wünschte, er könne das vergessen. Und sie hier als real annehmen. Selbst wenn sie nur ein Nachhall seiner Erinnerungen war – war das nicht besser als nichts?

„Das habe ich – und tue es noch“, kam von jener Stimme die leise, deutlich verzögerte Antwort. Es klang, als würde auch dahinter eine schwierige Geschichte stecken. Zu gegebener Zeit mochte er sich vielleicht danach erkundigen. Aber nicht jetzt. Jetzt schuldete er jemandem einen Tanz.

Er schmiegte sich an Anna an und um sie herum füllte sich die Astralebene mit weiteren Tänzern. Ein Feuer sprang aus dem Nebel in die Existenz hinein, Hütten manifestierten sich, Tafeln, Gerüche, kläffende Hunde. Sie waren zurück in dem Dorf. Wie hieß es noch? Damals, als er sie kennengelernt hatte. Anna war eine verrückte Gans gewesen. Niemand sonst wäre ihm, einem dummen, unbedeutenden Schusterjungen, einfach nachgereist.

Sie hatte ihn gerettet. Auf mehr als einer Ebene und zu mehr als einer Gelegenheit.

Und dann hatte Meister Sarif sie getötet. Oder Meister Ereborn. Und hätte der es nicht getan, wäre es einfach nur der nächste Magier gewesen. Falls sein Mentor ihn wirklich daran erinnern wollte, wofür sie das alles hier taten, weshalb sie es taten, dann… nun, es funktionierte. Er erinnerte sich. Verinnerlichte es.

Er tat das für Anna, in erster Linie.

In Zweiter für alle Annas dieser Welt.

In Dritter für die Welt als Ganzes.

Als der Tanz zu einem Ausklang kam, da weigerte er sich schlicht, sie gehen zu lassen. So mochte die Erinnerung vielleicht weitergehen – aber das hier war die Ebene der Träume. Gedanken wurden Realität. Und wenn er sich an die Tafel setzen, sie auf seinen Schoß ziehen und die Stirn an ihre Schulter legen wollte, wenn er wollte, dass sie die Hand auf seinen Rücken legte und sachte darüber herab strich, während sie mit der anderen durch seine Haare kraulte – dann würde das geschehen. Das trug nicht unbedingt dazu bei, dass das hier sich echter anfühlte, realer. Wenn immer alles nach seinem Wunsch lief, nach seinen Gedanken. Aber hier und jetzt… war es tröstlich. Sie bei sich zu wissen. Sie zu spüren. Sich zu erinnern.

„Wofür tust du das eigentlich, Großer?“, hakte Hans nach einer ganzen Weile nach. Als sein Innerstes sich allmählich etwas beruhigt hatte. Er glaubte, wieder sicher atmen und ebenso sicher reden zu können. Er hatte seine Fassung zurück. War bereit, weiter zu lernen, zu üben.

Sein Gegenüber zögerte abermals. Vielleicht brauchte er einfach stets so lange, um seine Gedanken auf ein verständliches Maß zu reduzieren, um Antworten zu geben, die nicht Jahre brauchten, um sie auszusprechen?

„Für meine Tochter. Sie verdient eine bessere Welt.“

Geschichten aus der Gruft

Langsam und bemüht lautlos schlich sie sich an, schlurfte ihre halb zerfallene, von Verwesung versehrte Gestalt an ihr Opfer, näher und näher mit jedem wackeligen Schritt, bis sie allmählich in Reichweite kam, bis sie ihren Atem in seinen Nacken hätte speien können, hätte sie noch über Atem verfügt, bis-

„Du musst immer noch üben, Kalila“, kam von Grannis.

Mit einem frustrierten, kehligen Laut legte sie ihre zu Klauen gewachsenen, halb versteiften Hände auf Grannis‘ Schultern. „Das ist einfach nicht gerecht. Wieso bist du darin so viel besser als ich?“

Grannis zuckte seinerseits mit den Schultern. „Ich war mal ein Halsabschneider und Taschendieb. Rumschleichen und nicht bemerkt werden ist meine beste Qualität gewesen. Naja, außerdem hatte ich Glück. Jeder behält irgendwas nach seinem Tod, aber was… das scheint irgendwie zufällig festgelegt. Komm, setz‘ dich. Leyla war gerade dabei, eine neue Runde mit Geschichten eröffnen zu wollen.“

„Uh… worum geht’s diesmal?“, erkundigte sich Kalila. Wie alt war sie gewesen, als der Tod sie ereilt hatte? Neunzehn? Vielleicht zwanzig? Es war seltsam, sich an etwas so Prägnantes nicht erinnern zu können. Dafür hatte sich der Moment ihres Sterbens selbst umso deutlicher in ihren Verstand eingeprägt. Die elbische Klinge, fein geschmiedet, mit hübschen Runen, die eher dekorativer Natur waren. Sie stach direkt in ihren Hals. Kein guter Streich. Nicht sonderlich versiert und gewiss nicht gut gezielt. Aber in der Hektik einer Schlacht… da verloren selbst die Elben etwas die Übersicht – und erst Recht die Nerven. Da wurde auch von ihrer Seite nur noch hektisch, manchmal panisch, herumgehackt und herumgestochen. Hauptsache man traf schnell genug irgendwas in Reichweite, bevorzugt keinen Freund und bevorzugt, bevor man selbst irgendwas abbekam – denn der Gegner neigte oftmals dazu, die gleiche, stumpfsinnige Taktik einzusetzen. In Panik hacken und stechen.

Der Elb, der ihre Kehle durchbohrt hatte und dessen Klinge sie an ihrem Halswirbel hatte abrutschen spüren, tat ihr sogar ein wenig leid – obgleich ihr Hass auf ihn grenzenlos in ihr brannte und sie nicht gezögert hätte, ihn in Fetzen zu reißen. Er hatte sie so schockiert angestarrt. Sie hatte ihm das ‚Huch? Wo kommst du denn her?!‘ regelrecht von der Stirn ablesen können. Ein paar Sekunden waren sie verstarrt und hatten einander angesehen, bevor er realisierte, seine Klinge noch zu brauchen, während ihre zunehmend schwächer werdenden, zuckenden Hände die Ihre losließen.

Stirb für dein Land. Es ist eine Ehre! Was soll schon passieren? Und ein paar Stunden später wird man zusammen mit dem halben Schlachtfeld voller Leichen und Innereien in irgendeine Gruft oder Höhle teleportiert, damit man wieder aufstehen und sich als Teil einer neuen Armee wieder von vorne zerstückeln, zerhacken und zerstechen lassen darf.

„Das schlimmste Grauen, das die Legion je sah!“, durchbrach Grannis‘ mit einem hörbaren Grinsen in der Stimme ihre sich rasch verfinsternden Gedanken. Neugierig sah sie auf und obgleich ihre Unterlippe nur noch partiell vorhanden war und ein Auge fehlte, zuckte er nicht zurück – sondern erwiderte ihr Lächeln sogar, soweit er selbst das eben konnte. Was hauptsächlich hieß, dass die mit einem Maul versehene Gedärmeschlinge des Mohrgs, die ihm zwischen den Kiefern hervor hing, sich mit eben jenem Maul um ein Ersatzlächeln bemühte. „Die Nadelmeister!“, ertönte es seitens Grannis‘ mit gespenstischer Stimme.

Sie war ihnen selbst nie wirklich begegnet, also bot das durchaus Potenzial zu Grusel und Schrecken – und allem voran hatte sie immer noch eine tief verwurzelte Faszination für Geschichten. Entsprechend zuckte sie mit ihren halb verrotteten Schultern und setzte sich. Ihr Blick schweifte nochmals umher. Die Halle war schier gewaltig, die wuchtigen, gigantischen Säulen trugen das Tonnendach zwar, erweckten aber unweigerlich den Eindruck, Zahnstochern gleich zu kommen. Selbst ihr, die nicht atmen musste, flößte es ein kontinuierliches Gefühl von Bedrohung ein. Als wenn die Decke jeden Moment herabkommen würde, um sie zu zerquetschen. Als hätte der Stein irgendeine diffuse, persönliche Vendetta.

Abseits dessen war es leer. Staubig und dreckig und hier und da lag Gebrösel von Statuen herum oder eben abgesplittertem Material aus Decke und Säulen. Die Bodenfliesen hatten wohl mal hübsche, bunte Muster gehabt, waren aber von den Jahrhunderten der Ignoranz und Vernachlässigung ausgewaschen und verblichen zurückgelassen worden. Nur ihre drei größeren Steinbrocken fielen wirklich auf, die sich um das provisorisch zusammengeworfene Lagerfeuer drängten. Wäre ihre Natur nicht so offensichtlich gewesen, wie gut nur hätte man sie für ein paar Abenteurer halten können, die im Schutze der Halle warteten, rasteten, ehe sie den Vorstoß in die hinter der Halle liegenden Tiefen des Gewölbes wagten.

Ihres Wissens nach – wenngleich das auch begrenzt war – war Leyla sogar tatsächlich ein Abenteurer gewesen, irgendwie. Als Bardin hatte sie sich nicht sonderlich dafür geschert, wo sie aufspielte. Ob sie nun ein paar Münzen verdiente, indem sie in einer Taverne die Abendgesellschaft belustigte oder ein paar Münzen mehr verdiente, indem sie die Moral ihrer Kampfgefährten stärkend in uralten Gräbern und vergessenen Tempeln herumstakste, das war ihr egal gewesen. Zumindest behauptete sie das immer wieder. Dass sie hier bei ihnen saß… war ein Zeichen, das irgendwann etwas schief gelaufen sein musste. Und Kalila konnte sich auf Gedeih und Verderb nicht vorstellen, dass ihr das ebenfalls egal war.

Von Leylas außergewöhnlicher Schönheit, die sie oftmals in ihren Geschichten anpries als Erklärung, warum mancher Gegner die Waffen ablegte oder sich von ihr überzeugen ließ, seinen Lehnsherrn zu verraten, sah man indes nicht mehr viel. Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihr gemeint und ihr das Fleisch von den Knochen gerissen, die Haut und alle Innereien gleich mit. Bar aller Gesichtsausdrücke, die auf Muskulatur angewiesen waren, saß nur ihr Skelett bei ihnen am Feuer und wärmte wortwörtlich ihre Knochen.

Grannis hatte als Mohrg wenigstens noch seine Innereien, die zwar wirklich kein hübscher Anblick waren, aber zumindest daran erinnerten, dass sie alle einmal so etwas wie Fleisch besessen hatten.

„Gut, kann losgehen“, meinte Kalila neugierig, nachdem sie sich zu den beiden anderen Wachen gesetzt hatte.

„Also – die Geschichte beginnt, als-“, setzte Leyla an, als ein in der sonst so endlosen Stille der gewaltigen Halle ein plötzlich nahezu ohrenbetäubend laut wirkendes Knarzen und Knarren ertönte. Alle drei hoben den Blick und starrten alarmiert zum Eingangstor, das langsam aufgedrückt wurde. Immer breiter wurde der Kegel aus Tageslicht, der bis auf dreiviertel der Länge der Halle alles mit der Wärme einer Mittagssonne flutete.

Drei Ochsengespanne hätten da mühelos parallel hindurch gepasst – und das einzelne Skelett, das da eintrat, schob das Tor auf und auf und noch weiter auf. „Ey!“, rief Grannis empört und erhob sich, „Was glaubst du, was du da machst, hä? Ein bisschen mehr Rücksicht, Arschloch! Hier könnten Geister anwesend sein?!“

Das Skelett am Eingangstor zuckte fürchterlich zusammen und starrte einen Moment in ihre Richtung, ehe es seine Stimme wiederfand. „J-J-Ja H-Herr, d-das t-tut mir l-leid, H-Herr, i-ich werde mich b-b-b-bemühen, H-Herr…!“

„Urgh“, kam es leise von Grannis, ehe er die Stimme wieder hob, „Mach einfach das beschissene Tor wieder zu und pass besser auf!“

Wie angewiesen, schloss das Skelett das Tor wieder. Quälend langsam, weil Skelette einfach nicht viel Kraft hatten. Bis es zu war und hörbar einrastete. Danach sputete es sich auch, die Halle zu durchqueren und während es in gehörigem, respektvollem Abstand an ihrer Wachstation vorbei eilte, kratzte es sich permanent am unteren linken Rippenbogen. Es sah fast aus wie ein Affe, wie es da herumwackelte und den Arm so seltsam hielt, um sich zu kratzen…

Erst als das Tor auf der anderen Seite sich ebenfalls schloss, setzte sich Grannis wieder.

„Scheiß Neulinge“, maulte er erbost, „Wetten, dass der zu Lebzeiten irgendein Sklave oder Hausdiener oder sowas war? Und habt ihr das Kratzen gesehen? Phantomschmerzen. Soll er endlich mal raffen, dass das vorbei ist. Kein Fleisch mehr da. Keine Wunden mehr da. Arschloch.“

Leyla überging die Tirade in gewohnter Ruhe und Stille. Sie kannte Grannis sehr, sehr viel länger als Kalila selbst. Die wiederum zuckte hier und da doch etwas zusammen, wenn dessen Stimme lauter oder wuchtiger wurde. „Ich… ich bin selbst erst ein paar Monate hier…“, wagte sie vorsichtig einzuwerfen. Es war nicht so, als würde sie sich für dieses fremde Skelett einsetzen wollen oder es gar verteidigen. Aber es erschien ihr wichtig, Grannis‘ Wut in Perspektive zu setzen, seinen Vorwürfen eine Dosis Realität zu injizieren.

Der winkte jedoch nur desinteressiert ab. „Schon. Aber du hast in den Monaten bewiesen, immer noch was im Köpfchen zu haben. Was anderes als Maden und Würmer, versteht sich.“

„W-Was…? Oh nicht schon wieder…!“, fluchte Kalila hastig und versuchte, das Loch in ihrem Schädel zu finden. Fliegen waren die schlimmsten Übeltäter! Ständig legten sie ihre widerlichen kleinen Eier in ihr Gehirn. Das zu fressen bekam den Maden zwar überhaupt nicht, aber das warf für sie das Problem auf, welches die meisten Ghoule und Ghasts irgendwann hatten: Wenn sie den Kopf schüttelte oder nickte oder generell ihre Position nur weit genug verlagerte, stürzten bergeweise toter Maden aus ihrem Schädel heraus.

Seufzend streckte Grannis seine Darmschlinge, griff ihr Handgelenk und zog es fort, damit sie aufhörte, ihren Schädel zu betasten. „Setz dich“, meinte er ruhig und erst im Nachgang erkannte Kalila den eigentlich humorvollen Ton seiner Stimme. Er hatte versucht, ein Kompliment zu machen. Gepaart mit einer kleinen, neckischen Stichelei. Was… ziemlich offensichtlich gehörig nach hinten losgegangen war.

„O-Oh… das tut mir leid“, seufzte sie leise und folgte der Anweisung.

Grannis schüttelte den Kopf. „Lass gut sein. Also, Leyla. Nadelmeister.“

Die nickte erneut. „Gut, versuchen wir das nochmal. Also: Die Geschichte beginnt, als wir beauftragt wurden, präventiv einen der mächtigsten und gefährlichsten Elben Elvorans auszuschalten…

 

An sich hätte das wirklich ein Kinderspiel sein müssen. Wir wussten, dass er sich in Carasamban befindet. Wir wussten, welches Haus wir dazu infiltrieren mussten. Wir hatten sogar ein paar Spezialisten dabei, die uns durch die Sicherheitsvorkehrungen bringen sollten. Und natürlich einen Lich, der den Streich führen sollte. Wir dringen also in die Stadt ein, die Verkleidungen halten soweit ganz gut. Ich bin eine Jägerin, hoch geschossen und etwas stämmig gebaut. Elben hassen es, nah an Leute heranzukommen und es geziemt sich nicht, sie anzufassen. Also habe ich natürlich auch keinerlei Probleme damit, dass irgendwer die Illusion durchschauen würde.

Über meiner Schulter hängt mein Jagdglück, ein prächtiges Reh. Tatsächlich natürlich einer unserer Spezialisten in Tarnung. Ich glaube, Ithildalin hatte den mal aus verschiedenen Tierteilen zusammengebaut.

Ihr wisst nicht, wer Ithildalin ist? Oh. Uh… hm. Das ist… einer der begnadetsten Schöpfer, die wir je hatten. Du hast ihm gesagt, was du brauchtest und er hat’s gebaut. Irgendwie, irgendwo, aus irgendwas. Er war so gnadenlos rücksichtslos, das selbst andere Lich sich zu Recht vor ihm fürchteten – denn wie lange, bis ihm eine Aufgabe gestellt werden würde, zu deren Lösung er auf die Idee käme, jetzt unbedingt einen anderen Lich verbauen zu müssen?

Ja, starrt nicht so! Er hat Untote verbaut. Er hat Lebende verbaut. Er hat Pflanzen verbaut. Vermutlich hätte er sogar aus Steinen irgendwas bauen können. Man sagt von den Lich ja, das sie ein paar Schrauben locker hätten. Jeder auf seine Weise. Liegt einfach am Untod und dem Alter. Aber der… der war völlig durch. Er war wahnsinnig, ziemlich eindeutig. Aber in seinem Wahnsinn so… brillant. Wirklich eine Schande, dass es ihn letztlich doch noch erwischt hat.

Na jedenfalls – da sind wir also, marschieren ungesehen und ungestört allmählich mitten durch das Herz Carasambans durch. Niemand stört uns oder hält uns auf. Hier und da mal ein freundliches Grüßen oder Nicken. Offenbar waren uns zwecks Verkleidung ein paar bekannte Gesichter gegeben worden, aber nicht bekannt genug, dass man uns in Gespräche hätte verwickeln wollen. Das hätte Probleme gegeben! Nicht nur, das die Illusionen nicht lange hielten – man kann damit die Stimme nicht verstellen.

Es war also schon ein bisschen eine Zitterpartie. Klar, wir kamen gut durch, aber das Risiko… und zu wissen, welchem Risiko man gerade ausgesetzt war…

Jedenfalls kommen wir am Haus an. Neben mir gab es noch drei andere Jäger und deren Beute. Wir laden also, nachdem wir uns vorsichtig umgesehen haben, mal unsere Fänge ab und flößen ihnen die Unsichtbarkeitstränke ein. Und von einem Moment auf den anderen sind wir nur noch Jäger ohne Beute.

Die Spezialisten schauen sich das Haus an, die arkanen Strukturen, das was-auch-immer. Und schalten ein paar der Sachen aus. Oder ab. Oder unterdrücken sie. Ehrlich, so viel Ahnung von Magie hatte ich selbst zu Lebzeiten nicht. Ich hab‘ nur gesungen und Sachen sind passiert.

Jedenfalls kommen wir endlich ins Haus rein. Eine der Absurditäten war auf übersinnliche Wahrnehmung spezialisiert und lotste uns Schrittchen für Schrittchen, Korridor für Korridor, an den gesamten Bediensteten des Hauses vorbei bis zum Schlafzimmer unseres Ziels. Ich öffne die Tür, der Lich tritt ein und… kommt nach einer Minute einen leisen Fluch zischen wieder raus. Und nein, Grannis, ich werde den Fluch nicht wiedergeben – du kennst sowieso schon viel zu viele davon.

Sagen wir einfach, ich wäre rot geworden, hätte ich das noch gekonnt.

Allem Anschein nach hatten wir zwar das richtige Schlafzimmer… aber unser Ziel schlief einfach noch nicht. Das Zimmer war leer.

Nun – wir wussten, dass der Elb verdammt alt und mächtig war. Also was sollten wir tun? Im offenen Kampf waren wir ihm nicht gewachsen. Wir quetschen uns also alle in das verdammte Schlafzimmer und sehen zu, dass wir uns irgendwo unterbringen. Die Skelette haben wir alle unters Bett bekommen. Ein bisschen unangenehm gequetscht, aber unseresgleichen hat ja nicht solche Berührungsängste. Den Lich hat man in den Schrank gestellt. Die Spezialisten waren schwieriger, die mussten teilweise ins Bad – in der Hoffnung, dass er da nicht in seinen Schränken herumwühlen würde. Immerhin war es schon spät in der Nacht. Im Idealfall würde er einfach ins Bett fallen und fertig.

Wir hocken also da, still, schweigend,… gelangweilt.

Versteht mich nicht falsch. Das war spannend. Anspannend. Aber irgendwann lässt das Adrenalin nach – wenn ihr versteht, was ich meine. Und man fängt an, sich die Unterseite des Bettes mal anzuschauen. Sie sich tatsächlich anzuschauen. Und dann realisiert man, dass man gerade die Unterseite eines Bettes anstarrt. Und wie lächerlich das ist.

Und dann realisiert man, dass da drüben ein Lich in einem Kleiderschrank steht, nach hinten gequetscht hinter all die feinen, elbischen Roben und Hemden und man muss sich plötzlich doch arg beherrschen, nicht zu glucksen wie ein Kind.

Jedenfalls dauert es gefühlt ewig, bis dieser Elb endlich mal auftaucht. Sofort herrscht natürlich wieder angespannte Stille – denn seien wir ehrlich, natürlich haben wir versucht, leise zu reden. Das hält ja sonst keiner aus! Egal, wie oft wir zischend aus Richtung des sprechenden Schranks ermahnt worden sind.

Ja, also. Der Elb kommt und was macht der natürlich als Erstes? Er macht den verdammten Schrank auf. Ich hab’s sogar von meiner Position aus gut sehen können. Er macht den Schrank auf, schiebt die Sachen bei Seite. Warum auch immer. Was er im Schrank wollte? Keine Ahnung. Aber da steht plötzlich der Lich. Unser Anführer. Und hält ihm in Ermangelung irgendeiner Deckung ein Nachthemd entgegen. Gut, ich meine – was hätte er an der Stelle auch sonst noch tun sollen? Ich bin mir sicher, dass er jede Menge guter Zauber kannte. Gefährliche Zauber. Aber die hätte er niemals rechtzeitig auspacken können. Und dazu kam: War er – und damit auch ‚waren seine Zauber‘ – wirklich mächtig genug, es mit diesem Elb aufzunehmen?

Also hält er ihm einfach das Nachthemd hin. Er wird natürlich sofort desintegriert. Und der Elb wirkt seine Magie, um Untote aufzuspüren. Er taumelt sogar kurz – denn mit uns allen in unmittelbarer Nähe musste sein Zimmer leuchten wie ein klarer Sternenhimmel samt Vollmond.

Er flüchtet aber tatsächlich. Und das ist der Moment, an dem alles kippt. Klar, wir hätten ihn einfach entkommen lassen können. Der Lich regeneriert irgendwo bei seinem verdammten Phylakterion und gut ist. Er bekommt später einen Anschiss für sein Versagen und das war’s vermutlich für ihn. Aber wir? Wenn einer von uns draufgeht, dann war’s das. Aus. Ende. Vorbei.

Nur was wäre unser Schicksal, wenn wir von so einer miesen, schiefgelaufenen Mission zurückkehren würden?

Wir wechseln also ein paar kurze Blicke und wägen ab. Schließlich klettern wir raus und jagen dem Elb nach. Keine verdammten Illusionen mehr, keine Unsichtbarkeit, keine Tarnung oder Deckung. Einfach nur eine Horde Skelette, die marodierend durch sein Haus zieht, dicht auf seinen Fersen.

Ehrlich – ich habe keinen Schimmer, warum er sich uns nicht im Kampf gestellt hat. Wir hätten ihm vermutlich nichts gekonnt. Vielleicht hatte er zu viel Angst wegen der Bediensteten im Haus oder sowas. Einer von uns hat jedenfalls die Spezialisten noch informiert, was die Planänderungen angeht. Die schlossen dann auch zügig wieder mit auf. Und übernahmen – natürlich – das Kommando. Nicht, das sich einer von uns drum gerissen hätte, wirklich nicht.

Wir jagen diesen Elb also quer durch die Straßen Carasambans. Kann ja überhaupt nichts schiefgehen. Links und rechts müssen wir ein paar Verteidiger loswerden. Einer unserer Spezialisten geht sogar drauf. Hat versucht, einen der Wächter mit seiner Besessenheit anzugreifen. Dessen Willenskraft war aber offenbar stärker als erwartet – er warf ihn zurück und vernichtete ihn tatsächlich, bevor wir zur Hilfe kommen konnten.

Jedenfalls verlieren wir ihn in den Straßen. Der zweite Spezialist teleportiert weg. Er will die Obrigkeit davon informieren, wie mies das alles aktuell läuft. Wir sind unbegeistert, aber was sollen wir schon anderes tun? Wir versichern ihm zumindest, die Jagd nicht aufzugeben und bleiben in der Stadt.

Und Wunder, oh Wunder – wir finden das verdammte Spitzohr wieder! Er hat sich zwei andere Elben angelacht und flüchtet mit ihnen stadtauswärts. Wir haben uns also natürlich hinten drangehängt. Nachdem wir Carasamban ein gutes Stück hinter uns gelassen haben, geht’s ins Vorgebirge. Ständig bergauf. Das ist ätzend. Ich habe keine Lungen mehr, die stechen könnten und keine Muskeln, die ermüden könnten. Aber ich habe Knochen. Und da sind Steine. Jede Menge. Wenn du da einmal weg rutscht, ich schwöre euch, das Brummen im Schädel hört man noch Minuten später!

Jedenfalls dünnen die wenigen Konfrontationen unsere ohnehin mageren Reihen doch erheblich aus – bis!

Bis plötzlich das Gegenteil eintritt. Dutzende Skelette, Ghoule und Gasts werden direkt zu uns teleportiert. Einfach mitten in unseren Reihen abgesetzt. Macht natürlich nur deutlich, dass wir Kanonenfutter sind – aber hey, die Masse macht uns stark und reduziert für jeden Einzelnen die Gefahr, erwischt zu werden.

Diese Teleportationswellen kommen zweimal, dreimal, viermal, fünfmal – der Elb steckt immer mehr in die Gelegenheiten, zu denen er uns die Stirn bietet und uns zurücktreibt und allmählich begreife ich die Taktik, auch wenn sie mir nicht gefällt. Wir bluten ihn aus. Wenn er dann erstmal keine Magie mehr hat, ist er ein leichtes Ziel! Die Elbe, die er mitschleppt, war schwanger. Kaum fähig, ihre Magie überhaupt zu beherrschen – geschweige denn, sie unter Kontrolle zu halten oder auf einen einzelnen Zauber zu fokussieren. Und der andere Elb, den er eingesammelt hatte, schwänzelte ständig wie eine übervorsichtige Glucke um die Schwangere drum herum. Zugegeben, er kämpfte auch immer mal wieder. Aber der war schnell ausgebrannt und längst nicht so mächtig wie unser Ziel.

Nachdem alles ziemlich mies aussah, läuft es also endlich wieder etwas besser. Und vielleicht kommen wir ja doch zurück, erfolgreich. Nicht alle, klar, aber die meisten.

Und dann kommt dieser Feuerball geflogen. Direkt auf uns zu. Wir, die wir von Anfang an dabei waren, hatten uns im Zentrum versammelt. Wir waren beisammen geblieben. Ihr wisst schon. Man fängt eine Mission gemeinsam an, man bringt sie verdammt nochmal auch gemeinsam zu Ende – egal, wie viel Frischfleisch zwischendrin noch in den Wolf geworfen wird.

Das war’s, dachte ich mir. Das ist das Ende. So sieht’s also aus. Ein beschissener Feuerball, direkt ins Gesicht.

Und während das Ding auf uns zurast, kommt eine neue Teleportationswelle. Und direkt vor uns baut sich plötzlich ein Feld aus blau schimmernder Magie auf und der Feuerball prallt ab. Wird einfach nach oben gelenkt, wo er einen Moment den Himmel erhellt und das war’s. Als das Licht wieder nachlässt, steht da ein Lich.

Ich führe euch jetzt zum Sieg“, meint er.

Hach. Wenn ich noch richtig schmachten könnte. Ich habe bis heute seinen Namen nicht erfahren. Und leider fehlte es ihm deutlich an Haaren. Aber hätte er noch welche gehabt, sie hätten sicherlich im extra dafür aufgekommenen Wind geweht, während er dort stand, die schimmernde Barriere im Hintergrund und den explodierenden Feuerball zur Beleuchtung der Szenerie. Wundervoll.

Ein paar Sekunden war die Zeit zäh und zog sich, stoppte alles für die Glorie seines Auftrittes, ehe er sich abwandte und dem Elb die Stirn bot. Sie waren einander nicht wirklich gewachsen, der Elb war immer noch ein gutes Stück mächtiger – aber mit einem neuen Lich auf dem Feld, der obendrein Massen an Untergebenen kommandierte, sah es für die flüchtige Gruppe doch ziemlich mies aus.

Wir trieben sie weiter ins Gebirge – weiter weg von den verdammten Elben in Carasamban.

Und allmählich konnte man die Erschöpfung unseres Ziels spüren. Er griff auf Zauber mit immer weniger Gewicht und Kraft zurück. Ein paar Vorstöße noch, so hieß es, dann hätten wir ihn. Und hol mich Ereshkigal‘, aus dem hätten sie ganz gewiss einen Lich gemacht. Und wenn’s Jahrhunderte gedauert hätte, seine Seele ausreichend zu korrumpieren – den hätte unser König sich bestimmt nicht durch die Lappen gehen lassen!

Dummerweise kam’s nie dazu.

Stattdessen rastet die Gruppe auf einer Anhöhe und wir bereiten unseren finalen Vorstoß vor. Wir kommen angerückt und sie sind fast völlig ausgebrannt. Kaum noch Saft übrig. Und dann, mitten aus dem Nichts – verdammte Nadelmeister!

Wir hörten erstmal nur den grollenden Aufschrei, sahen aber nichts. „Für Vraccas!“, brüllte da wer – und einen Augenblick später stürmte ein Zwerg über die Klippen hinweg. Sie Zweihandaxt, die er trug, mochte sicherlich größer und schwerer gewesen sein als er selbst. Er führte sie trotzdem mit erschreckender Leichtigkeit. Er sprang einfach von der Klippe ab, direkt die Axt schwingend in unsere Reihen hinein. Fetter kleiner Bastard. Wie eine verdammte Furie wirbelte er um sich. Wir sahen natürlich erstmal zu, da weg zu kommen, aber der Lich wies uns an, Formation zu halten. Ja wie sollten wir das denn bitte machen, wenn ‚Formation halten‘ hieß, in die Axt reinzulaufen?!

Ehe wir uns da wirklich entscheiden konnten, kamen die anderen zwei dazu. Rikhard trat an die Klippen heran und hatte damit sehr zu unserem Leidwesen höheren Grund und Boden. Er schleuderte seine Heilzauber mit einer erschreckenden Leichtigkeit in unsere Reihen. Ganz ehrlich, er musste ja nicht mal zielen! Es gab so viele von uns, er musste sie einfach nur irgendwo reinwerfen und irgendwen würde er schon treffen – so lange eben, bis unsere Reihen ausgedünnt wären. Und das würden sie irgendwann sein! Denn der verdammte Zwerg wütete gehörig und dann trat Arien auf den Plan. Der eine Zugang zur höheren Ebene, den wir gebraucht hätten, um an unser Ziel heranzukommen, wurde natürlich von ihr verstopft.

Wie? Mit sich selbst!

Ich habe in meinen Tagen viele Bestien gesehen, die sich verwandeln können. Die Kampfformen haben. Aber noch nie etwas wie das. Ein gewaltiges Bollwerk aus Muskeln und Raserei. Sie hielt den Zugang völlig mühelos und riss alles in Fetzen, was den Fehler beging, in Reichweite zu kommen.

Unser Lich versuchte, die Situation bestmöglich unter Kontrolle zu halten, aber ganz ehrlich – wir wurden nach links gedrängt, wo der Zwerg war. Wir wurden nach vorne gedrängt, wo Arien war. Und da oben stand ein Rikhard und schleuderte wahllos und willkürlich Zauber herum, als könne er das den lieben langen Tag machen.

Da hatte selbst ich ein klitzeklein wenig Panik.

Sie reiben also unsere Truppen fast auf und schlimmer noch – sie sperren unseren Lich ein. Kein Scheiß. Ich weiß nicht, was für Magie das war. Aber sie laufen grinsend und Verhöhnungen speiend an ihm vorbei, während er sich nicht rührt, sondern ihnen nur Verwünschungen hinterher schickt.

Und dann… dann schnappen sie sich die Schwangere und die Glucke und unseren Ziel-Elb und verschwinden einfach genauso schnell, wie sie gekommen waren. Plopp, sie sind weg. Und wir stehen blöd da. Dutzende von uns niedergestreckt, überall Knochen und Leichenteile, irgendwo im jetzt leeren Vorgebirge.

Tja – scheiße.

Der Lich teleportierte natürlich dezent frustriert und blamiert weg. Also durften wir den gesamten, beschissenen Weg zurück laufen. Wirklich kein Spaß, das kann ich euch sagen. Aber etwas Positives hatte es: Wir waren eingangs acht Skelette. Sechs von uns haben’s tatsächlich zurückgeschafft. Gut, fünf haben auch das Nachspiel überstanden. Armer Gunther. Er war nie besonders helle, aber bei der Befragung hätte er wirklich einfach die Schnauze halten sollen. Man gibt einem Lich nicht Widerworte, nie. Ist doch quasi die erste Grundlektion.“

 

Noch immer wie gebannt starrte Kalila Leyla an und hing in Gedanken den Vorstellungen der Schlacht nach. Dem Zwerg, dem ihr Verstand einen langen, zotteligen Bart andichtete, geflochten in schmiedeeisernen Ringen, verziert mit Runen. Eine schwere Plattenrüstung, passend zu der riesigen Zweihandaxt. Besetzt mit Gravuren in Gold und Silber. Rikhard in einer Magierrobe, feinste Stoffe, edel verarbeitet, nur die besten und teuersten Farben. Wie er herausstach gegen das Vorgebirge, gegen den grauen Stein, die braune Erde und gelegentliche Tupfer von Grün, bezeichnet durch dorniges Gebüsch und zähes, knorriges Gestrüpp. Und natürlich Arien, die hoch aufragende Vernichtungsmaschine, die Kriegsbestie, tief und kehlig brüllend, geifernd, schnappend und schlagend.

Was Leyla an Details offen gelassen hatte, füllte Kalilas Verstand mühelos auf.

„Was ist mit dir?“, hakte Leyla nach. Kalila brauchte einen Moment, um ins Hier und Jetzt zurückzukehren und realisierte dann, dass die frühere Bardin Grannis angesprochen hatte, als sie selbst schon hatte antworten wollen.

„Hm?“, erwiderte der nonchalant.

„Du bist auch den Meistern begegnet, oder nicht? Komm schon, Wachdienst ist sterbenslangweilig. Erzähl uns deine Nadelmeister-Geschichte!“, drängte Leyla und obgleich sie keinerlei Mimik mehr besaß, nicht mehr besitzen konnte, konnte man ihrer Stimme noch immer das freundlich-ungeduldige Lächeln anhören.

„Hmpf, fein. Ehe du mich wieder für Tage belagerst“, lenkte er unerwartet leicht ein.

„Gute Entscheidung!“, erwiderte Leyla. Kalila erwog zwar für einen Moment, nachzufragen, was dazu geführt hatte, verwarf den Gedanken jedoch. Noch war in ihren Gedanken, allem zum Trotz, zu präsent, wie Grannis auf den Neuen reagiert und was er über ihn gesagt hatte. Noch war ihr zu bewusst, dass auch sie selbst eine Neue war. Phantomschmerzen hatte sie keine. Aber sie machte sich ständig Sorge darum, was durch das Loch in ihrem Kopf vielleicht alles hineinfliegen oder –krabbeln würde, was dort nisten, sich vermehren, fressen, sterben und mit seinen Leichen ihren Schädel verstopfen würde. Die Vorstellung war einfach widerlich. Und dieser Ekel… was war der anderes als ein Überbleibsel ihres Lebens und damit Zeugnis, das auch sie noch neu und frisch war und nicht völlig abgeschlossen hatte? Das Viehzeug konnte ihr gar nichts. Sie sollte sich nicht so anstellen müssen. Und dennoch tat sie es.

„Also“, begann Grannis und fing damit mühelos Kalilas Aufmerksamkeit wieder ein, ehe deren Trübsinn mit ihr durchbrennen konnte, „wir hatten einen Plan – und der war, an und für sich, nicht mal so mies…

 

Es fing damit an, dass die Nadelmeister allmählich zum Problem wurden. Nicht nur der Taurondo-Zwischenfall hatte das gezeigt. Ein paar der Lich waren belesen in alten historischen Aufzeichnungen. Oder stammten selbst aus der Periode, wer weiß das schon. Jedenfalls nahmen sie durchaus ernst, dass neue Nadelmeister berufen worden waren. Gerade jetzt, obendrein.

Ich meine… sie haben sich bemüht, die Informationen unter Verschluss zu halten, wirklich. Und eine ganze Weile haben sie das sogar geschafft. Aber nichts hält ewig, nicht? Irgendwann musste einfach durchsickern, dass unser König selbst in Schwierigkeiten geraten war.

Er saß auf diesem Kontinent fest. Ich weiß nicht, was genau das Problem ist. Nur, das er hier erstmal nicht mehr weg kommt und alle deswegen einen ziemlichen Anfall bekommen haben.

Da fällt mir auch wieder ein, woher ich diesen Namen kannte! Das haben wir diesem Ithildalin zu verdanken. Der blöde Bock hat uns das alles eingebrockt!

Angeblich hatte er irgendeinen brillanten Plan, wie unser König endlich aus seinem Gefängnis entkommen könnte. Wie er wieder frei wäre, um sein Imperium neu erstrahlen zu lassen und die Welt unter seinem Banner zu einen. Nur ist dabei irgendwas schiefgelaufen. Vielleicht schlampige Umsetzung und Vorbereitung, vielleicht aber auch ein Fehler in der Planung. Dieser Ithildalin war eben nur irgendein Lich, nichts Besonderes. Ganz zu schweigen davon, dass er Mitglied im Rat gewesen wäre. Und denen sollte man weltverändernde Entscheidungen überlassen – definitiv.

Na jedenfalls wussten einige der Lich, das Nadelmeister ein Problem sind. Immer schon waren und auch wieder sein würden. Sie werden von den Göttern selbst berufen, also war schon irgendwie ziemlich eindeutig, warum man sie berufen hatte, gerade jetzt. Wie hoch war die Chance, dass der Gott des Wissens mal eben einfach übersieht, dass einer ihrer größten Erzfeinde verwundbar und angreifbar ist?

Während die Nadelmeister also durch die Gegend eiern und versuchen, irgendwie ihre Aufgabe zu erledigen und zu begreifen, was sie sind, wozu sie da sind und was sie so können oder nicht können, planen wir im langen Spiel schon mal ihre Vernichtung. Ist nie verkehrt, Figuren vom Brett zu fegen, die von den Göttern persönlich aufgestellt worden sind. Nur hätten wir uns dummerweise auch denken können müssen, dass das wiederum eine ziemlich wuchtige Aufgabe ist und nichts, das man mal eben einfach so umsetzt, per Fingerschnippen am besten.

Ich weiß nicht. Vielleicht haben die Lich sie unterschätzt. Oder das gehörte auch alles zum Plan. Einfachen Lakaien wie uns erzählt man so einen Krempel ja nicht. Wie diese scheiß Wachposition. Ich kenne ungefähr zehn Meter hinter dem Tor da drüben und habe keinen Schimmer, was im Rest der Anlage überhaupt drin ist. Als würde uns sowas irgendwer erzählen. Wozu müssen wir das auch wissen, wir sind ja nur die Torwachen.

Ja, ja, ja, schon gut, ich höre brav mit Zetern auf und komme zur Geschichte zurück.

Also: Der Plan war simpel, aber effektiv. Die Nadelmeister waren dabei, sich politisch engagieren zu wollen. Sich an die Geschehnisse in Arvum anzuknüpfen, Freunde und Verbündete zu sammeln. Sie hockten da sicher in ihrem Steinhaufen, umgeben von einem riesigen Wald, in dem selbst die beschissenen Schmetterlinge ihnen als Späher dienen und selbst die Eichhörnchen einen anzugreifen versuchen. Die Nadel zu stürmen wäre ohne einen überdimensionierten Angriff nicht möglich gewesen. Die Wasser im Immergrün-Wald zu vergiften, das ist in der Vergangenheit schon mehrfach versucht worden. Die verdammten Sirenen und Waldgeister verhindern es, jedes Mal. Abbrennen kann man das Ding auch nicht. Es leben genug magisch bewanderte Viecher dort, die dann einfach ein paar Tage Regenwolken beschwören.

Wenn man dem Wald also ums Verrecken nicht bei kommt, dann muss man kreativ werden. Die Meister wollen Freunde? Die Meister wollen zeigen, was für nette Leute sie sind, damit alle sie gern haben und ihnen aus der Hand fressen?

Dann zeigen wir der Welt doch mal, was für verdammte Monster die Meister sind!

Es liegen – oder vielmehr, lagen – siebzehn Dörfer unmittelbar entlang der Waldgrenze, sowohl auf Akkaras als auch Symmarions Seite. Früher oder später würde es vermutlich zu Kämpfen kommen. Symmarion hatte Pläne, sich von Elvoran erobern zu lassen, irgendwelche politischen Intrigen – wen schert’s. Und sobald Elvoran diesen Pseudokrieg gewonnen hat und ganz viele seiner Truppen verlagern musste, um die Fassade eines anständigen Krieges aufrecht erhalten zu können – und später dann, um die Ordnung im Land aufrecht zu erhalten -, greift Akkara ein, schnappt sich das geschwächte und fast verteidigungslose Elvoran und dann Symmarion gleich noch mit. Voila, der Kontinent gehört den Magiern.

Das war jedenfalls deren Plan.

Und es sah auch aus, als würde das aufgehen. Irgendwann würden wir also unseren König befreien und er wäre hier und würde, allem Anschein nach, auch von hier aus seine große Invasion planen. Wir konnten also mehr Truppen gebrauchen. Gerade, wenn die Aussicht bestand, sich demnächst mit den Magiern gleich als Erstes anlegen zu müssen.

Zwei Fliegen, eine Klappe: Wir greifen die Dörfer am Wald an. Wir koordinieren die Attacke mit Truppen und Teleportation, wir verseuchen vorher gezielt ein paar Reisende und Bewohner, die ihrerseits wiederum für uns das Wasser versuchen. Und wenn alles reif zur Ernte ist, dann brechen wir ein, kehren den verbliebenen Widerstand zusammen und sammeln all die Verseuchten und frischen Kadaver ein. Stärkung für die Armee und ein Dorf weniger.

Nicht nur, das wir uns damit potenzieller Gegner bemächtigt hätten. Der Kniff am Plan war vielmehr die Position. Nach und nach verschwanden sämtliche Leute in sämtlichen Dörfern entlang der Waldgrenze. Die Lich hofften ziemlich eindeutig, dass es den Meistern einen zweifelhaften Ruf anhängen würde. Sie hatten ihren Wald nicht richtig im Griff, die Kreaturen darin nicht unter Kontrolle und wie viel sollte man letztlich jemandem trauen, auf jemandes Wort geben, der seine eigenen Ressourcen und Fähigkeiten nicht mal ordentlich beherrschte?

Oder noch besser sogar: Die Meister hatten ihren Wald im Griff, bestens sogar, und begannen ihrerseits einen Invasionskrieg gegen den ganzen Kontinent!

Dass der Versuch in Symmarion scheiterte, gut, fein. Menschen sind Menschen sind Menschen. Kurzlebig und sie vergessen schnell. Selbst die Bücher, die sie nutzen, um eben nicht zu vergessen, fangen irgendwann Staub. Aber Akkara… das überraschte doch alle ein wenig. Akkara interessierte einfach nicht, was da passierte.

Wir gaben uns so verdammt viel Mühe. Keine Zeugen des Angriffes blieben zurück. Aber wir hinterließen Spuren, die auf magische Kreaturen und Waldbewohner schließen ließen. Und was war die Reaktion? Nichts. Einfach nur… nichts.

Scheiß Magier.

Dass der Plan nicht aufging, war in der späteren Phase schon absehbar geworden. Wir hatten gehofft, dass die Obrigkeiten nach dem zweiten oder dritten Dorf skeptisch werden, nach dem vierten oder fünften Fragen stellen und nach dem sechsten oder siebten Verdächtigungen rumschleudern würden. Als wir im dreizehnten Dorf einfielen und sich politisch noch nicht das Geringste getan hatte, wurde uns auch langsam klar, dass das so nicht funktionieren würde.

Trotzdem hielten wir dran fest. Warum auch nicht? Eine tote Zone zwischen den Ländern und der Nadel schaffen war eine grundsätzlich immer noch gute Idee. Es erschwerte Informationswege. Es schuf Barrieren von Unbehagen. Man musste durch diesen entvölkerten Gürtel durch, wenn man zu ihnen wollte. Wer wagte das schon? Vielleicht waren ja noch Untote da, lagen geduldig lauernd in Grassenken –

Buh!

Hehe.

Und die zusätzlichen neuen Rekruten konnten wir auch gebrauchen. Also zogen wir zumindest weiter durch. Dieses Dorf hieß Brackwasser, liegt an der östlichen Waldgrenze und gehörte damit zu Symmarion. Es war unser dreizehntes oder vierzehntes Dorf und ich war zum fünften Mal dabei. Wie üblich, zog ich mit als einer der Letzten rein. Aber ich stellte ziemlich rasch fest: Diesmal war’s anders.

Sonst, wenn wir ankamen, schoss das Knochenschiff ein paar Leute in Stücke und wir sammelten die Verseuchten, die Leichenteile und die Gesunden ein – zumindest die, die wir einfangen konnten, bevor das Schiff sie erwischte. Als ich diesmal ankam… nichts. Die Verseuchten waren da, klar, aber es waren weniger als sonst. Es gab auch keinerlei Widerstand. Niemand versuchte, Heim und Familie mit einem Spaten gegen uns zu verteidigen. Ganz zu schweigen vom hysterischen Kreischen und wild herumrennenden Flüchtigen.

Stattdessen kamen wir an und… es war einfach still. Totenstill. Wir haben natürlich die Verseuchten befragt, aber die sind geistig wirr, solange sie noch am Leben sind. Da kam also kaum Sinnvolles heraus. Nur, dass die Nadelmeister da gewesen waren. Offenbar hatten sie den Bürgermeister ‚bezwungen‘, was auch immer das genau bedeutet. Sie wurden als Bringer des Chaos und Vernichter von Türmen bezeichnet. Wir wussten, dass es in Brackwasser eine alte Wachturm-Ruine ein kleines Stück außerhalb geben sollte, aber die stand da auch schon seit Jahrhunderten. Sie sprachen zudem von einem flammenden Inferno, aber das Dorf schien eigentlich zum Großteil unversehrt, mal abgesehen vom Haus des Bürgermeisters. Das war zwar tatsächlich ein gutes Stück abgebrannt, aber das war ja nun wirklich kein ‚flammendes Inferno‘.

Einige von uns vermuteten, dass die Meister möglicherweise ein ganzes Stück mächtiger waren, als wir initial vermutet hatten. Vielleicht waren sie auch mächtiger geworden, kürzlich erst – die Götter hätten ja durchaus nachhelfen können. Das war natürlich eine beunruhigende Vorstellung und in Windeseile verbreitete sich das Gerücht.

Das erklärte nur alles immer noch nicht, wohin unsere frischen Rekruten verschwunden waren.

Also wurden Suchtrupps zusammengestellt und wir suchten das Dorf ab. Haus für Haus. Ein paar arme Schweine mussten sogar tauchen gehen – nur für den Fall, dass ein paar Neunmalkluge sich mit einem umgedrehten Beiboot am Seegrund zu verstecken versuchten.

Ich sage euch… das war einer der gruseligsten Momente. Zerwühlte Betten, teilweise noch warm, frisch gefüllte Viehfutterboxen, aber das Gatter offen. Offenstehende Schubladen, das Silberbesteck weg. Wir wussten einfach nicht, was wir davon halten sollten. Waren sie geflohen? Aber wie hätten sie fliehen können sollen? Die Seuche war unerkannt geblieben, das hatte unser Lich per Weissagung vorher abgesichert. Niemand, wirklich absolut niemand, hätte wissen können, dass wir an diesem Tag zu dieser Stunde an diesem Ort zuschlagen würden. Wenn das also das Werk der Meister war… wenn die Meister fähig waren, das vorherzusagen, mit solcher Präzision, und entsprechend zu handeln… wozu waren sie dann noch fähig? War ihre Weissagungsmagie stärker als unsere? Oder hatten sie möglicherweise sogar die Zeit selbst sehen können? Was, wenn die Chronisten auf ihrer Seite stünden? Es hieß immer, die seien neutral, würden abseits von allem stehen und sich niemals für irgendwen einmischen. Aber was, wenn sie ihr-wisst-schon-wen auf ihre Seite gebracht hätten? Hätten wir dann überhaupt noch irgendeine Chance?

Der Anblick leerer Küchenschubladen und Stallgatter ist nicht das, was uns gruselte. Die Vorstellung, was das für die nahe Zukunft bedeuten könnte… das ist, was uns fertig machte.

Natürlich fanden wir niemanden. Nicht eine Seele. Also wurden die größeren Suchtrupps aufgelöst und alle wurden losgeschickt, um das Gelände zu erkunden. Vielleicht fand man ja ein paar Nachzügler, Lahme oder Alte oder sowas, Flüchtlinge, irgendwen. Es war pure Verzweiflung, zugegeben. Nicht nur die Suche selbst – auch der Versuch, uns vom Denken und Quatschen abzuhalten. Unsere Befürchtungen stapelten sich, verstärkten sich gegenseitig. Also ja. Vermutlich war das eine kluge Entscheidung.

Ich war es letztlich, der zur alten Wachturm-Ruine ging. Ich wollte… einfach ein wenig für mich sein. Mich dort hinsetzen, meine Ruhe haben und meine Gedanken einen Moment sortieren können. Was ich da fand… war übel. Wirklich, richtig übel.

Wisst ihr, was ein Gug ist?

Das sind außerweltliche Kreaturen. Zwei Arme, die sich ab dem Gelenk in vier Unterarme aufspalten - mit eindrucksvollen Klauen. Statt Hals samt Kopf auf ihren Schultern klafft dort direkt ihr Maul auf, mit ziemlich großen Zähnen. Sie sind klüger und kultivierter, als man es ihren gewaltigen, muskulösen Leibern anrechnet.

So einer lag da. Tot. Wirklich sehr, sehr tot. Man hatte ihn mit so verflucht vielen Pfeilen gespickt, dass er im Grunde wie ein verdammtes Stachelschwein hätte aussehen müssen. Oder ein Nadelkissen. Tat er aber nicht. Weil die Pfeile nicht mehr da waren. Ich kenne mich noch aus Lebzeiten genug mit Wunden aus, um Pfeilwunden zu erkennen, wenn ich sie sehe. Der Gug war gespickt worden. Als hätte er ein oder zwei Minuten unter Dauerbeschuss von einem Dutzend Schützen gestanden.

Armer Bastard.

Offenbar hatte er aber vorher einen erwischt. Ich musste ein wenig in Knochenteilen, Hautfetzen, Organen und dem gelegentlichen, ruinierten Rüstungsstück herumwühlen, ehe mir klar wurde, dass der Gug da keinen Dörfler zerfetzt hatte, sondern – sehr wahrscheinlich – einen Nadelmeister. Immerhin etwas Positives, was?

Fehlanzeige.

Ich war in dem Moment natürlich stolz auf mich und meinen Fund und schleppte ein Beweisstück zurück. Der Lich untersuchte es mit Weissagungsmagie und ja, tatsächlich, ein Nadelmeister war tot.

Nur dass wir diesen Bastard später wieder herumlaufen sahen. Ziemlich quicklebendig. Als ich mich darüber aufregte, wurde mir gesagt, ich solle mich deshalb nicht so aufregen. Es sei ja nicht das erste Mal. Und da… da musste ich richtig stutzen. Es war nicht das erste Mal, dass ein Nadelmeister von den Toten zurückkehrte?

Ja verdammte Scheiße, was hieß das denn dann bitte erst für unsere Zukunft?!

Nicht nur, das dieses verflixte Pack die Zukunft vorhersagen konnte und möglicherweise mit einem Chronisten paktierte, nein, wenn man tatsächlich mal den unmöglichen Teil bewältigte und es wirklich schaffte, einen von denen zu töten… dann interessierte sie nicht mal das – sie sprangen einfach wieder auf und liefen pfeifend und singend und hopsend weiter!

Der Lich erklärte mir damals, dass das kein großes Ding sei. Früher oder später würden sie der Korruption erliegen und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die sie nicht einholen würde, dann sei die ständige Wiederbelebung ein unglaublich traumatisches Ereignis, das über kurz oder lang – wenn es nur oft genug geschah – ihre Psyche völlig abwracken und marode zurücklassen würde. Gebrochene Persönlichkeiten voller Ticks und Macken und Phobien und sonstwas, eigentlich kaum noch handlungs- und entscheidungsfähig und ganz sicher keine vertrauenswürdigen Verbündeten mehr für irgendwen. Man würde sich von ihnen abkehren, ihre Weisungen und Warnungen ignorieren und die Nadelmeister hätten sich selbst ins Aus geschossen. Ganz zu schweigen davon, dass dieses Zerrütten ihrer Psyche sie auch für die Korruption anfälliger machen sollte.

Wie du schon sagtest, Leyla. Einem Lich widerspricht man nicht. Also habe ich schön brav meine Fresse gehalten, genickt und bin meiner Wege gegangen. Aber ganz ehrlich? Ich habe gesehen, wie der Nadelmeister da rumlag. Stückchenweise. Wirklich und wortwörtlich zerfetzt. Und ich habe zumindest aus verlässlicher Quelle gehört, wie er später weiter herumzog und sich bester Laune erfreute.

Der Plan geht nicht auf. Sie immer wieder töten wird uns einfach nicht weiter bringen, uns nicht helfen. Ich weiß nicht, was sie machen oder wie sie’s machen, aber die Lich verschätzen sich da gewaltig, befürchte ich. Diese verdammten Steh-Auf-Männchen werden noch unser aller Untergang sein…“

 

Schweigen legte sich über die kleine Dreiergruppe. Unterbrochen nur vom Knistern der Flammen und dem leichten Flüstern des gelegentlichen Windes, der irgendwo zwischen den Ritzen in der Decke der Halle durchschlüpfte, nachdem er sich seinen Weg durch unzählige Meter Erde gewurmt hatte.

„Das… war’n ziemlicher Stimmungsbrecher“, erklärte Leyla kopfschüttelnd.

„Dann hättest du vielleicht danach fragen sollen, wie ich über Wiesen hüpfe und Blümchen pflücke. Aber nein, du wolltest wissen, wie das mit den Nadelmeistern war. Da. Bitte. Da hast du’s. Es war gruselig, es war frustrierend, es war niederschmetternd für jedermanns Moral“, ereiferte sich Grannis neuerlich. Leyla erhob sich tatsächlich, schob den Mohrg ein Stück auf seinem Stein bei Seite und setzte sich zu ihm. Die knöchrige, skelettierte Hand auf seinem ebenso fleischlosen Unterarm. Obgleich Atmen keine Notwendigkeit mehr war und, in der Theorie, mangels Lunge auch gar nicht mehr möglich, vollbrachte Grannis dennoch ein Seufzen.

Magie war eine seltsame Sache. Je mehr man darüber nachdachte, umso mehr bekam man Kopfschmerzen.

Nach einem Augenblick schien er sich etwas gefangen zu haben und hob nun seinerseits den Kopf. „Was ist mit dir, Kalila?“

Erschrocken blickte sie auf, aus ihren Gedanken und Fantasien gerissen. „Huh? Was? Was soll mit mir sein?“

„Inzwischen hat hier irgendwie jeder irgendeine Nadelmeister-Geschichte. Du doch bestimmt auch, oder nicht? Komm schon, Frischling, erzähl uns was.“ Leyla nickte eifrig und bekräftigend, sehr zu Kalilas Verdruss. Sie liebte Geschichten über alles, aber… sie war nicht gut darin, selbst welche zu erzählen.

„Nicht… n-nicht wirklich“, erwiderte sie kleinlaut und in der Hoffnung, sie könne einfach-

„‘Nicht wirklich‘?“, hakte Leyla sofort ein, „Dann erzähl uns die unwirkliche Variante…“ Wieder konnte man ihr dieses freundliche Lächeln anhören. Es war ungerecht. Es war einfach entwaffnend und damit ungerecht. Sie war ein Skelett, eine Untote, sie hatte schrecklich und grässlich und furchteinflößend zu sein. Diese entwaffnende Freundlichkeit war einfach nicht fair.

Unter einem schweren Seufzen fügte Kalila sich ihrem Schicksal. Das konnte nicht wirklich gut gehen, oder? „Also gut. Ich… aber wirklich, ich bin den Nadelmeistern nie begegnet. Ich war nur mal… in der Nähe…

 

Es gab da diese Magierin. Sie war keine studierte Nekromantin, aber sie hatte Kontakt zu unserem König aufgenommen, hieß es. Sie… bewarb sich, sozusagen. Sie wollte sicherstellen, dass sie nicht einfach nur auf einen Ghoul oder Ghast reduziert werden würde, also verhandelte sie um ihr zukünftiges Schicksal in unseren Reihen. Sie war die frühere Gehilfin von Herrin Silfae und meinte, sie habe geheime Informationen über die Entwicklung eines besseren, stärkeren Zaubers zum Aufspüren von Untoten, der fähig sei, selbst stärkste Illusionen zu durchdringen. Sogar Verwandlungsmagie. Sie wisse, wo dieser Zauber entwickelt werde und bot an, seine Fertigstellung zu verhindern. Im Gegenzug wollte sie zu einem Lich gemacht werden.

Was sie zu ihrer Unterstützung verlangte, war auch nicht viel. Jedenfalls nicht für das, was sie da anbot. Ein paar hundert Skelette, Zombies, Ghoule. Die meisten würden nicht einmal in allzu große Gefahr geraten. Sie sollten hauptsächlich präsent sein. Kämpfe antäuschen. Ein Ablenkungsmanöver bereitstellen.

Mein Lich meinte zu mir, ich solle mich anschließen. Also, naja, tat ich das. Ohne wirklich zu wissen, wo es hin ging.

Wir landeten bei den Flüsterklippen, irgendwo im hinteren Vorgebirge. Unterhalb der normalen Höhe, in einer Art seltsamem Tunnel-System. Sah ein wenig aus, als hätte Wasser den Stein ausgespült und die Wege angelegt. Der Boden war voller Sand, Sediment vielleicht, nur war da keine Spur von Wasser. Vielleicht kam aber auch nur alle paar Jahre einmal ein Sommer, der eine Schmelze oben an den Spitzen verursachte? Ich weiß nicht.

Jedenfalls wurden wir dort im Sand abgesetzt. Und unsere Order war simpel. Bei Nacht sollten wir zu einem Kloster ganz in der Nähe und dort Druck ausüben. Wir sollten uns in die Kämpfe werfen, ja, aber falls möglich… uns zurückziehen, bevor wir zerstört werden würden. Unsere große Zahl sollte uns das problemlos erlauben. Und sobald wir das Signal bekamen, würden wir uns zurückziehen. Und das dann Nacht für Nacht wieder, bis man uns neue Order gab.

Also tat ich genau, was mir gewiesen war. Das war natürlich eine ziemliche Katastrophe, wie sich schnell zeigte. Durch den enormen Andrang und unsere große Zahl wurde es für die weiter vorne fast unmöglich, sich rechtzeitig zurückzuziehen und die Magier, die das Kloster verteidigten… naja sie waren nicht wirklich mächtig, schätze ich, aber mächtig genug, dass sie uns immer mal wieder mit Flächenzaubern eindecken konnten. Blitze und Feuerbälle, vor allem. Anfangs dachte ich, dass wir sehr viel mehr verloren, als eingeplant worden war. Aber als wir die erste Nacht zurückkehrten und der Lich uns mit negativer Energie wieder auffüllte, da verlor er kein Wort über die Verluste, die wir erlitten hatten.

Und so ging das dann eben Nacht für Nacht weiter. Ich erfuhr nur irgendwann später, dass die Nadelmeister wohl im Kloster angekommen wären und jetzt irgendwelche Dinge taten. Sie machten auch einen Ausflug in die nördlichen Tunnel, aber man wählte natürlich etwas Kleineres und Unauffälligeres als Späher aus als einen Ghoul, also kam ich da nicht wirklich mit und unsereins informiert auch keiner über Spähberichte, das ging alles direkt an den Lich.

Ich habe aber Thilia gesehen!

Oh. Uhm… Thilia ist Rikhards Eidolon. Sie war wirklich, wirklich groß und flog über dem Kloster herum und… ich vermute, sie hat alles soweit im Auge behalten. Damit sie die Meister und den Rest im Inneren warnen kann, falls wir tatsächlich irgendwo durchbrechen würden. Hätten wir vermutlich gekonnt, aber das war ja gar nicht unser Auftrag. Das konnte sie ja nur natürlich wiederum nicht wissen.

Aber sie hat das eine Mal eingegriffen!

Da hatten wir einen der Verteidiger fast in die Knie gezwungen. Wir waren alle etwas unschlüssig, was wir nun mit ihm machen sollten. Wir hatten ja nicht wirklich Order, ob wir nun die Verteidiger töten sollten. Oder auch nur, ob wir sie überhaupt töten durften. Keiner wollte aufgelöst werden, nur weil er einen Magier umbrachte, der nicht hatte sterben sollen. Aber es macht natürlich Sinn, dass die Situation für Thilia trotzdem gefährlich aussah. Also kam sie runter und hat uns auf Abstand gebracht. Sie sah damals aus wie ein riesiger Gecko mit Flügeln. Wirklich, das war ein lustiges Bild! Und sie schimmerte und schillerte und hatte dieses hübsche blaue Muster an ihrer Brust. Als sie uns wegscheuchte, kam ich sogar kurz dazu, sie anzufassen. Sie war kühl, aber ganz weich. Gar nicht, wie man es von Schuppen erwarten würde. Ich konnte leider nicht sehen, was es mit dem Muster auf sich hatte.

Jedenfalls half sie dem Magier ins Innere. Die haben dann natürlich sofort die Tür verbarrikadiert. Wir waren einen Moment etwas ratlos, aber unsere Order war ja, das wir Druck machen und die Verteidiger beschäftigt halten sollten. Zudem wäre es kein sehr glaubwürdiger Angriff gewesen, hätten wir sie einfach in Ruhe gelassen, sobald sie sich ins Kloster zurückziehen. Also fingen wir an, die Tür einzuschlagen. Und als sie sich hinter die Küche zurückzogen, nahmen wir die Küche ein und fingen an, die nächste Tür einzuschlagen.

An der kamen wir nur irgendwie nicht wirklich weiter. Sie hatten wohl irgendwas sehr Schweres dahinter gesetzt. Einen Schrank vielleicht oder einen verkeilten Tisch. Konnte uns ja aber auch eigentlich nur recht sein – so waren sie in Sicherheit und wir waren es auch.

Drei oder vier von uns schlugen dann immer wieder auf die Tür ein. Der Rest von uns, naja. Wir standen in der Küche herum und unterhielten uns. Ich meine… das war eine schmale, kleine Tür. Was hätten wir sonst machen sollen? Sie hatten da Kardamom und Zimt und Vanille in den Gewürzkrügen. Ich erinnere mich noch, wie Vanille schmeckt. Also plauderten wir ein wenig darüber, wer sich noch an welche Details aus seinem Leben erinnert. Zubereitung von Speisen, Vorlieben und Abneigungen beim Essen insbesondere natürlich – wir standen ja schließlich in einer Küche. Oh und Tischmanieren waren auch ein großes Gespräch! Einer von uns kam ehemals aus Kruk – der hatte vielleicht Geschichten…

Oh, uhm, ja, Nadelmeister. Entschuldigung.

Nach ein paar Tagen wurden wir abgezogen. Die Wenigsten interessierte wirklich, was da passiert war oder wie es ausging, aber ich… wollte es wissen. Also fragte ich beim Lich nach. Er erklärte mir diese ganze Sache mit dem Zauber und der Bewerbung und als ich nachfragte, meinte er, dass die Nadelmeister den Plan dieser Magierin ruiniert hätten. Der Zauber sei erfolgreich entwickelt worden. Er klang wegen des Zaubers nicht sonderlich beunruhigt.

Oh und die Magierin sei von den Nadelmeistern gefangen genommen worden. Man brächte sie zum Verhör nach Ordewey oder so und das er schon dabei sei, Pläne zu schmieden, dass sie gar nicht erst dort ankäme. König Xaraks Order. Sie würde rekrutiert werden, auf jeden Fall. Als… naja, als Zombie. Als Strafe für ihr Versagen.“

 

Einen Moment herrschte betretenes Schweigen, ehe Leyla und Grannis in herzliches Gelächter ausbrachen. Selbst Kalila musste ein wenig lächeln. Die Heiterkeit der Beiden war ansteckend, ihr Lachen ebenso. Insbesondere, da man Grannis selten wirklich heiter erlebte und Leyla einfach immer irgendwie ansteckend war. Ob mit ihrem Lachen, ihrer guten Laune, ihren schlechten Launen, ihren krankheitsverseuchten Klauen oder ihrer Begeisterung für eine gute Erzählung.

Und Kalila entging nicht, das es eine gewisse Komik besaß. Die vermessene Magierin, die sich ihren Platz auf der Siegerseite erhandeln wollte und sich mehr abbiss, als sie letztlich schlucken konnte. Um dann als Zombie zu enden. Gerade und ausgerechnet als Zombie. Kaum noch eines klaren Gedankens fähig, halb verrottet und stetig weiter verrottend, dem Zerfall so unendlich nahe und mit so tiefgreifender Panik vor eben diesem grässlichen Ende geschlagen, das der Hunger auf Frischfleisch und die darin enthaltene Lebensenergie alles war, worauf ihr Verstand sich noch halbwegs zu konzentrieren vermochte.

„Gut, also wenn ich das richtig sehe“, begann Leyla nach einer ganzen Weile, als sie sich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, „bin ich hier die Einzige, die den Nadelmeistern je wirklich von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand und noch davon erzählen kann – das macht mich eindeutig zum Sieger des heutigen Abends, richtig? Das heißt, dass ich bestimmen darf, wer als nächstes was erzählen muss und was. Gut – Kalila. Du bist die Neue, von dir wissen wir noch am wenigsten. Also. Sie wäre es, wenn du uns erzählst, von, hmmm…“

Leyla kam nicht dazu, ihre sich in die Länge ziehenden Überlegungen zu beenden. Ganz zu schweigen davon, tatsächlich auszusprechen, welche Erzählung sie dem Frischling aufzutragen gedachte.

Stattdessen zuckten alle drei einen Moment zusammen, als es am anderen Ende der Halle vier Mal schwer gegen das wuchtige Tor klopfte. „Urgh. Sind sie wieder zu blöd, zu wissen, wie man eine Tür bedient? Mögen die Götter diese verdammten Zombies holen“, fluchte Grannis. Leyla erhob sich mit, da der Mohrg allein nicht fähig war, die gewaltigen Tore ins Innere der Anlage aufzuziehen. Kalila wiederum erhob sich ebenfalls und folgte – um zu helfen, hätte man sie gefragt. Ganz still und heimlich wollte sie nach diesen Geschichten nur wirklich nicht allein in der riesigen Halle am Feuer sitzen bleiben, mit all dem Flackern und den tanzenden Schatten. Als würden die Nadelmeister sich aus dem Dunkel heraus manifestieren und sie anfallen können.

Was natürlich Blödsinn war, sie wusste das. Sie war schließlich keine acht Jahre alt.

Nur dreißig Jahre – oder dreihundert – war sie dummerweise eben auch noch nicht…

Am Tor angelangt, klopfte es gerade erneut vier Mal. „Ja, ja, ja. Krieg‘ dich ein, Kollege. Du bist zu blöd, das Tor zu bedienen, also wirst du verdammt nochmal warten können, bis andere deinen dämlichen Schädel durchschleusen können.“

Mit vereinten Kräften, alle drei zusammen anpackend, zogen sie das gewaltige Tor langsam aber sicher auf.

Und ihnen fiel die Merkwürdigkeit spät ins Auge. Dieses seltsame, weitreichende Flackern, das da eigentlich nicht sein sollte. Also traten sie zusammen hinter dem Tor hervor und vor den Eingang. Dort stand ein Skelett. Und kratzte sich am untersten Rippenbogen. „Ich denke, ich wäre dann jetzt soweit fertig“, meinte jenes. Die Illusion löste sich langsam auf und zum Vorschein kam die Gestalt eines Halbelb. Leyla erkannte Ithildalin unweigerlich als Einzige – sie war die Einzige, die je ein Bildnis von ihm gesehen hatte.

Dennoch gebührte in dem Moment dem vermeintlich vernichteten Lich die wenigste Aufmerksamkeit. Im Hintergrund brannte die Anlage. Keine vier Meter hinter dem Tor stand auf der linken Seite ein Podest, auf dem eine Büste thronte.

Sie brannte.

Die Büste. Aus Stein. Brannte.

Die Spannung wuchs, nur das Knistern war zu vernehmen. Das Knistern nicht etwa ihres weit entfernten Lagerfeuers, sondern des völlig zu Recht so benannten flammenden Infernos jenseits des Tores, aus dem gerade die Nadelmeister hervorgekommen waren. Neben Ithildalin stand Rikhard, eine winkende Thilia in Gestalt eines Feuervogels auf der Schulter. Auf der anderen Seite stand Arien, hoch wie ein zweistöckiges Gebäude. Die wenigen Wunden, die man noch bemerken konnte, schlossen sich mit jeder Sekunde weiter. Und hinter dem Trio ragte die noch größere Gestalt eines blauen Drachen auf. Sein Blick bohrte, brannte, drohte, mahnte.

Keiner der drei wagte den Blick abzuwenden. Selbst als alle drei zusammenzuckten, weil irgendwo weit hinter den Nadelmeistern eine gewaltige Säule umkippte und mit einem Scheppern zu Bruch ging, wagte keiner den Blick abzuwenden. Ithildalin trat schnurgerade an die Gruppe heran, von Rikhard gefolgt. Hinter dem Arien, dahinter der Drache. Auf Höhe der drei Wachen blieb Ithildalin einen Moment stehen, klopfte Grannis auf den Schultergürtel. „Nie über die Frischlinge wettern – man weiß nie, wann das mal ein Lich in Verkleidung auf Kontrollgang sein könnte.“ Grannis nickte betäubt und der Lich setzte sich wieder in Bewegung.

„Schönen Tag noch, Leyla, Grannis, Kalila! Waren tolle Geschichten!“, zwitscherte Thilia begeistert. Sie drückte sogar Kalila eine Feder in die Hand. Von Rikhard unbemerkt natürlich. Und ohnehin würde die Feder verschwinden, sobald sie das nächste Mal heimkehrte, also war sie sowieso nicht von Nutzen. Es war nicht so, als hätten sie in der Anlage noch irgendwen oder irgendwas übrig gelassen, der damit unmittelbar noch etwas hätte anfangen können.

Arien hingegen passierte wie Rikhard kommentarlos, aber mit wachsamem Auge. Der Drache hielt ebenfalls kurz inne, beugte sich tief herab. „An eurer Stelle würde ich mir eine gute Ausrede einfallen lassen…“, flüsterte er leise, ehe er zu seiner abziehenden Gruppe aufschloss.

Die Blicke der drei folgten den Nadelmeistern, bis diese im grellen Tageslicht auf der anderen Seite verschwunden waren. Sie besaßen sogar die Güte und Manieren, das Tor wieder zu schließen. Aus Rücksicht auf Geister, möglicherweise…

Leyla, Grannis und Kalila dagegen drehten sich langsam wieder um und starrten in die Feuerhölle, die einstmals eine große, sich tief ins Erdreich verzweigende und enorm wichtige Anlage König Xaraks gewesen sein musste. Oder zumindest eines seiner Hohen Lich. Und die aktuell eher den Eindruck eines allmählich immer mehr unter der eigenen Hitze dahinschmelzenden Hochofens machte.

„Das… d-das gibt Ärger, oder?“, erkundigte sich Kalila kleinlaut, nachdem sie Minuten des Starrens später als Erste der drei ihre Stimme wiederfand.

 

„… Grannis hatte es sogar kurzzeitig geschafft, Arien auf den Boden zu bringen, indem er ihr die Beine wegzog. Aber wenn da ein riesiger Drache über ihr steht und wacht, ist es etwas kompliziert, brauchbar Attacken durchzubringen. Sie trug ja schließlich eine ziemlich derbe Rüstung und hatte all ihre Magie in Vorbereitung auf den Kampf einsetzen können. Den Schwanzschlag hat er zwar glücklicherweise überlebt, aber dafür landete er auch am anderen Ende der Halle – was Arien wiederum genug Zeit ließ, wieder aufzustehen!“, setzte Leyla ihre Erklärung fort.

Kalila nickte ernst. „Wir hatten zwischenzeitlich Thilia ziemlich fertigmachen können. Ich weiß, dass es mehr Sinn macht, sich auf den Beschwörer zu konzentrieren, aber mit all den Zaubern, die er auf sie gewirkt hatte, war er nahezu unangreifbar, solange Thilia noch bei ihm war. Wir mussten gewissermaßen durch sie durch, wenn wir an ihn ran wollten. Wie gesagt, wir hatten das auch fast geschafft. Ich hatte sogar ein Feder, mit der ich das hätte beweisen können, nur… die ist verschwunden, als er Thilia wegschickte. Das ist auch erst ein paar Stunden her.“

Jedenfalls“, mischte sich Grannis ein, „taten wir, was wir konnten, aber wir vermochten sie einfach nicht davon abzuhalten, das Tor zu erstürmen. Wir sind natürlich sofort hinterher, um Warnung zu geben, aber ihr habt sicherlich schon gehört, wie verdammt schnell die Nadelmeister allesamt sind. Wann immer wir irgendwo ankamen, war da schon alles tot und zerstört. Und als dann erst einmal die Flammen kamen, mussten wir uns zurückziehen. Zu dem Zeitpunkt war einfach nichts mehr zu retten, aber wir hatten noch die Hoffnung, rechtzeitig andernorts Alarm schlagen zu können, damit vielleicht Verstärkung geschickt wird. Hat es denn sonst jemand raus geschafft?“

Der Lich hörte sich die Erklärungen und Ausführungen sehr gründlich an, fragte über Stunden hinweg nach den unscheinbarsten Details, ehe er das Verhör abschloss. Es war ein weiterer, frustrierender Rückschlag für die Pläne der Untoten, für das Gelingen des Feldzuges von König Xarak – aber diese drei völlig irrelevanten Idioten dafür bestrafen brachte weder Vor- noch Nachteile. Sie würden nicht einmal genug aushalten, als das man irgendeine Genugtuung daraus hätte ziehen können. Es war einfach nur verschwendete Mühe.

 

Seufzend ließ sich Kalila am Feuer nieder. Lissa, ein Geist, und Edwin, ein Ghast, saßen bei ihr. Beide waren noch keine zwei Wochen in dieser neuen Existenzform. Sie hatten noch einige Eingewöhnungsprobleme. Edwin ekelte sich vor seinem eigenen Erscheinungsbild. Vor seiner Erweckung hatten ihn die Maden und Würmer übel zugerichtet. Sein Gesicht insbesondere. Löcher in den Wangen, Hautfetzen, die vom Kiefer hingen, die Oberlippe fehlte fast vollständig, die Augen tief eingesunken. Lissa dagegen verlor ständig die Orientierung und stürzte in den Boden oder die Decke. Gerade der Boden war schlimm. Sie bekam Panikattacken und niemand konnte ihr wirklich helfen – außer anderen Geistern natürlich. Aber von denen hatte sich niemand erbarmt, sie ein wenig an der Hand zu nehmen und zu führen. Wozu auch, sie war ja nur irgendein niederes Gespenst, kaum mehr als verbessertes Kanonenfutter.

Kalila dagegen seufzte und sah sich um. Was genau sie hier, mitten im Wald, mitten im Nirgendwo, überhaupt bewachen sollten… war ihr ein Rätsel. Die mögliche Sinnlosigkeit ihrer Aufgabe ignorierend, fragte sie sich kurz, wie es den anderen wohl ginge – wohin man sie wohl abgeschoben hätte. Nur einen Moment des Wehmuts gönnte sie sich, ehe sie in der Tasche, die neben ihrem Baumstamm lehnte, ein wenig herumkramte. Sie zog eine kleine Gussform aus Ton hervor. Trotz pfleglichster Behandlung waren hier und da ein paar Ecken abgeplatzt, weil es einfach schwierig war, so etwas sicher zu transportieren.

Der Abdruck einer Feder verbarg sich im Inneren und mit einem Lächeln strich sie darüber. „Gut – Wachdienst bedeutet üblicherweise Langeweile, also sollten wir uns besser kennenlernen. Einander ein paar Geschichten erzählen. Zum Zeitvertreib, hm? Ich fange auch an, wenn ihr nicht wollt? Gut? In Ordnung.“ Sie strich nochmals über den Federabdruck, lächelte.

„Diese Geschichte begann, als wir – Leyla, Grannis und ich – uns an einem Lagerfeuer wie diesem zusammensetzten, um uns Gruselgeschichten über die Meister der Nadel zu erzählen…“

Im Wahn

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Sam_Linnifer
2016-12-24T21:59:06+00:00 24.12.2016 22:59
Die Geschichte ist einfach großartig :)
Du hast Klein-Arien wirklich hervorragend getroffen und ich liebe die innere Argumentation xD
Natürlich ist der Plan gut, ist ja meiner!
Und auch das mit dem Sumpf leuchtet definitiv ein. Ariens Einstellung zu Blutegeln lässt sich ganz bestimmt irgendwann noch einmal aufgreifen auch wenn ich nach wie vor sagen muss:
Am nächsten Morgen möchte ich definitiv nicht in ihrer Haut stecken. Großvater war ganz sicher alles andere als angetan von der Aktion.
"Also... Wo kommt er her?"
​"Uhm... Ich... hab ihn gefunden?"
"In deinem Zimmer?"
​"Uh... ja, irgendwie schon... Zumindest heute Morgen. Vielleicht... Ein fehlgeschlagener Teleport? Das hört man doch ständig!"
"Arien..."
​*quietsch*
Oder so ähnlich xD
​Ich hoffe und freue mich definitiv auf mehr :) Zu erzählen gibt es über unsere Chaoten ja definitiv mehr als genug. Und ich freue mich auf das nächste Treffen mit Faelon. Arien wird ihren BFFI ganz sicher nicht dem blöden Outsider-Säuredrachen überlassen v v soll er sich doch einen eigenen BFFI suchen!
Vielen Dank auf jeden Fall :)

LG
Sam

​p.s. Ich bin sicher die Kekskrüge usw. wurden perfiderweise telekinesesicher gemacht? ;P
Antwort von:  Voidwalker
25.12.2016 10:33
Natürlich sind die Krüge magieabweisend - und stehen hoch genug, damit ranfliegen ohne Lärm unmöglich ist... und ranklettern schwierig, bestenfalls - man kann eben nicht alles haben und absichern...
Aber ja, das Gespräch am nächsten Morgen war bestimmt... 'lustig'... für alle Beteiligten. ;D
Und mit dem Drachen wirst du wohl um deinen BFFI kämpfen müssen... aber ich bezweifle, das Arien da groß Probleme hat. "Pischposch, groß sein, fliegen, Säure speien, kann ich auch alles, ist nicht eindrucksvoll - sei doch mal originell!" xD
Antwort von:  Sam_Linnifer
25.12.2016 13:45
Echt mal!
Der hat sowas von keine Chance v v


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