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shaping fate

von

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Ein Neues Zeitalter

„Ich fühle mich erschlagen“, krächzte Vetus neben ihr, als er langsam auf dem vergleichsweise weichen Waldboden aufsetzte.

„Wurdest du ja auch beinahe. Mehrfach“, erwiderte Arien schmunzelnd. Erst als er sich herabbeugte, ließ sie sich langsam und vorsichtig von seinem Hals rutschen. War der Boden tatsächlich weich… oder kam er ihr nur so vor? Ihre Füße brannten. Ihre Waden ziepten bei jeder Bewegung, gleich jedem Muskel in ihren Oberschenkeln. Ihre Knie glühten förmlich. Zu viel Rennen, zu viel ducken, zu viel springen. Ihre Bauchmuskulatur war frisch in kochendes Blei gegossen worden, zumindest dem Gefühl nach. Ihre Hüfte schmerzte. Ganz grundsätzlich schien jeder Knochen in ihrem Leib sich beschweren zu wollen – Hüfte und Schädel allem voran. Ihr Magen krampfte, er hatte den ganzen Tag lang nichts Essbares bekommen und wenn sie ehrlich war, nach diesem Tag… wollte sie ihm auch nichts geben – und sei es nur, um weiterhin das Risiko gering zu halten, dass sie es sofort wieder herauswürgen würde. War das möglich? Das ihr Magen einfach nur Inhalt begehrte, um sich krampfend übergeben zu können?

Ihre Lungen stachen. Die Luft während des Fluges war nicht unangenehm gewesen. Die schneidend kalten Winde hatten geholfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Und es war eine so unendlich angenehme Abwechslung zur stickigen, muffigen, übelriechenden Luft unter Tage gewesen. Zu dumm nur, das Vetus‘ Schuppenkleid dem Gefühl nach selbst durch ihre Hosen hindurch ihre Oberschenkel an den Innenseiten aufgescheuert hatte.

Ihre Arme glühten vor Überanstrengung. In panischen Gesten die Arme hochreißen, während verzweifelter Verhandlungen unruhig gestikulierend und natürlich, nicht zuletzt: Das Schwert schwingend. Jeder Schlag der schweren Waffe auf Metall anderer Waffen, auf Metall von Rüstungen und Schilden, fehlgeleitet gegen massiven Stein und ja, selbst die pure, leere Luft – es war eine Anstrengung gewesen. Sie war stark. Sie war zäh. Aber selbst das bedeutete nicht, dass sie bis in die Unendlichkeit kämpfen konnte. Ihre Oberarme brannten, als hätte man sie in Flammen aufgehen lassen. Ihre Handgelenke stachen bei jeder Bewegung. Ihre Finger leicht taub, schienen jetzt noch ab und an krampfen zu wollen, als würden sie das Schwert umfassen. Ihre Nacken stach bei jeder Kopfneigung.

Und wie ihr Schädel erst dröhnte. Die rasenden Kopfschmerzen kündigten sich im Moment noch harmlos für den späteren Abendverlauf an. Das würde übel werden. Aber für den Moment war es nur ein dumpfer Druck, ein unangenehmes Pochen in den Schläfen, hinter der Stirn, in den Augen.

Dennoch glitt sie von Vetus‘ Rücken und konnte halbwegs schlagfertig und gewitzt und sogar mit einem Lächeln Antwort geben. Trotz ihres ungewohnt miesen Zustandes… war ihr Geist ungebrochen. Erschöpft, gewiss. Aber auf dem gesamten Flug hatte ein derartiges Hochgefühl ihm ganz eigene Flügel verliehen, dass es ihr unmöglich schien, dessen Laune zu brechen. Und fürwahr, gebrochen wurde sie nicht. Nur… verändert?

Das Lächeln auf ihren Lippen starb langsam, als sie sich umsah. Die massiven, dickstämmigen Bäume, die den Immergrün-Wald bildeten. Irgendwo tief in diesem Wald war ein See voller Sirenen. Sirenen, gute Güte! Für wie… gewöhnlich sie diese Begegnung damals schon gehalten hatte! Vielleicht hätte ihr das ein Wegweiser sein sollen? Von hier an wird es nur noch schräger.

Doch letztlich blieb Ariens Blick an der Nadel selbst hängen. Dieses Wunderwerk. Und nicht weniger als das war sie. Ein Werk – geschaffen, gebaut, erarbeitet – aus Wundern. Sie konnte von hier unten die Balkone sehen, zwei der drei zumindest und einen Moment lang lag der Impuls zur Begutachtung in ihrem Verstand vor, einfach die eigenen Flügel zu nutzen und dort hoch zu fliegen. Es wären dann ganze vier Zimmertüren zwischen ihr und ihrem Bett. Denn schlafen… schlafen klang gerade unverschämt verlockend. Oder wenigstens einfach auf etwas weichem liegen. Keinen Finger krumm machen, keinen Gedanken denken müssen. Einfach nur dort liegen. Die Augen schließen. Ausruhen.

Aber der Anblick dieses alle Physik negierenden, trotzig gegen die Gravitation hoch in den Himmel aufsteigenden Steinwerkes ließ sie innehalten. Ließ sie zögern und zweifeln und überdenken. Es war später Nachmittag, gewiss, aber… eine Sache. Eine Sache gab es noch zu tun und es fühlte sich einfach abgrundtief falsch an, es nicht zu machen. Ihre empfundene Pflicht zu vernachlässigen – selbst wenn das nur einmal mehr etwas sein mochte, dass sie sich selbst aufgebürdet hatte. Was ihr gelegentlich aufgetauchter Stuhlkreis wohl dazu gesagt hätte?

„Ist schon gut“, erklärte sie schließlich und klopfte Vetus gegen den Hals, strich über das fein-blaue Schuppenkleid, „Ich komme zurecht, keine Sorge. Geh du ruhig schon mal hoch und schlaf.“ Er musterte sie einen Moment. Fragte sie wortlos, ob alles gut sei, ob sie zurechtkäme, ob sie Hilfe brauche, reden wolle. Mit einem Lächeln wischte sie all die Sorge fort. Und auch all die Angebote. Dankbar, aber ablehnend. „Gute Nacht, Papa.“

Dieser Titel wärmte ihm noch immer das Herz. Sie konnte es sehen, in seinen Augen. Jedes Mal, wenn sie ihn so nannte, war es, als würde der Grat konstanter Liebe, die er zu ihr empfand, einen plötzlichen, heftigen Sprung tätigen. Einen Moment senkte er den Kopf, presste seine Schnauze gegen sie. Lächelnd schlug Arien ihre Flügel um seinen Kopf, soweit sie das eben vermochte. Spendete ihm ihre Wärme. Ihren Geruch. Es war noch immer merkwürdig, sich dem Gedanken zu stellen, wie beruhigend eine Nase voll Arien für ihn war. Dann wiederum: Er war ein Drache. Drachen waren… seltsame Kreaturen. Manchmal witzig-seltsam, manchmal verstörend-seltsam.

Sie erinnerte sich noch, wie sie ihn auf dem Arm herumgetragen hatte. Klein und kaum intelligent, verfressen, ständig schläfrig und des Öfteren an seinen Flügel- oder seiner Schwanzspitze lutschend und nagend. Sie wagte es, sich ein Stück weit auf seinen Kopf zu legen. Er war so riesig geworden, sie hätte ihren gesamten Rückflug vermutlich darauf sonnenbadend zubringen können. Das hätte seinem Hals natürlich Tod und Teufel eingebracht, aber vermutlich hätte er dagegen dennoch nicht einmal etwas gesagt, hätte sie gewähren lassen. Denn heute war ihr Tag. Heute war ihrer aller Tag, aber Ariens insbesondere – nach Vetus‘ Auffassung zumindest, allemal.

Denn heute war der Tag, an dem der König der Untoten gefallen war, ein- für allemal.

„Danke. Und wir sehen uns später“, flüsterte Vetus leise, als hätte er die Bedeutungsschwere ihrer Gedanken erahnt. Tatsächlich jedoch war es nicht nur das gewesen. Seine Nähe, sein Geruch, seine Wärme, das vertraute Gefühl seiner Schuppen – es hatte sie eingelullt und hätte er nichts gesagt, wäre sie tatsächlich im Stehen eingeschlafen, halb auf seinem Kopf liegend. Vielleicht hatte er das geahnt, gespürt und sie deshalb angesprochen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er diesen Moment allzu bereitwillig brach.

Sie trat zurück, schloss die Augen und wappnete sich. Mit festem, sicherem Stand konnte sie den gewaltigen Flügelschlägen begegnen. Staub wirbelte auf, kleine Steinchen prasselten zusammen mit Stöcken, Erdklumpen und Laub gegen sie. Es piekste, stach, kitzelte, schmerzte – aber alles in allem waren die Eindrücke so lächerlich winzig im Vergleich zum ohnehin desolaten Zustand ihres Körpers, dass es sich ebenso gut um ein leeres, laues Lüftchen hätte handeln können. Als der Angriff des Waldes nachließ, öffnete sie die Augen. Blickte dem gewaltigen Drachen hinterher, der ein gutes Stück weiter oben auf ihren Balkon aufsetzte. Sie schmunzelte über das plötzliche, freudige Wackeln seiner Schwanzspitze, die noch immer über den Rand hängend gut sichtbar war. Offenbar hatten sie beim letzten Picknick auf dem Balkon irgendetwas Essbares draußen stehen lassen und er hatte es gerade gefunden. Dieses Schwanzwackeln war zu eindeutig. Sie kannte die Körpersprache ihres Vaters inzwischen gut genug.

Ein Snack vor dem Schlafen würde ihm gewiss nicht schaden. Hoffentlich war er nur umsichtig genug, sich nicht wieder den Magen zu verderben.

Nachdem sie noch einen Moment lang zugesehen, die Schwanzspitze verschwinden sehen und schließlich die leere Wand samt Himmel angestarrt hatte, widmete sie sich wieder ihrer letzten Aufgabe des Tages. Die Nadel wirkte noch immer gewaltig, wundersam und einschüchternd. Aber jetzt war Vetus irgendwo darin, zusammen mit anderen. Und trotz allem… war die Nadel ihr Heim geworden. Ihr Zuhause. Zu viele Emotionen und Erinnerungen banden sie an diesen Ort.

Seufzend tat sie den ersten Schritt auf den Eingang zu und das Seufzen wiederholte sich, schwerer, bedrückter, als sie durch den Eingang trat. Kein antimagisches Feld. Kein göttliches Wirken. Nichts. Nur ein leerer Torbogen mit einer Glocke davor. Sie… würden eine Tür einbauen müssen. Demnächst.

Arien spürte den Drang. Den altbekannten, zwanghaften Impuls, die Nadel zu scannen. Schnellstmöglich sich zu versichern, wer wo war und wie es allen ging. Ob es Eindringlinge gab, ob jemand verletzt war. Es hatte Monate gedauert, dem Zwang zu begegnen. Und auch, wenn er dann und wann noch immer aufbrandete, und das mit beeindruckender Macht und Gewalt, so ließ sie ihn nicht zu, bot ihm die Stirn. Sie war nicht Sklave ihrer eigenen Ängste!

Auf seltsame Weise fühlte sie sich an ihre erste Erkundung erinnert. Und sie ließ das Gefühl zu. Ließ zu, sich wieder unwissend zu fühlen. Wieder alles mit eigenen Augen zu sehen und zu bestaunen, zum ersten Mal.

Die Eingangshalle war still, sah man vom Prasseln der alchemistischen Feuer in den vier großen Schalen auf ihren Podesten ab. Ihr flackerndes, weiches Licht erhellte genug, um Zeuge der Pracht werden zu können. Die riesige Drachenstatue erhob sich rechtsseitig, prunkvoll und einschüchternd – und zweifellos ein gehöriger Schreck, wenn man hier herein kam und sie nicht erwartete. Doch Ariens Aufmerksamkeit galt vor allem der Raumgestaltung. Den Wänden. Der Decke. Dem Boden. Den zahllosen Bildern. Szenerien, die flüssig ineinander überführten. Drachenhorte und –höhlen, gewaltige Schätze und weite Wiesen, Bergkämme und ganze Gebirgszüge, aufsteigende Drachen am blauen Himmel mit wolkenhaften, weißen Tupfen.

Sie wusste, dass diese Bilder sie begleiten würden. Auf dem Pfad ihrer Erkundung würde sie sie überall finden. Im Teleporterraum – jedem davon auf jeder Ebene. Und in manch anderen Räumen und Fluren ebenso. Es war… es waren Kunstwerke. Geschaffen auf Basis einer Freundschaft, die alles andere als leicht gewesen war, weit von problemlos entfernt. Und die von vorn herein eigentlich höchst unwahrscheinlich hatte sein müssen.

Sie vermisste Brutus.

Sie hatte alle Zeit der Welt, wortwörtlich. Also trat sie, statt gerade dem Gang zu folgen und nur ihre Augen wandern zu lassen, ihrem Blick folgend an die Wände, strich mit den Fingerspitzen über die Struktur des gefärbten Steins, spürte hier und da kleinere Unebenheiten durch die alchemisch zusammengerührten Farben. Erinnerte sich an die unzähligen Stunden an Arbeit, die in diesen Raum allein geflossen waren. An die stillschweigende Kooperation. Sie hatte ihn zu ihrem Freund erklärt. Ihn, den Uhrwerkdrachen, der keine Intelligenz hätte besitzen sollen. Ihn, der alles Lebendige hasste. Ihn, der keine Freunde hatte und keine Freundschaften wünschte. Und auf wundersame Weise hatte er nie widersprochen, sich nie gewehrt, sie nie abgelehnt.

Stattdessen hatte er mit ihr gezeichnet. Stundenlang. Und nun war er fort.

Natürlich war die Bitterkeit des Gedankens nicht allumfassend. Brutus war weg, ja. Aber das war eine vorläufige Sache. Vielleicht würde es nur ein paar Wochen oder Monate dauern. Vielleicht wären es Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Aber sie hatte so viel Zeit. Sie konnte warten. Und nach allem, was sie durchgemacht hatten, gemeinsam, allesamt… da bezweifelte sie, das etwas Brutus in die Knie zwingen würde. Er würde wiederkehren. Und sie hätte ihren unfreiwillig-freiwilligen Freund zurück.

Er musste nur erst einmal… sehen. Mit eigenen Augen sehen. Es hatte durchaus Sinn gemacht, alle vor diesem Tag zu evakuieren. Sie hatten nicht gewusst, was geschehen würde. Wie dieser Tag ausgehen würde. Was mit der Nadel im Nachgang dieses Tages passieren würde – und damit auch unweigerlich allen, die darin waren. Er war ausgezogen, um eine Welt zu sehen, von der er nichts wusste. Er hatte seinen Posten gehabt. Er kannte jeden Zentimeter der Nadel in- und auswendig. Er hatte ein paar Mal die Nadel verlassen und den Immergrün-Wald gesehen – aber selbst den nur aus der Perspektive eines Wesens, das vor die Haustür ging, um Gäste zu empfangen. Er hatte sich nie mit dem Wald beschäftigt, mit seinen Wundern und Gefahren, seinen Bewohnern, seiner Schönheit.

Jetzt stand ihm eine ganze Welt offen. Nicht ein Wald, alle Wälder. Und Dörfer. Städte. Metropolen. Die magischen Wunder von Thethys, die natürliche Schönheit von Carastawar. Und Dinge jenseits Arvums. Dinge, für die es nicht einmal Namen und Worte gab. Natürlich galt seine Reise nicht nur der Besichtigung dessen, was zu sehen wert war. Brutus war noch immer auf der Suche nach seiner inneren Mitte. Nach einer Balance. Er war zu einem Teil Maschine. Als solche hätte er nicht denken können sollen. Ganz zu schweigen von Empfindungen. Aber seine Natur widersprach dem Standard. Er konnte sich freuen. Er konnte beneiden. Und er hasste. Was er nicht hatte, war eine Bedienungsanleitung für Emotionen. Für den Umgang mit ihnen. Und er war schlicht zu gefährlich, um diesen Zustand zu dulden.

Also reiste er. Würde Orden von Klerikern und Paladinen besuchen. Mit Mönchen in Klöstern leben. Würde sich mit Philosophen treffen und mit Magi reden. Eine Reise der Selbstentdeckung. Und wenn er erst einmal alles gehört und gesehen und seine innere Mitte gefunden hatte… dann würde er zurückkehren. Er würde.

Er hatte es versprochen.

Und Brutus gab keine leichtfertigen Versprechungen. Nie.

Unlängst war sie durch die schweren Ausgangstore der Halle in den Verbindungskorridor getreten. Und hielt an der Kreuzung inne, als sich ein kurzer Gang, von einer weiteren Tür blockiert, nach links abzweigte. Sie blickte die Tür an, starrte, als könne sie hindurch sehen. Und tatsächlich konnte sie das irgendwie – sie kannte die Nadel. Sehr gut sogar. Fast so gut wie Brutus, mochte sie meinen. Dahinter lag ein kleiner Gemeinschaftsraum. Nicht beeindruckend. Nicht bemessen an den Ausmaßen und Wundern der Nadel. Aber sehr zweckdienlich. Simpel. Und perfekt für die, denen er ehemals Quartier geboten hatte.

Parcivall Nachtstimme. War es eigentlich noch richtig, ihn so zu nennen? Schließlich war Parcivall tot, nicht wahr? Der echte Parcivall war verbrannt. Nun, vielleicht nicht direkt. Aber die großflächigen Verbrennungen, die Rauchvergiftung, das alles hatte ihn letztlich das Leben gekostet. Er hatte es nicht geschafft, rechtzeitig seine Wunden zu versorgen. Seinem Körper Ruhe zu gönnen. Sich zu erholen. Und dann war er da gewesen. Hatte sich seiner angenommen. Sein Leiden gelindert. Und ihn bestohlen. Um alles, was Parcivall ausgemacht hatte.

Sie hatte ihm nie wirklich böse dafür sein können. Vielleicht, weil ihr ein persönlicher Besuch zum echten Parcivall gefehlt hatte. Sie hatte den Mann nie kennengelernt. Wusste nur vage, das Haus Nachtstimme ein Unterstützer von Haus Zauberfänger gewesen war. Dass es schon immer geheißen hatte, dass das seltsame Leute seien. Und trotz allem: Er hatte seinen Schmerz beendet. Mehr noch. Er hatte sich an die Meister der Nadel gewendet. Oder vielmehr – an sie. Arien war sich schmerzlich darüber bewusst, wie viel Hilfe sie Parcivall und den anderen Unbekannten verdankten. All die Informationen, die er für sie herangetragen hatte. Informationen, die auf anderen Wegen zu beschaffen Jahre gedauert oder schlicht unmöglich gewesen wäre. Ihre Fähigkeiten, als Spione sich schier überall einzuschleichen waren geradezu beängstigend. Und vielleicht hätte Riks Paranoia, die auf sie abgefärbt hatte, sie jede Alarmglocke klingeln lassen, das die Unbekannten nun, da das gemeinsame Ziel erfüllt war, möglicherweise hinter ihr her waren.

Aber ähnlich wie Brutus hatte Parcivall sein Wort gegeben. Und nach allem, was war? Sie glaubte zu verstehen, dass er in der Rangfolge und Hierarchie der Unbekannten sehr viel höher gestanden haben musste, als er zu erkennen gegeben hatte. Nicht, das er je irgendetwas dazu tatsächlich gesagt hätte. Mit Parcivall zu reden war nicht schwer gewesen. Aber auf einer bestimmten Ebene war ein Gespräch mit ihm sogar schwieriger gewesen als mit Brutus. Der war geradlinig. Wenn er jemanden nicht leiden konnte, macht er das schnell und drastisch deutlich. Ebenso, wenn er keine Antwort zu geben gedachte. Parcivall hingegen war nicht festzunageln gewesen. Er wich aus, umtänzelte, konterte, parierte. Jedes Gespräch war für ihn ein Duell. Und er war ein verdammt guter Duellant.

Dennoch: Er hatte versprochen, dass den Meistern der Nadel und ihren Verbündeten keine zielgerichtete Attacke drohte. Letztlich hatten sie sich gegeneinander stellen müssen und Parcivall hatte den gewaltfreien Weg gewählt. Er hatte ihre Verpflichtungen anerkannt und seine Leute abgezogen. Es hätte heute zu mehr Kämpfen kommen können, aber er entschied, dass das dergleichen nicht wert war.

Sie konnte diese Entscheidung respektieren. Schätzen. Sie konnte ihn respektieren. Und sein Volk. Das hieß nicht, das sie nicht dann und wann doch ein klein wenig Sorge hatte. Die Unbekannten waren befreit worden, waren irgendwo dort draußen. Planten und intrigierten, lenkten und manipulierten. Und einer von ihnen trug Seelensplitter eines Elben in sich, eines ehemaligen Anwärters auf einen Ratssitz. Es würde auffallen, sollte er je versuchen, diesen zu beanspruchen. Natürlich würde es das. Mindestens ihr Großvater und Heluin waren instruiert worden und würden eine plötzliche Rückkehr von Haus Nachtstimme nicht zulassen. Und nach allem, was sie aus den wenigen Erklärungen Parcivalls verstanden hatte, war es ihm nicht möglich, diese Seelenverschmelzung nochmals durchzuführen. Für den Rest seines zeitlosen Lebens würde er Parcivall sein und bleiben.

War es also gut oder schlecht, dass er dort draußen war? Selbst nach Monaten fand sie keine zufriedenstellende Antwort darauf. Nur den Gedanken, dass es zweifellos weitaus schlechtere Persönlichkeiten gegeben hätte, mit denen er das Ritual hätte vollführen können.

Und was war mit Abbas?

Sie hatten in all der Zeit nie herausfinden können, wer nun eigentlich der frühere Meister des Orks gewesen war. Ein bemerkenswerter Umstand, denn die Geschehnisse in der Nadel, die Geschehnisse, die ganz Arvum erschüttert hatten und deren Schockwellen früher oder später die ganze Welt umformen würden, hatten sie alle lernen und wachsen lassen. Sie selbst war so mächtig und versiert wie nie zuvor. Weit stärker und fähiger, als sie es sich in ihren wildesten Träumen je hätte vorstellen können. Und dennoch war keinem von ihnen je gelungen, dieses Rätsel zu lüften. Vielleicht hatten sie es falsch angepackt. Vielleicht hatten sie einfach Pech gehabt, einen schlechten Tag erwischt, irgendwo einen Fehler begangen. An irgendeinem Punkt es an Konzentration mangeln lassen. Fehlerquellen gab es viele, sicherlich. Aber sie hatten es versucht – und das nicht nur einmal. Wieder und wieder und wieder. Und nichts war dabei herausgekommen.

Abbas war ein seltsamer Geselle gewesen. Schweigsam, wenngleich auch nicht maulfaul. Es gab nur wenig, von dem er glaubte, das es zu sagen wichtig war. Er antwortete. Er trank mit anderen. Spielte. Ließ sich Kartenspiele beibringen. Aber die meiste Zeit war er dort  draußen gewesen, in unwirtlichen Gegenden. Jagte verfallenen Tempeln und vergessenen Grabstätten hinterher. Wandte sich durch tödliche Fallen und Geheimgänge hindurch. Plünderte im Namen der Nadel vergessene Relikte und herrenlose Schätze. Alles immer mit dem einen Ziel: Einen Gegner zu finden, der würdig war.

Nicht würdig, bekämpft zu werden. Sondern würdig, an ihm zu scheitern. Abbas war ein stolzer Krieger. Sein Meister hatte ihn, den verschwommenen Erinnerungsfetzen nach zu urteilen, immer wieder kämpfen lassen. Gegen alle Feinde des Magiers, gegen wilde Bestien, gegen mystische Monster. Sein letztes Geschenk hatte in einem Fluch bestanden – oder ein Segen, je nach Sichtweise. Wer immer Abbas töten würde, sollte selbst den Tod finden. Und er war ausgezogen, den Fluch zu erfüllen. Hatte geglaubt, dass sein vom Magier unnatürlich verlängertes Leben nicht weiter unnötig in die Länge gezogen werden sollte. Er hatte seinen Dienst getan und ehe Alter und der Mangel an Herausforderung ihn schwach werden ließen, ehe selbst ein dummer Bauerssohn mit der Heugabel oder ein unglücklicher Sturz die Treppe herab ihn umbringen würden… wollte er einen Kampf finden, der eines Eintrags in die Geschichtsbücher würdig wäre.

Ariens Blick haftete befremdet an der Tür. Sie hatte damals ausziehen wollen, um sich zu beweisen. Sich der elbischen Gemeinschaft Elvorans als würdig zu beweisen. Ihren Wert zu demonstrieren. Zu zeigen, dass sie dazu gehörte, dazu gehören konnte. Damit man sie aufnahm, ihr wenigstens eine Chance gab. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie je für Ruhm und Glorie gekämpft, für Erwähnung in irgendwelchen Büchern. Als Kind mochte das noch ein schöner Gedanke gewesen sein: Irgendwann einmal der Held in den eigenen Romanen sein, irgendwann einmal durch die Städte ziehen und die Leute rufen diesen einen Namen. Veranstalten Paraden und lassen Blütenblätter regnen. Aber diese Faszination hatte sich schnell verloren. Der letzte Rest davon starb spätestens, als sie unfreiwillig erfahren musste, wie das tatsächlich war.

Jeder in Elvoran kannte ihren Namen und ihr Gesicht. Vermutlich galt das inzwischen sogar auch für Akkara und Symmarion. Ganz Arvum kannte sie. Selbst die hintersten Winkel. Selbst die ländlichen Gegenden. Und in wenigen Jahren, vielleicht sogar nur Monaten, da würde die ganze Welt ihren Namen kennen. Ihren und den ihrer Mitstreiter. Und sie alle würden wissen, was hier getan worden war. Was sie vollbracht hatten.

Ein wenig grauste ihr davor.

Sie hatte immer um Anerkennung und Respekt gekämpft. Jetzt, da sie das bekam – das und noch viel mehr -, da wusste sie nicht damit umzugehen. Nach wie vor nicht. Hätte Abbas das gekonnt? Hätte er sich einfach in die Mitte gestellt und sich in Lobpreisungen gesonnt? Natürlich stillschweigend und mit finsterer Miene, weil er nunmal er war.

Ob er wohl mit seinem letzten Kampf zufrieden war? Ob er ihm episch genug gewesen war? Sie konnte nicht recht sagen, dass sie ihn vermisste. Er war kein Freund gewesen. Ein Bekannter. Ein Verbündeter. Aber Abbas hatte auf sorgsame Weise immer das kollegiale Verhältnis gewahrt, ohne es persönlich werden zu lassen. Er hatte genug Verstand besessen, zu wissen, wie seine Geschichte ausgehen würde… und was er damit möglichen Freunden antäte. Er hatte ihnen diesen Schmerz erspart. Aber hatte er sich und andere damit nicht auch der guten Seiten und herzlichen Momente beraubt? Oder hatte es die dennoch gegeben? Hätten sie herzlicher sein können, wäre er ein tatsächlicher und wahrhaftiger Freund gewesen?

Seufzend ließ sie die Gedanken fallen. Vielleicht, irgendwann, wenn es dringend werden sollte. Dann könnte sie versuchen, mit Ereshkigal zu verhandeln, seinen Geist zu beschwören und mit ihm zu plaudern. Über dies und jenes. Vielleicht hatte er ein paar kluge Ratschläge. Wüsste für manches Problem Lösungen. Oder könnte ihr Wissen weitergeben. Vielleicht würde sie dann, wenn seine schimmernde, halbtransparente Gestalt vor ihr auftauchte, sich an all diese Fragen erinnern und sie ihm tatsächlich stellen. Hier und jetzt war es müßig, darüber zu rätseln.

Sie drehte sich wieder ab, durchschritt die nächste schwere Pforte in den Teleporterraum. Die offenstehende Tür des Kartenraums entlockte ihr ein Seufzen. Sie hatten es ein klein wenig… eiliger gehabt als sonst. Langsam trat sie hinein, strich mit einem gemäßigten Lächeln über den kühlen Stein des Kartentischs. Erst als sie ein leises Knirschen hörte, brach sie ihre sentimentalen Gedanken und entfloh aus der Nostalgie zurück ins Hier und Jetzt. Vorsichtig hob sie ein Pergament vom Boden und entrollte es sorgsam. Eine von Riks unvollendeten Karten. Er musste sie unterwegs verloren haben.

Die Karte stellte Thethys dar. Er hatte sie gehasst und geliebt gleichermaßen. Sie war eine grenzenlose Herausforderung gewesen. Eine Karte, die nie endete. Er hatte sich extra anlernen müssen, wie man auf magische Weise zeichnete – um eine Karte zu erschaffen, die fähig war, sich ständig zu verändern, zu verwandeln. Thethys und seine Stadtteile rotierten. Variierten. Veränderten sich kontinuierlich. Er hatte versucht, das Muster darin zu finden. Denn es gab eins, musste eins geben. In Thethys selbst wurden sündhaft teure Karten verkauft, an so ziemlich jeder Straßenecke, die immer aktuell waren, immer präzise den korrekten Pfad angaben. Es musste einen Mechanismus gaben. Eine Formel. Etwas, auf dessen Basis er vollkommen selbst erarbeitet ebenfalls eine sich aktualisierende Karte würde erschaffen können. Er wollte es verstehen, wollte es reproduzieren.

Der Gedanke ließ sie amüsiert schnauben und das Pergament sehr sorgfältig rollen. An einen der Schreibtische tretend, ließ sie die Rolle in der obersten Schublade verschwinden. Sie kannte Riks pedantische Ordnung inzwischen gut genug, um zu wissen, dass die anderen Bögen und Pergamente darin ebenfalls unvollendete Karten waren. Sie nahm die Feder aus dem Tintenfass, verschloss Selbiges vorsichtig. Einen Moment erwog sie, den Sextanten ebenfalls wegzuräumen. Dann entschied sie sich jedoch um. Sie würde ihn draußen lassen. Morgen oder irgendwann die nächsten Tage würde sie sich daran stören und sich an diesen Augenblick zurückerinnern, in dem sie ihr Vorhaben traf: Sie würde ihm das Ding hinterher senden. Als Andenken. Und Erinnerung.

Rik würde zurückkehren. Vielleicht in einigen Jahren schon, er war schließlich sehr intelligent, begriff schnell und lernte aus eigenem Antrieb heraus, sog neues Wissen und neue Techniken regelrecht in sich auf wie ein Schwamm das Wasser. Dann wiederum… es war Alrym. Die hatten es üblicherweise nicht allzu eilig.

Arien schmunzelte unweigerlich bei der Vorstellung, wie ein völlig entnervter Rik seinem Lehrmeister am Rockzipfel hing und forderte, dass der ihm mehr Bücher geben, mehr Bibliothekszugang erlauben, mehr Aufgaben zuschieben solle – die Langeweile seiner angeblichen Freizeit würde ihn umbringen und lesen und lernen wären seine bevorzugte Freizeitgestaltung!

Arien bezweifelte nicht, das irgendwann der Punkt käme, an dem Rik bereuen würde, sich nach Alrym begeben und sich dem Zirkel der Magier ‚gestellt‘ zu haben. Er schloss sich ihnen an, wurde einer von ihnen. Wollte – und würde – es besser machen. Natürlich war er ein Meister der Nadel. Er war der Retter Elvorans, Akkaras und Symmarions. Zumindest einer davon. Er war einer der Bezwinger des Königs der Untoten. Er war ein Held, ob er das wollte oder nicht – würde es sein, in den Augen Zahlloser. Vielleicht hatte er deshalb diese Wahl getroffen.

Es ging weniger darum, die Vergeltung zu fürchten. Der Zirkel wusste zweifellos längst – genauso wie der Orden -, dass ihre Geheimsprache weitergegeben worden war. Ebenso wussten sie inzwischen sicherlich, das Rik Hexer war. Ein überaus mächtiger, gebildeter und verständiger Hexer, aber ein Hexer nichtsdestotrotz. Wie lange, bis man Ordensmagier auf ihn ansetzte? Wie lange konnte der Schild seines Rufes ihn beschützen, ehe man ihn zu jagen begann? Er hatte es nicht herausfinden wollen. Nicht zuletzt, weil einmal mehr auch andere in der Schusslinie standen. Nicht nur erst selbst und sein Ruf. Diese Sache war ein Kompromiss. Er schloss sich dem Zirkel an und im Gegenzug würde man Arien und Sszerin in Ruhe lassen, solange die die getroffene Verschwiegenheitserklärung einhielten. Man würde seine Familie nicht dafür belangen, ihm vor Eintritt in den Zirkel etwas beigebracht zu haben, das nicht in seinen Kopf gehörte.

Und dann war da auch schlicht noch der Umstand, dass ihn mehr Zeit lockte. Rik hatte keinerlei Interesse an der Unsterblichkeit. Aber das Elixier der Magi machte auch nicht unsterblich – es verlängerte das Leben. Man würde es jederzeit absetzen und weiter  vor sich hin altern können. Aber es gab noch so viele Forschungsprojekte, so viele Bücher zu lesen und zu schreiben, Karten zu zeichnen und Schätze zu bergen, Ruinen zu entdecken und ihre faszinierenden und lehrreichen Geschichten zu entschlüsseln… es gab einfach noch zu viel zu tun. Der Eintritt in den Zirkel war letztlich die einzig vernünftige Wahl geblieben. Und auch, wenn er seine Freiheit sehr schätzte, das Privileg der Entscheidung, so war ihm doch klar gewesen, dass er von innen heraus weit mehr würde bewirken können – sollte er das je wollen – als von außerhalb. Und das es letztlich nur wenige Regeln gab, nach denen er sich würde richten müssen

Was dagegen die Wahl seines Studienortes betraf, nun – Rik hatte kein Interesse an einer kampforientierten Ausbildung gehabt, womit Akkara und der Orden aus dem Rennen waren. Ordewey hingegen hatte sich redlich um ihn bemüht, als auch nur ansatzweise bekannt wurde, dass er überhaupt in Erwägung zog, sich dem Zirkel anzuschließen. Und es war noch immer gruselig, darüber nachzudenken, wie und woher sie das so schnell erfahren hatten.

Alrym dagegen hatte sich nicht um ihn bemüht. Kein Wort von dort. Vielleicht wussten sie es nicht einmal. Vielleicht hatte es sie auch nicht interessiert. Vielleicht wussten sie es nicht und es hätte sie dennoch nicht interessiert? Das war, so vermutete Arien mit einem Lächeln, wohl letztlich auch der Grund gewesen, warum er sich dafür entschieden hatte, dorthin zu gehen. Alrym war… entspannter. Keine ständigen Machtrangeleien und Intrigen wie in Ordewey, kein Buhlen um mehr Einfluss, keine Hinterhältigkeit in jedem zweiten Wort.

Vielleicht sollte sie generell ein kleines Paket für ihn zusammenstellen. Ein paar Tintenfässer, ein paar gute Federn, ein paar hochwertige Pergamentrollen. Er verbrauchte so viel davon bei all seinen Notizen. Und möglicherweise ein oder zwei der unvollendeten Karten. Er könnte sie sich ja in seinem Zimmer aufhängen, als Erinnerung daran, dass es einen Ort gab, an dem er zurück erwartet wurde. An dem ein prächtiger, unikater Kartentisch stand. An dem eine eindrucksvolle Bibliothek auf ihn wartete.

Und ein Freund.

Das Seufzen, das ihrer Kehle entwich, wurde von einem schwachen Lächeln begleitet und erstarb völlig, als ihr Blick weiter durch den Raum glitt. Es lebte noch einen Moment lang, als sie beinahe schon nostalgisch die Runen am Boden neben dem Kartentisch musterte, die zwei hoch aufragenden Statuen neben der Tür – doch als ihr Blick schließlich an der Tür selbst regelrecht zu haften begann, da hatte es keine Chance mehr. Alle Gedanken an einen guten Freund in der Ferne waren verschwunden, alle Erinnerungen an Momente peinlich berührter Brüderlichkeit versanken im Schatten des Kummers, der sie noch immer befiel.

Níre und die anderen waren schon lange nicht mehr dort. Der Stall war verwaist, schon seit einer ganzen Weile. Und es schmerzte noch immer. Arthurs Tod – und der Zennas – hatte sie hart getroffen. Sie alle, sicherlich. Jeden auf seine Weise. Aber keinen härter als sie. Arthur war… besonders gewesen. Er hatte instinktiv eine Vaterrolle eingenommen, bevor ihr tatsächlicher Vater fähig wurde, diese Position auszufüllen. Und beide hatten sich letztlich in diese Verpflichtungen friedlich und einvernehmlich reingeteilt, statt darüber in Streit auszubrechen.

Arthur war ein Vorbild gewesen. Eine Respektsperson. Sie hatte ihn nie wirklich belügen können und hatte es auch nie gewollt. Stattdessen war er ein Fels in der Brandung gewesen. Egal wie übel die Dinge standen, sie konnte zu ihm. Selbst wenn sie sich mit ihm gestritten hatte – oder das zumindest geglaubt hatte -, so hatte er sie dergleichen doch nie spüren lassen. Strenge kam mit Konsequenz einher und er hatte sie gerügt, hatte sie scharf und direkt zurechtgewiesen. Aber nach der Strenge kam auch stets die Güte. Das Vergeben.

Raue Schale, weicher Kern. Sie hatte dieses Sprichwort immer für einen klischeehaften, überzogenen Unsinn gehalten – aber akzeptiert, dass es seine Berechtigung hatte, weil Übertreibung nunmal veranschaulichte. Arthur aber, ob er nun wollte oder nicht, hatte genau dieses Sprichwort gelebt. All die schlechten, kitschigen Romane über den großen Herzschmerz und die Dramaturgie des sozialen Unterschieds in Liebespaaren. All die Rezeptbücher für die perfekte Torte, einen gelungenen Kuchen, vollmundige Kekse… Arthur war ein Mann der Leidenschaft gewesen. In allen Bereichen. Er hatte das Leben und alle ihm geschenkten Jahre ausgekostet und getan, wonach ihm der Sinn stand. Und wann er sich entschied, etwas zu tun, dann tat er es ganz – oder gar nicht.

Er hatte sein Leben dem Militär gewidmet. Etwas, das man ihm anmerkte. Er gab klare, knappe, deutliche Anweisungen in befehlsgewohntem Tonfall. Er redete nicht groß drumherum, verpackte nichts von dem, was er zu sagen gedachte, in hübschere oder leichter verdauliche Worte. Wer zu Arthur ging, der musste mit einer kalten Dusche rechnen. Nein – tatsächlich ging man überhaupt zu ihm, um die zu bekommen. Er hatte stets diese zutiefst bodenständige Sichtweise gehabt…

Rasputins Tod hatte all die alten Wunden, frisch vernarbt, wieder wachgerufen. Das Pferd hatte, für seine Rasse, ein geradezu legendäres Alter erreicht. Und angesichts seines Lebensstils konnte das Gleiche wohl von Arthur und Zenna behauptet werden. Dennoch: Dieser eine Tag… selbst nach heute, selbst nach allem, was sie durchgestanden hatte, allein und mit anderen… empfand sie diesen einen Tag als den Schwersten ihres Lebens. Dort zu sitzen, ihn leiden zu sehen, seine Schmerzen zu verfolgen. Minute für Minute, unfähig, etwas zu tun. Unfähig, zu helfen. Jede Sekunde schien sich zu dehnen, bis in eine kleine Ewigkeit – und in all den Stunden, die er starb, gab es so verdammt viele davon. Endlos viele Ewigkeiten.

Er hatte sich ihnen angeschlossen, um ein letztes Mal alles in die Waagschale zu werfen. Alles, was er hatte. Alles, was er konnte. Alles, was er wusste. Ein letztes Mal seinen Willen für etwas bemühen und einfach alles geben. Er hatte sie weit gebracht. Hatte sie zusammengehalten. Zur Raison gerufen. Ihnen Rat erteilt. Er hatte für sein Land gekämpft, das war ihnen allen immer klar gewesen. Er hatte nichts gegen Elben oder Elvoran und auch, wenn Magier nicht unbedingt sein liebster Menschenschlag waren, so hatte er auch keine nennenswerte Abneigung gegen deren Stand oder Akkara per se. Aber sich der Sache angeschlossen hatte er letztlich in der Hoffnung, dass das Ergebnis für Symmarion ein Fortschritt wäre. Eine Verbesserung in der leidlichen, degenerierenden Geschichte einer einstmals stolzen und berühmten Nation.

Sie bedauerte es. Sie bedauerte, dass er nicht hier war. Dass sie nicht diesen Funken Stolz in seinen Augen sehen konnte, während er leicht hinter ihr stehend die Hand auf ihre Schulter legte. Sie bedauerte, nicht seine lobenden Worte hören zu können angesichts der überstandenen Hürden. Sie bedauerte, nicht mit ihm feiern zu können. Sie bedauerte, dass Thalion oben in ihrem Zimmer mit Indo und Faire allein lag. Dass die zwei Welpen nie ihre Mutter kennenlernen würden.

Aber mehr noch als alles andere bedauerte sie, dass Arthur nicht hier war, um das Ergebnis selbst und mit eigenen Augen sehen zu können. Dass er nicht sehen konnte, was aus Symmarion geworden war. Und was die Zukunft nun für das Land bereithalten mochte, für dessen Schicksal er so hart gekämpft hatte.

Unweigerlich drifteten ihre Gedanken auch zu Sedhwen. Sie hatte Arthur geliebt, daran hegte Arien keine Zweifel. Sein Tod musste sie getroffen haben. Vermutlich sogar recht tief, nur… die Elbe hatte sich nichts anmerken lassen. Als es zu Ende ging, war sie da gewesen. Sie hatte mit an seinem Bett gesessen, hatte gewacht und ihn hinüber begleitet. Sie hatte auch danach weiterhin den Meistern der Nadel geholfen und gedient, hatte weiterhin ihren Sold genommen, ihre Männer befehligt, hatte… einfach weitergemacht.

Arien hatte sie keine Träne vergießen sehen. Es fiel ihr schwer, Sedhwen einzuschätzen. Die Frau hatte von Arthur und zweifellos auch aus anderer, verwirrter Quelle zu hören bekommen, das er kurz vor ihrer Ankunft mit Elesil das Bett geteilt hatte. Mehrfach. Und doch zeigte sie keine Spur von Missgunst oder Antipathie gegenüber Elesil. So wenig, wie sie ihren Kummer über Arthurs Ende zum Ausdruck brachte. Ein Teil Ariens bewunderte sie für diese Selbstbeherrschung und wusste nicht einmal zu erahnen, welches Maß an Disziplin nötig sein musste, um das zu ermöglichen. Ein anderer Teil dagegen… erinnerte sich nur zu gut an ihre eigenen, früheren Instanzen, in denen sie sich eingeigelt hatte, abzukapseln versuchte.

Künstliche Distanz hatte sie fast zerstört. Es war dem Eingriff aller zu verdanken, dass es dazu nicht hatte kommen können. Ob es Sedhwen ähnlich erging, wusste sie nicht zu sagen. Ähnlich wie Abbas hatte die Elbe sich immer auf alles eingelassen – außer auf tatsächliche nähe. Sie hatte immer, trotz aller freundschaftlichen Ambitionen und der Umgänglichkeit, trotz wie sie sich gab, eine gewisse, professionelle Distanz gewahrt. Sie war zweifellos froh darüber gewesen, Arthur wiederzusehen – aber hatte das nie zum Ausdruck gebracht. Sie war zweifellos verletzt über seinen Tod gewesen – aber hatte das nie zum Ausdruck gebracht.

Ob sie wirklich darunter litt oder es ihre freie Entscheidung war, wusste Arien nicht zu sagen. Ein Teil von ihr sah sich selbst ein Stück weit in der Älteren und hätte ihr helfen wollen, aber wie? Und letztlich war das nicht ihr Leben. Sedhwen hatte ihre Entscheidung getroffen und ließ sich nicht hineinreden. Vielleicht war das auch das Schicksal der Langlebigen? Vielleicht hätte es ihr ebenso ergehen können? Stumpfte man wirklich ab, wenn man eine Liebe nach der anderen altern, siechen und sterben sah? Wurden die Gefühle, allesamt, rundherum stumpfer und flacher? Nutzten sie sich ab? Gab es Gewöhnungserscheinungen? Irgendwann würde sie sich diese Fragen vielleicht von neuem stellen und für sich Antworten finden müssen. Schließlich stand auch ihr jetzt die Ewigkeit offen. Dann wiederum hieß das wohl, dass sie beide – solange keine Unglücke geschahen – einander möglicherweise wieder begegnen würden. Wenn man nur genug Zeit hatte, so hatte Sedhwen einmal gesagt, dann fühlte sich selbst die Welt wie ein Dorf an und man begegnete an jeder noch so unwahrscheinlichen Ecke bekannten Gesichtern.

Im Moment konnte sie sich das nicht vorstellen. Wie es sein würde, irgendwann in ein-, zwei- oder dreitausend Jahren. Wenn sie dieses seltsame, eigentümliche Gefühl von Vertrautheit mit einem Großteil der gesamten Welt haben würde. Sollte es denn je soweit kommen.

Vielleicht würde sie Sedhwen bei ihrer nächsten Begegnung fragen. Ob sie gute Ratschläge hatte, wie sich damit umgehen ließ. Immerhin war sie irgendwo dort draußen. Ihr Vertrag mit den Meistern erfüllt, hatte man sie mit einer dicken Abfindung vorzeitig aus ihren Diensten entlassen. In den letzten Monaten hatte es, allem zum Trotz, nichts mehr gegeben, dass ihre Söldner hätten ausrichten können. Selbst Sedhwens Fähigkeiten unterlagen dem Kaliber dessen, gegen was sie angegangen waren. Bei weitem. Obwohl sich nicht bestreiten ließ, das sie – sie alle – an dieser Aufgabe und ihren Herausforderungen gewachsen waren.

Irgendwo dort draußen. Genau wie Parcivall. Nur weniger Sorgen provozierend. Irgendwo dort draußen war Sedhwen, nahm Münzen entgegen, um das Richtige zu tun. Sie hatte einen moralischen Kompass. Sie gab sich rüde, rau, gewissenlos. Musste sie unweigerlich, besah man sich, wen sie unter ihre Fittiche nahm. Ein Gewissen war ein Zeichen von Schwäche, das von solchen Subjekten rasch ausgenutzt wurde. Aber Sedhwen nahm nicht jeden Auftrag an, längst nicht. Sie besah sich gut und gründlich, wo sie ihre Leute involvierte, wann und wie sie es tat. Irgendwo dort draußen war sie und söldnerte durch die Gegend. Veränderte den Verlauf der Geschichte im kleinen Rahmen. Einem für die angenehmen, überschaubaren Rahmen.

Abermals seufzend riss Arien schließlich ihren Blick von der Stalltür los. Dahinter lagen nun diverse ungenutzte Räume. Leerstehend. Generell fühlte sich die Nadel plötzlich… sehr  viel größer an. Sehr viel leerer. Es war noch immer ihr Zuhause, ihr Heim. Und noch immer gab es hier genug Leben, um es angenehm und warm zu gestalten, um sich nicht einsam und verlassen zu fühlen, doch… heute hatten sie es vollbracht. Heute hatten sie den König der Untoten besiegt. Sie hatte feiern wollen. Mit allen zusammen. Wirklich allen, die ihnen auf dem Weg zu diesem Tag und diesem Ergebnis geholfen hatten.

Stattdessen wanderte sie allein durch die Gänge der Nadel und sinnierte über verlassene Räume, leerstehende Betten und verwaiste Arbeitsflächen. Dennoch war es wichtig. Es war wichtig, sich zu erinnern. Ihnen diese paar Minuten zu schenken, jedem von ihnen.

Im Teleporterraum angelangt, sah sie zu ihrer Rechten. Sah den Gang, der vor der Tür zur Schmiede abzweigte. Sah die schwachen Lichtreflektionen, die hübsche Muster werfend die Wände leicht erleuchteten. Die Reflektionen stammten von jenem schwach schimmernden Kristall, aus dem die Feuervögel einst ihre Nester gebaut hatten.

Feuervögel. Das war schon seltsam.

Statt wie angedacht in den Teleporter zu gehen, wandte sie sich ab, trat zum Eingang herüber. Besah die hübschen Nester. Vielleicht würde sie aufräumen. Den Kristall abbauen. Möglicherweise konnte man ihn in etwas Nützlichem verbauen. Oder… sie könnte kleine Anhänger daraus schleifen, Erinnerungsstücke. Und jedem einen davon zukommen lassen.

Entstanden aus Tauben. Es war absurd. Riks Tauben, dann plötzlich Pflanzentauben, grünlich schimmernd, mit Wurzeln statt Klauen und dünnen Blättern statt Federn. Plötzlich größer und rot und brennend – und intelligenter. So viel intelligenter. Genug, um reden und zaubern zu können.

Der Nadelfluch war eine seltsame Sache. Er hatte ihnen drei Stufen der Transformation erlaubt. Dreimal hatten sie sich verändern können. Weiterentwickeln können. Doch letztlich widersprach das, was mit ihnen geschehen war, dem natürlichen Lauf der Dinge. Tauben wurden nicht einfach halb Gemüse. Gemüsetauben wurden nicht einfach so Feuervögel. Das waren fundamentale Veränderungen ihrer gesamten Natur. Ihres Körpers, Geistes, ihrer Fähigkeiten, vermutlich sogar ihrer Seelen. Eine derartig tiefgreifende Veränderung war beeindruckend – und furchteinflößend.

Allem voran hatte es ihnen jedoch die Fähigkeit genommen, sich auf normalem Weg zu reproduzieren. Und ihre Instinkte waren noch immer da, waren nicht mit verändert, an die Situation angepasst worden. Sie konnten sich nicht weiterentwickeln. Nicht, ohne auf den Nadelfluch zurückzugreifen. Ihn aktiv zu nutzen. Ihre eigenen Essenzen damit gezielt zu manipulieren – und das jedes Mal aufs Neue, ohne recht zu wissen, was dabei herauskommen würde. Die Tauben hatten das unbewusst getan. Die Pflanzentauben hatten es ebenfalls auf Basis von Instinkt und Intuition getan. Die Feuervögel waren immerhin intelligent genug gewesen, es zu spüren, aber vor jeglicher Aktion gut zu durchdenken, zu prüfen, zu erforschen. Mit wenigen Ergebnissen zwar, aber sie hatten weit mehr Kontrolle gehabt. Hatten sich dafür und dagegen entscheiden können, zumindest in der Theorie.

Die Praxis sah natürlich anders aus. Der Drang zur Veränderung, zur Weiterentwicklung, lebte in jedem Wesen. Selbst in Maschinen, wie Artemis und seine Schöpfungen bewiesen. Also hatten die Feuervögel diesen einen, letzten Schritt unternommen.

Muradin und Arithrea waren ihnen lange Zeit gute und treue Verbündete gewesen. Ein wenig ängstlich vielleicht, gerade in Hinsicht auf ihre Vorgänger. Aber konnte man ihnen das wirklich verdenken? Sie waren jung, klein, unerfahren – und allem voran hatten sie das Wissen nicht nur darüber, was ihren Vorgängern gefehlt hatte… sondern auch darüber, dass sie selbst fähig waren, sich fortzupflanzen. Eine unerwartete Entwicklung. Ein Geschenk, eine seltene Gabe – für die vier Feuervögel ihr ganzes Sein geopfert hatten. Dieses Geschenk galt es sorgfältig zu bewahren, zu hüten und zu schützen.

Und nun waren sie fort. Wie so manch anderer. Sie hatten sich auf die Suche nach einem Nistplatz begeben. Weit abgelegen, schwer zu erreichen, gut zu schützen. Sie waren, wie auch Parcivall, Sedhwen, Brutus… nicht aus der Welt. Vermutlich nicht. Aber auch sie waren fort, zumindest aus der Nadel. Arien wünschte ihnen insgeheim alles Gute. Wünschte ihnen Erfolg. Und wünschte, sie irgendwann wiedersehen zu können. Wie sie es bei so vielen tat, die nun von ihrer Seite gewichen waren.

Es fühlte sich trotz allem nicht an, als sei ihre Familie zerbrochen. Oder als hätte man sie im Stich gelassen, sie zurückgelassen. Sie waren alle noch immer da. Dort draußen irgendwo und nicht in erreichbarer Nähe. Aber würde sie wirklich wollen? Würde sie um ihre Hilfe rufen? Es gab Magie, um sie zu erreichen. Irgendwie ginge das. Und sie würden vermutlich alles stehen und liegen lassen. Sie würden ihrem Ruf folgen, allesamt. Und sich wieder hier zusammenfinden.

Es war ein merkwürdiges Gefühl. Das zu wissen. So viel Vertrauen darin zu haben. Sie konnte rufen und ihre Familie käme aus allen Winkeln der Welt, dieser Welt und anderer, wieder zusammen. Es zauberte ihr ein schwaches Lächeln auf die Lippen.

Auch an der Schmiede hielt sie kurz inne. Sie trat nicht ein, zog lediglich die Tür auf und lehnte sich gegen das kühle Holz. Der Raum wirkte… seltsam. Seltsam anders. Er war wärmer als früher, was zweifellos an der Lavagrube lag. Die mächtige Schmiede der Wahrheit, die Sszerin unzählige Male fast das Leben gekostet, seine Energie abgesaugt hatte… war fort. Weitergesprungen. Durch Zeiten, Welten, Ebenen. Vielleicht diente sie irgendwo anders jetzt irgendeinem jungen Abenteurer dazu, in seiner Welt und seiner Zeit Großes zu leisten. Vielleicht verhalf sie irgendeinem Schmied dazu, Wunder zu vollbringen. Oder sie tötete willenlos und geistlos irgendeinen einfältigen Narren, der glaubte, sie einfach so benutzen zu können.

Doch das Bild der Schmiede hatte sich eingeprägt. Die flachen, breiten Stufen, die zu einem großen, flachen Amboss heraufführten. Fast genug, dass man es einen Altar nennen wollte. Einen Altar für das Schmiedehandwerk. Für die Götter, die in Esse, Hammerschlag und Erz wohnten. Irgendwo gab es solche bestimmt. Und natürlich der stetig rotierende, Blitze schleudernde und vor Funken zuckende Ball purer magischer Energie, der kaum zwei Meter über dem Altar schwebte. Es hatte sich eingeprägt. Die Schmiede hatte hierher gehört. Und nun war sie fort – denn wie Mikael so schön gesagt hatte: Er band sie hier, für diesen einen Zweck: Den Meistern der Nadel bei ihrer Aufgabe zu helfen.

Ein Weißdrache. Er hatte alt und mächtig gewirkt. Ob er das wirklich gewesen war? Falls ja, dann war es umso bedenklicher, wie sehr es ihn erschöpft zu haben schien, die Schmiede so lange hier festzuhalten und vom nächsten Sprung abzuhalten. Nun aber war die Aufgabe erfüllt. Und die Schmiede weitergewandert.

Die Aufgabe der Meister der Nadel war erfüllt.

Der Satz klang noch immer seltsam, sandte jedoch weiterhin kleine Spitzen an Aufregung, Gänsehaut und Adrenalin durch ihren gebeutelten Körper. Dieser Raum war Sszerins Bereich gewesen. Seine Zuständigkeit. Sein kleines Reich, in dem er sich austoben konnte. Und später auch der Raum geworden, in den er sich zurückgezogen hatte, um Isimalaye zu belehren. Mit ihr zu reden. Zu lernen und zu lehren. Er hatte geschmiedet. Hammerschlag auf Hammerschlag. Manchmal am Amboss, manchmal unter der Blitzkugel. Und sie, sie hatte einen gewaltigen Stapel Bücher gehabt und vorgelesen. Sie hatten einander Fragen gestellt. Hatten einander die Welt zu erklären versucht. Das Unverständnis des anderen gelüftet – oder es geteilt.

Sszerin hatte sie lange aufgeregt. Hatte es bis zum Ende immer wieder vermocht. Seine Wechselhaftigkeit war nervenaufreibend gewesen. Aber sie konnte sich auch des Gedankens nicht erwehren, dass er und Issi ein lustiges und bemerkenswert gut passendes Paar abgaben. Konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass ein paar der Wandlungen, die er durchgemacht hatte, ihr zuzuschreiben waren. Dass die beiden einander gut getan hatten.

Und vermutlich noch immer taten.

Sie hatten diese Drow ins Land gebracht, damit diese für sie kämpften. Es war ein simpler Handel gewesen, aber mit weitreichenden Konsequenzen. Damals hatte jeder zugestimmt – und die meisten von ihnen einfach nur aus der Panik heraus. Mehr Kampfkraft war gut, nicht wahr? Und wenn die Drow sich die Hände schmutzig machten, mussten das ein paar ihrer Verbündeten ja vielleicht nicht, richtig?

Letztlich hatten alle mit anpacken müssen. Und viele bereuten ihre eilfertige Zustimmung, als der Rauch sich verzog und die Drow noch immer da waren. Manche strebten danach, sie auf legalem Weg wieder hinauszuwerfen. Andere zettelten weniger legale Revolten und Überfälle an. Aber Drow waren Feindseligkeit gewohnt. Und das bisschen, das ein paar aufmüpfige Adlige anstellen konnten? Das verblasste doch sehr im Vergleich zu den Ausmaßen an Widerstand, mit denen die Drow umzugehen gewohnt waren. Das hieß natürlich nicht, dass es schön oder einfach war. Die nächsten Jahre würden schwierig werden. Für alle Beteiligten.

Aber mit Sszerin und Issi hatten sie gute Verstärkung. Hatten eine beeindruckende Armee hinter sich stehen, die – notfalls – auch den ganzen Kontinent nach und nach würde überrennen können. Die Ordnung mit Zwang aufrechterhalten könnte.

Früher hätte es ihr arge Bauchschmerzen verursacht, zu wissen, dass sie Sszerin irgendwo dort draußen mit solch enormer Macht allein herumlaufen und Entscheidungen treffen ließ. Aber das war es ja eben, nicht wahr? Er war nicht allein. Er stand nicht allein für diese Entscheidungen ein. Er hatte ein Volk, um das er sich kümmern musste. Eine Frau, die ihm zuredete und ihn lenkte. Und eine Tochter, um deren Schicksal er sich vielleicht nicht fürchtete, aber für die er sich dennoch ein gutes Umfeld wünschte.

Und nicht zuletzt: Wer immer den Drow Probleme bereiten wollte, musste auch erstmal durch den Torwald kommen. Nicht, das der noch immer so tödlich und furchteinflößend wie früher war, doch nach allen Geschehnissen und Veränderungen hatte er doch deutlich an Bedrohlichkeit eingebüßt. Nicht zuletzt war das den Drow zu verdanken, die all die Verseuchungen stoppten, all die Monster jagten und das Gewebe stabilisierten. Irgendwann würde man ihre Rolle darin sicherlich anerkennen können. Irgendwann würde man sie akzeptieren. Es brauchte nur… Zeit.

Eine Weile hatte sie vermutet, dass Natalia sich dem Kampf der Drow im Torwald anschließen würde. Es wäre naheliegend gewesen. Sie kannte den Wald bemerkenswert gut, wusste um viele seiner Gefahren und Geschöpfe. Aber sie hatte Wort gehalten. Irgendwann, mitten im Krieg der Nationen gegeneinander, hatte sie plötzlich diese seltsame Fähigkeit entdeckt, mit nicht mehr als ein paar Gedankengängen in andere Existenzebenen zu wechseln. Es hatte ihr einen gehörigen Schock verpasst, plötzlich aus der Ebene der Luft zurückzukehren – aus einem endlosen Freifall durch bunte Wolken und Nebel. Doch die Entdeckung dieser Fähigkeit eröffnete ihr ganz neue Möglichkeiten. Sie experimentierte – unter sicheren Bedingungen natürlich. Und mit allem, was sie letztlich über Natalias Herkunft hatten erfahren können?

Arien konnte ihr nicht vorwerfen, dass sie mehr hatte wissen wollen. Dass sie ihren Ursprüngen hatte nachspüren, vielleicht sogar ihre Eltern oder überhaupt irgendeine Familie hatte finden wollen. Angekündigt hatte sie das damals. Es schien Jahre her. Vielleicht war es das auch.

Der Abschied war merkwürdig gewesen. Schwer und gedrückt und dennoch mit einem Lächeln und Glückwünschen. Natalia jagte ihre Vergangenheit. Und, so vermutete Arien, ein Stück weit sicherlich auch ihre Bestimmung. Einen Sinn für ihr Leben. Vielleicht würde sie irgendwann etwas finden. Sie schien jedoch wie ein normaler Mensch zu leben und zu altern. Es war… ungewiss, ob sie sie noch einmal wiedersehen würde. Oder alterte man in anderen Ebenen anders? Vielleicht sollte sie sich darüber belesen. Sie hatte die schüchterne Fremde aus dem Torwald mit ihrer wilden Seite durchaus gemocht. Ihre Bodenständigkeit erinnerte zeitweise an Arthur, was stets ein bittersüßes Lächeln wert war, und ihre Begeisterungsfähigkeit für Geschichten und Märchen aller Art brachte in Arien stets die Sehnsucht und das Fernweh ihres sehr viel jüngeren Selbst zutage.

Sie wünschte sich, sie würden einander wiedersehen. Irgendwann. Mit etwas Glück, wenn Natalia gefunden hatte, was immer sie suchte.

Langsam schloss Arien die Tür zur Schmiede wieder. Wer wusste schon, wann die sich wieder für irgendwen öffnen würde – vielleicht sollte sie sie erst einmal abschließen. Doch der Versuch, den Schlüssel im Schloss zu drehen fühlte sich… falsch an. Traf auf Widerstand. Also beließ sie die Dinge, wie sie waren, wandte sich um und nutzte den Teleporter, um höher zu kommen. Lady Rasska war noch immer im Schrein von Eumenes. Ab und an hatten sie Kontakt mit ihr. Nun, da es sich nicht mehr wirklich um das Heiligtum einer Göttin handelte, fragte sich Arien unweigerlich, was die frisch in ihren Stand zurückgekehrte Priesterin nun wohl machen würde. Sie hatte die Befähigung, zu führen. Würde sie eine Adlige werden? Würde sie die Kontrolle über die Naga an sich reißen?

Es gäbe vermutlich schlimmere Kandidaten, die sich siegreich aus dem herrschenden Chaos würden hervortun können. Rasska, obgleich voller Hass auf die Oberflächler, war doch glücklicherweise besonnen und vernünftig. Für eine Naga. Allemal genug, um mit ihr reden und verhandeln zu können, solange man sich dabei nicht allzu… dumm anstellte. Oder Steine nach ihren Lieblingshaustieren warf.

Im ersten Stock angelangt, fiel es Arien einmal mehr schwer, sich vom Fleck zu rühren. Zunächst hing ihr Blick einfach nur an der Tür zum Alchemielabor und sie musste sich insgeheim fragen, wie es Elesil wohl erging. Eine verantwortungsbewusste Frau wie sie… etabliert im Hochadel Symmarions… das konnte eigentlich nur zu zahllosen Katastrophen führen, nicht wahr? Aber Arien kannte die Elbe gut genug, um zu wissen, dass sie die wirklich ernsten Dinge auch entsprechend anpackte. Vielleicht nach außen hin mit einer deutlich zu amüsierten Fassade, vielleicht mit zu vielen frechen Sprüchen auf den Lippen und einigen unkonventionellen Vorgehensweisen, doch… Elesil war da, wenn man sie brauchte.

Und Symmarion brauchte  eine starke Führung. Der Rat der Häuser würde einer Elbe vermutlich weniger Glauben und Gehör schenken wollen, aber das war der Vorteil einer Heirat: Man stand nicht allein.

Abseits aller Politik jedoch – die sich nach Ariens Empfinden inzwischen viel zu schwer aus allem heraushalten ließ -, fragte sie sich überdies mehr noch, ob die Elbe glücklich war. Sie hatte bis über beide Ohren verliebt gewirkt, sicherlich. Aber ein derartiger… nun ja, Spontanentschluss? Und nichts anderes war es gewesen. Konnte sie wirklich damit glücklich werden, wechsel- und flatterhaft wie sie war? Dann wiederum hatte Elesil vielleicht einfach ein ganz ähnliches Problem wie Sedhwen: Ihr stand die Ewigkeit offen und das Leben eines Menschen war in elbischen Augen letztlich… irgendwann nur noch ein Wimpernschlag.

Eine deprimierende Vorstellung.

Sie bezweifelte, dass Elesil es so sah. In der Endlichkeit lag auch Drängen. Nach Bewegung, nach Taten, nach Veränderung. Etwas, das sie wiederum immer fasziniert hatte. Dass sie fördern, begleiten, beobachten wollte. Und mit dem Wandel, der sich vollzogen hatte, war sie nun mittendrin. Konnte ihren Teil dazu beitragen. Konnte sich im Chaos sonnen und gleichzeitig, auf ihre eigene, nicht minder chaotische Weise, etwas zu einer neuen, besseren Ordnung beitragen. Einer friedlicheren Ordnung. Für einen stabileren, friedlicheren Kontinent.

Es war so merkwürdig, von Elesil als Politikerin zu denken. Aber vielleicht täte der frische Wind dem symmarischen Adel auch ganz gut. Entweder das oder Glitzer involvierende Streiche. Verdient hatte die Oberschicht wohl letztlich beides.

Nein, was ihr diesmal Bauchschmerzen bereitete, war der Blick nach links. Zur Tür des Tempels. Der Gedanke an die Statuen dahinter. Der Gedanke daran, dass mit dem Teleporter ganz nach oben zu fahren sie nicht länger in irgendeine Götterebene bringen würde, sondern sie vielmehr im Trainingsraum oder Schwimmbad landen würde.

Parcivall, Sedhwen, Natalia, Muradin, Arithrea, Rik, Sszerin, Issi, Elesil… sie alle waren dort draußen, irgendwie, irgendwo.

Hans nicht. Nicht mehr.

Sie fühlte sich noch immer wie betäubt davon. Sie hatten gewonnen. Sie hatten König Xarak besiegt, den König der Untoten, die Plage der Welt, Feind allen Lebens. Sie hatten gewonnen, verdammt! Es war nicht fair. Einfach nicht fair.

Tränen perlten über ihre Wangen herab. Lautlos, unbemerkt. Sammelten sich an ihrem Kinn und tropften auf die kalten, gleichgültigen Steinplatten, wo sie in dutzende kleinere Fragmente ihrer selbst zersprangen. Sie hatte ihren Großvater lieben gelernt. Zerstreut und ungeschickt wie er war. Er war immer für sie da gewesen, selbst wenn er nicht gewusst hatte, was er tun oder sagen sollte. Selbst wenn seine tollpatschigen Bemühungen alles noch schlimmer gemacht hatten: Er war da gewesen und er hatte sich bemüht.

Und jetzt?

Die Götter waren fort. Schwiegen. Die göttliche Magie war versiegt. Paladine und Kleriker auf der ganzen Welt griffen in ihrem Bestreben, dem Bösen und Ungerechten zu begegnen ins Leere. Aber ebenso erging es all denen, die ihre Macht missbrauchten. Wenn der Welt klar werden würde, wenn sie davon hörte, dass in Arvum eine kleine Schar von Helden den König der Untoten besiegt hatte… wenn man in allen Winkeln der Welt von den Meistern der Nadel sprechen würde… würden sie dann auch vom Verschwinden der Götter sprechen? Würden sie das gleichsetzen? Es ihnen anlasten wollen?

Es fühlte sich wie Verrat an. Hans hatte sie verraten. Er sollte hier sein. Er hatte verdammt nochmal hier zu sein! Um mit ihnen zu feiern, denn sie hatten gewonnen… sie hatten  gewonnen, oder nicht?!

Aber die Götter schwiegen. Und so tat es auch er.

Eine kleine Ewigkeit stand sie dort. Brannte mit ihren Blicken Löcher in die Türen – nicht wortwörtlich jedoch, obwohl sie das durchaus gekonnt hätte -, als könne sie dahinter die Statue sehen, die Möbius, den Gott der Zeit repräsentierte. Als könne sie ihn anklagen, wortlos, mit all ihrem Schmerz und Kummer und ihrer Enttäuschung, ihrem Zorn und Unglauben. Viele waren gegangen. Viele hatten nun neue Ziele und Verantwortungen, andere Aufgaben.

Aber keiner, so schien es, hatte sie so endgültig verlassen wie Hans, ihr Großvater. Alles, was ihr blieb, war die Hoffnung. Ein winziger  Funke, einem feinen, kleinen, zerbrechlichen Samen gleich, der in einem einzigen Gedanken überlebte und darauf wartete, das die Umstände gut lagen und er erblühen können würde:

Die Zeitlinie. Sie konnte noch immer nicht behaupten, völlig zu begreifen, wie genau Zeit funktionierte. Aber Vetus war hier. Und Vetus war von Hans geschaffen worden. Wenn Hans weg war… wirklich, richtig weg war… dann gäbe es auch keinen Hans in der Zukunft, der Vetus den Zeitdrachen erschaffen könnte. Dann hätte kein uralter Vetus in die Vergangenheit reisen, die Nadel errichten, als Abenteurer herumziehen und sich irgendwann in ihre Mutter verlieben und sie schwängern können. Dann hätte kein Vetus sie in die Nadel holen, mit ihr auf Abenteuer gehen und ihr die Welt zeigen können.

All das hier gab es nur, weil es Hans gab. Noch immer gab. Einfach noch immer geben musste, denn sonst machte das alles überhaupt keinen Sinn mehr. Hans war noch da. Da draußen, irgendwie, irgendwo. Irgendwann vielleicht. Und sie, sie war nun alterlos, nicht wahr? Sie würde ihn wiedersehen.

 

Und bei allem, was da heilig war: Würde der sich was anhören können für das, was er heute getan hatte!

 

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit riss sie sich aus ihren Gedanken. Der grenzenlose Ozean ihres Kummers über den Verlust hatte sich in Zorn verwandelt und der sich schließlich in Entschlossenheit. Alle waren oft genug für sie da gewesen und wie Arthur früher immer so schön gesagt hatte: Manchmal waren ein paar hinter die Löffel das Beste, was man jemandem tun konnte, besser als Rat und Trost. Sie gedachte für Hans da zu sein. So sehr, dass ihm die Ohren davon klingeln würden!

Geradezu trotzig aufstampfend wandte sie sich ab und trat den Korridor zum Gasthaus herab, Hans‘ Zimmer mit vernichtender Missachtung strafend.

Doch auch das Gasthaus bot einen eher… ernüchternden Anblick. Die Tische standen säuberlich an der Tafel, alles war geputzt, alles war ordentlich. Aber alles war verkehrt. Fühlte sich falsch an. Da stand kein Peter mehr hinter der großen Bar und putzte mit dem immer gleichen, schmutzigen Tuch den immer gleichen, sauberen Becher.

Nein, Peter war zurück bei den Sidhe. Genau genommen, trat er nun vor den Hof der Seelie. Den Hof der lichten Feen. Um sich für seine Taten zu verantworten. Um neu verhandeln zu lassen. Nachdem Lisa ihre Einschätzung und ihre Empfehlung gegeben hatte. Der Gedanke an die ehemalige Köchin ließ sie abermals bittersüß lächeln. Eine Sidhe. Eine so mächtige Sidhe wie eine Muse, eine waschechte Fee… und sie hatten sie als Köchin engagiert.

Nun ja, genau genommen hatte sie sich selbst eingestellt – und wer wollte schon einer Fee widersprechen?

Doch auch von ihr fehlte nun jede Spur. Und anders als bei den meisten anderen wäre es nicht so einfach, Lisa zu kontaktieren. Oder Vasilla – die sie begleitet hatte. Sie konnte es den beiden natürlich nicht verübeln, wie auch. Nicht nur hatte Lisa ihre Unterstützung in dieser Angelegenheit zugesichert und diese Zusicherung auch erneuert, als klar wurde, dass es ihre Hilfe nicht einmal zwingend benötigte – sie hatte überdies viel beigetragen, um ihrer aller Erfolg zu gewährleisten. Man mochte das häufig gut und leicht unterschätzen, aber in unzähligen Werken über Kriegsstrategie und Kampftaktik gab es nicht grundlos immer wieder Absätze und ganze Kapitel, die sich damit befassten, herauszustellen, wie enorm kritisch ein gut und solide gefüllter Magen für Kämpfer war.

Lisas Mahlzeiten mochten sie alle – mit Ausnahme Natalias vielleicht – ein Stück weit verdorben haben. Es war schwer, dieser Tage in einem Edelhaus exotisch speisen zu gehen und die Gerichte als exquisit und überragend zu betiteln, wenn sie doch qualitativ nicht ansatzweise an Lisas belegte Brote herankamen.

Doch nicht nur die Güte des Essens hatte die Fee beigesteuert. Viel wichtiger war wohl die Regelmäßigkeit, die sie zu etablieren versucht hatte. Es gab Frühstückszeiten, es gab Abendbrotszeiten und auch wenn sich das Mittagessen nie so ganz hatte etablieren können, hatte sie doch auch unablässig und tapfer um dessen Existenzrecht gekämpft. Und die Leute kamen zusammen. Wer etwas Süßes essen wollte? Der musste seinen Hintern zum Frühstück aus dem Bett bewegen, denn mittags gab es in der Regel warm und herzhaft. Wer Frühstück und Abendessen verpasste, musste normalerweise mit dem Leben, was eben zum Abendbrot auf den Tisch kam.

Es hatte Struktur in den Alltag der Nadel und damit die Leben aller gebracht. Etwas, das vielleicht ebenso fundamental und wertvoll gewesen war wie Arthurs Couch, auf der sich jeder früher oder später mindestens einmal hatte trösten, beraten oder zusammenstauchen lassen.

Und Vasilla, nun… sie war Bardin. Sie hatte Zeit ihres Lebens, oder eher Unlebens, nicht vermocht, sich völlig an alles zu erinnern. Brocken ihrer Vergangenheit waren hier und da wieder aufgetaucht, doch essentielle Teile der Geschichte fehlten bis zuletzt. Arien kannte diese Teile. Zusammen mit Rik und Sszerin hatte sie sie erforscht, in Erfahrung gebracht – und sie hatten entschieden, dass sie für Vasilla nicht wichtig waren. Keineswegs leichtfertig natürlich, doch die Bardin wirkte sehr viel glücklicher und zufriedener mit dem Leben, das sie nun hatte und keiner wollte herausfinden, was die Wahrheit ihr antun würde.

Dabei war es ein Segen gewesen – gewissermaßen –, dass sich die Notwendigkeit ergeben hatte, Vasilla in einen Zustand zu versetzen, der ihr erlaubte, die Nadel zu verlassen. So hatte Lisa herausfinden können, dass es durchaus möglich war. Und nun? Vasilla war Bardin. Mit Leib und Seele… oder… eben nur Seele. Sie liebte Geschichten. Sie lebte für Geschichten, sozusagen. Und wo gab es größere, bessere, epischere Geschichten als im Feenreich selbst?

Keinem Sterblichen oder gewöhnlichen Menschen hätte man je erlaubt, dorthin einzukehren. Aber Vasilla war nicht gewöhnlich. Sie war kein Mensch mehr. Und mit dem plötzlich erreichbaren, plötzlich greifbaren Untergang des Königs aller Untoten? Es war nicht sicher gewesen, was das mit den Untoten auf der Welt anstellen würde. Was es mit den Geistern anstellen würde. Wie es Vasilla beträfe. Und keiner hatte ein Risiko eingehen wollen. Man setzte das Leben seiner Verbündeten und… seiner Freunde erst recht nicht… leichtfertig aufs Spiel.

Also hatte Lisa ihre Geliebte aufgeladen. Mit all ihrer Kraft und nur wenig für sich selbst behalten. Ein Schutzschild purer, sichtbarer, wirbelnder arkaner Energien. Und Hand in Hand waren sie gegangen. Hatten bei der Evakuierung der Nadel geholfen, ehe sie selbst abzogen. Die Stücke hübsch an die Tafel rückten, ein letztes Mal den Staubwedel schwangen, die letzten Weinflaschen und Bierkrüge an ihren Platz sortierten und die letzten, frisch gespülten Töpfe wieder wegstellten.

Abermals seufzend, aber ebenso lächelnd, schloss Arien die Türen zum Gasthaus wieder hinter sich. Die Zimmerebenen und die Bibliothek ignorierend, fuhr sie mit dem Teleporter ganz nach oben. Der Trainingsraum verwaist, der Spiegel im Stillen Raum abgehängt, das Schwimmbad leer. Sie hörte Vetus in seiner Kiste schnarchen, gluckste einen Moment fasziniert vom Schauspiel des gelegentlich in zweifellos wilden und aufregenden Träumen zuckenden Flügels, der über den Kistenrand hinaushing, und trat dann durch die gewaltigen Tore auf seinen Balkon hinaus. Sie wollte noch nicht in ihr Zimmer zurückkehren. Wollte noch nicht Thalion, Indo und Faire wecken.

Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie Artemis am Rand des Balkons stehend. Ein breites Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie mit hastigen Sätzen auf ihn zuhielt. Er drehte sich gerade rechtzeitig um, um sie aufzufangen, als sie ihn ansprang. Aufgeregt und hastig, als würde mit jedem Wort ein Stein von ihren Schultern gehoben, begann sie die Geschehnisse des Tages wiederzugeben. Sie plapperte, so kam es ihr vor. Plapperte und plapperte und plapperte.

Eine Stunde vielleicht? Zwei? Es fühlte sich an, als würde sie kaum Luft holen. Und als sie fertig war, schloss er sie in die Arme und gab ihr einen langen, innigen Kuss. Es reichte. Für den Moment reichte es. Sie würden reden und sie würden feiern und sie würden noch ganz viele andere Dinge tun. Aber für den Augenblick… war das hier genug.

Sie setzten sich an den Rand der Grünanlage. Ihre Hand ruhte in seiner. Und sie sahen der Sonne dabei zu, wie sie den Himmel in prächtige Farben tauchte. Es war ein beeindruckendes, bezaubernd schönes Spektakel. Der erste Abend, an dem die Welt nicht von Untoten oder ihren Plänen bedroht wurde. Ein seltsam befriedigender Gedanke. Und sie, sie hatte es vollbracht. Hatten. Sie alle hatten das.

„Was wird jetzt passieren?“, wagte sie langsam die Stimmung anzurühren, als die Sonne verschwunden war und das Licht allmählich schwand.

„Egal was kommt: Wir bleiben zusammen. Und stellen uns dem gemeinsam.“ Seine Antwort war simpel und so kurz. Und er wirkte… aufrichtig entschlossen. Es gefiel ihr. Ja, da fehlten Details. So endlos viele Details. Gab es Pläne für die Zukunft? Welche Aufgabe hatten sie nun? Selbst ohne die Götterebene, ohne den Schutzschild um die Nadel, war die Nadel noch immer ein mächtiges Instrument, das nun führerlos in ihren Händen lag. Es wäre fahrlässig, sie hier einfach unbedacht und unbewacht stehen zu lassen. Aber wenn sie hier blieben… dann war es auch ebenso verantwortungslos, diese Macht nicht zu etwas Gutem zu nutzen, oder? Nur was… was konnte man damit anstellen…?

Vielleicht sollte sie darüber schlafen. Erst einmal die Ereignisse des Tages sinken lassen. Den Schock verdauen, die Euphorie abklingen und das Adrenalin verschwinden lassen.

Leise Schritte im Gras ließen sie aufmerken. Sie wandte den Kopf nicht um. Die kurze Schrittfolge ließ bei der stark reduzierten Anzahl der Nadelbewohner ohnehin nur einen zu, der das sein konnte. „Guten Abend, Eresthenes.“

„N’abend“, wünschte der knapp zurück, als er sich gut einen Meter abseits von ihnen hinstellte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und zumindest einen Moment lang demonstrativ dem Sonnenuntergang nachspähend.

„Bist du sicher, dass das Restlicht nicht zu viel für deine Augen ist? Oder die frische Luft nicht giftig sein könnte?“, scherzte sie grinsend. Der Gnom hingegen hob leicht eine Braue.

„Als würde ich unvorbereitet rauskommen.“ Natürlich. Aber natürlich war er vorbereitet. Denn die Luft könnte ja giftig sein, nicht wahr? Kurz und leise auflachend schüttelte sie den Kopf.

„Was treibt dich dann also in die Gefahrenzone?“, erkundigte sie sich lächelnd und leicht errötend, während Artemis die Gelegenheit ihrer kurzen Unaufmerksamkeit direkt ausnutzte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte – und den Hals, und die Halsbeuge…

„Du hast dich gut geschlagen. Die Untoten sind besiegt. Xarak gestürzt und vernichtet. Beeindruckend.“ Sie nickte leicht. Schon, nur…? „Ich denke, es wird Zeit für ein neues Projekt. Die Götter sind weg. Aber die Nadel ist es nicht – und du bist es auch nicht. Generell sind noch ein paar von uns hier.“ Erneut nickte sie vage, auch wenn sie nicht allzu dankbar für die Erinnerung an Hans und den Rest war. Sie war bereits dabei, ihn mit seiner euphorischen Werberede auf morgen vertagen zu wollen, doch offenbar hatte er ihr Nicken bemerkt und sprach direkt weiter. „Es werden neue kommen. Sie werden verwirrt sein. Wütend. Verzweifelt. Sie werden Angst haben oder Fragen haben. Neue Verbündete, neue Freunde. Irgendwann vielleicht auch neue Feinde, wird man sehen. Große Visionen haben immer große Feinde.“

Der Gedanke, neue Leute in die Nadel zu lassen, neue Freundschaften zu schließen, neue Allianzen zu schließen… neue Lisas und Vasillas, neue Arthurs und Parcivalls… wollte sie das wirklich? Zumindest hier und jetzt kam ihr das deutlich zu schnell vor. Sie hatten heute erst gewonnen! Konnte sie nicht… wenigstens ein paar Tage ausruhen? Vielleicht ein paar Wochen Urlaub machen…? Seufzend raffte sie sich ein Stück. Sie wollte nicht unhöflich sein – also würde sie ihn zumindest ausreden lassen und dann genau das anmerken und um genau das bitten. Nach allem, was sie getan und erreicht hatten, so befand sie, hatte sie sich ein klein wenig Urlaub tatsächlich verdient. „Ich weiß nicht recht. Möglich, ja. Nur… worauf willst du hinaus?“

Da war plötzlich ein seltsames Funkeln in Eresthenes‘ Augen. Eines, das sie noch nicht kannte. Generell schien sich seine ganze Haltung plötzlich ein wenig zu verändern. Er war aufrechter. Weniger scheu und ausweichend und geduckt als sonst. Straffte die Schultern etwas. Der Blick bekam etwas fast schon Nobles… „Ich schlage vor, dass wir uns daran machen, ein neues Zeitalter einzuläuten. Wir haben gerade eine der größten Gefahren dieser Welt bezwungen. Das eröffnet uns die nie da gewesene Möglichkeit, die Welt auf eine Weise zu vereinen, wie sie es noch nicht kennt. Wenn wir uns zusammentun… können wir dieser Welt und all ihren Völkern und Nationen ein Zeitalter der Technik und des Wohlstands bringen und ihnen völlig neue Möglichkeiten und Perspektiven eröffnen!“

Er wollte… was?!

Ein Zeitalter der Technik. Galt das auch für Goblins…?

Langsam nickte sie. Nur um zu versichern, dass sie ihm zugehört hatte, dass sie ihn verstanden hatte, dass sie-

„Wunderbar, ausgezeichnet! In dem Fall wird es langsam Zeit für eine ordentliche Vorstellung.“ Eine… eine was? Eresthenes hingegen trat vor sie, lächelnd, streckte ihr die Hand entgegen. „Grüße von Hans. Und nenn mich Francis.“

… und ihr klappte der Kiefer herab…



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