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Sünde

von

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Veronica

Das Innere der Kapelle wurde durch eine kleine Elektroheizung geheizt und war nach dem kalten Regen draußen eine wahre Wohltat. Meine Muskeln, von denen ich gar nicht gemerkt hatte, dass sie sich in der Kälte schmerzhaft verspannt hatten, lockerten sich ein wenig und in meinen eisigen Fingern begann es zu kribbeln. Dennoch fühlte ich mich noch immer miserabel.

Mein Herz raste und pochte unregelmäßig, als ich mich langsam und vorsichtig auf die vorderste Reihe der wenigen, langen Bänke sinken ließ. Um es den Besuchern ein bisschen komfortabler zu machen, hatte irgendjemand lange, dünne Sitzkissen, die mit einem helllilafarbenen Stoff bezogen waren, auf das harte Holz gelegt. Jeder Nerv in meinem Körper war bis zum Zerreißen gespannt, während ich auf Melanie wartete.

Als die Tür dann endlich aufschwang, setzte mein Herzschlag für einen winzigen Moment aus, nur um dann mit doppelter Intensität zurückzukehren. Mein Atem ging flach und mir war fürchterlich übel. Trotzdem konnte ich nicht verneinen, dass ich mich irgendwo sogar darauf freute, Gregs kleine Schwester genauer kennen zu lernen. Endlich würde meine ewig schattenhafte Konkurrentin ein Gesicht bekommen. Vielleicht würde ich in ihr ja sogar ein wenig von Greg wiederentdecken.

Während Melanie langsam auf mich zukam, fiel mir erst richtig auf, wie zerbrechlich sie tatsächlich wirkte. Anders als ihr Bruder, der ziemlich groß und sportlich gewesen war, war Melanie recht klein und zierlich, ja geradezu elfenhaft. Ihre verquollenen, rotgeränderten Augen waren von einem umwerfend intensiven Dunkelgrün und wirkten in dem blassen Gesicht fast unnatürlich groß. Ihr langes Haar war klatschnass und hing herab wie achtlos ausgekippte, mahagonifarbene Spaghetti. Trotzdem war sie alles in allem ein wirklich hübsches Mädchen, aber sie hatte nicht die Spur einer Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. Ich wusste nicht recht, ob mich das erleichtern oder enttäuschen sollte.

Zaghaft setzte sie sich neben mich und krampfte nervös die Hände zusammen. Ich wusste nicht recht, warum, aber ihr schien diese Situation genauso unangenehm zu sein wie mir. Dabei saß sie doch gar nicht der Frau gegenüber, an die sie ihre Liebe verloren hatte. Trotzdem schaffte sie es kaum, den Blick vom Boden zu heben, geschweige denn mich anzusehen. Stattdessen knetete sie ihre Hände und schluckte mehrfach, so als würde sie an einem Klos in ihrem Hals würgen.

Einen langen Moment sagte keine von uns ein Wort. Die einzigen Geräusche im Raum stammten von der leise brummenden Heizung und dem Regenwasser, das aus unseren Haaren und unserer Kleidung tröpfelte. Nach schier endlosen Minuten hielt ich das Schweigen nicht mehr aus und sagte mit belegter Stimme: „Das tut mir so leid für dich und deine Familie.“

Melanie nickte stumm, doch anstatt mir ebenfalls ihr Beileid auszusprechen, platzte sie plötzlich mit etwas heraus, mit dem ich niemals gerechnet hätte: „Er war nicht mein Bruder.“ Ihre Stimme war ein tränenersticktes Flüstern, doch ihre Worte fielen trotzdem wie tonnenschwere Steine in den Raum. Überrascht starrte ich Melanie an und versuchte, zu erfassen, was sie da gerade gesagt hatte. „Was?!“ Wenn er nicht ihr Bruder gewesen war, dann hätten seine Gefühle doch eine Zukunft gehabt...

„Sie haben es nach seinem Unfall im Krankenhaus herausgefunden, als sie Tests gemacht haben, um herauszufinden, ob einer von uns als Blutspender für Greg in Frage kommt. Dabei ist jedoch nur heraus gekommen, dass Greg nicht der Sohn meiner Eltern sein kann.“ Noch immer konnte ich nichts anderes tun, als Melanie anzustarren, die ihren Kampf gegen die Tränen immer mehr verlor.

Das war einfach schrecklich! All die Jahre hatte Greg sich gehasst, weil er geglaubt hatte, irgendetwas hätte nicht mit ihm gestimmt, weil er seiner Meinung nach inzestuöse Gefühle gehabt hatte. Dabei war immer alles in bester Ordnung mit ihm gewesen. In den Adern seiner großen Liebe hatte nie dasselbe Blut geflossen wie in seinen. Übelkeit schlug mir mit einer riesigen Faust mitten in den Magen und ich musste mir die Arme um den Oberkörper legen, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, anders auseinander zu fallen.

„Hat... hat ihm das jemand gesagt?“ Ich war so geschockt, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Mir war überhaupt nicht klar, dass diese Frage für Melanie vielleicht verwirrend war. Doch sie zog nur ein unglückliches Gesicht und zuckte mit den Schultern, bevor sie flüsterte: „Ich hab es ihm gesagt, aber ich weiß nicht, ob er mich noch gehört hat. Er ist... er ist... kurz darauf gestorben.“

Sie war bei ihm gewesen, als er den Kampf gegen den Tod verloren hatte? Erneut brandete eine Welle tiefen Mitgefühls in mir hoch und ich streckte den Arm nach dem schrecklich leidenden Mädchen neben mir aus. Zunächst schreckte Melanie vor meiner Hand zurück, doch dann ließ sie die Berührung doch zu. In diesem Moment erinnerte mich ihr Verhalten so sehr an Greg, dass sich die gebrochenen Überreste meines Herzens schmerzhaft zusammen zogen.

Doch ich schluckte meine eigene Trauer so gut es ging herunter und drückte sacht Melanies Schulter. Greg hätte gewollt, dass ich mich jetzt um seine Schwester kümmerte. „Aber es spielt doch gar keine Rolle, ob er es noch gehört hat oder nicht. Egal, ob ihr wirklich Blutsverwandte wart oder nicht, du warst immer die Schwester, die er sich gewünscht hätte.“, versuchte ich sie zu beruhigen, doch der Blick, den sie mir daraufhin zuwarf, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Diese unendlich grünen Augen zeigten plötzlich so einen tiefen Schmerz, dass ich das Gefühl hatte, ihre Iris müsste zu Scherben zerfallen. Sie wusste es! Schlimmer noch: Sie liebte ihn ebenfalls auf eine alles andere als geschwisterliche Weise.

„Oh...“ Ich schlug mir beide Hände vor den Mund, während die Erkenntnis langsam und zäh in mein Bewusstsein tropfte. Melanie nickte resigniert und holte tief Luft. „Du hast es gewusst, oder?“ „Ja.“, gab ich zu. „Ich hab vor kurzem herausgefunden, was er für dich empfunden hat.“ Eine neue Welle aus Trauer und Schmerz huschte über Melanies Gesicht, während ich überrascht war, wie ruhig ich blieb.

Mir war schrecklich schlecht und ein dicker Klos saß in meiner Kehle fest, doch ich hatte wider Erwarten nicht das Gefühl, am Boden zerschmettert zu sein. Anscheinend hatte mein Herz sich schon viel mehr damit abgefunden, dass Gregs Liebe immer einem anderen Mädchen als mir gegolten hatte, als ich gedacht hatte. Vielleicht half mir dieses Gespräch sogar dabei, mit Greg abzuschließen und irgendwann neu anzufangen.

„Es war also schon länger so...“ Melanie sprach so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob die Worte wirklich mir gegolten hatten. Sie zog geräuschvoll die Nase hoch und sah mich dann wieder aus diesen leidenden Augen an. Ich hatte Gefühl, dass mir der Schmerz, der in ihnen stand, wie dünne Nadeln unter die Haut glitt.

„Er... er ist damals meinetwegen gegangen, oder?“ Ihre Stimme zitterte bereits bedrohlich und als ich stumm nickte, stieß sie nur ein heißeres „Oh, mein Gott!“ aus, bevor sie endlich offen und hemmungslos zu weinen begann. Einige Herzschläge lang saß ich unschlüssig daneben, doch dann zog ich das völlig aufgelöste Mädchen sanft in meine Arme. Auch wenn ich vielleicht völlig zu recht eifersüchtig hätte sein dürfen, konnte ich mich nicht dazu durchringen. Diese Liebe hatte aus uns allen einfach nur Verlierer gemacht und es wäre idiotisch gewesen, sich jetzt noch gegenseitig zu zerfleischen.

Zu meiner Überraschung warf sich Melanie ebenfalls mit ihrem ganzen Gewicht gegen mich und klammerte sich fest an mich. Mit einem heißglühenden Schmerz musste ich an den Tag denken, an dem ich Greg so im Arm gehalten hatte, an dem wir uns das erste Mal geküsst hatten. „Du hast damals wegen deiner Liebe zu Melanie geweint, nicht wahr, Greg?“, ging es mir schlagartig durch den Kopf.

Während ich das Mädchen sacht in meinen Armen wiegte, ließ ich meine Zeit mit Greg Revue passieren. Jetzt, wo ich seine Gefühle für Melanie kannte und sah wie stark das Band zwischen den Beiden offenbar gewesen war, war es als fielen fehlende Puzzleteile an ihren Platz. Plötzlich ergab so vieles, das ich vorher nicht verstanden hatte, einen Sinn. Sein Selbsthass, seine Zurückhaltung, wenn es um das Thema Sex ging, seine beständige Weigerung, über Melanie zu sprechen...

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich jetzt, wo ich Greg endlich wirklich kannte, besser von ihm würde lösen können. Natürlich tat es immer noch schrecklich weh, aber es würde vorbei gehen. Schließlich konnte man nichts wirklich verlieren, das man nie wirklich besessen hatte. Nicht wahr? Der Greg, den ich in all der Zeit geliebt hatte, den ich unbedingt in ihm hatte sehen wollen, weil dieser Greg mich ebenfalls geliebt hatte, hatte nie existiert und irgendwo tief in mir hatte ich das auch immer gewusst.

Ich drückte Melanie ein letztes Mal und setzte mich dann wieder ein Stück zur Seite. Sie rieb sich über die nassen Augen und schniefte, wobei das Geräusch ihrer hoch gezogenen Nase unnatürlich laut durch den stillen Raum hallte.
 

Als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, langte ich in meine Umhängetasche und zog ein dickes, in braunes Leder gebundenes Buch heraus. Melanie sah mich irritiert aus großen Augen an, als ich es ihr unter die Nase hielt. „Was ist das?“ „Gregs Tagebuch. Ich möchte, dass du es bekommst.“ Überrascht riss sie die Lider noch ein wenig mehr auseinander. „Das kann ich nicht annehmen.“ „Doch, natürlich. Ich hab es die letzten Tage immer mit mir rum getragen, weil ich gehofft hatte, ihm dadurch noch irgendwie nah zu sein. Aber jetzt will ich, dass du es bekommst. Ich denke, es ist wichtig, dass du es liest und weißt, was er wirklich für dich empfunden hat.“ Ich tippte leicht auf den weichen Ledereinband. „Diese Worte sind schon viel zu lange ungehört geblieben.“

Zögernd nahm Melanie das Buch entgegen, wobei sie es so liebevoll berührte als wäre es ein kostbarer Schatz. „Danke. Ich weiß gar nicht, womit ich es verdient habe, dass du so nett zu mir bist.“ „Das ist doch egal.“ „Nein, ist es nicht. Ich hab dir einfach erzählt, dass Greg nicht mein Bruder war, ohne darüber nachzudenken, wie weh ich dir damit vielleicht tue. Es musste einfach raus.“ Ich strich ihr eine inzwischen fast trockene Strähne hinters Ohr und lächelte. Überraschenderweise musste ich feststellen, dass ich dieses Mädchen trotz allem irgendwie mochte. „Schon okay, ich versteh das.“

Melanie schüttelte energisch den Kopf. „Es war trotzdem nicht fair von mir. Und jetzt bist du auch noch so nett zu mir... Dabei hab ich dir Greg doch eigentlich weggenommen.“ Sie sah mich eindringlich an, wobei in ihren Augen der Wunsch nach Vergebung deutlich zu sehen war. Sofort durchzuckte mich die Frage, wie viel zwischen ihr und Greg gelaufen war, doch ich schob den Gedanken bestimmt zur Seite. Eigentlich wollte ich das gar nicht so genau wissen.

„Du hast ihn mir nicht weggenommen. Lies sein Tagebuch und du wirst sehen, dass du zuerst da warst. Wenn man überhaupt so über einen Menschen mit freiem Willen reden kann, dann habe ich mir Greg höchstens von dir ausgeliehen.“ Mit diesen Worten stand ich auf und strich Melanie ein letztes Mal über den Kopf. „Ich muss jetzt leider schon wieder los. Aber du kannst mich gerne anrufen, wann immer du möchtest. Ein Zettel mit meiner Nummer liegt irgendwo in dem Buch.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ ich die Kapelle und trat in den noch immer prasselnden Regen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ein wenig Ordnung in dieses Schicksalschaos gebracht zu haben, indem ich Melanie Gregs Tagebuch gegeben hatte, denn es gehört einfach zu ihr. Trotz meiner eigenen Trauer fühlte sich das einfach gut an und ich schaffte es sogar, ein Lächeln zustande zu bringen, als ich den Friedhof verließ.

Ja, ich würde über Greg hinweg kommen. Definitiv.



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