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Sünde

von

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Johannes

Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte missmutig an die dreckige Decke unseres Proberaums, während die alte Anlage in der Ecke zum vermutlich siebenunddreißigsten Mal am heutigen Tag „My world“ von SR-71 abspielte. Inzwischen konnte ich den gesamten Text auswendig mitsingen, doch ich war zu faul, um aufzustehen und die Repeat-Funktion auszustellen. Außerdem passte der Song einfach viel zu gut zu meiner momentanen Stimmung.

Als der Refrain wieder einsetzte, sang ich gedankenverloren mit: „Is he everything to you? Does he make you high, make you real? Does he make you cry? Does he know the way you feel? Love is all around you, your universe is full, but in my world there is only you.”

Ich wusste nicht einmal genau, was mit mir los war, aber ich war unglaublich eifersüchtig auf Greg. Die ersten Tage hatte es so ausgesehen, als hätte er sich meine Worte zu Herzen genommen und als würde er sich nun bemühen, Mel der Bruder zu sein, den sie verdiente. Mel wurde zunehmend fröhlicher und lockerer, ja, sie strahlte sogar förmlich von innen heraus.

Doch dann war anscheinend irgendetwas vorgefallen, von dem ich nicht wusste, was es war. Auf jeden Fall klammerte Mel sich plötzlich wie ein Kleinkind an mich. Jeden Tag bat sie mich, vorbei zu kommen, und abends war ich kaum wieder zu Hause, da rief sie auch schon wieder an. Auch heute hatte ich regelrecht darum betteln müssen, mal ein paar Stunden für mich zu haben.

Eigentlich hätte es mich beruhigen müssen, dass Mel noch immer viel Zeit mit mir verbringen wollte, auch wenn ihr Bruder jetzt wieder da war. In Wirklichkeit machte es mir jedoch nur noch mehr Angst. Ihr verzweifeltes Klammern hatte etwas derartig verkrampftes, dass ich mich unwillkürlich fragen musste, ob Mel versuchte, sich selbst durch meine ständige Anwesenheit etwas vor Augen zu führen. Die gequälten Blicke, die sie und Greg sich zuwarfen, und die Tatsache, dass die Luft zu brennen und dünn zu werden schien, wann immer die Beiden sich in einem Raum aufhielten, trugen nicht gerade dazu bei, dass ich mich entspannter fühlte.
 

Plötzlich schwang die Tür laut scheppernd auf und ich zuckte vor Schreck heftig zusammen. Reflexartig sprang ich vom Sofa auf und starrte Peter an, der mich irritiert ansah. „Was machst du denn hier? Heute ist doch gar keine Probe.“ Die Überraschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich zuckte halbherzig mit einer Schulter. „Dasselbe könnte ich dich fragen.“ „Ich hol nur meine Gitarre, weil ich sie gestern hier gelassen hab. Ich war doch direkt nach der Probe verabredet.“ „Ah, ja.“ Ich erinnerte mich und nickte, während Peter mich aufmerksam musterte.

Peter war der ruhige Pol unserer Band. Er blieb stets auf dem Boden der Tatsachen, auch wenn wir anderen abhoben und uns gedanklich bereits auf dem Rockolymp sahen. Er war auch der vermutlich Einzige von uns, der noch nie seinen Status als Rockbandmitglied ausgenutzt hatte, um ein Mädchen rum zu kriegen – dafür war er einfach zu zurückhaltend. Doch vor allem war er auch sehr sensibel, weshalb er nun sofort merkte, dass etwas nicht stimmte.

„Und was machst du hier?“ „Nachdenken.“, gab ich zu und verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust. Peter zog irritiert eine Augenbraue in die Höhe, als die gerade erst abgespielte Ballade sofort von neuem anfing, sagte aber nichts. Stattdessen warf er sich ziemlich unelegant aufs Sofa und sah herausfordernd zu mir hoch. „Los, setzt dich und erzähl mir, was los ist.“

Seufzend ließ ich mich neben ihn fallen und starrte wieder zur Decke. Ich fragte mich, ob unsere Vorgänger Raketen in dem engen Raum gezündet hatten oder wie die schwarzen Flecken ansonsten auf den weißen Anstrich dort oben kamen. Dann holte ich tief Luft und begann: „Es geht um Mel.“ Peter nickte. „Das hatte ich mir bereits gedacht. Habt ihr euch gestritten?“

„Nein. Aber es ist... einfach seltsam momentan. Ich... ich glaube...“ Ich würgte an den Worten, die ich schon seit Tagen mit mir herum trug und die mir wie Steine im Magen lagen. Als ich es endlich schaffte, sie hervor zu speien, war es beinah eine Wohltat: „Ich glaube, sie hat sich in Gregor verliebt.“ Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass Peter so etwas wie „Scheiße, nein!“ oder „Oh...“ sagen würde, doch er starrte mich nur verständnislos an.

„Du... du meinst ihren Bruder?“, brachte er dann endlich heraus, wobei seine Stimme fast ein bisschen ärgerlich klang, so als hätte ich versucht, ihn zu veräppeln. „Hm-mh, ihren Adoptivbruder. Die Beiden sind kein Stück verwandt. Sie sind nur zufällig miteinander aufgewachsen.“ Bildete ich mir das ein oder klang ich tatsächlich so verbittert wie meine Tante, wenn sie über ihren „elenden Ex-Mann“ sprach?

„Aber das spielt doch eigentlich gar keine Rolle. Ich meine, die Beiden sind zusammen aufgewachsen und es sind doch nicht nur die Gene, die entscheiden, ob ich jemanden als meinen Bruder oder meine Schwester sehe.“, versuchte Peter, mich zu beruhigen, doch ich schüttelte den Kopf. In diesem Moment wurde mir klar, dass es für mich längst Gewissheit und nicht länger Befürchtung war: Mel hatte sich in ihren Bruder verliebt!

„Das mag ja sein, aber die Beiden haben sich jetzt drei Jahre lang nicht gesehen. Greg ist für sie doch inzwischen ein vollkommen fremder Mann – ein fremder Mann, der ziemlich gut aussieht. Ich meine, hast du ihn dir mal angeguckt? Dagegen hab ich keine Schnitte. Ich hab mich sowieso schon immer gefragt, was Mel mit mir wollte.“

Bevor ich weiter in Selbstmitleid verfallen konnte, brachte Peter mich mit einer herrischen Geste zum Schweigen. „Hast du dir schon mal selbst zugehört? Komm wieder runter.“ Ich wandte den Kopf und funkelte ihn böse an, doch mein Bandkollege fuhr unbeirrt fort: „Du weißt doch überhaupt nicht, ob deine Vermutung richtig ist, also mach dich nicht jetzt schon verrückt. Natürlich ist im Moment alles seltsam und natürlich verhält Mel sich momentan vielleicht anders als sonst. Aber versuch dir mal vorzustellen, was für ein Gefühlschaos in ihr herrschen muss, jetzt wo Gregor nach so langer Zeit wieder da ist. Sie hat ihn schrecklich vermisst, das haben wir alle gemerkt. Also gib ihr Zeit und mal nicht gleich den Teufel an die Wand.“

Ich nickte stumm und starrte wieder an die Decke. Vielleicht hatte Peter recht und ich sah Gespenster. Aber egal wie sehr ich mich bemühte, vernünftig zu sein, ich konnte den bitteren Geschmack der Vorahnung nicht herunter schlucken – genauso wenig, wie ich leugnen konnte, dass Mel sich plötzlich fremd und weit weg anfühlte.

Während Peter aufstand und seinen Gitarrenkoffer suchte, verfluchte ich stumm Greg und den Tag, an dem er zurückgekommen war. Warum hatte er nicht bleiben können, wo er gewesen war?!



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