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Sünde

von

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Gregor

„Bist du glücklich?“ Irritiert warf ich die Stirn in Falten. Vroni war kalkweiß und zitterte wie Espenlaub. „Alles okay bei dir?“ Ich versuchte, ihr eine Hand auf die Wange zu legen, doch sie schob sie bestimmt zur Seite. Mein Magen zog sich ängstlich zusammen und ich spürte einen plötzlichen Druck auf der Brust. „Bist du glücklich?“, wiederholte sie. Auch wenn ich nicht verstand, warum diese Frage so wichtig war, dass Vroni völlig aufgelöst war und mich dafür mitten in der Nacht wecken musste, antwortete ich schließlich: „Ich bin so glücklich wie ich nur sein kann.“

Auch wenn es irgendwie abgedroschen klang, meinte ich es tatsächlich so wie ich es gesagt hatte. Natürlich fehlte mir meine Familie noch immer und manchmal bekam ich leichtere Panikattacken, weil ich nach Monaten doch mal wieder von Mel geträumt hatte, doch im Großen und Ganzen ging es mir bestens. Ich war zufrieden. Dieses Leben an Vronis Seite hätte ich noch Jahrzehnte lang führen können.

Erschrocken musste ich jedoch feststellen, dass ihre Gesichtszüge sich plötzlich verdüsterten und sie mit Tränen in den Augen an mir vorbei starrte. Langsam bekam ich wirklich Angst. Was war nur auf einmal mit ihr los?

Bevor ich etwas sagen konnte, flüsterte sie: „Ist sie eigentlich schön? Also, deine Schwester, meine ich.“ Obwohl ich mir keinen Reim darauf machen konnte, weshalb Vroni mich diese Dinge fragte, brach mir sofort der kalte Schweiß aus. Als ich antwortete, klang meine Stimme irgendwie zu hoch und nervös: „Äh... ich... denke schon. Aber ich hab sie lange nicht mehr gesehen und... ich bin da auch parteiisch.“

Vroni nickte stumm und zog ihre Beine an. Als sie mich wieder ansah, war ihr Blick erschreckend leer. „Weil du sie liebst.“ Der Unterton in ihrer Stimme ließ mich aufhorchen. Hatte sie es etwa heraus gefunden? Jetzt, wo meine abstrusen Gefühle von damals gar keine Rolle mehr spielten? Wie?

„Na ja, sie ist meine Schwester. Natürlich liebe ich sie.“ „Nein, das ist nicht der Grund.“ Ihre inzwischen fast schulterlangen Haare peitschten durch die Luft als sie energisch den Kopf schüttelte. Panik zog mir den Brustkorb zusammen und machte mir das Atmen schwer. „Nicht?“

„Du liebst sie wie du vorgibst, mich zu lieben. Du begehrst sie.“ Vroni sagte dies ohne jeden Zweifel in der Stimme, so als wären es einfache Fakten – nichts anderes als die Tatsache, dass zwei plus zwei gleich vier ist. „Das ist lächerlich.“ Ich hörte selbst, wie albern piepsig meine Stimme klang. Mein Magen hatte sich inzwischen zu einem winzigen Knäuel zusammengeballt und mir wurde schrecklich übel. Blanke Panik kroch durch jede meiner Poren und machte mir das Denken schwer.

Vroni schüttelte matt den Kopf. „Hör auf, es zu leugnen. Du stöhnst ihren Namen, wenn du mit mir schläfst und außerdem sehe ich’s an deinen Augen.“ Stumm starrte ich sie an, vollkommen unfähig auch nur einen Gedanken zu fassen. Ich hatte das Gefühl, gerade von einem Vierzigtonner gestreift worden zu sein. Ich hatte was getan?! Mir war nicht einmal bewusst gewesen, dass ich beim Sex überhaupt an meine Schwester gedacht hatte.

Doch viel schlimmer war die Art und Weise wie Vroni sprach – so als spiele es überhaupt gar keine Rolle, dass ich meine Schwester unterbewusst offenbar noch immer mehr begehrte als mir klar gewesen war. „Bist du... bist du eifersüchtig?“, wagte ich mich vor, nur um wieder von meiner Freundin überrascht zu werden. „Nein. Wieso sollte ich?“

Irritiert starrte ich sie an. „Na ja, du unterstellst mir gerade, dass ich eine andere Frau liebe. Ich an deiner Stelle wäre eifersüchtig.“ Vroni zuckte beinah gelangweilt mit den Schultern. „Bin ich aber nicht. Wenn du in irgendeine Frau verliebt wärst, wäre ich vermutlich eifersüchtig, aber so habe ich doch nichts zu befürchten. Das Mädchen, das du liebst, darfst du nicht haben, also bleibst du bei deiner Zweitwahl – mir.“ Noch immer war ihre Stimme vollkommen emotionslos und ich fragte mich, ob die Entdeckung meiner inzestuösen Gefühle dafür sorgte, dass sie den Verstand verlor.

„Dir ist klar, dass diese Logik nicht den Hauch eines Sinns ergibt, oder?“ Ich war inzwischen richtiggehend wütend auf Vroni. Wie konnte sie das alles so ruhig hinnehmen? Bedeutete ich ihr gar nichts?

Doch bevor sie antworten konnte, fuhr ich fort: „Aber das tut inzwischen gar nichts mehr zur Sache. Ja, du hast recht, es hat eine Zeit gegeben, in der ich meine Schwester auf eine Art und Weise geliebt habe, die nicht nur verboten, sondern auch einfach widerwärtig ist. Inzwischen bin ich darüber aber hinweg. Vroni, glaub mir, ich liebe dich.“

Die plötzliche Erinnerung an vergangene Abende im Internat, die ich im Bett liegend und immer wieder leise „Ich liebe Vroni.“ murmelnd verbracht hatte, in der Hoffnung, dass ich mir diesen Satz irgendwann selber glauben würde, schob ich bestimmt zur Seite. Heute liebte ich sie wirklich – daran musste ich einfach glauben. Das war die Realität, an die ich mich seit Jahren klammerte. Alles andere hätte mich zerbrochen. Ich wollte sie einfach lieben.

Zum ersten Mal seit sie mich geweckt hatte, kehrte Leben in ihre leeren Augen zurück. Sie sah mich herausfordernd an und nickte plötzlich. „Okay. Beweis mir, dass es so ist.“ Sofort griff ich nach ihrer Hand und drückte sie zärtlich. „Natürlich. Sag mir, wie.“ „Fahr nach Hause und stell dich Melanie. Wenn du dann immer noch sagen kannst, dass du mich liebst, ohne dass dir dein Herz zerbricht, glaube ich dir.“

Ich spürte wie meine Wangen sämtliche Farbe verloren. „Nein... Vroni, bitte, zwing mich nicht dazu. Ich mach alles, aber–“ Ich kam gar nicht dazu, auszureden. Vroni presste mir ihren Zeigefinger auf die Lippen und sah mir fest in die Augen. „Doch. Das ist die einzige Möglichkeit. Sieh doch: Wie kannst du sagen, dass du mich wirklich liebst, wenn du Angst davor hast, deine Schwester zu sehen, weil du befürchten musst, dass die Gefühle, die du verdrängt hast, wieder hervorbrechen. Das ist doch der wahre Grund, weshalb du nie deine Familie besuchen willst, nicht wahr?“

Dieses Mal war es an mir, stumm zu nicken. Es hatte keinen Sinn, Vroni zu belügen. Sie schien mir einfach bis auf den Grund meiner Seele blicken und alle meine Geheimnisse enthüllen zu können. Sanft strich sie mir über die Wange und wischte eine einzelne Träne fort, die sich aus meinem Augenwinkel gelöst hatte. „Hör auf, wegzulaufen, Greg. Stell dir doch nur einmal vor, wir würden ein Baby bekommen. Würdest du wollen, dass dein Kind ohne seine Großeltern und ohne seine Tante aufwächst?“ „Nein, natürlich nicht, aber...“

Vroni nahm mein Gesicht zärtlich in ihre Hände und überraschte mich mit einem zarten Kuss auf die Lippen. „Kein Aber.“ „Ich kann das nicht...“ „Doch. Du willst nur nicht. Aber ich mach dir einen Vorschlag: Du fährst nach Hause und stellst dich deiner Angst. Vielleicht haben wir Glück und du merkst tatsächlich, dass Melanie für dich endlich nichts anderes als eine Schwester ist.“

„Und wenn nicht?“ Meine Stimme hörte sich so jämmerlich kleinlaut an, dass ich mich am liebsten dafür geohrfeigt hätte. „Dann kommst du hierher zurück und wir Beide gehen irgendwo hin, wo du weit, weit weg bist von Melanie – so weit, dass sie dich nie wieder finden wird.“

Überrascht riss ich den Kopf hoch und starrte Vroni aus ungläubigen Augen groß an. „Wir... wir Beide?!“ Das Lächeln das daraufhin über ihr Gesicht huschte, trieb mir einen heißen Dolch tief ins Herz. „Natürlich. Greg, ich liebe dich. Ich werde dich niemals hängen lassen.“ Ich nickte resigniert. „Okay. Ich werde nach Hause fahren. Aber gib mir Zeit, mich darauf vorzubereiten.“ Vroni lächelte mich matt an und strich mir zärtlich über den Kopf. „Natürlich. Meinetwegen kannst du zuerst deinen Zivildienst zu Ende machen. Aber danach wird sich nicht mehr gedrückt.“

Dann stand sie auf, ging in die Küche und ließ mich allein zurück. Ich starrte dumpf auf meinen Schoß und fragte mich, womit ich die bedingungslose Liebe dieser Frau eigentlich verdient hatte, obwohl ich ihr seit wir uns kannten immer wieder nur wehgetan hatte. Ich war es ihr schuldig, dass ich ihr bewies, dass sie mir wirklich etwas bedeutete. Auch wenn mir allein der Gedanke an eine Heimkehr Übelkeit bereitete, würde ich mich endlich Vroni zuliebe meinen Dämonen stellen.

Ich würde mir beweisen, dass ich stark genug war, sie zu besiegen. Und dann würde ich dieses schändliche Kapitel meines Lebens endlich abschließen!



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