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Sünde

von

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Veronica

Das Geräusch von Gregs gleichmäßigen Atemzügen vermischte sich mit dem leisen Klackern der schlecht entlüfteten Heizung und bildete eine beruhigende Hintergrundmusik, die mich langsam schläfrig werden ließ. Dennoch riss ich mit aller Macht die Augen auf und beobachtete Greg beim Schlafen.

Er lag auf dem Rücken, hatte mir das Gesicht zugewandt und wirkte unendlich friedlich. Sogar ein kleines Lächeln lag auf seinen weichen, schön geschwungenen Lippen. Es war unglaublich, wie sehr er sich in den zweieinhalb Jahren, die wir nun zusammen waren, verändert hatte.

Er war ruhiger und offener geworden und wirkte nicht länger wie ein Reh kurz vor der Flucht. Auch seine nervöse Angewohnheit, sich permanent die Lippe aufzubeißen, hatte er inzwischen abgelegt, was besonders beim Küssen eine Wohltat war. Früher hatte ich stets Angst gehabt, ihm womöglich eine der kleinen Wunden wieder aufzureißen, sollte ich zu stürmisch sein. Der wehmütige Schatten in seinen Augen war jedoch trotz all der positiven Veränderungen stets geblieben.

Doch ansonsten hatte er sich optisch stark verändert. Aus seinem weichen Jungenantlitz war ein Männergesicht mit kräftigem Kinn und markanten Zügen geworden und auch sein Körper wirkte mit den breiteren Schultern und dem Mehr an Muskeln endlich erwachsen.

Alles an ihm war mir so vertraut als hätte sich sein Bild auf die Rückseite meiner Lider gebrannt und doch wirkte er auf mich auf einmal vollkommen fremd. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wer dieser Mann war, mit dem ich Bett und Tisch teilte. Dabei hatte der vergangene Abend so schön angefangen...

Greg war ein wenig früher aus dem Krankenhaus, wo er seinen Zivildienst leistete, nach Hause gekommen und hatte gekocht, während ich noch in der Schule gewesen war – ich hatte mein Hobby zum Beruf gemacht und absolvierte gerade eine Ausbildung zur Spieleentwicklerin. Sogar der Tisch war liebevoll mit kleinen Teelichtern zwischen den etwas schäbig aussehenden, alten Porzellantellern gedeckt gewesen.

Nach dem Essen hatten wir uns gemeinsam einen grottenlangweiligen TV-Film angesehen und auf der Couch gekuschelt, bis Greg mich irgendwann hochgehoben und ins Bett getragen hatte, wo wir leidenschaftlich miteinander geschlafen hatten. Alles war so schön, ja geradezu perfekt gewesen, doch dann hatte Greg alles in nur einem winzigen Moment kaputt gemacht. Es hatte nur ein einziges Wort gebraucht, um meine Welt in Trümmer zu schlagen: Mel.

Noch immer hatte ich Gregs leicht atemlose, raue Stimme im Ohr, wie er beim Sex diesen Namen gestöhnt hatte, während er sein Gesicht in meine Halsbeuge geschmiegt hatte. Beim ersten Mal hatte ich gedacht, ich hätte mich ganz einfach verhört, doch dann hatte er den Namen immer und immer wieder wiederholt, bis mir regelrecht schlecht geworden war. Greg hatte von alle dem offenbar nichts mitbekommen. Er war einfach nur von mir herunter gerollt, hatte mich in seine Arme gezogen und mir einen Kuss aufs Haar gehaucht, bevor er eingeschlafen war.

Jetzt lag ich hier im Dunkeln, kämpfte gegen die körperliche Müdigkeit und versuchte, zu verstehen, was passiert war. War ich etwa dabei, Greg zu verlieren? Sanft strich ich mit einem Finger über seine leicht stoppelige Wange, was ihn seine Mundwinkel ein wenig nach oben ziehen ließ, obwohl er nicht aufwachte. Wer zur Hölle war eigentlich diese Mel?

Soweit ich wusste, kannte Greg nur eine einzige Melanie – und das war seine Schwester. Aber an sie dachte er bestimmt nicht, während er mit mir schlief. Oder? Schlagartig breitete sich Gänsehaut auf meinen Armen und Beinen aus, als mir plötzlich etwas auffiel: In all der Zeit hatte Greg jedes Mal das Thema gewechselt, wenn ich mit ihm über seine Schwester hatte reden wollen. Das war mir immer schon merkwürdig vorgekommen, doch ich hatte immer gedacht, er würde Melanie vielleicht so sehr vermissen, dass es ihm zu wehtun würde, über sie zu sprechen. Doch war der leidende Ausdruck in Gregs Augen nicht in diesen Situationen besonders intensiv geworden? Und hatte er nicht jedes Mal regelrecht verzweifelt gewirkt?

Eine eisige Hand legte sich um meine Kehle und drückte mir die Luft ab, als ich wieder das Bild vor Augen hatte, als Greg vor zwei Jahren kurz vor Weihnachten kreuzunglücklich auf seinem Bett gesessen hatte, weil seine Mutter ihm weder ein schönes Weihnachtsfest gewünscht noch zum Geburtstag gratuliert hatte. Ich hatte ihn damals gefragt, ob er ihretwegen sein Zuhause verlassen hatte. Plötzlich hörte ich seine Stimme genauso deutlich, als würde er mir die Worte ins Ohr flüstern: „Nein. Meine Mutter hat nur etwas über mich erfahren, das sie mir nicht verzeihen kann. Seitdem geht sie mir wann immer möglich aus dem Weg. Wahrscheinlich versucht sie, sich einzureden, dass sie gar keinen Sohn hat.“

Damals hatte ich geglaubt, Gregs Mutter sei einfach eine Frau, die extrem überreagieren konnte und die ihren Sohn nun für etwas bestrafte, das eigentlich gar nicht so schlimm war. Doch nun wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte... Konnte das sein?

Wieder warf ich einen Blick auf Gregs unbewegtes, friedliches Gesicht. War es tatsächlich möglich, dass dieser Mann, mit dem ich nun schon seit über zwei Jahren mein Leben teilte, in Wirklichkeit in seine Schwester verliebt war und ich in all der Zeit nichts gemerkt hatte?

Mit einem bitteren Geschmack im Mund musste ich zugeben, dass diese Theorie tatsächlich erklärte, weshalb er so überraschend auf das Internat gewechselt hatte und nie nach Hause wollte. Auch das Verhalten seiner Mutter ergab unter Berücksichtigung dieser Annahme endlich einen Sinn, genauso wie Gregs Selbsthass und seine beständige Weigerung über Melanie zu sprechen. Aber konnte es tatsächlich sein, dass ich nie etwas bemerkt hatte? Oder hatte ich etwas gemerkt und hatte einfach nur die falschen Schlüsse daraus gezogen, weil ich mir die Wahrheit nicht vorstellen konnte?

Mein Herz schlug wild und kräftig, so als wäre es ihm in meiner Brust plötzlich zu eng geworden. Ohne weiter darüber nachzudenken, streckte ich den Arm aus und begann, Greg wach zu schütteln. Auch wenn er mich womöglich anstarren würde als käme ich vom Mars und vielleicht sogar wütend werden würde, dass ich ihm so etwas unterstellte, musste ich mit ihm über meinen schrecklichen Verdacht sprechen, bevor ich daran noch ersticken würde.

Mel... Während Greg verärgert knurrte und das Gesicht verzog, fiel mir wieder ein, dass ich früher bereits öfter eifersüchtig auf dieses Mädchen gewesen war. Nur mit Mühe konnte ich mich daran hindern, hysterisch aufzulachen. Wer hätte gedacht, dass meine Eifersucht womöglich berechtigter war als ich mir je hätte vorstellen können?

Doch als Greg die Augen aufschlug und mich irritiert anblinzelte, wurde mir plötzlich klar, dass seine Antwort gar keine Rolle spielen würde. Die Angst, dass Greg seine Schwester lieben könnte, ließ mir eisige Schauer über den Rücken laufen und meinen Mund staubtrocken werden, doch sie änderte nichts daran, dass ich ihn von ganzem Herzen liebte. Ich würde ihn nicht gehen lassen... Ein winziges Bisschen seiner Liebe konnte mir mehr geben als das ganze Herz irgendeines anderen Mannes.

Greg setzte sich langsam auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen, bevor er mich aus großen Augen ansah. Die dünne Bettdecke rutschte ihm locker auf den Schoß und gab den Blick frei auf seine straffe, haarlose Brust. Meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.

„Was ist los?“ Minutenlang zitterte ich so sehr, dass ich keinen Laut über die bebenden Lippen brachte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Greg direkt mit meinem Verdacht zu konfrontieren, doch ich schaffte es einfach nicht, die Worte auszusprechen. Deswegen fragte ich einfach nur: „Bist du glücklich?“



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