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Sünde

von

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Gregor

Ein letztes Mal warf ich einen kritischen, prüfenden Blick in den Spiegel und versuchte, eine eigenwillige Strähne, die albern nach oben stand, zurechtzuzupfen. Als selbst das angeblich ultrafixierende Haarwachs versagte, gab ich es auf und strich stattdessen mein Jackett glatt. Mit einem resignierten Seufzer registrierte ich, dass meine Hände dabei leicht zitterten. Die Versuche, mir einzureden, ich sei gar nicht nervös, hatte ich schon längst eingestellt.

Abitur... Schulabschluss... Wieder lief mir ein eisiger Schauer über den Rücken und ich holte tief Luft. In wenigen Minuten würde mir Frau Dr. Andersen mein letztes Zeugnis überreichen und nach dem Ball heute Abend wäre meine Zeit in diesem Internat bereits vorbei. Irgendwie war es irritierend, wie schnell die zwei Jahre vergangen waren.

Ein brennendes Prickeln machte sich in meinem Magen breit, als ich an meine Familie dachte. Ob irgendjemand von ihnen zur den Feierlichkeiten kommen würde? Ich hatte Paps Zeit und Ort genannt, doch eine schriftliche Einladung hatte ich nie geschickt. Ich hatte nicht gewollt, dass meine Mutter aus falschem Pflichtgefühl hier erschien. Seit ich mein Elternhaus verlassen hatte, hatte sie mich kein einziges Mal angerufen. Und auch ansonsten hatte sie niemals versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen und ein klärendes Gespräch zu führen, weswegen ihre Reaktion von dem Abend, an dem sie von meinen Gefühlen für Mel erfahren hatte, inzwischen noch mehr schmerzte als zu Beginn. Nach all der Zeit fühlte sie sich an wie eine ewig eiternde Wunde, die sich nicht richtig schließen konnte, weil ein Dorn ins Fleisch eingewachsen war.

Inzwischen vermisste ich meine Mutter nicht einmal mehr. Irgendwo tief in mir empfand ich noch so etwas wie Liebe für sie, doch die Gefühle waren dumpf geworden und hatten nun mehr von einer entfernten Erinnerung als von wirklichen Emotionen.

Ähnlich erging es mir mit meiner verqueren Verliebtheit in Mel. Ich hatte es geschafft, sie fast vollständig aus meinem Geist zu verdrängen. Wann immer Mel sich in meine Gedanken drängte, dachte ich an sie als meine kleine Schwester. Endlich sah ich sie nicht mehr als begehrenswerte, junge Frau. Dennoch versuchte ich noch immer, möglichst wenig über sie nachzudenken. Denn die Angst, ich könnte womöglich feststellen, dass meine sündige Liebe für sie noch immer irgendwo tief in mir ruhte, war auch jetzt noch stets präsent.

Wenn ich ehrlich zu mir war, waren meine Wut auf Mutter und meine Enttäuschung über ihr Verhalten nicht die einzigen Gründe, weshalb ich meiner Familie nie eine Einladung zu meinen Abiturfeierlichkeiten hatte zukommen lassen. Tatsächlich hatte ich noch immer Furcht davor, Mel wieder zu sehen. Was, wenn ein Blick in ihre hübschen Augen reichen würde, um mir zu zeigen, dass ich meinen Gefühlen für sie tatsächlich nie Herr geworden war? Dass die Kontrolle, die ich momentan darüber empfand, nichts weiter war als pure Einbildung und Wunschdenken? Nein, ich wollte das nächste Aufeinandertreffen mit meiner Schwester so weit nach hinten schieben wie nur irgendwie möglich und stattdessen lieber meine Zeit mit Vroni genießen.

Das war auch der Grund, weshalb ich es vorzog mit meiner Freundin in eine winzige Zwei-Zimmer-Wohnung zu ziehen, anstatt nach Hause zurückzukehren. Die Möbel waren bereits gekauft und aufgebaut, es fehlten nur noch ein paar Kleinigkeiten, die wir an diesem Abend aus unseren Internatszimmern mitnehmen würden. Dann würden wir knapp eine Woche Zeit haben, um uns einzuleben und das Zusammensein in unserer ersten gemeinsamen Wohnung zu zelebrieren, bevor ich meinen Dienst als Zivi antreten musste.

Grinsend rückte ich das grünschwarze Tuch zurecht, dass ich mir locker um den Hals geschlungen hatte, und erinnerte mich an den Abend, an dem ich es bekommen hatte.
 

An diesem Tag hatte ich eine Klausur geschrieben, weswegen ich keine Zeit gehabt hatte, rechtzeitig zur Postvergabe im Foyer zu sein. Deswegen hatte Vroni das kleine Päckchen für mich angenommen und es auf meinen Schreibtisch gestellt – sie hatte schon vor einem Jahr einen Zweitschlüssel für mein Zimmer gehabt, was zwar eigentlich verboten war, aber von uns geflissentlich ignoriert worden war.

Als ich dann abends dann in meine Stube gekommen war, hatte ich gleich das seltsame Pulsieren gespürt, das von dem Päckchen auszugehen schien. Irgendwie war es gewesen als hätte das Paket ein Eigenleben gehabt. Plötzlich hatte ich das Gefühl gehabt, eine unsichtbare Hand hätte in meine Brust gegriffen, wo sie mein Herz langsam mit eisigen Fingern zerdrückt hatte. Meine Hände waren schwitzig geworden und meine Kehle hatte sich angefühlt wie zugeschnürt, dabei hatte ich mir diese Reaktion nicht einmal selbst erklären können.

Das Paket war eine ganz normale gelbe Schachtel gewesen, wie man sie direkt bei der Post kaufen konnte, und war von Mel mit meiner Anschrift versehen worden. Als ich das Klebeband, das die Pappschachtel fest verschlossen hatte, mit einer Schere durchtrennt hatte, hatten meine Hände dabei so sehr gezittert, dass ich mich mehrfach beinah in den Finger geschnitten hätte.

Im Inneren des Pakets hatte neben einem mehrere Seiten langen Brief auch das wollene grünschwarze Palästina-Tuch gelegen, das ich nun um den Hals trug. Mit noch immer unerklärlich schnell rasendem Herzen hatte ich zaghaft über den weichen Stoff gestrichen. Doch dann hatte ich den Fehler gemacht, das Tuch aus der Schachtel zu heben und meine Wange gegen die kuschelige Weichheit zu drücken. Schlagartig war mir Mels Duft nach wilden Erdbeeren in die Nase gestiegen und hatte all die verdrängten Gefühle für meine Schwester zurückgebracht.

Ich hatte das Tuch fallen lassen, als hätte ich mich plötzlich an ihm verbrannt, und war so weit wie möglich vor ihm zurückgewichen, obwohl ich gewusst hatte, dass ich seinem Schrecken durch räumliche Distanz nicht entfliehen konnte.

Es hatte einige Zeit gedauert, bevor ich es geschafft hatte, die plötzlich aufgewallte Panik wieder niederzukämpfen. In diesen endlosen Minuten hatte ich mich immer wieder gefragt, ob all die Opfer und Schmerzen, die ich bis dahin gebracht und erduldet hatte, umsonst gewesen waren und ob ich nicht doch einfach aufgeben und den Kontakt zu meiner Familie vollständig abbrechen sollte.

Doch als mein Herzschlag sich endlich wieder beruhigt hatte, war mir klar geworden, dass eine solche Reaktion mehr als feige gewesen wäre. Natürlich musste ich Rückschläge wie diesen erleiden. Wie hatte ich es mir überhaupt anders vorstellen können? Eigentlich war es ein Wunder gewesen, dass ich bislang von solchen Rückfällen verschont geblieben war.

Entschlossen hatte ich mich von der Wand abgestoßen, an die ich mich ängstlich gepresst hatte, und hatte mit wenigen, langen Schritten die kurze Strecke zu dem Tuch zurückgelegt. Mit einer schnellen, abgehackten Bewegung hatte ich es vom Boden aufgehoben und es mürrisch angestarrt. Das war der Moment gewesen, in dem ich mich entschieden hatte, das Tuch so häufig wie möglich zu tragen, obwohl mir bei jedem Atemzug die Lunge gebrannt hatte und ich das Gefühl gehabt hatte, mein Herz zerfiele langsam zu Steinstaub. Ich hatte mich abhärten wollen gegen Mels Duft.
 

Inzwischen war das gute Stück so häufig getragen und gewaschen worden, dass der Stoff kein bisschen mehr nach Mel roch, sondern nur noch nach mir und vielleicht ein bisschen nach Waschmittel. Doch das tat überhaupt nichts zur Sache. Inzwischen war dieses Palästina-Tuch zu einem Symbol für mich geworden. Wann immer ich es ansah oder mir umband, dachte ich daran, dass ich mich nicht hatte unterkriegen lassen, obwohl ich damals das Gefühl gehabt hatte, meine Welt zerfiele schlussendlich in Schutt und Trümmer.

Dieser schreckliche Rückschlag hatte mich im Endeffekt stärker gemacht und mir gezeigt, dass ich es schaffen konnte, über Mel hinweg zu kommen. Eines Tages würde ich auch bereit sein, ihr wieder gegenüber zu treten. Vielleicht war ich es sogar jetzt schon, doch ich wollte lieber noch ein wenig Zeit verstreichen lassen, um mir sicher zu sein.

Als es klopfte, atmete ich ein letztes Mal tief durch. Dann eilte ich mit beschwingten Schritten zur Tür, um mit Vroni nach unten in die Halle zu gehen, wo wir unsere Abschlusszeugnisse ausgehändigt bekommen würden. Ich konnte kaum glauben, dass meine Internatszeit nun hinter mir lag.



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