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Sünde

von

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Johannes

Wie ein Fächer aus erlesener, dunkelbrauner Seide ergoss sich Mels langes, braunes Haar über das aufgeplusterte Kissen unter ihrem Kopf. Ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, während das fahle Mondlicht, das durch die nur halb zugezogenen Vorhänge fiel, filigrane Muster aus hellem Silber auf ihr Gesicht malte. Seufzend warf ich einen Blick auf die hell leuchtenden Ziffern ihres Radioweckers. Wenn ich mich nicht endlich auf den Weg machte, würde meine Mutter mir die Standpauke meines Lebens halten, weil ich viel zu spät zu Hause ankommen würde. Aber es war so verdammt schwierig, sich los zu reißen...

Ganz, ganz vorsichtig strich ich Mel mit dem Fingerknöchel über die Konturen ihrer hohen Wangenknochen und ihrer Lippen, wobei sich ihre Mundwinkel unwillkürlich nach oben bogen. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass man tatsächlich im Schlaf lächeln konnte.

Wann immer ich sie ansah – ihr glattes, ebenmäßiges Gesicht, ihre großen, forsch wirkenden Augen, den Schwung ihrer vollen Lippen, ihren zierlichen, schmalen Körperbau – bekam ich schreckliches Herzrasen und feuchte Hände. Mein Mund wurde augenblicklich staubtrocken und ich vergaß teilweise das Atmen. Doch obwohl all das für sich genommen eher unangenehme Reaktionen waren, fühlte ich mich jedes Mal unglaublich glücklich.

Mit einem verträumten Lächeln musste ich an unseren ersten Kuss denken. Damals hatte ich sie mit einem flauen Gefühl im Magen nach Hause gebracht und war dabei so nervös gewesen, dass ich sie kaum hatte anschauen können. Ich war fest davon überzeugt gewesen, sofort einen Herzschlag zu bekommen, sobald mein Blick zu ihr gewandert wäre. Vor ihrer Haustür angekommen hatte ich schließlich wie ein begossener Pudel da gestanden – die Hände in den Hosentaschen, die Auge auf den gepflasterten Boden geheftet – und hatte keinen einzigen Ton raus bekommen. Während der drückenden Stille, die dadurch entstanden war, hätte ich mir am liebsten für meine Blödheit in den Hintern gebissen... Doch als Mel dann plötzlich einen Schritt auf mich zu gemacht und mein Gesicht in ihre Hände genommen hatte, waren plötzlich alle Zweifel und die Nervosität von mir abgefallen und ich hatte sie fest an mich gezogen, als sie mich geküsst hatte. Das Gefühl, ihre Lippen das erste Mal in meinem Leben auf meinen zu fühlen und zu schmecken, war so unbeschreiblich, dass mir auch jetzt, vier Wochen später, noch die Worte fehlten.

Den Heimweg war ich damals wie auf Wolken gegangen und selbst am nächsten Tag hatte ich noch so sehr neben mir gestanden, dass Matthias schon nach wenigen Minuten wieder Augen rollend aus meinem Zimmer verschwunden war, als er mich nachmittags besucht hatte. Noch immer fühlte ich mich durch Mels Anwesenheit jedes Mal wie berauscht und ihre Nähe schien all meine Sinne zu schärfen. Ich hatte das Gefühl, dass ich besser hören und sehen konnte, sobald Mel einen Raum betrat. Außerdem schien ich durch sie so etwas wie einen sechsten Sinn zu entwickeln – wobei ich, streng genommen, vermutlich nur einen steinzeitlichen Beschützerinstinkt wiederentdeckte.

Ich betrachtete noch immer ihr friedlich wirkendes Gesicht und hatte die Uhrzeit schon wieder fast vergessen. Am liebsten wäre ich die ganze Nacht geblieben, auch wenn ich einfach nur da gelegen und Mel im Arm gehalten hätte. Denn obwohl sie immer selbstsicherer wurde und inzwischen ihre Hände auch manchmal von sich aus auf eine kurze Erkundungstour über meinen Körper schickte, war an Sex momentan nicht zu denken. Aber das war okay. Wir waren noch jung und hatten noch so viel Zeit... Natürlich wünschte ich mir trotzdem jeden Tag, dass es passieren würde, doch ich wollte Mel zu nichts drängen. Deshalb würde ich warten, bis sie bereit war – irgendwann.

Ein letztes Mal küsste ich sie zärtlich auf die Stirn, was sie zu einem leisen Geräusch verleitete, das irgendwo zwischen schläfrigem Knurren und wohligem Schnurren lag. Dann zog ich so langsam und vorsichtig wie möglich meinen Arm unter ihrem Kopf weg und setzte mich auf. Mel kuschelte sich sofort tiefer in ihr flauschiges Kissen und begann leise zu schnarchen. Grinsend tastete ich im Dunklen nach meinen Schuhen.

Bevor ich sie jedoch fand, ertastete ich zunächst einen kleinen Stapel Bücher, eine von Mels getragenen Jeans, einen Plüschteddy und ein zusammengeknülltes Blatt Papier. So sehr ich auch in Mel verliebt sein mochte, ich kam nicht umhin, festzustellen, dass sie schrecklich unordentlich, ja schon regelrecht chaotisch war. Sie hatte vermutlich Glück, dass ich nicht so pedantisch war wie meine Mutter, die immer einen halben Anfall bekam, wenn sie die wild durcheinander geworfenen Zettel auf meinem Schreibtisch sah. Ich hatte eben meine eigene Form der Ordnung...

Als ich meine rotschwarzkarierten Vans endlich gefunden hatte, streifte ich sie schnell über und schlich mich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer, wobei ich die Arme schützend nach vorn streckte und ab und zu stehen blieb, um angestrengt in die Dunkelheit zu blinzeln. So langsam fand ich mich trotz des Chaos’ auch ohne Licht in Mels Zimmer zurecht, aber ich hatte immer noch Angst, doch irgendeine Kleinigkeit auf dem saphirblauen Teppichboden zu übersehen und zu stolpern. Dabei machte ich mir weniger Gedanken darum, dass ich mir weh tun könnte, als viel mehr um Mels ungestörten Schlaf.

Im Türrahmen drehte ich mich noch einmal um und warf einen Blick auf meine Freundin, von der nur ihr helles Gesicht und ein bleicher Arm, der auf der Decke lag, zu erkennen waren. Das Mondlicht entzog ihrer Haut sämtliche Farbe und ließ sie beinah knöchern wirken. Dennoch hatte ich noch nie etwas derart Schönes gesehen. Kopfschüttelnd und innerlich grinsend wandte ich mich ab und schloss geräuschlos die Tür. Es war schon verrückt, was die Liebe mit einem machte – schließlich war ich plötzlich fähig, derart schnulzige Gedanken zu haben, ohne das Bedürfnis zu verspüren, mich zu übergeben. Sie fühlten sich nicht einmal mehr übertrieben an, sondern einfach nur richtig.
 

Im Flur begegnete ich Mels Vater, der gerade von seiner Schicht im Krankenhaus nach Hause kam und sein Schlüsselbund mit einem lauten Klirren auf einen bronzenen Teller warf, der auf dem geschlossenen Schuhschrank neben der Haustür stand. Als Greg damals erzählt hatte, sein Vater sei Chefarzt auf einer Station des hiesigen Krankenhauses, hatte ich ihn schrecklich beneidet. Arzt, das klang nach Unmengen an Geld, tollen Urlauben, dicken Autos und High-Society-Partys. Doch heute fragte ich mich, ob das wirklich so toll war.

Auf den Schultern von Dr. Paul Klare lastete stets eine große Verantwortung und er war sehr oft immens eingespannt in seinen Beruf. Meistens verbrachte er mehr Zeit im Krankenhaus als mit seiner Familie. Unwillkürlich drängte sich mir der Gedanke auf, dass Greg vielleicht nicht so heftig auf die Entdeckung seiner Adoption reagiert hätte, wäre sein Vater öfter zu Hause gewesen. Von Mel wusste ich, dass dieser seit jeher Gregs Bezugsperson gewesen war, während zwischen Mutter und Sohn schon seit langem ein eher schwieriges Verhältnis bestanden hatte.

Als Herr Klare mich bemerkte, wandte er sich sofort zu mir um und lächelte. Seine Haut hatte einen leichten Graustich und er wirkte unglaublich müde. „Hallo He– Paul.“, berichtigte ich mich schnell. Mels Vater hatte mich sofort mit offenen Armen empfangen und mir gleich das Du angeboten. Ich konnte mich zwar noch immer nicht so richtig daran gewöhnen, einen mehr oder weniger fremden Erwachsenen mit Vornamen anzusprechen, doch ich war ihm dankbar für die Offenherzigkeit, die er mir entgegen brachte.

Seine Frau verhielt sich wesentlich zurückhaltender, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass sie irgendwie erleichtert war. Wann immer sie mich sah, grinste sie zu mir herüber und ihr Blick bekam einen erfreuten Glanz, der mich ganz verlegen machte. Anscheinend hatte sie mit einer wesentlich ausgefalleneren Wahl ihrer Tochter gerechnet.

„Hi Johannes. Na, schleichst du dich heimlich aus dem Haus?“ Obwohl Herr Klare einen leichten, lockeren Ton anschlug, lächelten seine Augen nicht mit. Stattdessen blieb ein trüber Schleier, der Paul älter erscheinen ließ als er vermutlich war. Ich fragte mich, ob es vielleicht einen Toten im Krankenhaus gegeben hatte, erinnerte mich jedoch dann daran, dass sein Blick seit ich ihn kannte immer ein wenig verhangen gewirkt hatte. Eine Beobachtung, die ich heute sogar Mel mitgeteilt hatte. Ihre Miene hatte sich daraufhin schlagartig verdüstert und sie hatte mit bedrohlich zitternder Stimme erklärt, ihr Vater litte sehr stark unter Gregs Abwesenheit. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb er mich gleich so begeistert in seine Familie aufgenommen hatte – als eine Art Ersatzsohn.

Ich nickte und grinste ein wenig, als ich erklärte: „Ja. Mel ist eingepennt. Mal wieder.“ Es war tatsächlich nicht das erste Mal gewesen, dass Mel in meinen Armen eingeschlafen war und ich es wie immer nicht übers Herz gebracht hatte, sie zu wecken. Paul nickte, wobei er allerdings schon wieder ein wenig geistesabwesend wirkte. „Es ist ja auch schon spät.“

Dann machte er eine kleine Pause und holte tief Luft, bevor er fragte: „Mel hat nicht zufällig etwas davon erwähnt, dass ihr Bruder geschrieben hätte, oder?“ Stumm schüttelte ich mit dem Kopf und heftete meinen Blick auf die hellen Bodenfliesen. Ich brachte es einfach nicht fertig, meinem Gegenüber in diesem Moment in die Augen zu schauen.

Paul seufzte laut auf und rieb sich über die müden Augen. „Wir haben seit kurz vor Weihnachten nichts mehr von ihm gehört, weißt du? Langsam mache ich mir Sorgen. Ich hoffe, es geht dem Jungen gut.“ „Das... das tut mir leid.“, stammelte ich verlegen. „Aber wenn irgendwas passiert wäre, wärt ihr bestimmt schon informiert worden. Wahrscheinlich ist Greg einfach nur im Freizeitstress.“

Obwohl Mels Vater sich Mühe gab, es zu verstecken, konnte man seinem Blick trotzdem eine Mischung aus Enttäuschung, Angst und dem Gefühl von Ohmacht ansehen. Für einen kurzen Moment befürchtete ich, er könnte mit so etwas resigniertem wie „Das hoffe ich.“ antworten, doch stattdessen sagte er nur: „Ja, da hast du sicher recht.“ Trotzdem wollte ich plötzlich ganz schnell nach Hause.

Ich verabschiedete mich hastig, wünschte Paul eine gute Nacht und stürzte dann aus dem Haus. Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert auf. Ich liebte Mel von ganzem Herzen und hatte ihre Eltern – ganz besonders ihren Vater – wirklich gern, doch die Atmosphäre, die jedes Mal aufkam, wenn Greg erwähnt wurde, war nur schwer zu ertragen. Dann schien die Luft dicker und heißer zu werden, was das Atmen beinah unmöglich machte, und man hatte das Gefühl, kleine, glühende Blitze würden umher zucken, die sich jeder Zeit entzünden und zu einer Explosion führen konnten.

Gregs Abwesenheit hing wie ein Damoklesschwert über dieser Familie und ich hasste meinen ehemaligen Freund fast dafür, dass er die Macht hatte, diese wundervollen Menschen zu zerstören. Ich wollte mir nicht einmal ausmalen, wie Paul oder Mel reagieren würden, würde Greg sich vollends von ihnen abwenden und verkünden, dass er nie mehr nach Hause zurückkommen würde. Frau Klare schien besser mit der Situation zurechtzukommen, doch die anderen Beiden erweckten den Eindruck, dass sie all ihre verbliebene Kraft aus dieser einen Hoffnung zogen, dass Greg bald seinen Groll überwinden würde.

Während ich mit schnellen Schritten durch die klirrendkalte Luft hetzte, um doch noch einigermaßen pünktlich wieder daheim zu sein, versprach ich mir selbst, dass ich alles Menschenmögliche tun würde, um Mel aufzufangen, sollte ihr Bruder je beschließen, die Brücken zu seiner Vergangenheit und damit den Kontakt zu seiner Familie abzubrechen. Sollte er doch gehen, ich würde immer für Mel da sein. Wirklich immer.



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