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Sünde

von

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Veronica

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich mir im ersten Moment vollkommen sicher, dass ich geträumt hatte. Der letzte Abend konnte unmöglich wirklich passiert sein. Ich hatte bestimmt nicht auf Gregs Schoß gesessen und wild mit ihm geknutscht, während er langsam seine Hand unter meinen Pullover geschoben und die nackte Haut meines Rückens gestreichelt hatte. Und ich hatte garantiert auch nicht über seinen flachen Bauch gestrichen und mit den Fingern seine harte Muskulatur erkundet.

Doch dann wandte ich den Kopf und unwillkürlich breitete sich ein glückseliges Lächeln auf meinem Gesicht aus. Auf meinem flachen Nachtschrank lag eine glänzende, silberne Kette mit kleinen, feinen Gliedern und einem elegant geschwungen Anhänger, der mit einem glitzernden Tigerauge geschmückt war. Also hatte ich doch nicht geträumt...

Greg hatte mir dieses wunderschöne Schmuckstück am vergangenen Abend als Weihnachtsgeschenk überreicht und es liebevoll hinter meinem Nacken geschlossen. Bevor ich zu Bett gegangen war, hatte ich es jedoch wieder abgenommen, weil ich befürchtet hatte, im Schlaf die dünne Kette womöglich zu zerreißen.

Eigentlich hatte ich gleich los laufen und meine Geschenke für Greg holen wollen, doch er hatte mich mit sanfter Bestimmtheit zurück in seine Arme gezwungen und gemeint, die Bescherung könnte noch warten. Allein bei dem Gedanken an den warmen, leicht rauen Ton seiner Stimme begann mein Herz heftig zu schlagen und ich fühlte mich kribbelig und unruhig. Ich konnte kaum erwarten, ihn wieder zu sehen. Seine Haut wieder auf meiner zu fühlen. Ihn wieder zu küssen...

So schnell ich konnte, sprang ich aus dem Bett und suchte meine Kleidung zusammen. Meine Zähne putzte ich mir mit solch einer brutalen Geschwindigkeit, dass ich mir mehr als einmal die Bürstenborsten in das empfindliche Fleisch bohrte und zu bluten begann. Das nahm ich jedoch nur unterschwellig wahr. Als ich endlich angezogen und etwas zurecht gemacht war, schnappte ich mir die griffbereit auf dem Schreibtisch stehenden Päckchen und stürmte in den Flur hinaus.

Während ich die langen, kühlen Korridore entlang hetzte, hoffte ich inständig, dass Greg nicht womöglich beim Frühstück war, und fragte mich, wie er wohl auf seine Geschenke reagieren würde. Ich hatte ihm zwei Bände der relativ unbekannten „Tomb Raider“-Romane gekauft, war mir aber unsicher, ob sie ihm wirklich gefallen würden. Er machte auf mich nicht gerade den Eindruck eines passionierten Zockers, doch immerhin war er eine Leseratte, die so ziemlich jedes Buch förmlich zu verschlingen schien. Außerdem: Welcher Mann stand nicht auf Lara Croft? Die Frau war sexy, intelligent, tough und unabhängig. Sie war eine der wenigen weiblichen Videospielfiguren, die man getrost als modernes Vorbild für junge Mädchen betrachten konnte – und das obwohl sie in manchen ihrer Spiele auf niedliche Wölfe und kuschelige Bären schoss.

Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob Greg mit den Büchern wirklich etwas anfangen konnte. Manchmal erschien er vollkommen unempfänglich für Unterhaltungselektronik jeder Art. Ich hatte ihn in all der Zeit weder Musik hörend erlebt, noch hatte er sich je über einen fehlenden Fernseher beschwert. Ich hingegen vermisste meine Videospielkonsolen jeden Tag... Vielleicht hatte ich gehofft, durch diese beiden Romane eine Brücke zwischen unseren Leidenschaften schlagen und ihn für mein größtes Hobby begeistern zu können.
 

Gerade als ich durch die Treppenhalle eilte, kam jemand aus dem Nordflügel und ich wäre beinah in die hochgewachsene, breitschultrige Gestalt hinein gerannt. Überrascht ließ ich die Geschenke fallen, quietsche erschrocken auf und stolperte ein paar Schritte rückwärts. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich die andere Person vollkommen übersehen hatte. Zwei muskulöse Arme schnellten hervor und hielten mich sanft fest, bevor ich umknicken und stürzen konnte. „Vorsicht, immer langsam mit den jungen Pferden.“ Ich erkannte die Stimme noch bevor ich das dazugehörige Gesicht betrachten konnte und mein Herz machte einen kleinen Hüpfer.

Ich legte meine Hände auf die stark behaarten Unterarme – Wie konnte er bei diesen Temperaturen bloß mit hochgekrempelten Ärmeln herum laufen? – und schob sie zurück. „Manuel...“ Meine Stimme klang steif und formell und ich schaffte es nicht, meinen Blick zu heben, um meinem Bruder in die Augen zu sehen. „Vroni...“, setzte er an, nur um sofort wieder abzubrechen. Resigniert ließ er seine Arme locker an seinem Körper herab hängen und musterte mich. Ich konnte seinen Blick fühlen, auch wenn ich ihn nicht sah.

Für einen langen Moment standen wir schweigend nebeneinander und starrten vor uns hin, doch dann gab Manuel sich einen Ruck. „Vroni, ich weiß, ich bin zu weit gegangen und hab einen schrecklichen Fehler gemacht. Das tut mir leid, ehrlich.“ Die Verzweiflung in seiner Stimme schnitt so tief und leicht in mein Herz wie ein warmes Messer in Butter. „Glaubst du, du kannst mir irgendwann verzeihen?“ Ich räusperte mich geräuschvoll und schaffte es endlich, ihn anzusehen. Seine schönen, dunkelbraunen Augen waren rot gerändert und füllten sich mit Tränen, obwohl er sich sichtlich darum bemühte, die Fassung zu bewahren.

„Ja, du hast verdammten Bockmist gebaut und eigentlich sollte ich deswegen wütend auf dich sein, bis du zur Hölle fährst, aber...“ Ich machte eine kleine Kunstpause. „Du bist und bleibst mein Bruder und ich liebe dich. Natürlich kann ich dir altem Trottel verzeihen.“ „Oh, Vroni!“ Er umarmte mich plötzlich so stürmisch, dass er mich beinah aus den Schuhen hob. Doch anstatt ihn weg zu stoßen und verzweifelt nach Luft zu ringen, klammerte ich mich mit genauso viel Kraft an ihn. „Manu...“

Als er mich schließlich wieder los ließ, musterte er mich erneut eingehend. Irgendetwas an dem Ausdruck in seinen Augen machte mich ein wenig nervös. Um meine Unsicherheit zu überspielen, schlug ich ihm leicht mit der flachen Hand gegen die Brust und fragte neckend: „Was ist? Hab ich ’nen fetten Pickel auf der Nase?“ Manuel schüttelte lächelnd mit dem Kopf. „Nein. Ich dachte nur gerade, dass du glücklich aussiehst. Irgendwie strahlst du total. Du leuchtest regelrecht. Ich hab mich einfach gefragt, was wohl passiert ist.“

Verlegen biss ich mir auf die Unterlippe und blickte zu Boden, während mir das Blut in die Wangen schoss. „Ich... na ja... Also...“, stammelte ich, was Manuel plötzlich ein verletztes Gesicht ziehen ließ. „Schon okay. Ich hab’s verstanden. Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst.“ Bestimmt und vehement schüttelte ich mit dem Kopf. „Das ist es nicht. Es ist nur so, dass ich es bis jetzt noch nie ausgesprochen hab und na ja...“ Ich spürte wie meine Wangen erneut in einem intensiven Rot aufflammten. „Also, ich... ich bin jetzt mit Greg zusammen. Wir sind nun ein Paar.“

Schlagartig verdüsterte sich die Miene meines Bruders und er presste missbilligend die Lippen aufeinander, was sofort neue Wut in mir entfachte. Hatte er es denn immer noch nicht gelernt, dass er sich aus solchen Dingen heraus zu halten hatte? Ich wollte mein eigenes Leben führen und eigene Entscheidungen treffen. Zornig hob ich einen Zeigefinger und funkelte erbost zu Manuel herauf. „Wag es ja nicht, dich da einzumischen!“

Seine Kiefermuskulatur zuckte, als er die Zähne fest zusammen biss. „Keine Angst, das hatte ich nicht vor. Ich hab inzwischen verstanden, wie wichtig es für dich ist, wenn du deine eigenen Fehler machen kannst.“ „Fein. Warum ziehst du dann jetzt so ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter? Du warst doch selbst derjenige, der Greg dringend geraten hat, die Sache schnellstens zu klären.“, fauchte ich, wobei ich froh war, dass in den Ferien so gut wie kein Schüler hier war. Während der Unterrichtszeiten hätte ein solcher Streit sicher für einige Zaungäste gesorgt. So konnten wir uns jedoch nach Lust und Laune zanken, ohne dass sich jemand blicken ließ.

Manuels wütender Blick schien förmlich Funken zu sprühen, als er mit bedenklich vibrierender Stimme sagte: „Ja, weil ich wollte, dass du glücklich bist.“ Er sprach langsam und betonte jede einzelne Silbe, so als müsste er sich mühsam zurückhalten, nicht laut zu brüllen. „Aber ich bin doch jetzt glücklich. Wo ist also dein Problem?“ Ich holte tief Luft, als etwas in den Augen meines Bruders aufblitzte und mir etwas klar wurde. „Du kannst Greg einfach nicht ausstehen, nicht wahr? Du hasst ihn regelrecht!“

„Das ist nicht–“, setzte mein Bruder an, doch ich fiel ihm sofort wieder ins Wort. „Natürlich ist das wahr! Du warst schon immer neidisch auf Jungs wie ihn. Du verabscheust ihn, nur weil er das Aussehen hat, das du dir immer für dich selbst gewünscht hättest, weil er...“ Mit einer Geste brachte Manuel mich zum Schweigen und sah mich mit einem halb ungeduldigen, halb belustigten Blick an. „Ich wollte eigentlich sagen: Das ist nicht mein Problem. Ich wollte nie abstreiten, dass ich deinen Goldritter nicht leiden kann.“ „Oh...“ Wieder röteten sich meine Wangen leicht und ich zog eine zerknirschte Miene. „Was ist dann das Problem?“

Seufzend betrachtete Manuel die kunstvoll bemalte Decke, bevor er leise antwortete: „Ich befürchte, dass du nicht glücklich bleiben wirst.“ Der eindringliche Blick mit dem er mich nun bedachte, jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. „Du meinst, du glaubst, dass Greg mir das Herz brechen wird.“ Manuel nickte stumm und wirkte plötzlich als wäre ihm schrecklich unwohl in seiner Haut. Ein Gefühl wie von Tausend wimmelnden Würmern machte sich in meinem Magen breit.

„Wie kommst du darauf?“ Ich brachte kaum mehr als ein Flüstern hervor. „Die Art wie er dich ansieht...“ Überrascht riss ich die Augen auf. Mir war gar nicht klar gewesen, dass mein Bruder ein aufmerksamer Beobachter sein konnte. Außerdem hatte ich nie etwas Merkwürdiges an Gregs Blick registriert. Als er meine Verwirrung bemerkte, fügte Manuel an: „Er sieht dich nicht wie ein frisch verliebter Junge an.“

Obwohl ich wusste, dass er mich nur schützen und vor einer bitteren Enttäuschung bewahren wollte, schob ich trotzig das Kinn vor. „Ach nein? Wie sollte er mich denn deiner Meinung nach ansehen?“ Für einen kurzen Moment zog Manuel ein komisches Gesicht, so als wäre ihm das, was er zu sagen hatte, peinlich. Doch dann atmete er tief durch und murmelte: „Als wärst du das Schönste auf der Welt, die grandioseste Erfindung seit Menschengedenken – noch besser als Currywurst.“

Unwillkürlich musste ich lachen und das Geräusch hallte unnatürlich laut durch das wie ausgestorben wirkende Gebäude. „Das war ja klar, dass du Currywurst für eine der Erfindungen schlechthin hältst.“ Ich grinste noch immer, doch Manuel warf mir einen finsteren Blick zu. „Ich meine das vollkommen ernst.“ Beschwichtigend legte ich ihm eine Hand auf den Unterarm und drückte leicht zu. „Ich weiß. Und ich bin dir auch ehrlich dankbar für deine Sorge. Aber hast du mal daran gedacht, dass Greg vielleicht einfach zu der Sorte Menschen gehört, die ihre Gefühle nicht gut zeigen können und sie deshalb lieber vor anderen verstecken?“

Manuel grunzte abfällig, doch ich ließ mich nicht beirren und redete einfach weiter: „Greg ist sehr sensibel und hat eine Menge durch gemacht – vielleicht sogar mehr als wir Beide. Ich weiß leider nicht viel über die Verhältnisse bei ihm zu Hause, weil er nur selten darüber spricht und ich ihn auch nicht mit meiner Neugier bedrängen will. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es für ihn nicht einfach war, was immer er auch hinter sich haben mag. Meinst du nicht, dass schreckliche Erlebnisse einen Mensch verschlossen werden lassen können?“ Wen versuchte ich hier eigentlich zu überzeugen? Manuel oder mich selbst?

Kopfschüttelnd und mit einem traurigen Schimmern in den Augen sah mein Bruder auf mich herab. „Möglich. Aber ich glaube nicht, dass sich jemand so vollständig von der Außenwelt abschotten kann, dass dieses bestimmte, verliebte Leuchten in den Augen selbst beim Anblick der Auserwählten nicht zu Tage tritt. Also, dass man die Person, die man liebt, ansehen kann, ohne dieses Funkeln in den Augen zu kriegen.“

Ich wurde von einem durchdringenden Frösteln gepackt, das nichts mit den niedrigen Temperaturen in der Halle zu tun hatte. Schutzsuchend legte ich mir die Arme um den Oberkörper und rieb mir verstohlen über die Arme. Als Manuel dies bemerkte, verstärkte sich seine traurige Miene noch, doch er fuhr unerbittlich fort: „Aber Greg sieht dich nie so an. In seinem Blick liegt vielleicht Begehren, aber vor allem stets ein stummer Hilfeschrei und die Suche nach Sicherheit. Das muss dir doch aufgefallen sein, wenn selbst ich das gesehen habe.“

Schweigend sah ich zu Boden und bemerkte zum ersten Mal, dass die dicken, wollenden Fäden, aus denen der Teppich geknüpft worden war, verschiedene Nuancen von Dunkelrot zeigten. Sehr zu meinem Missfallen musste ich meinem Bruder recht geben. Gregs Blick wirkte oft so schutzsuchend, dass man das Gefühl hatte, einem verlorenen Kleinkind gegenüber zu stehen. Doch am vergangenen Abend hatten eine tiefe Wärme und Liebe in seinen Augen geglänzt – das hatte Manuel einfach nur deswegen nicht gesehen, weil er nicht dabei gewesen war. Das hatte ich mir nicht eingebildet! Oder?

Mit einer liebevollen, brüderlichen Geste legte Manuel mir eine Hand auf die Schulter, strich mir mit den Fingern der anderen über die Wange und sagte mit einem unglaublich sanften, fürsorglichen Ton, den ich bei ihm noch nie gehört hatte: „Sieh es ein, bevor es zu spät ist: Greg benutzt dich nur. Er braucht momentan einfach jemanden, der seine geschundene Seele streichelt und ihm ein wenig Wärme gibt. Ich streite ja gar nicht ab, dass er vielleicht schreckliches erlebt hat. Irgendwo kann ich ihn sogar verstehen. Aber trotzdem hoffe ich, dass du bald aufwachst und erkennst, dass ich all das hier nicht sage, um dich zu ärgern, sondern weil du meine Schwester bist und mir dein Glück am Herzen liegt. Also hör mir jetzt bitte gut zu: Greg liebt dich nicht.“

Mit diesen Worten küsste er mich kurz auf die Stirn, maß mich mit einem letzten eindringlichen Blick und verschwand dann auf der Treppe, während ich wie vom Donner gerührt mitten in der Halle stand und ins Nichts starrte. Ich zitterte am ganzen Körper und mein Magen fühlte sich wund und übersäuert an. Meine Handflächen waren schwitzig und außerdem schlug mein Herz so laut und schnell, dass ich mir fast sicher war, dass es in der ganzen Halle zu hören war.

Manuel irrte sich. Er hatte sich schon immer zu viele Sorgen um mich gemacht und war jetzt besonders vorschnell, weil er Greg bis aufs Blut hasste und die Möglichkeit nicht ertragen konnte, dass er mich womöglich ausgerechnet an ihn verlieren könnte. Die Liebe in Gregs Blick, seine Berührungen, seine Küsse – all das war echt gewesen.

Mit aller Kraft klammerte ich mich an diesen Gedanken und verdrängte die Worte meines Bruders, während ich die Geschenke wieder aufsammelte und mich mit langsamen Schritten wieder in Bewegung setzte. Manuel irrte sich... ganz bestimmt irrte er sich – so musste es einfach sein.



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