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Sünde

von

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Veronica

Das Erste, was ich von dem Jungen bemerkte, war sein goldenes Haar, das sacht von einer Brise bewegt wurde und sein Gesicht umgab wie ein weicher Kranz lodernden Feuers. Das warme Nachmittagslicht brach sich schillernd auf den samtig anmutenden Strähnen und zauberte bunt glitzernde Reflexe in das seidige Gold.

Fast unbewusst fuhr ich mir mit einer Hand durch meine etwas stumpf wirkenden schwarzbraunen Haare und schmeckte sofort den beißenden Geschmack von Neid im Mund. Er erinnerte mich immer an einen ekeligen Hustensaft, den ich als Kind einmal verschrieben bekommen hatte und von dem ich jedes Mal hatte brechen müssen.

Durch den ungewöhnlichen Metallschimmer im Haar des Jungen neugierig geworden, musterte ich sein Gesicht. Es hatte hohe Wangenknochen, ein markantes Kinn, eine gerade, etwas zu kurze Nase, deren Spitze leicht nach oben gerundet war, und schön geschwungene Lippen, die genauso gut auch einer Frau hätten gehören können. Irritiert stellte ich fest, dass sie ihren Besitzer dennoch nicht unmännlich oder gar feminin wirken ließen.

Während ich die fast symmetrischen Züge und die glatte, ebenmäßige Haut des Jungen betrachtete, spürte ich, wie sich der beißende Geschmack nach ranzigem Hustensaft immer weiter ausbreitete. Dies war ein Gesicht, für das vermutlich jede Frau dieser Welt einen Mord begangen hätte – allerdings um es für sich selbst zu haben und nicht um es an ihrem Freund zu sehen. Irgendwie erschien es unfair, dass ausgerechnet ein Mann mit solch einer natürlichen Schönheit gesegnet war.

Doch als ich die Augen des Jungen bemerkte, schämte ich mich sofort für meinen Neid. Aus der Entfernung konnte ich ihre Farbe nicht hundertprozentig erkennen, aber sie schienen von einem kräftigen Hellgrün zu sein. Viel interessanter war jedoch der Ausdruck, der sich in ihnen spiegelte. Sie waren ein wenig trüb, so als wäre ihr Besitzer tief in Gedanken oder seiner eigenen Welt, und drückten solch eine Wehmut aus, dass es mir beinah das Herz abschnürte.

Ich schlug die Beine übereinander und fragte mich für einen kurzen Moment, ob der Junge wohl Heimweh hatte. Ich hatte ihn bisher noch nie hier gesehen und viele der Neuankömmlinge vermissten ihre Familie in den ersten Wochen sehr – auch die Jungs, egal wie stark und unemotional sie sich sonst gerne gaben.

Gedankenverloren rupfte ich eine der weißen Blüten aus dem Jasminbusch neben mir, als ich an meine erste Zeit im Internat dachte. Mein Bruder hatte damals arge Probleme gehabt, seinen Platz hier zu finden, und hatte lange mit unserer Situation gehadert – viel länger als ich. Insgeheim fragte ich mich, ob er sich inzwischen tatsächlich eingepasst hatte oder ob er einfach nur gelernt hatte, seinen inneren Schmerz besser zu verstecken.

Der Junge wandte den Kopf ein wenig und das Licht, das auf seinen Haaren tanzte, lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Erneut betrachtete ich seine Augen und versuchte, in ihnen zu lesen. Die ganze Zeit hoffte ich, der gequälte Ausdruck würde endlich aus ihnen verschwinden, doch nichts passierte. Entweder badete dieser Junge gerne in Selbstmitleid oder er hatte extrem heftiges Heimweh...

Unmerklich schüttelte ich den Kopf und lehnte mich ein wenig vor, um das Gesicht des Jungen noch besser sehen zu können. Jetzt erkannte ich den angespannten Zug um seinen Mund und die dunklen Schatten auf der gräulichen Haut. Der Junge wirkte müde und ausgemergelt, so als würde ihm etwas langsam alle Kraft entziehen.

Ich ließ meinen Blick ein weiteres Mal zurück zu seinen Augen wandern und fröstelte ein wenig angesichts des unveränderten Ausdrucks von Verzweiflung, Trauer und Schmerz, der sich in ihnen spiegelte. Er schien mir in der Zwischenzeit sogar noch ein wenig stärker geworden zu sein.

Nein, was immer diesen Jungen beschäftigte, es war definitiv kein Heimweh. Dafür war die Qual in seinen Augen nun einfach zu intensiv. Sie schien sich tief in seinem Innersten eingenistet zu haben. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der traurige Glanz in den Augen des Jungen selbst dann nicht ganz verschwinden würde, sollte er lachen. Seine ganze Haltung erweckte den Eindruck als zöge ihn irgendetwas zu Boden.

Jähes Mitgefühl brach wie eine Flutwelle über mir zusammen und ich überlegte, ob ich einfach zu dem Jungen herüber gehen und mit ihm reden sollte. Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, zu erfahren, was ihn so fertig machte, und ihm zu helfen.

Gerade als ich mich auf die Füße schwingen wollte, schnellte der Kopf des Jungen herum, so als hätte der Gedanke, mich zu ihm zu setzen, ihm auf einmal meine Anwesenheit verraten. Von diesem Zufall belustigt, hob ich die Hand und winkte, doch die Züge des Jungen verhärteten sich augenblicklich.

Sogar seine Augen, die vorher so offen und verletzlich gewirkt hatten, blickten plötzlich verschlossen und abweisend. Trotzdem empfand ich einen seltsamen Triumph, als ich bemerkte, dass der vorherige Schmerz noch immer in ihnen glänzte wie ein fast vergessener Schatten in der Abenddämmerung.

Bevor ich etwas sagen konnte, richtete der Junge sich auf und bewegte sich beinah im Laufschritt auf das Internatsgebäude zu. Ein wenig irritiert sah ich ihm hinterher, bis seine hochgeschossene, schlaksige Figur aus meinem Blickfeld verschwunden war. Was war nur so plötzlich in ihn gefahren, dass er grußlos die Flucht ergriffen hatte?

Und was mochte ihn nur so sehr leiden lassen, dass der Schmerz in seinen Augen wie eingebrannt wirkte? Während die letzten, roten Sonnenstrahlen des Tages über den See tanzten und ihn wie eine riesige Blutlache aussehen ließen, schwor ich mir, dass ich es herausfinden würde. Obwohl ich diesen Jungen überhaupt nicht kannte, spürte ich auf einmal das beinah unbändige Verlangen, ihm zu helfen.

Ich fragte mich kurz, ob dies an seinem attraktiven Äußeren liegen könnte, verwarf den Gedanken dann jedoch rasch wieder. Eigentlich wusste ich doch ganz genau, woher mein Drang, die Trauer aus seinem Gesicht zu wischen und durch ein strahlendes Lächeln zu ersetzen, kam: Der verzweifelte Schmerz in seinen Augen hatte mich einfach zu sehr an mich selbst erinnert.

Denn auch wenn ich es nur ungern zugab, musste ich gestehen, dass ich nach all diesen Jahren noch immer in tiefe Verzweiflung stürzte, sobald ich allein war. Mit einem Stich im Herzen wurde mir klar, dass ich dem Jungen nur aus einem Grund helfen wollte: Ich wollte mir selbst helfen.

Wenn es einen Weg gab, den Schmerz dieses Jungen zu heilen, der so viel stärker zu sein schien als mein eigener, dann gab es sicherlich auch eine Möglichkeit, meine eigene Trauer zu überwinden. Ich musste es einfach versuchen. Ich war die vielen Tränen dermaßen leid...



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