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Sünde

von

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Teil 2 - Neubeginn: Gregor

Knarsch, knarsch... Die kleinen, weißen Kiesel unter mir machten bei jedem meiner Schritte lustige Geräusche. Der gepflegte Kiesweg wand sich in einem leichten Bogen hinauf zu dem grauen Gebäude, das in einiger Entfernung auf einem kleinen Hügel stand. Um mich herum erstreckten sich weite, ordentlich gemähte Rasenflächen, die stellenweise von bunten Beeten voller Sommerblumen unterbrochen wurden. Die Sonne leuchtete hell an einem tiefblauen Mittagshimmel voller Schäfchenwolken. Alles wirkte friedlich und einladend.

Trotzdem spürte ich wie Nervosität mir langsam durch den Brustkorb nach unten kroch, mir das Atmen schwer machte und sich schließlich in meinem Magen einnistete. Ganz plötzlich hatte ich das Gefühl, ich müsste mich augenblicklich übergeben. Ich versuchte, meine Aufregung hinunter zu schlucken und setzte meinen Weg eisern fort.

„Es wird dich niemand beißen. Stell dich nicht so an.“, ermahnte ich mich selbst, als mein Magen erneut schmerzhaft krampfte. Wieso war ich so nervös? Hatte ich etwa Angst vor der ungewohnten Umgebung, den neuen Lehrern oder den anderen Schülern? Das war doch albern! Ich war nicht einmal schüchtern... Zurückhaltend und still ja, aber nicht schüchtern. Also kein Grund zur Panik.

Inzwischen hatte ich das gewaltige Internatsgebäude erreicht und legte den Kopf in den Nacken, um an den hohen Mauern aus dicken, grauen Steinen hinauf zu sehen. Kleine Türmchen mit spitz zulaufenden Dächern schraubten sich in den leuchtendblauen Himmel und einige Fenster waren mit Buntglas geschmückt. Von hier aus konnte ich nichts erkennen, doch ich vermutete, dass darin irgendwelche Jagdszenen oder Ritterspiele abgebildet waren. Von meinem Vater hatte ich erfahren, dass dieses Gebäude früher einmal ein kleines Jagdschlösschen eines gutbetuchten Grafen gewesen war, bevor es schon vor über Hundert Jahren zu einem Internat umgebaut worden war.

Zögerlich legte ich meine Hand auf die imposante, reichverzierte Klinke, die sich trotz der Sommerhitze kühl und glatt anfühlte. Mit einem nervösen Brennen im Magen atmete ich mehrfach tief durch und stieß dann die breite, mit Schnitzereien geschmückte Holztür auf. Die Angeln knarrten protestierend und mir schlug der feuchtkalte Muff von alten Gemäuern entgegen. Überrascht zog ich die Nase kraus. Irgendwie hatte ich erwartet, dass es in einem bewohnten Schloss anders riechen würde als in denen, die lediglich als Museum genutzt werden.

Ich zupfte am Riemen meiner Reisetasche, der mir unangenehm auf der Schulter scheuerte. Paps hatte mir die Tasche, die zu meiner Überraschung voller neuer Klamotten war, an diesem Morgen heimlich mitgebracht. „Ein kleines Abschiedsgeschenk.“, hatte er gesagt, als ich mit großen Augen abwechselnd ihn und den Inhalt der Tasche angestarrt hatte. Dann hatte er mich mit einem „Komm bald wieder.“ fest an sich gedrückt, was mich noch mehr irritiert hatte. Dass er mich noch immer anfassen konnte, obwohl er von meinen widerlichen Gefühlen für Mel wusste, wollte einfach nicht in meinen Kopf.

Die ganze Zeit, während Paps und ich auf den Zug gewartet hatten, hatte ich darauf gehofft, dass Mutter auch noch kommen würde, doch sie war nicht aufgetaucht. Natürlich nicht. Im Gegensatz zu Paps zeigte sie genau die Reaktion, mit der ich von Anfang an gerechnet hatte: Sie mied mich, wo sie nur konnte. Sogar am Telefon war sie jedes Mal kurzangebunden und abweisend gewesen. Obwohl ich stets davon ausgegangen war, dass es so sein würde, schmerzte es mich dennoch überraschend stark.

Das Innere des Internats war angenehm kühl und durch die hohen Fenster fiel das Licht in breiten, goldenen Bahnen auf dicke, aus roter Wolle geknüpfte Teppiche, die jedes Schrittgeräusch schluckten. Generell war es hier drin erstaunlich ruhig dafür, dass über Hundert Schüler an dieser Schule angemeldet waren. Ich fragte mich, ob überhaupt schon einer meiner zukünftigen Mitschüler aus den Ferien zurück war.

Nach einem kurzen Blick auf eine neben der ausladenden Treppe, deren Fuß gut die Hälfte der Eingangshalle einnahm, aufgestellten Informationstafel wandte ich mich nach links. Vor mir lag ein langer, schlauchförmiger Korridor mit unzähligen wie poliert wirkenden Türen aus dunklem Holz. Irgendwo da musste die Direktorin ihr Büro haben.

Langsam ging ich den Gang hinab, wobei ich es befremdlich fand, meine eigenen Schritte nicht zu hören. Wieder rieselte eine neue Welle der Nervosität durch meinen Körper. Noch konnte ich umdrehen, davon laufen, mir zu Hause die Decke über den Kopf ziehen und hoffen, dass meine Gefühle auch dann verschwanden, wenn ich mich nicht selbst ins Exil schickte.

Paps war der Meinung gewesen, dass ich lieber daheim bleiben und mich meinen Dämonen stellen sollte. „Niemand hier will dich vermissen müssen.“, hatte er mir eindringlich zugeflüstert. Ich hatte betreten geschwiegen und auf den Boden gestarrt. Erstens war ich mir nicht sicher gewesen, ob er tatsächlich für alle Mitglieder unserer Familie gesprochen hatte oder ob nicht zumindest meine Mutter insgeheim ganz froh darüber war, dass ich ging, und zweitens hatte ich große Zweifel daran, dass ich stark genug wäre, Mels Nähe noch lange auszuhalten, ohne dem Drängen meiner Verdorbenheit nachzugeben.

Doch wenn ich jetzt das Büro der Direktorin betrat, wäre mein neuer Weg besiegelt. Dann würde ich meine Familie und Freunde für eine vermutlich sehr lange Zeit nicht mehr sehen. Ich würde völlig neu anfangen. Erneut meldete sich das nervöse Kribbeln tief in meiner Magengrube. Nein, ich würde jetzt nicht kneifen und mich in meinem kuscheligen Bett verkriechen. Ich würde hier bleiben und diesen Weg gehen, auch wenn das bedeutete, dass ich das erste Mal in meinem Leben allein und völlig auf mich gestellt war. Ich konnte das.

Ein wenig zaghaft klopfte ich an die Bürotür von Frau Dr. Andersen, während mein Magen auf und ab hüpfte. Alles auf Null. Ein Neuanfang. Ich würde das jetzt durchziehen und kämpfen. Ich mochte zwar vielleicht von Geburt an ein Monster mit tiefschwarzer Seele sein, doch ich würde diese Chance nutzen, mich neu zu finden, neu zu definieren.
 

Hinter der Tür rief jemand mit lauter, fester Stimme: „Herein!“ Ich holte tief Luft und wischte meine schwitzigen Hände an meiner Jeans ab, dann trat ich ein. Das Büro von Frau Dr. Andersen war ein großer, heller Raum mit hohen Decken, die in einem blütenreinen Weiß strahlten. Die großen Fenster, die von schweren Vorhängen aus dunklem Samt eingerahmt wurden, sorgten für einen herrlichen Ausblick auf die Parkanlagen hinter dem kleinen Schlösschen. An den Wänden erstreckten sich langgezogene Bücherregale, die bis zum Bersten gefüllt und so hoch waren, dass ich die obersten Bücher nur mit Mühe erreicht hätte.

Auf dem Boden waren polierte Holzbohlen aus fast schwarzem Holz – Mooreiche? – verlegt und in der Mitte des Raums lag einer der offenbar typischen, dicken, roten Teppiche. Auf dem Teppich stand ein wuchtiger Schreibtisch, der nur eine Nuance heller war als die Bodendielen und den ganzen Raum zu dominieren schien. Hinter dem Tisch saß eine zierliche Frau mittleren Alters, die mich streng musterte.

Frau Dr. Andersen legte einen silbernen Füllfederhalter zur Seite und strich sich eine Strähne ihres langen weißblonden Haares, die sich aus dem strengen Knoten an ihrem Hinterkopf gelöst hatte, hinters Ohr. Dann schob sie ihren Stuhl, der nahezu geräuschlos über den Boden glitt, zurück, streckte ihre grazilen Beine aus und rückte ihre rahmenlose Brille auf der Nase zurecht. Die ganze Zeit über sah sie mich so intensiv an, dass ich vollkommen vergaß, wie man sprach.

Nach schier unendlichen Minuten zog sie die rechte Augenbraune in die Höhe und befeuchtete ihre knallrot geschminkten Lippen. Irgendwie erinnerte sie mich eher an eine Femme fatale als an eine Schuldirektorin. „So, du bist also der junge Gregor?“ Vor Überraschung klappte mir der Mund auf, was Frau Dr. Andersen ein spöttisches Lächeln ins Gesicht zauberte. Mit einiger Verzögerung fiel mir wieder ein, dass meine Eltern zusammen mit der Bewerbung ein Foto von mir hatten schicken müssen – für den Schülerausweis.

Noch immer betrachtete mich Frau Dr. Andersen mit diesem stechenden, strengen Blick aus ihren kornblumenblauen Augen. Wunderte sie sich darüber, dass ich allein, ohne Eltern angereist war? Fragte sie sich, was ich Schlimmes angestellt hatte, dass weder meine Mutter noch mein Vater sich in der Lage sahen, mich hier her zu begleiten?

Oder roch ich noch immer nach Markus’ unzähligen Joints? Ich versuchte unauffällig an meinem T-Shirt zu riechen und zog die Nase kraus. Ich hätte meine Idee, meine Kleidung während der Bahnfahrt aus dem offenen Zugfenster zu halten, doch in die Tat umsetzen sollen.

„Dann will ich dir mal als Erstes dein Zimmer zeigen.“ Frau Dr. Andersens Stimme war tief und rauchig und stand in starkem Kontrast zu ihrem schmalen, fast elfenhaften Körper. Während ich ihr durch die langen, kühlen Gänge des Internats folgte, fragte ich mich, wie es diese zierliche Person schaffte, sich genügend Respekt zu verschaffen, um eine ganze Schule zu leiten.
 

Auf dem Weg zu meinem Zimmer durchquerten wir wieder die große Eingangshalle, in der sich inzwischen ein paar Menschen eingefunden hatten. Ich entdeckte einige junge Kinder, die sich mit großen, ängstlichen Augen an ihre Eltern klammerten. Neuankömmlinge, genau wie ich. Frau Dr. Andersen nickte einigen, mit Gepäck beladenen Jugendlichen zu, die sich gerade von ihren Eltern verabschiedeten.

Auf der Treppe kam uns ein Mädchen mit kurzem, strubbeligem Haar entgegen, das etwa mein Alter hatte. Doch mehr als das Mädchen selbst stach mir sein schwarzes, leicht schlabberiges T-Shirt ins Auge. Auf der Vorderseite prangte ein weißhaariger Mann in einem roten Ledermantel, der mit Pistolen bewaffnet war und vor einem großen, mit einem Totenkopf verzierten Schwert stand, während noch weiter im Hintergrund rotgleißende Blitze niedergingen. Etwa auf Höhe des Oberschenkels des Mannes war ein sanft geschwungener Schriftzug.

Ich riss den Kopf herum und starrte dem Mädchen hinterher. Kein Zweifel, es trug tatsächlich ein „Devil May Cry“-Shirt! „Devil May Cry“ war schon immer eines von Chris’ Lieblingsspielen gewesen und ich hätte Dante, den Hauptprotagonisten, vermutlich sogar im Halbschlaf erkannt, weil ich Chris so oft beim Zocken über die Schulter geschaut hatte.

Überrascht beobachtete ich das Mädchen, wie es schwungvoll um die Ecke bog und aus meinem Blickfeld verschwand. Frau Dr. Andersen hatte inzwischen schon die Hälfte der Treppe erklommen. Irgendwie hatte ich nie gedacht, dass es Mädchen gab, die Videospiele wie „Devil May Cry“ spielten. Angesichts dieser jungen Frau, die mir gerade begegnet war, fühlte ich mich sofort wie ein Chauvinist. Warum sollten Mädchen keine Beat ’em Ups spielen?

Plötzlich riss mich jemand so brutal herum, dass ich beinah die Treppe herab gestürzt wäre. „Glotzt du meiner Schwester hinterher oder was?!“ Vor mir stand ein riesiger, bulliger Typ, den ich auf Anfang Zwanzig schätzte. Er sah mich aus vor Wut geweiteten, braunen Augen an, die eine derartige Aggression zeigten, dass ich ein wenig verschreckt rückwärts taumelte.

Irgendwo hinter dem Typen grölten ein paar andere Jungs, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Vermutlich waren es Freunde von diesem Schläger, der mich anstarrte, als wollte er mir an Ort und Stelle die Arme aus den Gelenken reißen. Ich hätte mich gerne nach Frau Dr. Andersen umgesehen, doch irgendwie spürte ich, dass das ein Fehler gewesen wäre.

Stattdessen drückte ich meinen Rücken durch und presste die Lippen aufeinander. Ich würde mich nicht rum schubsen lassen. „Vielleicht. Aber selbst wenn: Was willst du dagegen machen?“ Dem Schläger stieg langsam die Zornesröte ins Gesicht und seine Halsschlagader pochte gefährlich. Ich biss mir von innen auf die Wange und versuchte, mir einzureden, dass ich mich nicht von ihm einschüchtern lassen würde.

„Ich zeig dir gleich, was ich dagegen machen will!“ Mein Gegenüber packte mich am Kragen und hob seine massige Faust, während ich die Augen zusammen kniff. Das würde gleich sehr, sehr wehtun... Was hatte ich auch so eine große Klappe haben müssen?

Doch anstatt das Knirschen meiner eigenen Knochen zu hören, drang plötzlich die schneidende Stimme der Direktorin an meine Ohren: „Manuel! Lass ihn los, sofort!“ Ich blinzelte vorsichtig und begegnete dem rasenden Blick meines Gegenübers. Für eine unendlich lange Minute schien Manuel der Aufforderung von Frau Dr. Andersen nicht nachkommen zu wollen, doch als sie ihm drohte, seine Eltern darüber in Kenntnis zu setzen, senkte er mit einem irritierend verletzten Flackern in den Augen endlich seine erhobene Faust.

Mit einem wilden Knurren schubste er mich grob nach hinten, sodass ich mit dem Unterrücken schmerzhaft gegen das Treppengeländer stieß. „Das wird ein Nachspiel haben, Blondie. Wenn du meine Schwester auch nur noch einmal ansiehst, mach ich dich fertig.“ Dann wandte er sich um und verschwand mit seinen Kumpels, die mir alle mit einer Geste zu verstehen gaben, dass ich ein toter Mann war, sollte ich Manuels Schwester zu nahe kommen.

Ein wenig verängstigt und mit weichen Knien sah ich dem Schlägertrupp hinterher und fragte mich, was gerade passiert war. Als hätte mich dieses Mädchen interessiert... Ich atmete tief durch, rückte mein Gepäck zurecht und sah zu meiner Direktorin auf, die mit einem ungeduldigen Gesichtsausdruck auf mich wartete.

Während ich die vielen Stufen in den zweiten Stock hinaufstieg, fragte ich mich, womit ich es verdient hatte, gleich an meinem ersten Tag den Idioten der Schule zu begegnen. Mit einem Anflug von Zynismus fiel es mir wieder ein. Das elfte Gebot: Begehre niemals deiner Eltern Tochter. Ach ja.
 

Das Zimmer, in dem ich untergebracht wurde, lag auf der Ostseite des ehemaligen Schlosses und hatte ein großes Buntglasfenster. Mit grünen, roten, gelben, blauen und braunen Glassplittern hatte der Künstler eine Szene aus einem Lanzenduell zu Pferd dargestellt. Ich fand es wunderschön. Zu meiner Überraschung war das Zimmer jedoch mit nur einem weiß bezogenen Bett, einem schmalen Schrank und einem massiven Schreibtisch ausgestattet.

„Wir legen hier sehr viel Wert darauf, dass jeder unserer Schüler einen privaten Rückzugsraum und die Möglichkeit hat, ungestört arbeiten zu können. Wir halten nichts von Mehrbettzimmern. Das gibt nur Unruhe.“, erklärte Frau Dr. Andersen, als sie meinen fragenden Blick bemerkte. Ich nickte stumm und ließ meine Reisetasche und meinen Rucksack zu Boden gleiten. Mit einem Einzelzimmer hatte ich nicht gerechnet. Aber so musste ich mich wenigstens mit niemandem um ein Bett oder den Platz im Schrank streiten.

Meine Direktorin lächelte mich fast mütterlich an, doch die Wärme erreichte ihre eiskalten, hart glänzenden Augen nicht. „Ich lass dich dann erst mal auspacken. Abendessen ist um 18 Uhr unten im großen Speisesaal.“ Sie machte ein paar kurze trippelnde Schritte auf die Tür zu, wobei das Klackern ihrer Pumps von den auch hier verlegten Teppichen geschluckt wurde.

Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal zu mir um. „Ach, bevor ich es vergesse: Drogen sind hier nicht gestattet. Auch kein Marihuana.“ Mit diesen Worten verschwand sie im Flur und ich stöhnte leise auf. Ich war erst ein paar Stunden hier, doch ich war bereits beim schulansässigen Schlägertrupp bekannt und meine Direktorin hielt mich für einen Kiffer. Was für ein miserabler Start...



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