Zum Inhalt der Seite

Sünde

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Gregor

Die Sommerhitze schlug mir wie eine undurchdringliche Wand entgegen, als ich die Haustür aufriss. Ich musste hier raus. Schnell. Fast hätte ich es in den letzten Sekunden noch vermasselt. Ich war schon so nah dran gewesen, nach draußen zu stürzen, hinaus in die Freiheit, wo kein Schreckgespenst in Form verquerer, verbotener Gefühle auf mich wartete.

Doch dann hatte Mel nach mir gerufen und ihre Stimme war so voller Schmerz und Angst gewesen, dass ich mich einfach hatte umdrehen müssen. Sie hatte so verzweifelt gewirkt, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen und an mich gedrückt hätte. Doch mir war klar, dass ich das nicht gedurft hatte. Zu groß wäre die Gefahr gewesen, dass ich mich hätte vergessen können und sie doch noch geküsst hätte.

Schon als ich ihr über die Wange gestreichelt hatte, um sie irgendwie zu trösten, und sie sich schutzsuchend an meine Handinnenfläche gepresst hatte, hatte die Stimme hinter meiner Stirn unaufhörlich gehetzt, ich solle Mel endlich küssen, sie wolle das doch auch. Wie paralysiert hatte ich auf ihre Lippen gestarrt, diese vollen, das Paradies versprechenden Lippen, und hatte mich, ohne es selbst zu merken, ein winziges Stück vorgelehnt.

Wie ich es geschafft hatte, mich dann doch noch loszureißen, ohne alles kaputt zu machen, wusste ich selbst nicht mehr. Vielleicht war ich doch stärker, als ich es mir selbst zugetraut hatte. Ich hastete die Straße hinunter und blieb wieder einmal an der Kreuzung stehen, von der aus ich sowohl Richtung Stadt als auch Richtung Industriegebiet weiter gehen konnte. Der Schweiß rann mir in breiten Bahnen den Rücken hinab und der Träger meines nur einseitig geschulterten Rucksacks schnitt mir unangenehm ins Fleisch.

Wohin sollte ich jetzt gehen? Ich gab es ungern zu, doch so weit hatte ich nicht im Voraus gedacht. Da noch einiges an organisatorischem Kram mit dem Internat, auf das meine Eltern und ich uns letzte Nacht noch geeinigt hatten, zu klären war, musste ich mir für die nächsten Tage eine Bleibe suchen.

Aber wo? Ungefragt tauchte ein Bild vor meinem geistigen Auge auf, wie ich früher unzählige Nächte bei Chris verbracht hatte. Sollte ich über meinen Schatten springen und zu Chris gehen? Noch waren er und seine Mutter in der Stadt... Mit einer unwirschen Handbewegung vertrieb ich diesen Gedanken. Nein. Chris hatte mich bereits einmal im Stich gelassen. Ich brauchte ihn nicht. Ich kam auch ganz gut ohne ihn zurecht. Das leise „Wirklich?“, das durch meinen Geist huschte, ignorierte ich einfach.

Also, wohin jetzt? Ich wandte den Kopf nach links. Ich hätte mir ein kleines Lager in einem der leer stehenden Fabrik-Gebäude einrichten können. Sicher, es wäre nicht gerade eine Luxusbleibe gewesen, aber es sollte ja auch nicht für lange sein. Ich wäre frei gewesen, zu tun und zu lassen, was ich wollte, ohne dass ich jemandem Rechenschaft schuldig gewesen wäre. Trotzdem entschied ich mich dagegen. Egal, wie tief ich vielleicht gefallen war, ich war nicht bereit, mich wie ein Obdachloser zu benehmen. Dafür war ich dann doch noch immer zu stolz.

Ich wuchtete meinen Rucksack wieder ein Stück hoch und wandte mich nach rechts. Während ich auf die Bushaltestelle zuging, ließ ich meine letzten Minuten zu Hause Revue passieren. Mels Schauspieltalent lag definitiv in der Familie. Ich hatte die halbe Nacht wachgelegen und mir ausgemalt, was passieren würde, sollte meine Schwester uns dieses kleine Theaterstück nicht abkaufen. Erstaunlicherweise war diese Angst vollkommen unbegründet gewesen.

Paps hatte seine Rolle so überzeugend gespielt, dass ich mich für einen kurzen Moment gefragt hatte, ob ich nicht vielleicht wirklich adoptiert war. Und auch Mutter hatte zur richtigen Zeit die richtigen Worte gefunden – dabei war das gar nicht abgesprochen gewesen. Sie hatte einfach ein Talent dazu, bei Streitigkeiten mit mir immer das Falsche zu sagen. Sie hatte mich nie verstanden. Umso erstaunlicher war es, dass sie meine Gefühle für Mel so schnell begriffen hatte...

An der Haltestelle angekommen, lehnte ich mich gegen das kleine Häuschen aus Plastikglas und Metall, das an regnerischen Tagen die Fahrgäste trocken halten sollte. Nicht nur der überzeugende Auftritt meiner Eltern hatte mich verblüfft. Ich hätte mir vorher nie träumen lassen, dass ich in der Lage war, sie grundlos so fürchterlich anzuschreien. Aber ich hatte einfach all die Wut, die ich über die ganze Situation empfand, in meine Stimme gelegt und plötzlich war es wie von selbst gegangen.

Irgendwie erschreckte mich das ein wenig. Wäre ich womöglich auch in der Lage dazu gewesen, Mutter oder Paps zu schlagen? Wie viele Abgründe, von denen ich bislang nichts geahnt hatte, hatte meine Seele?

Ein näherkommendes Motorengeräusch erweckte meine Aufmerksamkeit. In einiger Entfernung bog gerade ein langer, rotbrauner Linienbus auf die Hauptstraße ein und hielt auf die Haltestelle zu, an der ich stand. Überrascht warf ich einen Blick auf die Uhr in meinem Handy. Normalerweise kam der Bus hier niemals pünktlich.

Wenige Augenblicke später hielt das große Fahrzeug neben mir, wobei sein Motor seltsam ratterte und gurgelte. Scheinbar war es nicht mehr das allerneuste Modell. Ich hielt dem Fahrer, der desinteressiert nickte, meine Monatskarte unter die Nase und ließ mich auf eine der ersten freien Bänke fallen. Aus dem graurot gemusterten Polster stieg eine ekelige Wolke Staub und Dreck auf. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was ich da alles einatmete.

Außer mir waren kaum andere Fahrgäste im Bus. Auf der hintersten Bank fummelte ein junges Pärchen, das sich offenbar weder zu ihm noch zu ihr nach Hause traute, und einige Reihen schräg hinter mir saßen zwei ältere Damen, die aufgeregt miteinander tuschelten und mir immer wieder heimliche Seitenblicke zuwarfen. Ich wusste, dass ich fast genauso mitgenommen aussah wie ich mich fühlte.

In den letzten Nächsten hatte ich kaum Schlaf bekommen, weswegen ich tiefdunkle Ringe unter den Augen hatte. Außerdem war meine Kleidung alt und ausgefranst und ich hätte mir eigentlich dringend die Haare waschen müssen. Vermutlich überlegten die alten Frauen, ob ich ein Junkie war und Probleme machen würde. Absurd.

Früher einmal hätte ich ohne mit der Wimper zu zucken gesagt, ich sei ein guter Mensch. Ich bemühte mich stets um Gerechtigkeit und war in meinem Freundeskreis ein beliebter Streitschlichter. Ich las lieber zu Hause in meinem Zimmer, anstatt auf der Straße herum zu lungern. Ich war ein guter Schüler und hatte mich bisher nur einmal auf dem Schulhof geprügelt. Ich nahm keine Drogen, rauchte nicht und trank nur selten – und wenn, dann achtete ich darauf, dass ich mich nicht zu sehr betrank.

Doch konnte ein Mensch, der seine eigene Schwester begehrte, überhaupt gut sein? War es jetzt nicht total egal, was ich tat? Ich lehnte den Kopf gegen die heiße Fensterscheibe und überlegte, ob ich meine Seele, mein Karma oder was auch immer noch mehr verderben konnte oder ob ich tatsächlich schon ganz unten angekommen war.

Ich konnte es mir richtiggehend bildlich vorstellen, wie ich nach meinem Tod in der Warteschlange vorm Himmelstor stand und Kinderschänder, Mörder und andere Kriminelle herzlich empfangen wurden, ich jedoch in die Hölle geschickt wurde. Der steht ja auf seine Schwester, igitt. Pfui, so etwas wollen wir hier nicht haben.

Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, an der nächsten Haltestelle auszusteigen, in den nächstgelegenen Supermarkt zu schlendern, mir hochprozentigen Alkohol zu kaufen und mich anständig zu betrinken. Vielleicht hätte ich so die ganze Sache zumindest für eine kurze Zeit vergessen können – und so gewaltig wie mein Sündenberg durch meine Gefühle für Mel geworden war, hätte dieses kleine Saufgelage doch eigentlich gar nicht auffallen dürfen.

Ich schüttelte den Kopf und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Wir wohnten in einem kleinen, ländlichen Vorort, dessen Umgebung von flachen Feldern und saftig grünen Wiesen bestimmt war, doch schon bald tauchten die ersten grauen Gebäude der Stadt auf. Sich zu betrinken war auch keine Lösung. Es war einfach nur feige und dumm.

Trotzdem hatte mich dieser Gedanke auf eine Idee gebracht. Ich wusste jetzt, wo ich die nächsten Tage verbringen würde. Markus! Dafür, dass mir diese Möglichkeit nicht eher eingefallen war, hätte ich mir am liebsten in den Hintern getreten.

Ich konnte zwar nicht sagen, dass ich Markus übermäßig mochte, aber er stellte wenigstens keine Fragen und war mindestens genauso herunter gekommen wie ich. Er würde ohne große Erklärungen akzeptieren, dass ich für ein paar Tage nicht nach Hause konnte, und mich bei ihm schlafen lassen.

Vermutlich würde er sich irgendeine absurde, schauerliche Theorie dazu einfallen lassen, warum ich nicht heim wollte, und sich köstlich darüber amüsieren, dass ich, der brave Sohn aus gutem Hause, gefallen war, aber das war mir egal. Ich musste sein schmieriges, pickeliges Gesicht und seine lahme, bekiffte Art ja nur ein paar Tage ertragen. Ich hoffte nur, dass ich vor lauter Passivrauchen nicht so high wurde, dass ich ihm von Mel erzählte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  May_Be
2017-11-20T21:38:24+00:00 20.11.2017 22:38
Eine gute Idee, Mel vorzuspielen, dass er adoptiert ist. Nur ahnt er selbst nicht, dass es tatsächlich nicht seine richtige Mutter ist, hab ich recht? Ich hab seit dem ernsten Kapitel vermutet, dass Greg und Mel nur Halbgeschwister sind. Oder irre ich mich? :D wäre ja zu schön, wenn er wirklich nur adoptiert wäre...
Antwort von:  Labrynna
20.11.2017 22:44
Na, da werde ich dich jetzt nicht spoilern (So ganz richtig liegst du nämlich nicht. ;) ). :D

Erneut: Ganz, ganz lieben Dank für den Kommentar. Ich freue mich sehr.
Antwort von:  May_Be
21.11.2017 08:38
Hm, vllt ist Mel von der Mutter und Greg von dem Vater? :D Demnach sind sie gar nicht Blutsverwandt!
Ok, ich lass mich Überraschen ;)

Sehr gerne. Bis jetzt hab ich "leider" keine Kritik :P
Antwort von:  Labrynna
21.11.2017 08:39
Das ist aber schade! :D


Zurück