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Sünde

von

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Melanie

„Ein bisschen schief. Findest du nicht?“ Ich neigte den Kopf zur Seite und begutachtete den kleinen Pavillon, den Greg und ich aufgebaut hatten. Er war etwa drei mal drei Meter groß, hatte offene Seitenwände, ein Dach aus dickem, grünen Plastikstoff und eignete sich hervorragend als Schattenspender. Nur leider war er so gefährlich windschief, dass ich befürchtete, er könnte jeden Moment umfallen.

Langsam wandte ich den Kopf und sah zu meinem großen Bruder herauf, der mit verschränkten Armen und verschlossener Miene neben mir stand. Offensichtlich grübelte er darüber nach, wie das Problem zu lösen war. Während er nachdachte, betrachtete ich sein Gesicht, das mir fast vertrauter war als mein eigenes.

Das Licht der untergehenden Sonne brach sich auf seinem glänzenden, blonden Haar und ließ es in einem warmen Rotgold leuchten. Seine katzengrünen Augen hatte er fest auf den Pavillon geheftet und er zog immer wieder seine Unterlippe zwischen die Zähne. Greg hatte wirklich tolle Lippen: fein geschwungen und voll, aber nicht so sehr, dass sie unmännlich wirkten.

Wieder einmal verspürte ich den kleinen, vertrauten Stich der Eifersucht. Warum konnte ich nicht ein bisschen mehr wie Greg aussehen? Eigentlich hätte es verboten gehört, dass ein Mann so feine, ebenmäßige Züge und eine so makellose Haut hatte.

Greg schürzte die Lippen und verlagerte sein Gewicht aufs rechte Bein, während er weiterhin stumm grübelte. Ich betrachtete sein Profil und wieder einmal fiel mir auf, dass nicht nur ich kaum Ähnlichkeit mit meinem Bruder hatte. Streng genommen fiel Greg aus der ganzen Familie heraus. Keiner von uns hatte seine symmetrischen Gesichtszüge oder den Goldschimmer seiner Haare. Trotzdem erkannte man in Greg eindeutig unseren Vater. Sie hatten das gleiche Grinsen, dieselbe Art vorwitzige Strähnen wieder aus der Stirn zu streichen und die identische Angewohnheit, den Kopf hoch erhoben zu tragen, was ihnen Beiden eine leicht arrogante Ausstrahlung verlieh.

„Halt bitte mal auf der rechten Seite fest.“ Gregs noch immer Stimmenbruch geplagte Stimme klang ein wenig brüchig und die Worte hüpften zwischen den Tonlagen hin und her wie Trampolinspringer. Schnell eilte ich auf den Pavillon zu und tat wie mir geheißen, während mein Bruder auf der anderen Seite mit voller Kraft rüttelte und rückte, bis das Gestänge so verschoben war, dass der Pavillon tatsächlich gerade stand.

Ich trat einige Schritte zurück und schirmte meine Augen gegen die blendende Abendsonne ab. „Meinst du, das hält jetzt?“ Greg zuckte die Schultern und ließ vorsichtig die Stangen auf seiner Seite los. Dann grinste er und vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Keine Ahnung. Ich denke, wir werden einfach abwarten müssen.“

Irritiert legte ich die Stirn in Falten und warf Greg einen kurzen Seitenblick zu, bevor ich mich wieder auf unser Werk konzentrierte, damit er nicht merkte, dass ich mir Gedanken um ihn machte. Irgendwie war mein Bruder in letzter Zeit ziemlich komisch. Normalerweise hätte er mir in so einer Situation lachend die Haare zerzaust, anstatt seine Hände in den Taschen zu verstecken.

Früher waren mein Bruder und ich ein Herz und eine Seele gewesen. Obwohl uns ein Altersunterschied von vier Jahren trennte, hatte Greg mich bis vor wenigen Wochen immer überall mit hin genommen. Ich kannte vermutlich mehr seiner Klassenkameraden als Jugendliche in meinem Alter. Ab und zu war Greg meinetwegen von ein paar Idioten aufgezogen worden, die ihn gefragt hatten, ob unsere Familie sich keinen Babysitter leisten könnte, doch er hatte es immer mit einem Schulterzucken abgetan und hatte stets zu mir gehalten. Wir waren wie Pech und Schwefel gewesen, unzertrennlich.

Doch aus irgendeinem Grund distanzierte er sich plötzlich von mir. Er umarmte mich kaum noch und nahm mich erstrecht nicht mehr mit zu seinen Freunden. Ich fragte mich, ob es damit zusammenhing, dass er sich mit seinem besten Kumpel verkracht hatte. Christoffers Eltern hatten sich vor kurzem scheiden lassen und Chris zog es vor, in Kürze mit seiner Mutter weg zu ziehen, anstatt hier bei seinem Vater zu bleiben.

Greg hatte diese Entscheidung bis ins Mark erschüttert, weil sie bedeutete, dass Chris ihn allein ließ. Doch anstatt dies einfach zuzugeben, hatte er einen belanglosen Streit vom Zaun gebrochen und weigerte sich nun beständig, sich wieder mit Chris zu vertragen. Greg sagte, wenn er sich seine Wut auf Chris bewahren würde, sei es einfacher zu ertragen, dass er gehen würde. Das konnte ich zwar nicht wirklich verstehen, doch ich konnte nachfühlen, dass er sich verraten fühlte.

Aber vielleicht lag es auch an Josephin, die ich fast immer um mich hatte. Sie hatte mir vor ein paar Tagen gestanden, dass sie sich in meinen Bruder verguckt hatte. Ich konnte spüren, dass es Greg unangenehm war, wenn sie versuchte, mit ihm zu flirten. Aber zum Glück war Finchen nicht gerade beständig, wenn es um ihre Gefühle ging. Eigentlich verliebte sie sich alle zwei Wochen neu.

Doch was immer der Grund für Gregs Zurückgezogenheit sein mochte, ich war mir sicher, dass es nichts mit mir zu tun hatte. Ich bemerkte, dass Greg mich ansah und schaute zu ihm herauf. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte zaghaft und deutete mit dem Kopf in Richtung Haus. „Na, was ist, Zwerg? Lust auf ’ne Runde ‚Mensch ärgere dich nicht’?“

Ich nickte begeistert und hakte mich bei ihm unter. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, sein Körper würde sich versteifen, schob den Gedanken dann aber beiseite. Warum sollte mein eigener Bruder abwehrend auf meine Berührungen reagieren?



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