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Am Rand der Welt

von

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Mýrdalsjökull

Der Gletscher war im Sommer für Touristen gesperrt. Es bestand die Gefahr, dass sich Eisstücke durch die Schmelze lösten und zu tödlichen Gefahren werden konnten.

Casey war früher bereits mehrfach hier gewesen – auch im Sommer, da die Universität eine Forschungsstation am Gletscher betrieb. Sie hätte sicher mithilfe von Anton oder einem ihrer anderen Kollegen Zugang bekommen können, doch das war nicht notwendig. Auch Dagny kannte Leute, die diese Art von Toren öffnen konnten und so betraten sie die Höhle am Abend des fünften Tages, seit sie Reykjavik verlassen hatten.

Dagny trug Abby auf dem Arm. Sie waren sich einig gewesen, dass es zu gefährlich war, wenn sie alleine lief. Selbst sie mussten aufpassen, so war der Boden unter ihren Füßen doch vom Schmelzwasser nass und rutschig.

Abby sah sich derweil immer wieder begeistert um. „Das ist so schön“, sagte sie und zeigte auf eine Stelle, an der das Eis besonders blau schimmerte.

„Ich weiß“, meinte Casey.

„Warum ist es blau?“, fragte Abby auf einmal und sah ihre Mutter an. „Eis ist doch weiß!“

„Weil Eis aus Wasser ist“, erklärte Tristan, bevor Casey antworten konnte. „Und Wasser im Schwimmbad ist ja auch blau.“

Abby sah ihn mit großen Augen an. „Lina im Kindergarten hat gesagt, die färben das.“

Casey konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. „Nein, Wasser ist blau. Das Blau ist nur so durchsichtig, dass man es bei dünnen Schichten nicht sieht.“

Für einen Moment war Abby ruhig und legte, wie so oft, wenn sie nachdachte, die Stirn in falten. „Dann hat Lina mich angelogen!“

Nun lachten sie alle und Dagny strich über Abbys Kopf. „Ich bin mir sicher, dass sie selbst geglaubt hat, dass es so ist.“

„Aber es ist ja dennoch falsch“, meinte Abby.

Dagny und Casey wechselten einen Blick.

Casey hatte nicht damit gerechnet, dieses Thema heute zu besprechen. Sie dachte nach, wie sie es ihrer Tochter erklären sollte, ohne dass sie es falsch verstand. Immerhin wollte sie nicht, dass Abby am Ende glaubte, dass Lügen okay sind. „Wenn du wirklich glaubst, dass was du sagst, die Wahrheit ist, dann ist es keine Lüge, wenn du es sagst.“ Sie lächelte Abby an. „Deswegen sollte man aber immer Fragen stellen, um nicht etwas zu glauben, was gar nicht stimmt.“ Etwas, das viel schwerer war, als sie es einmal gedacht hatte.

Denn bis sie Dagny getroffen hatte, hatte sie sich fest unter den Rationalisten gesehen. Natürlich konnte sie die Magie in der Natur sehen, hatte diese „Magie“ jedoch als ein einfaches Gefühl, als Sentimentalität abgetan. Nie im Leben hätte sie geglaubt, dass Feen oder Götter real sein konnten – und doch war genau das der Fall.

Sie war in der Welt der Feen gewesen. Sie hatte Magie gesehen. Ja, sie hatte sogar Götter getroffen. Dinge, an die manche Menschen glaubten und die andere für reine Hirngespinste hielten, konnten real sein.

„Ist aber trotzdem blöd“, meinte Abby nach beinahe einer Minute.

„Du kannst ja, wenn wir wieder zurück sind, sagen, wie es richtig ist“, schlug Tristan, der die Taschenlampe hielt, vor.

„Okay.“ Abby seufzte schwer.

Das Licht der Taschenlampe reflektierte sich von den Wenden, während sie weiter in den Gletscher hinein liefen. Obwohl es nur eine einzelne Lampe war, so spendete sie dank dieser Reflektion und den teilweise dennoch hellen Wänden erstaunlich viel Licht. Es war beinahe, als würden die Eiswände von sich aus leuchten.

Sie alle trugen Winterkleidung. Auch wenn es draußen knappe fünfzehn Grad Celsius warm war, so herrschten war die Lufttemperatur im Innern der Eishöhle natürlich um den Nullpunkt. Ihr Atem formte dünne Wolken über ihren Mündern.

Casey wechselte einen Blick mit Dagny, die ihr ein Lächeln schenkte. Sie wusste, dass Dagny nach einem Ort suchte, an dem der Schleier zwischen den Welten besonders dünn war. Einem bestimmten Ort. Sie fragte sich aber auch, wie lange es noch dauern würde, denn sie begann zu frieren.

„Und in deiner Welt gibt es Einhörner, nicht?“, fragte Abby nach einer Weile. Es war das sicher zwanzigste Mal, dass sie diese Frage stellte.

„Ja, aber Einhörner sind nicht zahm“, antwortete Dangy lächelnd.

Tristan machte einen leisen, verächtlichen Laut. „Einhörner sind Arschlöcher“, murmelte er. Als er vor acht Jahren in der Anderswelt gewesen war, hatte er diese Erfahrung gemacht.

Seufzend stupste Casey ihn an und schenkte ihm einen vielsagenden Blick, woraufhin sie nur ein Schulterzucken erntete.

Etwas unsicher räusperte sich Dagny. „Aber es gibt geflügelte Pferde, die einst von den Sidhe gezähmt wurden.“

„Schie?“, fragte Abby und sprach das Wort nicht ganz richtig aus.

„Das sind unsere irischen Verwandten“, meinte sie grinsend.

Abby überlegte kurz, ehe ihre Augen leuchteten. „Ach, die mit Flügeln!“

„Nein, ohne Flügel“, sagte Dagny schnell. Sie blieb kurz stehen, um Abbys Gewicht anders zu verlagern und flüsterte der Kleinen ins Ohr: „Und ich würde dir raten ihnen gegenüber die Flügel nicht zu erwähnen.“

„Warum nicht?“, flüsterte Abby zurück.

„Sie mögen das Vorurteil nicht“, antwortete Dagny.

„Das haben mal Leute erfunden.“ Tristan ging zu ihnen hinüber. „Und du magst es ja auch nicht, wenn man Dinge über dich erzählt, die andere Leute erfunden haben.“

Abby seufzte. „Ich will aber Flügel haben.“

„Vielleicht findest du ja einen Magier, der das kann“, erwiderte Casey.

„Die gibt es?“

Sie lachte. „Vielleicht.“ Dabei schlang sie die Arme kurz um ihren Körper. Sie fror wirklich.

Dagny trat näher zu ihr. „Wir sind gleich da“, versicherte sie.

So gingen sie weiter durch die Höhle, die langsam schmaler wurde. Beinahe glaubte Casey schon, dass sie in eine Sackgasse laufen würden, doch dann öffnete sich vor ihnen auf einmal ein kleiner Saal – sicher sechs Meter im Durchmesser und beinahe komplett rund geformt.

Ein Strahl Sonnenlichts drang hier in die Kaverne. Ein schmales, keinen halben Meter breites Loch war in die Decke geschmolzen und ließ das Licht hierher vordringen. Doch das war nicht das eigentlich mystische in diesem Raum.

Die Wände hier waren nicht bloß und Mischtönen aus Weiß und Blau gehalten, sondern auch mit Grün- und Rottönen durchsetzt. Selbst einzelne, schwarze Schlieren fanden sich hier.

Früher einmal hatte Casey solche Orte mit seltenen Erden und Mineralen, die einst vom Eis eingeschlossen worden waren, erklärt. Jetzt aber, wusste sie, das nicht alle Antworten so wissenschaftlich waren.

„Woah“, machte Abby und schien ernsthaft beeindruckt. „Was ist das?“

Dagny setzte sie auf dem Boden ab. „Magie.“ Sie streckte sich, während Casey nach Abbys Hand griff.

„Wir sind da“, flüsterte Dagny dann und lächelte ihnen zu. „Seid ihr bereit?“

Tristan machte die Taschenlampe aus und holte tief Luft. „Ich hoffe, dieses Mal hetzt niemand irgendwelche Tiere auf mich.“

„Ich werde dich schon beschützen“, erwiderte Dagny.

Er schenkte ihr ein seltenes, trockenes Lächeln. „Nun, ich denke, ich komme damit klar.“ Dabei ließ er es klingen, als sei es ein enormes Zugeständnis, dass er mitkommen würde.

„Ich denke, dass du Spaß haben wirst.“ Dagny klopfte ihm auf die Schulter und trat dann vor. Sie ging in die Mitte des Raumes, wo sie noch einmal tief Luft holte und dann die Augen schloss. Sie verharrte für einige Sekunden, ehe sie, mit noch immer geschlossenen Augen, zu der Wand vor ihnen ging. Sie berührte das Eis, das matt – sehr matt – das innere des Saals reflektierte. Ein Zittern lief durch das Bild, es fing an sich aufzulösen. Dann schien etwas Licht durch das Eis zu fallen. Helles, warmes Licht.

Als wäre das Eis ein milchiges Fenster zeigte sich etwas dahinter. Es war schwer zu erkennen, erinnerte aber an eine saftige Wiese an einem See. Da waren Formen im Hintergrund.

„Woah!“, machte Abby noch einmal und Casey drückte ihre Hand.

„Komm“, sagte sie und spürte dabei doch, wie sich ihr Magen zusammenzog. Es sah so anders aus, so unnatürlich, und selbst jetzt wehrte sich ein kleiner Teil ihrer selbst noch dagegen. Doch sie machte einen Schritt vorwärts und ging, zusammen mit Tristan und Abby auf die verzauberte Eiswand zu.

Sie streckte eine Hand aus und diese glitt einfach durch das Eis, das wie ein Schleier aus kühlem Wasser wirkte, hindurch.

Noch einmal holte sie tief Luft und dann trat sie hindurch.

Ihre Füße berührten eine saftige Wiese. Wärme umgab sie.

Sie sah zu ihren Seiten, wo Abby und Tristan standen, ehe auch Dagny zu ihrer Linken erschien.

Sie waren da.



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