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Momente

[One-Shots und Drabbles]
von

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Geisterliebe

„Jules!“, rief die vertraute Stimme des jungen Mannes. „Jules!“

Jules beobachtete ihn, beobachtete Léo, wie er das alte, halb überwachsene Bahngleis hinabwanderte und sich umsah. Er beobachtete ihn, beneidete ihn, bewunderte ihn.

In den letzten fünf Jahren war Léo wirklich ein Mann geworden. Er hatte jetzt einen richtigen Bart, selbst wenn dieser zurecht gestutzt war, und nicht mehr den leichten Flaum, auf den er mit 16 noch so stolz gewesen war. Er war kräftiger, wenngleich er nicht bestens in Form war. Dennoch sah er gut aus, erstaunlich gut, wenn Jules an den Jungen vor fünf Jahren dachte.

„Komm schon, man!“, rief Léo in die nebelige Nacht hinein. „Ich weiß, dass du da bist!“

Ja, natürlich war er da. Und doch war er es nicht.

Manchmal dachte Jules darüber nach, wie er überhaupt denken konnte. Immerhin gab es kein Gehirn mehr, dass diese Aufgabe für ihn übernahm. Auch dachte er darüber nach, warum er überhaupt noch hier war und warum er sich nicht zu weit von dem mittlerweile stillgelegten Bahnhof entfernen konnte. Vielleicht war es eine Strafe für etwas, das er getan hatte, als er noch lebte. Vielleicht war der alte Bahnhof auch nur verflucht.

„Jules!“ Langsam wurde Léos Stimme panisch. Vielleicht glaubte er, dass er nicht mehr da war. Immerhin verstanden sie beide nicht, wie das alles hier funktionierte und technisch gesehen könnte er tatsächlich einfach verschwunden, ins Nachleben weitergewandert sein. Doch natürlich war er es nicht.

Er wusste, dass es besser war, sich nicht zu zeigen, Léo zu erlauben mit seinem Leben fortzufahren und mit ihm und dieser ganzen Sachen abzuschließen. Er musste nur hier bleiben, konnte sogar bei ihm bleiben, doch unsichtbar für das menschliche Auge. Immerhin war es schon schlimm genug, dass er mit diesem Darsein gestraft war. Warum sollte er seinen besten Freund, denjenigen, den er liebte, mit hineinziehen? Er stand direkt hinter Léo.

Doch er konnte es einfach nicht. Vielleicht war er egoistisch. Ja, er war ziemlich sicher egoistisch. Und vielleicht durfte er daher nicht ins Nachleben weiterziehen. Dennoch konnte er nicht anders.

Er sammelte seine Energie, um sich soweit zu materialisieren, wie es ihm möglich war, ehe er sich vorbeugte und Léo in den Nacken küsste.

„Ich bin hier“, flüsterte er und merkte, wie Léo erleichtert aufatmete.

Er drehte sich zu ihm herum und nahm seine Hand, auch wenn er sie nicht wirklich halten konnte. „Ich hatte schon Angst“, flüsterte er und lächelte ihn an. „Tu mir das nicht noch mal an, ja?“

Jules lächelte traurig. „Ist es nicht das, was Geister tun sollen? Leuten Angst einjagen?“

Léo zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich.“ Er lachte leise. „Ich kenne keinen anderen Geist.“



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