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Digimon 00001100 <Twelve>

Samsara Madness [Video-Opening online]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
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Leuchtfeuer aus einer fremden Welt

Der Schwertkämpfer machte einen Satz und seine Klinge zog einen funkelnden Feuerschweif nach sich. Er traf den alten Mann frontal und schleuderte ihn rückwärts. Rote Zahlen leuchteten über seinem Kopf auf. Höhnisches Lachen ertönte. Eine glühende Aura hüllte den Krieger ein, ließ ihn größer, bedrohlicher wirken. Vor ihm tat sich ein Weltentor auf, eine wirbelnde Röhre im Boden, und ein brüllender Dinosaurier schwebte daraus empor. Der Feuerstrahl, der aus seinem Rachen schoss, prallte an einer unsichtbaren Schutzwand vor dem alten Mann ab, der sich eben wieder aufrappelte …

„Jagari? Du hast Besuch!“

„Moment!“ Jagaris Finger flogen über die Tastatur.

Der Alte kam wieder auf die Beine. Er machte eine Handbewegung und ein blauer Pfeil traf den Dinosaurier und fror ihn ein.

„Gleich hab ich dich“, rief Jagari triumphierend in sein Headset; das Gelächter aus den Lautsprechern war verstummt.

„Jagari, eine Klassenkollegin von dir ist da!“, nervte wieder seine Mutter, er hörte sie gedämpft durch die geschlossene Tür hindurch. „Sie bringt dir die Mitschrift von heute!“

„Jaja.“

Der Krieger hob sein Schwert, doch der Magier verschwand plötzlich in einer Rauchwolke und tauchte hinter ihm wieder auf.

Jagari biss sich auf die Unterlippe. Jetzt war höchste Konzentration angesagt …

„Sitzt du schon wieder vor dem Computer? Der Arzt hat gesagt, du sollst im Bett bleiben. Darf ich deine Freundin zu dir ins Zimmer lassen?“

Von wegen Freundin. Jagari drückte eine Tastenkombination. Der Magier schoss einen feurigen Blitz auf, der den Schwertkämpfer in den Rücken traf. „Ha!“, jauchzte Jagari. „Finishing Move! Was sagst du jetzt?“

Der Krieger brach zusammen und sein Körper verblasste. Der beschworene Dinosaurier verschwand ebenfalls. „Verdammt“, sagte BurstingStinger. „Das nächste Mal krieg ich dich, LordAres!“

„Träum weiter“, grinste Jagari im Siegestaumel. Das Bild verschwand, der Spielstand erschien. Sein Magier war auf die nächste Stufe aufgestiegen. „Üb deine Moves, während ich mich ans Leveln mache.“

„Morgen um dieselbe Zeit?“

„Steht.“

„Dann freu dich schon auf deine Niederlage.“ Es klickte, BurstingStinger hatte sich ausgeloggt.

„Jagari!“ Seine Mutter klang nun mehr als genervt. „Das Mädchen wartet.“

„Sie soll dir das Zeug geben, ich hab gerade keine Zeit“, sagte er, während er sich durch den Fertigkeitenbaum klickte. Also wirklich, da hatte man endlich mal eine Erkältung und konnte zuhause bleiben, und trotzdem ließ einen die Schule nicht vergessen, dass es sie gab. Wie eine weitere, viel schlimmere Krankheit, die allgegenwärtig und chronisch war – chronisch langweilig vor allem.

Nach einer Weile hörte er den Klingelbaum über der Tür. Das Mädchen war gegangen. Er wusste nicht, wer sie sein konnte, eigentlich verstand er sich mit den Mädchen seiner Klasse nicht besonders. Mit den Jungen eigentlich auch nicht. Am liebsten chattete er mit Leuten, denen er noch nie persönlich begegnet war, das war immer ungezwungen und interessant. Stirnrunzelnd sah er sich die neue Fähigkeit seines Magiers im Offline-Modus an. Es war im Prinzip der gleiche Blitz, mit dem er BurstingStinger erledigt hatte, und hatte sogar dieselbe Animation, nur verursachte er mehr Schaden. Jagari seufzte. Dass diese Spiele immer so schnell langweilig wurden, war mit ein Grund, warum er einfach immer weiterspielen musste – um vielleicht ein verstecktes Feature freizuschalten, das sie wieder interessant machte. An diesem Spiel, Nightmare Bastion Wonderworld, zockte er jetzt schon ziemlich lang. Eigentlich war die Online-Nutzung kostenpflichtig, aber er hatte es geschafft, sich durch einen genialen Hack Gratiszutritt zu verschaffen.

Die Tür ging auf und seine Mutter seufzte, als sie ihn spielen sah. „Hier“, sagte sie und legte ein Plastiksäckchen auf seinen Schreibtisch. Jagari sah nicht hin. „Der Doktor hat gesagt …“, wollte seine Mutter sagen, aber Jagari unterbrach sie.

„Es ist nur eine Erkältung. Spielen ist für mich die beste Medizin.“

Seine Mutter sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, dann seufzte sie und ging wieder – natürlich ohne die Tür zu schließen. Das brachte Jagari ebenfalls zum Seufzen. Er stand auf, machte die Tür zu und wollte sich wieder vor den Bildschirm setzen, als sein Blick in das Säckchen fiel, das mit der Öffnung zu ihm lag. Da war doch nicht einfach nur ein Notizbuch drin, sondern … Verdutzt zog er ein gelbweißes, handyartige Etwas heraus.

 

Als Taneo endlich zuhause ankam, hatte sich der Schneefall bereits in einen dichten wattigen Vorhang verwandelt. Umso überraschter war er, als er den Jungen von der Schule sah. Er stand unter dem löchrigen Dach einer Bushaltestelle unweit von seinem Haus entfernt. Hatte er gewusst, dass Taneo hier wohnte?

„Hey“, sagte Taneo und gesellte sich zu ihm.

Oder war es Zufall?

„Ha... Hallo“, murmelte der Junge. Soweit Taneo wusste, hieß er Shuichi. „Ich … wollte dir nur sagen … also, danke.“

„Keine Ursache. Du musst dich von denen nicht rumschubsen lassen. Renji hat bloß eine große Klappe.“

„Danke“, wiederholte Shuichi. „Aber es war unnötig. Jetzt werden sie dich nur auch ins Visier nehmen. Und mich … mich werden sie jetzt sicher noch härter in die Mangel nehmen. Es hat also überhaupt nichts gebracht.“

Taneo war überrascht, wie Shuichi das so überzeugt und inbrünstig sagen konnte, war er doch sonst ein geborener Stotterer. „Wenn sie dir blöd kommen, sag’s einfach den Lehrern.“

„Das kann ich nicht. Ich … Sie sind ja …“

„Deine Freunde?“, rief Taneo aus. „Vergiss es. Haben sie dir das eingeredet? Du bist doch nicht so dumm, das zu glauben, oder? Mensch, die nutzen dich aus!“

„Aber wenn ich petzen würde, dann …“, murmelte Shuichi, „dann würde ich sicher den Rest von meinem Stolz verlieren.“

Taneo schnaubte. „Was ist dir lieber, dein Stolz oder Freiheit? Allzu stolz hast du übrigens nicht gewirkt.“ Shuichi trat auf der Stelle herum, dann scharrte er mit dem Fuß in einem Schneehaufen, der sich vor ihm unter einer undichten Stelle im Dach gebildet hatte. Als er nichts sagte, strafft Taneo demonstrativ die Schultern. „Wie du meinst. Ich hab einfach nur versucht, dir zu helfen. Was du jetzt daraus machst, liegt an dir.“ Er sah in den Himmel, aus dem immer noch flauschige, kalte Flocken sickerten. „Brauchst du einen Schirm? Ich kann dir schnell einen von drinnen holen.“

„Nein, nein, ist nicht nötig“, versicherte ihm Shuichi hastig. „Der Bus wird bald da sein.“

„Wie du willst.“ Taneo verabschiedete sich halbherzig und lief das kurze Stück zu seinem Haus. Er stampfte den Schnee von seinen Schuhen und schloss die Haustür auf. Auf dem Esstisch fand er eine Nachricht von seinen Eltern; sie waren zu seiner Tante gefahren und würden erst spät nachts wiederkommen. Das Essen stünde in der Mikrowelle, und ein Paket wäre für ihn gekommen. Taneo fand es auf der Anrichte. Lächelnd riss er es auf. Es war ein professionelles Modellbauset mit Pneumatikteilen, das er sich im Internet gekauft hatte. Als er die Schachtel herauszog, rutschte noch etwas auf die Anrichte; eine Art Handy, das in den Farben Weiß und Violett gehalten war. Verwirrt kramte Taneo nach der Rechnung. Nur das Modellbauset war verrechnet worden. War das da so etwas wie eine Draufgabe? Vielleicht war ein Spiel darauf und man hatte es zu Werbezwecken mitgeschickt … Doch egal, welche der Tasten Taneo drückte, es ließ sich nicht einschalten.

„Müll“, murmelte er und wollte es schon wegwerfen, überlegte es sich dann aber doch anders und steckte es ein. Sein Cousin kannte sich gut mit solchem Zeug aus, vielleicht konnte er es ihm reparieren.

 

Kouki fühlte sich leer und ausgelaugt, während er immer noch in seinem Bett lag. Draußen war es längst finster, und da er das Licht nicht eingeschaltet hatte, war alles um ihn herum schwarz. Yuki ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatten ihn nur so kurz gehabt … dass er ihm trotzdem so sehr ans Herz gewachsen war, fand Kouki unfair. Sein Handy klingelte. Kouki ging nicht ran, aber wer immer ihn anrief, war hartnäckig. Zweimal hörte Kouki, wie sich die Mailbox einschaltete, und trotzdem gab er nicht auf. Niedergeschlagen zog er das kleine Gerät aus der Hosentasche. Es war Renji. Warum rief ausgerechnet der ihn an? „Was?“, murmelte er, als er abhob.

„Alter, Kouki, wo steckst du?“, drang Renjis Stimme blechern an sein Ohr. „Wir haben Training, schon vergessen? Der Trainer ist stinksauer.“ Irgendwie ahnte Kouki, dass Renji ihn nur angerufen hatte, weil der Trainer es ihm befohlen hatte.

„Ich fühl mich nicht gut. Sag ihm, ich kann heute nicht.“

„Aber du …“

Kouki legte einfach mitten in Renjis Satz auf. Er seufzte tief und ließ die Hand mit dem Handy aus dem Bett baumeln. Vor seiner Tür hörte er etwas rumoren. „Kouki? Ich muss noch mal kurz in den Laden, bevor sie zusperren.“

„Nein – warte bitte“, rief Kouki ihr zu. „Ich will … nicht derjenige sein, der es Nanami sagt.“ Seine ältere Schwester müsste eigentlich bald nach Hause kommen. Sie gab in letzter Zeit immer Nachhilfe und hatte einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass sie sich Yuki hatten anschaffen können.

Koukis Mutter schwieg kurz, dann sagte sie: „In Ordnung. Ich warte noch ein wenig.“

„Danke.“ Kouki betätigte den Lichtschalter und machte sich seufzend daran, aufzuräumen. Als er seine Schultasche so ungestüm in die Ecke geschleudert hatte, hatten sich seine Schulutensilien auf seinem Teppich verstreut. Sein Blick fiel auf das Hundekörbchen, in dem noch letzte Nacht Yuki geschlafen hatte. Seine Schwestern hatten ähnliche in ihren Zimmern, und sie hatten sich mit Yukis Gesellschaft abgewechselt. Traurigkeit stieg wieder in ihm auf, wurde ein erstickender Knoten in seinem Hals, und er sagte sich, dass etwas stumpfsinnige Arbeit ihn auf andere Gedanken bringen würde. So begann er, seine Sachen zusammenzulesen – und stieß dabei auf etwas, das eigentlich nicht dabei sein sollte. Ein kleines, aufklappbares Gerät, weiß, mit weinroten Streifen. Stirnrunzelnd hielt Kouki es in die Höhe. War das in seiner Tasche gewesen?

 

Das Training zog sich heute ewig in die Länge. Kouki Nagaras Abwesenheit hatte ihren ohnehin jähzornigen Trainer so sehr auf die Palme gebracht, dass er heute besonders unausstehlich gewesen war. Alle von Renjis Muskeln schmerzten, und der Schnee hatte seine Laune auch nicht gehoben. Natürlich trainierten sie im Freien, der Wahlspruch des Trainers war: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung. Dieser Idiot. Aber heute war einfach nicht Renjis Tag. Was soll‘s.

Als er aus der Dusche kam und sich anzog, entdeckte er ein fremdes Handy, das in seiner Sporttasche lag. Er kannte die Marke nicht; aber es war weiß und grün und definitiv ein Handy. Und definitiv nicht seins. „Gehört das einem von euch?“, fragte er die anderen Jungen in der Umkleide. Sie sahen das Ding stirnrunzelnd und kopfschüttelnd an.

„Ist es nicht deins?“

„Dann würd ich nicht fragen.“ Das kleine Gerät sah brandneu aus. Wer’s findet … „Naja, jetzt ist es wohl meins.“

 

Ringsum schwammen die schillerndsten Fische und genossen den Frieden am Grund des Sees. Gennai hatte die Augen geschlossen und das Schwert auf die Knie gelegt, als er im Gras vor seiner Hütte hockte. Über ihm verbanden sich die Wassermassen zu einem lila schimmernden Bogen und ließen keinen Windhauch zu seinem Haus gelangen.

Als das Rumoren im Boden ertönte, wusste er, dass das Warten ein Ende hatte. Sie hatten ihn gefunden.

Gras wurde zerfetzt, Erdklumpen wirbelten auf, als zwei bleiche, knochige Scherenhände sich durch den Boden wühlten. Das Digimon kam nicht durch das Wasser geschwommen, es hatte den langen Weg gewählt und sich unter den See gebohrt. Innert Sekunden spie das Loch im Boden eine grässliche Kreatur aus, das Skelett eines Kriechtieres mit langem, klingenbewehrtem Schwanz.

„Habe ich dich“, sagte das SkullScorpiomon. Seine Stimme klang, als würde Stein Knochen zermahlen. „Kaum zu glauben, dass du dich hier zu verstecken versuchst …“ Das Digimon öffnete das von nadelspitzen Zähnen gesäumte Maul und ein Stakkato aus blitzenden Strahlen schnellte Gennai entgegen, der sich mit einer gewagten Seitwärtsrolle außer Reichweite katapultierte. Während er über den Boden schlitterte und durch den Schwung wieder auf die Beine kam, schlugen die Lichtblitze nebeneinander in seinem Haus ein, durchlöcherten Holz und zerfetzten Balken, rissen faustgroße Löcher in die Wände und die Dächer. Die Erde bebte und Vibrationswellen liefen über die Wasserwände. Als Gennai sein Schwert zum Kampf erhob, krachte das Gebäude unter lautem Getöse zusammen und Staub und Holzspäne stoben in alle Richtungen davon.

SkullScorpiomons glühende, gelbe Augen huschten über den rauchenden Trümmerhaufen. „Die DigiEier“, krächzte es. „Wo sind sie?“

Gennai deutete mit dem Schwert auf das Digimon und sagte, ohne eine Miene zu verziehen: „Es ist eure eigene Schuld, dass ihr eure Zeit mit der Jagd nach mir verschwendet habt.“

Ein Fauchen verließ den Rachen des Skelettwesens. „Du unvollkommene Existenz! Du hast uns in die Irre geführt! Du hast die Eier gar nicht mehr!“, stellte es das Offensichtliche fest. Dann schien es zu überlegen. „LordMyotismon hat gespürt, dass sich ein Tor zur Realen Welt geöffnet hat. Sind die DigiVices etwa schon dort? Antworte!“

Doch Gennai schwieg, sein Blick war entschlossen, seine Lippen würden versiegelt bleiben.

SkullScorpiomon stieß ein schrilles Kreischen aus. „Dann stirb, Undigimon!“ So schnell, wie man es seinem massigen Leib gar nicht zugetraut hätte, krabbelte es an Gennai heran. Das Schwert geriet zwischen die Scherenarme des Digimons und zerbarst mit einem Knall, und noch während Gennai zurückweichen wollte, schnellte der Skorpionstachel wie eine Giftschlange hervor und durchbohrte seine Brust.

SkullScorpiomon ließ erfreute Klicklaute ertönen, doch dann lösten sich Gennais Umrisse auf. Daten wurden umgruppiert, als der Doppelgänger seine wahre Gestalt annahm, und aus dem Gekicher des Digimons wurde einmal mehr ein wütendes Zischen, als an Gennais Stelle plötzlich eine große, violette Uhr schwebte, deren Zeiger sich rasend schnell drehten. Ein letztes Mal ertönte Gennais Stimme. „Das Licht wird triumphieren. Der Zeit der Asuras läuft bereits ab …“ Die Worte verhallten und die Uhr zerbarst in einem gleißenden Lichtwirbel.

 

Fumiko seufzte, als sie sich vor dem Spiegel der Umkleidekabine drehte und prüfend an sich herabsah. Aiko hatte darauf bestanden, dass sie das Outfit anprobierte, und eigentlich hatte sie ja recht; der beigefarbene Mantel mit dem Pelzkragen passte recht gut zu ihrem langen, blauschwarzen Haar. Der schwarzgrün karierte Herbstrock dafür weniger, wie Fumiko fand. Aiko würde sie sicher trotzdem anhimmeln, wenn sie aus der Kabine trat. Wie ihre Freundin so vernarrt in Mode sein konnte, war Fumiko ein Rätsel. Es reichte ja wohl, wenn man Sachen anhatte, die zum Wetter passten und nicht allzu auffällig waren oder? Zum Glück hatten sie vereinbart, nach Hause zu gehen, sobald sie sich Aiko gezeigt hatte.

Ihre Stiefel ließ sie in der Ecke stehen, als sie die Hand nach dem Vorhang ausstreckte – und plötzlich drang ein gleißend heller Lichtstrahl aus ihrer Schultasche. Fumiko erschrak. Was war das? Wie von selbst öffneten ihre Hände die Tasche und griffen hinein.

 

Renji hatte lässig seine Sporttasche geschultert und ging mit gemischten Gefühlen nach Hause. In der U-Bahn war es schön warm gewesen, aber auf der kurzen Strecke bis zu seinem Wohnblock fror er sich jetzt die Zehen ab. Turnschuhe waren für frischen Schnee nicht die beste Wahl. Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung … Er zog die Nase hoch. Verdammte Kälte! Er hatte seinem Trainer – und sich selbst – etwas beweisen wollen und nur den Reserve-Jogginganzug und eine dünne Sportjacke darüber angezogen. Und alles nur, weil Kouki Nagara sie hatte abblitzen lassen …

Er war so in Gedanken versunken, dass er das Licht, das aus seiner Sporttasche kam, erst bemerkte, als es bereits wie eine reinweiße Flamme auf ihn übergesprungen war.

 

Kouki wartete darauf, die Stimme seiner Schwester zu hören, denn im Haus war es drückend still geworden, als das seltsame Handy, das er auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, in einem Licht zu strahlen begann, wie er es noch nie gesehen hatte. Es war grell wie die Sonne und dabei so wunderbar weich, dass es nicht in den Augen wehtat. Trotzdem blinzelte er instinktiv, als er darauf zutrat. Was zum Kuckuck war das? So etwas hatte er noch nie gesehen … Er streckte die Hand aus, um es auszuschalten, als etwas wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper fuhr und er sich plötzlich leicht wie ein Lichtteilchen fühlte – und dann zog sich alles um ihn herum auseinander und wurde im Bruchteil einer Sekunde ins Nichts zusammengepresst und verwandelte sich in das gleiche, weiß strahlende Licht, das alles Sichtbare so gründlich verschlang wie vollkommene Dunkelheit.

 

Als Kouki die Augen aufschlug, fehlte ihm völlig die Orientierung. Das wunderte ihn zunächst nicht, er war einmal beim Fußballtraining schwer ausgeknockt gewesen und hatte nicht einmal mehr sagen können, wo oben oder unten war. Blinzelnd setzte er sich auf. Ein blauer Himmel lachte ihm entgegen. Aha, da war also schon mal oben.

Die Erinnerungen kamen langsam zurück, als er mit den Fingern über das spärliche Gras tastete, das wie Ausschlag in Büscheln auf nacktem, rauem Erdboden spross. Er war im Freien – aber sollte es nicht finster sein? Ja, es war Abend, das sah er; am Horizont war das Blau bereits von einem verträumten Violett durchdrungen, inmitten dessen die Sonne rot wie eine frische Wunde klaffte. Stöhnend setzte er sich auf und griff sich an den Kopf. Er fühlte sich schwer an, aber nicht verletzt. Das hieß, er war nirgends dagegengeknallt. Das hieß, er träumte.

Ein humorlos grinsendes Gesicht, das von kurzen blonden Haaren eingerahmt wurde, beugte sich über ihn. „Na, Alter? Wie war das, heute keine Zeit fürs Training? Das sieht für mich aber anders aus.“

„Halt die Klappe, Renji“, murmelte Kouki und stand auf. Selbst jetzt war Renji noch ein wenig größer als er. Hatte er nicht gesagt, er würde nicht zum Training kommen, weil er sich nicht gut fühlte? Er glaubte, sich immerhin daran erinnern zu können – danach an das seltsame Handy und an das helle Licht, und dann war alles weg. Was war nur mit ihm geschehen? Wie war er hierher gekommen? War das tatsächlich ein Traum? Wieso war Renji hier?

Kouki sah sich um. Sie standen – im Wald. Buchstäblich.

Dürre, tote Bäume ragten rings um sie herum auf, dunkelbraune bis schwarze Stämme, verkrüppelt und traurig blattlos. Und sie beide waren nicht allein hier: Ein jüngerer Bursche huschte aufgeweckt umher und strahlte über das ganze Gesicht, während er immer wieder mit den Händen über die Baumstämme und den Boden tastete. Kouki glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben, aber genau konnte er es nicht sagen, da er das blonde Haar über ein Auge gegelt hatte, wo es ihm bis zur Nasenspitze reichte. Neben ihm stand, mit dem Rücken zu ihm, ein Mädchen mit seidig glänzendem, schwarzem Haar. Etwas weiter entfernt von ihnen sah er ein zweites Mädchen, das sie genauso gründlich beäugte wie Kouki; sie hatte ihr karottenrotes Haar hochgesteckt und war schlank und groß, wirkte fast schon erwachsen. Sie trug wie Renji eine Jogginghose, dann noch einen weiten Strickpulli und Stoffpantoffeln. Zwischen den Bäumen glaubte Kouki noch einen Schatten auszumachen, aber er war immer noch ein wenig benommen. „Wie …“

„Wie du hierher kommst? Keinen Schimmer“, sagte Renji und grinste schief. „Eigentlich komisch, dass ich ausgerechnet von dir träume.“

„Hä?“

Renji lachte. „Ich bin hier auch ohne Plan aufgewacht. Ein Traum ist es also nicht, in einem Traum wacht man ja schließlich nicht auf.“

Kouki konnte diese Form von Logik nicht unbedingt nachvollziehen, aber Renji erwartete keine Antwort. Auch er musterte die anderen und als das schwarzhaarige Mädchen sich umdrehte, strahlte er. Kouki erkannte Fumiko Shinokiri, das Mädchen von heute Nachmittag, auch wenn sie sich umgezogen hatte und nun einen schicken Herbstmantel anstatt Weste und Schuluniform trug. Seltsamerweise hatte sie keine Schuhe an.

„Fu-mi-ko-chan!“ Renji hüpfte mit großen Schritten auf sie zu und Kouki sah, wie Fumiko ärgerlich die Stirn runzelte. „Ich weiß, es ist schade, dass das mit dem Kino ins Wasser gefallen ist, aber ein romantisches Picknick im Wald hat ja auch seinen Reiz“, grinste Renji verschmitzt.

„Ihr kennt euch?“, fragte Kouki. „Ich meine, näher?“ Immerhin waren sie beide mit ihm im letzten Sommer in diesem Camp gewesen.

„Klar. Fumiko ist meine So-gut-wie-Freundin.“ Er legte den Arm um das Mädchen, aber ein einziger zorniger Blick ließ ihn zurückzucken. Kouki hob fragend die Augenbrauen.

„Anstatt dich wie ein Pfau beim Balztanz aufzuführen, könntest du auch darüber nachdenken, wie wir hier wieder wegkommen?“, fragte Fumiko verächtlich.

Renji zog einen Schmollmund und Kouki grinste.

„In dieser Richtung ist der Wald nicht mehr ganz so tot“, sagte eine melodische Stimme. Kouki sah, wie Taneo Kuromori zwischen den Bäumen hervortrat. Er trug legere Freizeitkleidung und sein Lockenkopf wirkte noch zerzauster als heute Vormittag.

„Hey!“ Renjis Mund klappte auf und er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ihn. „Du bist der kleine Wichser von heute Mittag!“

Taneo sagte nichts, sondern starrte ihn nur zornig an, und Kouki drückte Renjis Arm hinunter, als wäre sein ausgestreckter Finger ein Pistolenlauf, mit dem er den Jüngeren bedrohte.

Der aufkeimende Streit wurde unterbrochen, als der blonde Junge zwischen die vier wuselte und mit glänzenden Augen Koukis Gesicht mit den Fingern nachfuhr. Irritiert wischte der seine Hand weg. „He, was wird das?“

„Irre“, hauchte der Junge. „Total realistisch! Ist das nicht fantastisch?“

„Was zum Teufel faselst du das?“, fragte Renji. „Wir stecken irgendwo im Nirgendwo fest, und keiner hat einen Tau, wie wir hier hergekommen sind. Über deine Auffassung von fantastisch müssen wir noch reden.“

Kouki überlegte. „Da war dieses Gerät … und das Licht …“

Der kleinere Junge verlor nichts von seiner Begeisterung. „Ich weiß, dass sie auf diesem Gebiet große Fortschritte gemacht haben, aber dass sie schon so weit sind …“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er sein Glück kaum fassen.

„Moment – heißt das, du weißt, was hier abgeht?“, fragte Renji.

„Aber klar! Ihr etwa nicht? Das ist eine virtuelle Welt.“ Der Junge grinste triumphierend. „Sagt schon, woher kennt ihr meinen Bruder?“ Er hustete.

„Hä?“ Nichts von dem, was er sagte, ergab in Koukis Ohren irgendeinen Sinn. Renji schien es ähnlich zu gehen, denn er kratzte sich ratlos im Genick, während Fumiko offensichtlich an dem Verstand des Blonden zweifelte und Taneos Gesicht keinerlei Ausdruck zeigte.

„Shinji Morino! Ich bin Jagari, sein Bruder!“

Jagaris Tonfall nervte Kouki. Als würde er mit kleinen Kindern sprechen … Wenn schon nicht er selbst, war Jagari vielleicht auf den Kopf gefallen?

Auf ihre verständnislosen Gesichter hin seufzte der Junge und sagte: „Ihr macht bei dem Experiment mit und wisst gar nichts darüber? Verstehe, sie wollten den Effekt vergrößern …“

„Was für ein Experiment?“ Renji sah aus, als würde er im nächsten Moment verzweifeln.

Jagari atmete tief durch, was in einem Hustenanfall endete. „Mein Bruder studiert Computer Vision. Die haben da ein Projekt mit VR-Helmen und solchem Zeug. Ihr habt sicher schon mal davon gehört, du setzt einen Helm auf und siehst eine komplett andere Welt, und je nachdem, wie du dich bewegst, ändert sich das Bild. Man kann vollständige virtuelle Welten damit simulieren.“

„Das ist doch Sci-Fi-Schwachsinn“, winkte Renji ab.

„Das ist kein Sci-Fi!“, rief Jagari entrüstet. „Sowas gibt’s wirklich. Mein Bruder wollte mir zeigen, wie weit sie schon damit sind. Der Spaßvogel muss mir den Helm aufgesetzt haben, während ich geschlafen habe.“

„Jetzt mal langsam“, sagte Kouki. „Meinst du nicht, wir hätten es bemerkt, wenn uns jemand einen Helm aufgesetzt hätte?“

„Und wenn du einen Helm aufhättest, warum kannst du ihn dann nicht abnehmen?“, fügte Fumiko hinzu.

Jagari sah sie verdutzt an, dann tastete er über seinen Kopf und machte ein säuerliches Gesicht. „Wenn ihr eine bessere Erklärung habt, dann raus damit“, murmelte er und wirkte beleidigt.

„Wie wär’s, wenn ihr das schlaue Reden bleiben lasst und wir stattdessen die nächsten Anzeichen von Zivilisation suchen?“, kam es da erstmals von dem zweiten Mädchen, das immer noch in betontem Abstand zu der restlichen Gruppe stand.

Kouki runzelte die Stirn. Sie kam ihm vage bekannt vor, als hätte er sie schon mal aus der Ferne gesehen … „Sag mal, bist du nicht zufällig im Staffelläuferinnenteam?“, fragte er.

„Und wenn?“ Den Blick, den sie ihm zuwarf, konnte man höchstens als gelangweilt, wenn nicht verächtlich einstufen, und sein erster Eindruck war, dass er sie nicht mochte.

„Schon gut, Miss Kalte Schulter, hab ja nur gefragt“, brummte er. Kouki war normalerweise als Frohnatur bekannt, aber Yuki war heute gestorben und er hatte keine Lust, besonders höflich zu tun.

„Du heißt Tageko, oder?“, fragte da Fumiko. „Tageko Mida. Du warst auch in dem Camp letzten Sommer.“

Tageko zuckte mit den Schultern. „Der Kleine hat vorhin gesagt, dass der Wald dort drüben nicht ganz so unfreundlich aussieht“, sagte sie kühl. „Ich würde sagen, wir schlagen mal diese Richtung ein, bevor wir hier unsere Zeit totquatschen.“

„Der Kleine mag deinen Tonfall nicht“, sagte Taneo finster.

„Wie schade“, gab sie spöttisch zurück.

„Wie schade“, ätzte Renji.

Kouki seufzte. Das konnte ja heiter werden.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war das zweite Kapitel ... und die sechs können sich offenbar nicht wirklich riechen xD
Ich hoffe, ihre Verwirrung nach dem Weltenwechsel ausreichend, aber nicht zu präsent dargestellt zu haben. Also nachvollziehbar, aber nicht langweilig^^ Falls übrigens jemand eine ENS haben möchte, wenn ich ein neues Kapitel hochlade, sagt einfach Bescheid :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  fahnm
2016-09-28T23:34:19+00:00 29.09.2016 01:34
Eine Wirklich klasse Story.
Ich freue mich schon aufs nächste kapitel
Antwort von:  UrrSharrador
01.10.2016 21:39
danke dir ;) Willkommen an Bord!
Von: ShioChan
2016-09-25T06:36:13+00:00 25.09.2016 08:36
Also ich fand den Weltenwechsel wirklich gut dargestellt. Und die Charaktere werden mit gerade noch sympathischer. XD Ich bin schon sehr gespannt auf das nächste Kapitel. =3

Wegen ENS: ich bekomme eigentlich von animexx direkt eine ENS, sobald du dein nächstes Kapitel veröffentlichst, da ich deine fanfiction in meinen Favoriten habe. Aber ich komme später gerne noch mal auf dein Angebot zurück. :D

Gruß
ShioChan
Antwort von:  UrrSharrador
26.09.2016 19:16
Danke für deinen Kommi! Ah, das freut mich :D
Okay, alles klar^^
lg
Von:  EL-CK
2016-09-23T15:48:05+00:00 23.09.2016 17:48
Ich find's gut wie du den Weltenwechsel dargestellt hast..
P.s.: ENS bitte ;)
Antwort von:  UrrSharrador
26.09.2016 19:14
Okay, dann bin ich beruhigt xD
Ist gut, kriegst du ;)
Antwort von:  EL-CK
27.09.2016 17:00
Daaaanke ;)


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