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Boys Don't Cry

Spiegelkabinett
von

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IV

Wir sind jetzt schon seit knapp einer Woche an der Südküste von Frankreich und jeder beschäftigt sich mit sich selbst. Es kotzt mich an. Mich kotzt das alles hier an. Die brütende Hitze, die viel zu warmen Nächte, der damit verbundene schlechte Schlaf und die Tatsache, dass ich - obwohl ich eigentlich meine Ruhe hab – eben doch keine Ruhe hab. Meine Gedanken machen es mir unmöglich abzuschalten. Ich fühle mich unwohl. Unwohler als je zuvor. Woran genau es liegt weiß ich nicht. Vielleicht sind es Mikasas abwertende Blicke, die kritischen meines Erzeugers oder die, die ich von meiner Mutter gar nicht erst bekomme. Sie weicht mir regelrecht aus. Geht mir aus dem Weg. Keine Ahnung was ich ihr getan hab. Ob ich wirklich so eine Enttäuschung für sie bin, dass sie mir nicht mal mehr ins Gesicht sehen kann. Ich hasse es. Ich hasse es, unwissend zu sein. Nicht zu wissen, was ich getan hab, dass ich diese Ablehnung verdiene.

Ich sitze auf meinem Handtuch am Strand von Bonifacio und sehe meiner beschissenen Schwester und ihrem beschissenen Freund dabei zu wie sie sich den beschissenen Volleyball zuspielen. Meine Laune ist schon seit Tagen im Keller. Kaum haben wir Eren ins Auto geladen – ja, meine Eltern waren so gütig ihn Zuhause abzuholen – ist meine Laune ins Bodenlose gefallen. Wieso? Keine Ahnung. Und bis heute hat sich daran nichts geändert. Meine Eltern sind in der Stadt unterwegs. Vermutlich klappern die beiden eine Boutique nach der anderen ab oder sitzen in einem von den teuren französischen Restaurants und lassen sich mit gutem Wein zulaufen. Mir geht das alles hier so gehörig gegen den Strich. Für mich war der Gedanke mir ein Zimmer mit Mikasa zu teilen schon schlimm genug. Das wir nun einen weiteren Bewohner in unserem Zimmer haben und ich die beiden ständig miteinander tuscheln höre, höre wie meine Schwester ihn vollsülzt oder wie sie am Rummachen sind, macht das Ganze nur noch unerträglicher. Ich war nie scharf darauf Details aus ihrer Beziehung zu erfahren und ich denke, ich kann mich glücklich schätzen, dass die beiden es nicht treiben während ich wenige Meter entfernt versuche zu schlafen.

Der Volleyball landet dumpf im Sand, wenige Zentimeter von unserem Platz entfernt. Ich sehe, wie Eren auf mich zu kommt, schlage das Skizzenbuch auf meinen Beinen zu und lege es neben mich auf das Handtuch. Ich will nicht, dass jemand meine Zeichnungen sieht. Das ist etwas, dass ich ganz allein für mich tue. Nicht mal Hanji bekommt sie zu sehen. Und eigentlich will ich, dass das so bleibt.

„Willst du nicht mitspielen?“ Fragt er, den Ball unter den Arm geklemmt. Sein gebräunter, trainierter Oberkörper glänzt in der Sonne vom Schweiß und ich kann einfach nicht anders als ihn anzusehen. Einzelne Strähnen kleben ihm in der feuchten Stirn und meine Augen verfolgen wie gebannt diesen einen Schweißtropfen, der sich über seine Schläfe seinen Hals herab schlängelt. Ich weiß, ich sollte so nicht denken. Immerhin ist er der feste Freund meiner älteren Schwester... aber verdammte Scheiße! Dieser Kerl... ist einfach perfekt.

„Eren kommst du?“ Ruft meine Schwester ungeduldig nach ihm. Sie versucht schon die ganze Zeit zu vermeiden, dass wir länger als nötig miteinander sprechen. Keine Ahnung ob sie sich sorgen macht, er könnte das Interesse an ihr verlieren. Irgendwann... wird das ganz ohne mein Zutun passieren. Wenn er intelligent ist – und davon gehe ich aus – wird er bald merken, was für eine Person meine Schwester ist. Wenn er merkt, dass sie eigentlich eine arrogante, eitle Bitch ist, wird er sich schneller von ihr abwenden, als ihr lieb ist.

„Nein“ ist meine knappe Antwort auf seine Frage. Ich lasse mich auf den Rücken sinken, schließe die Augen und verfluche die Tatsache, nicht in der Ferienwohnung geblieben zu sein. Keine Ahnung wieso ich mit zum Strand gekommen bin. Vielleicht weil Eren mich sonst – wie die Tage davor – damit genervt hätte, bis ich letztendlich doch einknicke, damit ich meine Ruhe bekomme. Und ein Tag am Strand ist mir immer noch lieber als den Tag mit meinen Eltern in der Stadt zu verbringen. Ich bin froh, wenn ich sie nicht länger sehen muss, als nötig. Seit meinem Frisörbesuch mit Hanji ist mein Vater noch schlechter auf mich zu sprechen und meine Mutter... schaut mir seitdem nicht mehr in die Augen. Bin ich wirklich so eine arge Enttäuschung, dass ich es jetzt nicht einmal mehr Wert bin, dass man mir in die Augen sieht?

Der Schatten über mir verschwindet und die Sonne knallt mir ins Gesicht. Ich hasse es. Es ist zu warm und der Strand zu voll. Ich will nicht ins Wasser, obwohl es Abkühlung versprechen würde. Ich will mein weites T-Shirt und die Shorts nicht ausziehen, obwohl es dann vielleicht zumindest ein wenig kühler wäre. Ich fühle mich unwohl, ohne dass ich genau sagen kann, woran es liegt. Normalerweise mag ich das Meer. Das seichte Rauschen der Wellen, die salzige Luft. Ich mag die Wärme, die Sonne. Ich liebe den Plage du Petit Spérone. Den weißen Sandstrand, das klare blaue Wasser des Mittelmeers. Ich liebe Südfrankreich, die Sprache. Die Kultur, die Architektur. Das Essen. Aber dieses Jahr kann ich mich über all das irgendwie nicht freuen. Ich kann nichts davon genießen und ich weiß das es weder an meiner Familie noch an Eren liegt. Das vielmehr ich selbst daran schuld bin, dass ich mir selbst im Weg stehe und ich kann einfach beim besten Willen nicht sagen was genau es ist. Ich will es abstellen, will die letzte Woche hier genießen. Ich schaffe es aber einfach nicht. Ich schaffe es nicht mich wohler in meiner Haut zu fühlen und ich glaube, das ist es, was ich im Moment am meisten an diesem Urlaub hasse.

Es dauert eine Weile bis die beiden zu unserem Platz zurück kommen. Mikasa hat ihren Kopf auf seinem Schoß liegen und genießt die Sonne, die ihr ins Gesicht scheint, während Eren ihr durch die Haare streicht. Ich hasse sie. Und ich hasse mich, weil ich sie darum beneide. Ich hasse mich, weil ich mir wünsche, ich hätte jemanden, der das gleiche bei mir macht.

Ich beiße die Zähne fest zusammen, schnappe mir mein Skizzenbuch und beginne erneut darin zu zeichnen, während ich die beiden beobachte. Ich fühle mich schlecht, weil ich sie darum beneide. Ich fühle mich schlecht, weil ich ihn attraktiv finde. Und ich hasse es, dass ich nicht aufhören kann an ihn zu denken. Dass ich nicht aufhören kann ihn anzusehen. Dass ich ihn gern reden höre. Dass ich gern in seiner Nähe bin. Ich hasse es, dass ich mich bei ihm wohl fühle und genauso hasse ich es, dass er sich für mich einsetzt, wenn mein Vater gegen mich schießt. Ich hasse es, dass er nett zu mir ist, weil ich nicht anders kann, als ihn gern zu haben. Weil ich glaube, dass ich ihn mehr mögen könnte, als ich vielleicht sollte.

Die Zeit vergeht langsam, aber sie vergeht. Der Strand wird leerer, die Geräuschkulisse leiser und das Meer dafür umso lauter. Meine Gedanken drehen sich weiter, bleiben immer wieder bei Eren hängen und ich ertappe mich immer wieder dabei wie ich ihn ansehe. Wie ich ihn beobachte, sein Gesicht ansehe. Ich erwische mich dabei, dass ich mir wünsche, dass er mich ansieht und mich für einen Moment in diese unglaublich schönen Augen schauen lässt. Mikasa ist viel zu sehr mit ihm beschäftigt um etwas davon mitzubekommen und falls sie es doch mitbekommt, versteckt sie es gut.

Es ist früher Abend, als wir unsere Sachen zusammenpacken und gemeinsam zur Ferienwohnung zurückgehen. Die zwei gehen Hand in Hand vor mir, sind miteinander beschäftigt und für einen Moment frage ich mich, ob sie bemerken würden, wenn ich einfach umdrehe und zurückgehe. Ich weiß, dass wir heute Abend zusammen essengehen werden. Ich weiß, dass es ein edles Restaurant sein wird – so wie immer – und ich weiß ebenso, dass ich mich in eins meiner Sommerkleider zwängen muss. Ich hasse sie. Jedes Einzelne davon.

Meine Eltern sind noch nicht da als wir in der Ferienwohnung ankommen. Wir stellen die sandigen Sachen im Flur ab, ich hänge die nassen Sachen der beiden auf, während Mikasa Eren den Vortritt ins Bad überlässt. Sie beobachtet mich dabei, ihr Blick bohrt sich dabei in meinen Rücken und ich frage mich, was sie mir sagen will.

„Spuck’s aus oder verpiss dich, Mikasa“ teile ich ihr unbeeindruckt mit, hänge das letzte Handtuch über die Wäscheleine auf dem Balkon und drehe mich anschließend zu ihr um. Sie ist wütend. Wieso auch immer. Es interessiert mich nicht, selbst dann wenn es um Eren gehen sollte. Seitdem sie ihn mit nach Hause gebracht hat, dreht sich alles nur noch um ihn. Ihre ganze Welt scheint nur noch aus ihm zu bestehen und langsam geht sie mir damit tierisch auf die Nerven.

„Ich will das du uns in Ruhe lässt. Beschäftige dich irgendwie allein. Geh mit Mama und Papa in die Stadt. Ist mir scheißegal. Aber lass uns in Ruhe!“ Zischt sie wütend, verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust und erdolcht mich quasi mit ihren Blicken. Nicht, dass es mich kümmern würde. Nicht, dass ich Angst vor ihr hätte. Ich bin dieses Thema nur einfach leid. Ich hab es mir nicht ausgesucht. Hab mich nicht aufgezwungen. Und sie tut beinahe so, als würde ich an ihrem Rockzipfel hängen. Ich bin nicht scharf darauf meinen Urlaub mit ihr zu verbringen. Ich war nie scharf darauf mehr Zeit mit ihr zu verbringen als unbedingt nötig.

„Wie oft hatten wir das jetzt schon, Mikasa?“ Frage ich seufzend, schiebe mich an ihr vorbei in die kühle Wohnung und steuere unser Nachtquartier an. Ich will mir Sachen holen, damit ich nach Eren ins Badezimmer kann. Ich fühle mich ekelhaft. Geschwitzt und voller Sand. Außerdem wissen wir alle, dass Mikasa von uns definitiv am längsten braucht.

„Dann halt dich gefälligst dran“ sie läuft mir hinterher, ihr Blick bohrt sich weiterhin in meinen Rücken und mir geht das alles gerade schon wieder tierisch gegen den Strich. Wir diskutieren mittlerweile jeden Abend darüber während Eren unter der Dusche steht und wir kommen immer wieder zum gleichen Ergebnis. Ich sage ihr, dass sie dafür sorgen soll, dass er aufhört mich zu nerven und ich gehe dafür meine eigenen Wege. Damit hätte jeder von uns das, was er will. Aber so wie es aussieht, kann oder will sie sich gegen ihn einfach nicht durchsetzen. Nicht mein Problem.

Wir hören die Tür vom Badezimmer und verstummen. Eren betritt das Schlafzimmer, schenkt mir ein kleines Lächeln ehe er sich auf ihr Bett setzt und in seiner Tasche nach frischen Sachen wühlt. Ich frage mich immer noch, wieso er sich nicht einfach im Badezimmer anziehen kann. Wieso er das hier machen muss. Vielleicht nutzen die zwei aber auch die zwanzig Minuten, die sie allein sind, wenn ich im Bad bin. Wer weiß. Interessiert mich aber auch nicht was die beiden treiben.

Ich nehme mir meine Sachen, schiebe mich an Mikasa vorbei und verschwinde im Badezimmer. Der Spiegel ist leicht beschlagen, die Dusche noch nass und der Boden ist vollgetropft.

„Tch“ schnalze ich abfällig mit der Zunge, während ich mich frage, was daran so schwierig ist, ein Handtuch auf den Boden zu legen oder zumindest die Wassertropfen aufzuwischen, wenn man fertig ist. Es ist nur eine Belanglosigkeit, aber sie sorgt dafür wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen. Eren ist nicht perfekt. Und diese Erkenntnis macht es einfacher ihn für einen Moment aus meinen Gedanken zu verbannen.

Ich schäle mich aus meinen Klamotten, trete unter die Dusche und stelle das Wasser an. Ich genieße das warme Wasser auf meiner Haut, schließe die Augen und lege den Kopf in den Nacken. Mit jeder Sekunde, die vergeht, fühle ich mich besser. Sauberer. Wohler. Es fällt mir leichter, die Gedanken abzustellen. Nicht an ihn zu denken. An nichts zu denken. Aber ich weiß, dass mich die Realität einholt, sobald ich die Augen öffne. Sobald ich in den Spiegel schaue sind all die Gedanken wieder da. Die angenehme Ruhe wird schneller vorbei sein, als mir lieb ist.

Ich hebe den Kopf, öffne die Augen und blicke an mir hinab. Ich hasse diesen Anblick. Ich hasse meine Brüste, meine Taille und meine breiten Hüften. Ich hasse meine weiblichen Kurven. Ich hasse mich.

Meine Augen brennen, meine Brust fühlt sich enger an und mir fällt das Atmen schwerer.
 

Ich hasse es.
 

Ich hasse mich.
 

Ich hasse meinen Körper.
 

Ich hasse meine Sensibilität. 
 

Ich hasse meine Empfindungen.
 

Ich hasse mein Selbstbild.
 

Ich hasse meine Schwäche. 
 

Ich hasse mein Schluchzen. 
 

Ich hasse es zu weinen.
 

Ich hasse es, dass ich nicht aufhören kann.
 

Ich lehne mich an die kalten Fliesen, lasse mich langsam daran auf den Boden rutschen und ziehe die Knie an, schlinge die Arme darum und lege meinen Kopf auf ihnen ab. Ich will nicht weinen. Will nicht zweifeln. Ich will nicht so empfinden. Ich will nicht in den Spiegel sehen und mir wünschen, ich wäre jemand anderes. Ich will nicht an mir zweifeln. Mich nicht selbst verabscheuen. Ich will mir nicht wünschen dieses Spiegelbild nie wieder sehen zu müssen. Ich will nicht das Bedürfnis haben, es gewaltsam zu verändern, in der Hoffnung, es würde danach besser werden. Ich will zufrieden sein, wenn ich mich ansehe. Ich will stolz darauf sein, wer ich bin. Ich will mich nicht selbst so sehr verabscheuen, dass immer wieder darum kämpfen muss diesem selbstzerstörerischen Impuls nicht nachzugeben. 

Ich will mich nicht ständig fragen, was mit mir nicht stimmt.



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