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Nightfall - Körperlos

von

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Kapitel eins

»Sie muss gehen«. Verdutzt bleibe ich auf dem Weg zu meinem Zimmer stehen. Wer hat da gerade gesprochen? Ich schleiche mich näher an die angelehnte Arbeitszimmertür. »Nein, niemand geht!«. Diese Stimme kann ich eindeutig zuordnen, sie gehört meiner Mutter. Dann höre ich ganz leise ein Zähneknirschen.

»Denk doch mal nach, verdammt! Willst du uns alle in Gefahr bringen?!« Jetzt werde ich richtig hellhörig. Und jetzt weiß ich auch, wer da spricht. Es ist Gabriela, meine Schwester. Offensichtlich ist sie früher von ihrem Internatsaufenthalt zurückgekehrt als geplant. Normalerweise bleibt Gabby drei Monate am Stück dort, ehe sie uns für eine Woche besuchen kommt.

»Wir werden schon eine Lösung finden.«

»Ach ja?«

Wutschnaubend kommt Gabby aus dem Zimmer gestürmt, für sie hat die Unterhaltung wohl keinen Sinn mehr. Als sie mich sieht, hält sie abrupt an und bedenkt mich mit einem bitterbösen Blick. Anstatt einer Umarmung zur Begrüßung, faucht sie mich an. »Wie lange lauschst du schon?« Bevor ich ihr eine giftige Antwort geben kann, taucht meine Mutter im Türrahmen auf. »Beruhige dich, Gabriela!«. Ich spüre, dass sie irgendetwas aufwühlt. Gedankenverloren runzelt sie die Stirn.

Ohne weiteren Kommentar rauscht meine Schwester wieder davon. So ist das immer. Sie kommt, wir sehen uns an und dann geht es los. Wir streiten uns am laufenden Band.

Ich beschließe, mich darum erst einmal nicht weiter zu kümmern. Fragend sehe ich meine Mutter an.

»Was ist hier los?« Der Gesichtsausdruck meiner Mutter ist so entrückt, als hätte gerade ein Geist gesprochen. Dann scheint sie sich wieder zu fangen. »Also...nicht viel«, antwortet sie ausweichend.

»Jetzt im Ernst? Ich bin doch nicht blöd. Gabby und du, ihr habt euch doch wegen irgendwas gestritten. Und was meinte Gabby mit Gefahr?«

»Hör zu, Venni, ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Ich...muss erst mit John reden.« Sie seufzt resigniert. Definitiv ist etwas nicht in Ordnung. Normalerweise ist meine Mutter nicht so abwesend und schweigsam. Bevor ich noch etwas sagen kann, dreht sie sich um und geht leise murmelnd davon. Verwirrt blicke ich ihr hinterher.

Mir fällt ein, dass ich ja eigentlich zu meinem Zimmer wollte, und setze meinen Weg über den langen Flur fort.

Dort falle ich auf mein Bett und ziehe die Knie an. Was ist bloß los? Offensichtlich stimmt etwas nicht. Und es macht mich wütend, nicht darüber aufgeklärt zu werden. Dummerweise hält es ja keiner für nötig, den Mund auf zu machen. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mit zum Zerreißen gespannten Nerven auf meinem Bett zu verharren und zu warten. Okay, ich muss nicht unbedingt auf meinem Bett sitzen bleiben. Mein Zimmer sieht aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen, ich kann es also genauso gut auch aufräumen. Ich hebe sämtliche Klamotten vom Boden auf und stopfe sie in einen bereits vollen Wäschekorb. Dann stelle ich wahllos meine Schulbücher auf und bringe den Rest in Ordnung.

Wirklich funktionieren tut das alles nicht, immer wieder schweifen meine Gedanken ab. Betrübt wandere ich mit den Augen durch den Raum. Vor zwei Jahren habe ich ihn dunkelblau gestrichen, weil man mich kaum von der vorher weißen Wand unterscheiden konnte. Jedes Jahr werde ich etwas blasser, meine Haare werden etwas heller und meine Augen etwas durchsichtiger. Jedes Mal, wenn ich in einen Spiegel sehe, steht mir ein Gespenst gegenüber.

Langsam lege ich mich hin und starre an die Decke. Ich werde noch verrückt.

Plötzlich klopft es an der Tür. Es ist wohl doch mehr Zeit vergangen, als ich dachte.

Ohne auf eine Antwort zu warten streckt mein Vater den Kopf ins Zimmer. »Komm.«

Ich folge der knappen Anweisung. Mein Vater führt mich stillschweigend in sein Arbeitszimmer, wo meine Mutter und Gabriela bereits in den großen Ledersesseln sitzen. Der Raum ist generell sehr groß, und auch irgendwie beeindruckend. An den Wänden stehen reihenweise Regale mit hunderten von Büchern und Ordnern. Trotzdem ist genügend Platz für einen massiven Mahagonitisch, einen antiken Schreibtischstuhl, vier braune Ledersessel und einen kleineren Wohnzimmertisch. Oh, und natürlich ist da noch der riesige, dicke Perserteppich, der dem Raum ein besonderes Flair verleiht.

»Setz dich.«

Ich setze mich auf den Sessel gegenüber meiner Mutter. »Sagt ihr mir jetzt endlich, was los ist?«, frage ich ungehalten. Meine Eltern tauschen vielsagende Blicke. Skeptisch schaue ich vom einen zum anderen. »Also?«

Die Schultern meiner Mutter sacken nach vorne. Noch nie scheint sie so verzweifelt gewesen zu sein. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst und atme tief durch. Es bringt mich aus dem Gleichgewicht, meine sonst starke Mutter so zu sehen. Als hätte sie aufgegeben.

Weil meine Mutter kein Wort heraus bringt, beginnt mein Vater zu reden. »Haven, Schatz, es ist kompliziert.« Shit. Wenn er meinen vollen Namen benutzt, kann es nur um etwas Ernstes gehen.

Ich werde nervöser, als ich es sowieso schon bin und beginne, an meinen Haaren zu spielen.

»Du...Wir sind nicht...«, bringt meine Mutter unsicher hervor. Es scheint ihr körperliche Schmerzen zu bereiten, zu sagen, was sie sagen will.

»Du gehörst nicht zu dieser Familie.« Ruckartig drehen alle ihren Kopf zu Gabby, die etwas abseits sitzt. Sie hat ein verbittertes Lächeln aufgesetzt und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Wie bitte?«, ist meine schwache Antwort. »Das sagt sie jetzt nur so, oder?« Meine Stimme klingt leicht panisch.

Mir ist bewusst, dass Gabby und ich kein gutes Verhältnis haben, seit sie auf dieses Internat geht, aber das kann sie doch unmöglich ernst meinen. Von meinem Vater erntet sie einen bösen Blick, von meiner Mutter einen schockierten.

»Hör zu, sie hat es falsch ausgedrückt. Natürlich gehörst du zu dieser Familie. Aber wir sind nicht deine leiblichen Eltern.«

Das ist es. Die Bombe ist geplatzt, und ich falle aus allen Wolken. Es ist, als hätte man mir den Teppich unter den Füßen weggezogen. Ich kann es nicht glauben. Ich will es nicht.

»Das kann nicht euer Ernst sein! Habt ihr mich achtzehn Jahre lang angelogen?« Anklagend zeige ich auf Gabby. »Hat sie es die ganze Zeit gewusst?«

»Venni, es tut mir so leid. Wir wollten dich nur schützen.«, versucht meine Mutter zu erklären. Natürlich, das muss ja kommen. Erzähl dem Kind, das du großgezogen hast einfach, dass du es nur zu seinem Schutz angelogen hast, und alles ist gut.

»Meinst du, das macht es besser?« Ich spüre Tränen hochkommen und versuche, diese nicht loszulassen.

Meine Mutter startet einen weiteren Versuch. »Wir wollten dich wirklich nicht anlügen. Aber es ging nicht anders. Gabby weiß es erst seit drei Jahren.«

»Erst?! Warum weiß sie es und ich nicht? Habe ich nicht eher das Recht, es zu erfahren?«, schreie ich sie an. Ich verliere langsam aber sicher die Fassung. Als ich im Begriff bin, aufzustehen, schaltet sich mein Vater wieder ein. »Bleib hier! Wir sind noch nicht fertig.« Was wollen sie denn noch? Ist das nicht schon schlimm genug?

Ich bin wirklich sauer. Es fühle sich beinahe so an, als würde ich platzen, wenn ich mich nicht beruhige.

»Es fängt an«, flüstert meine Mutter besorgt. Das ist nicht für mich bestimmt, aber es verwirrt mich. Mein Vater reißt die Augen auf, und Gabby sieht mich hasserfüllt an. Plötzlich ist alle Aufmerksamkeit auf mich gerichtet. »Was ist?«, schnauze ich sie an.

»Schau, deine Hände.« Ich hebe meine Hände vors Gesicht und erschrecke. Sie verschwimmen vor meinen Augen! Fast kann man durch sie hindurchsehen. Panisch schiebe ich die Ärmel meines Pullovers hoch und sehe, dass auch meine Arme seltsam flackern. Mal scheinen sie fest zu sein, mal durchsichtig, als könnte ich hindurchgreifen. Und je aufgeregter ich werde, desto stärker wechseln meine Arme und Hände von fest zu durchsichtig. Was zum Teufel?!

»Was geht hier vor?«

Kaltherzig zuckt Gabby mit den Schultern. »Du bist kein Mensch.« Was soll ich denn bitte sonst sein?

Mein Vater unterbricht Gabby, bevor sie noch etwas sagen kann. »Ich weiß, dass das alles sehr viel für dich ist, Haven. Aber wir hätten nicht gedacht, dass es so früh sein würde.«

Und schon wieder werde ich sauer. »So früh? Was denn bitte? Hattet ihr vor, erst mit der Sprache rauszurücken, wenn ich alt und grau bin?« Ich wünschte, sie würden endlich mal auf den Punkt kommen.

»Die Welt ist nicht so, wie du glaubst. Und auch nicht so, wie wir dir beigebracht haben. Aber es ist zu gefährlich, jetzt mit dir darüber zu reden. Hier sind wir nicht länger sicher.« Diese Antwort will ich definitiv nicht haben. Gabby scheinbar auch nicht, denn sie schnappt nach Luft.

»Wir? Du meintest sie. Wegen ihr ist es hier nicht mehr sicher. Schick sie weg und wir können wieder ein normales Leben führen.« Ich frage mich, was ich meiner Schwester getan habe.

»Gabriela! Wir sind immer noch eine Familie, vergiss das nicht. Es spielt keine Rolle, dass du nicht unser leibliches Kind bist, Venni, wir lieben dich genauso sehr wie Gabby. Und es ist auch nicht wichtig, dass du nicht so bist wie wir.« Es beruhigt mich, dass ich nicht ausgesetzt werde, aber ich bin aufgewühlter als je zuvor.

»Könnt ihr jetzt nicht mal sagen was hier vor sich geht?«, frage ich ungeduldig.

»Es tut mir leid, ich kann mir vorstellen, wie belastend das für dich sein muss. Aber wir können dir jetzt wirklich nicht weiterhelfen. Wir hatten beschlossen, dich nach Auldmound zu bringen, wenn es so weit ist. Da es früher notwendig ist als gedacht, müssen wir auch früher fahren.« Beinahe hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Also soll ich doch weg. Ich weiß, dass Auldmound in Schottland liegt, und dass es das Internat meiner Schwester ist.

»Wann?« hauche ich entsetzt.

»In drei Tagen.« Das darf nicht wahr sein. In drei Tagen soll ich alles hinter mir lassen. Mein Zuhause, meine Freunde. Aaron. Es läuft gerade so gut zwischen uns. Schon wieder bin ich kurz davor, zu weinen. »Nein! Ich will nicht weg! Ich werde nicht gehen. Und ihr könnt mich auch nicht dazu zwingen, ich bin volljährig!«

Jetzt scheint meinem Vater der Geduldsfaden zu reißen. Dieses Gespräch belastet ihn sichtlich.

»Du wirst dorthin gehen, und wenn wir dich fesseln müssen. Es geht hier nicht nur um dich!«

Gabby grinst hinterhältig, sagt aber nichts. Stattdessen spricht meine Mutter weiter.

»Es ist ungeheuer wichtig, dass du dorthin gehst. Dort wirst du alles erfahren, die ganze Wahrheit. Dann kannst du entscheiden, ob du dableiben möchtest oder nicht.« Tränen glitzern in ihren Augen. Kurze Strähnen ihres braunen Haares fallen ihr in die Stirn und lassen sie noch aufgelöster wirken.

Ich fühle mich taub. Keine Sekunde länger kann ich hier sitzenbleiben. Tranceartig stehe ich auf und gehe auf die Tür zu. Keiner hält mich zurück.

Automatisch tragen mich meine Füße zu meinem Zimmer. Das Gespräch hat keine halbe Stunde gedauert, und trotzdem ist mein Leben aus den Fugen gerissen worden.

Wie aus dem Nichts taucht plötzlich Gabriela vor mir auf und hindert mich am Weitergehen.

Ich starre sie nur an, darauf wartend, dass sie Platz macht.

»Geh freiwillig, kleine Schwester.« Sie speit das Wort aus, als wäre es giftig.

»Was habe ich dir eigentlich getan, Gab?«, erwidere ich resigniert.

Wutschnaubend stößt sie mir mit dem Finger auf die Brust. »Wegen dir musste ich vor drei Jahren nach Auldmound. Wegen dir hat sich mein ganzer Lebensrhythmus verändert. Wegen dir habe ich meine Freunde verloren. Du siehst meine Eltern öfter und länger als ich, dabei bist du nicht einmal ihr Kind!« Während dieser Tirade ist sie immer lauter geworden. Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. »Was kann ich denn dafür?«, schreie ich zurück.

»Du existierst! Ich bin sowohl sauer auf dich als auch auf Mum und Dad. Ich will dich nicht in Auldmound haben. Also geh. Verschwinde von hier und komm nie wieder!« Sie verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist und lässt mich verzweifelt und fassungslos stehen. Wie sehr sie mich wohl hassen muss, um so heftig zu reagieren?

Im Prinzip ist unser Streit kindisch, denn wir sind beide erwachsen und eigentlich nicht auf unsere Eltern angewiesen. Dennoch hängen wir sehr an ihnen.

Als ich meinen Weg fortsetze, sehe ich aus dem Augenwinkel einen Schatten am Flurfenster vorbeihuschen. Langsam gehe ich darauf zu und spähe nach draußen in die Nacht. Unser im Vergleich zum Haus mickriger Garten liegt verlassen da, aber ich bemerke einen Schemen an der Grenze zum Nachbargrundstück. Er steht still, doch ich meine, einen Menschen ausmachen zu können. Ich erschrecke heftig, als der Schemen mir den Kopf zudreht und ein paar unmenschlich rot glühende Augen zum Vorschein kommen. Der Schemen setzt sich wieder in Bewegung, zurück zum Fenster. Blitzschnell lasse ich den Rollladen runter und renne in mein Zimmer, wo ich auch sofort das Fenster abdunkele. Schon vorher hatte ich kurze Begegnungen mit solchen Wesen, und immer enden sie damit, dass ich mich irgendwo verkrieche.

Auch jetzt setze ich mich auf mein Bett und ziehe die Decke über den Kopf. Am liebsten würde ich im Boden versinken und nicht mehr auftauchen. Wenigstens habe ich aufgehört zu flackern, aber Gabrielas Vorwürfe stecken mir noch in den Knochen, genauso wie das aufwühlende Gespräch mit meinen Eltern. Ich bin furchtbar sauer und traurig zugleich, aber ich beschließe, dass meine Eltern meine Eltern bleiben werden, egal ob leiblich oder nicht. Immerhin haben sie mich achtzehn Jahre lang großgezogen und mir hat es nie an irgendetwas gefehlt. Trotzdem werde ich ihnen nicht so schnell verzeihen können.

So viel Aufregung an einem Tag kann kein Mensch verkraften, also rufe ich meine beste Freundin June an.

»Hey June. Ich hab dir einiges zu erzählen.«



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